73
Inhaltsverzeichnis Gerd Schulte-Körne Einleitung ............................................................................................................... 9 I Diagnostik bei der Lese-Rechtschreibschwäche Monika Brunner Gibt es Zusammenhänge zwischen den sprachanalytischen Leistungen im Hei- delberger Vorschulscreening (HVS) und den Lese-Rechtschreibleistun- gen zwei Jahre später? ............................................................................ 13 Lisa Dummer-Smoch Theoretische und schulpraktische Argumente für die Vereinbarkeit der beiden kontrovers diskutierten Konzepte Legasthenie / Allgemeine LRS ............ 23 Hermann Schöler HASE – ein Screening zur Früherkennung von Lese- und Rechtschreibstörugen 37 Peter May Diagnose der orthographischen Kompetenz mit HSP und DSP ......................... 45 II Förderung und Hilfen bei der Lese-Rechtschreibschwäche Alfred Schabmann Erstleseunterricht und Lese-Rechtschreibleistungen. Erste Ergebnisse einer Wiener Längsschnittuntersuchung ........................................................... 59 Waldemar v. Suchodoletz Kausale Behandlungsansätze in der Legasthenie-Therapie .............................. 73 Gisela Dorst Erfolgreich Rechtschreiben mit LOLLIPOP. Ein integratives Konzept im Rahmen des Sprach- und Sachunterrichts ............................................................. 81 Christian Klicpera, Barbara Gasteiger-Klicpera, Simone Rainer und Nicole Gelautz Paarweises Tutoring im Leseunterricht – eine wirksame Methode zur Förderung der Lesegeschwindigkeit .......................................................................... 95 Carola Reuter-Liehr Das Konzept der „Lautgetreuen Lese-Rechtschreibförderung“ .......................... 107 Gero Tacke Die Wirksamkeit von Trainingsprogrammen und Übungen zur Förderung der Rechtschreibung: wissenschaftliche Studien und praktische Erfahrungen 135 Barbara Wölms Aspekte der schulischen LRS-Förderung im Fach Englisch der Sekundarstufe I 153

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Inhaltsverzeichnis Gerd Schulte-Körne Einleitung............................................................................................................... 9

I Diagnostik bei der Lese-Rechtschreibschwäche

Monika Brunner Gibt es Zusammenhänge zwischen den sprachanalytischen Leistungen im Hei-

delberger Vorschulscreening (HVS) und den Lese-Rechtschreibleistun-gen zwei Jahre später? ............................................................................ 13

Lisa Dummer-Smoch Theoretische und schulpraktische Argumente für die Vereinbarkeit der beiden

kontrovers diskutierten Konzepte Legasthenie / Allgemeine LRS ............ 23

Hermann Schöler HASE – ein Screening zur Früherkennung von Lese- und Rechtschreibstörugen 37

Peter May Diagnose der orthographischen Kompetenz mit HSP und DSP ......................... 45

II Förderung und Hilfen bei der Lese-Rechtschreibschwäche

Alfred Schabmann Erstleseunterricht und Lese-Rechtschreibleistungen. Erste Ergebnisse einer

Wiener Längsschnittuntersuchung ........................................................... 59

Waldemar v. Suchodoletz Kausale Behandlungsansätze in der Legasthenie-Therapie .............................. 73

Gisela Dorst Erfolgreich Rechtschreiben mit LOLLIPOP. Ein integratives Konzept im Rahmen

des Sprach- und Sachunterrichts ............................................................. 81

Christian Klicpera, Barbara Gasteiger-Klicpera, Simone Rainer und Nicole Gelautz

Paarweises Tutoring im Leseunterricht – eine wirksame Methode zur Förderung der Lesegeschwindigkeit .......................................................................... 95

Carola Reuter-Liehr Das Konzept der „Lautgetreuen Lese-Rechtschreibförderung“ .......................... 107

Gero Tacke Die Wirksamkeit von Trainingsprogrammen und Übungen zur Förderung der

Rechtschreibung: wissenschaftliche Studien und praktische Erfahrungen 135

Barbara Wölms Aspekte der schulischen LRS-Förderung im Fach Englisch der Sekundarstufe I 153

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Ingrid Schmidt und Gerd Schneider Einsatz von Lernsoftware bei Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) .................... 163

Ulrich Strehlow Evaluation von multimodalen Therapieprogrammen zur Förderung von Kindern

mit einer Legasthenie ............................................................................... 177

M. Noterdaeme und A. Breuer-Schaumann Diagnostik und Behandlung von schweren Lese-Rechtschreibstörungen in

Kombination mit Sprachstörungen ............................................................ 187

Ulrike Lehmkuhl Psychotherapie bei Legasthenie und Dyskalkulie – sinnvoll oder überflüssig? .. 197

III Hyperaktivität (ADHD) und Lernen

Claudia Oehler und Armin Born Lernen mit ADHS-Kindern .................................................................................. 205

Kurt Czerwenka Aufmerksamkeitsdefizitstörungen mit und ohne Hyperaktivität (ADHS) und

Schule ...................................................................................................... 217

IV Ursachen der Lese-Rechtschreibschwäche

Carolin Ligges Die Bedeutung der Phonologie für die Lese-Rechtschreibstörung ..................... 237

Isabella Paul, Christof Bott, Sabine Heim, Christian Wienbruch und Thomas Elbert

Ein Vergleich zwischen drei LRS-Trainingsprogrammen – eine Evaluation mittels Tests und MEG ......................................................................................... 247

Ilona Löffler, Ursula Meyer-Schepers und Thomas Lischeid Rechtschreibschwäche im Fokus der Kompetenzdiagnostik. Ergebnisse aus der

internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU-E) ....................... 267

V Rechtliche Aspekte bei Lese-Rechtschreibschwäche und Dyskalkulie

Gabriele Marwege Schulrechtliche Ansprüche von Schülerinnen und Schülern mit Legasthenie und

Dyskalkulie unter besonderer Berücksichtigung von Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG 283

Johannes Mierau Sozialrechtliche Aspekte von Legasthenie und Dyskalkulie ............................... 303

VI Diagnostik bei der Rechenschwäche

Silvia Wessolowski Erkennen von Rechenstörungen in der Schule .................................................. 315

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Kristin Krajewski Entwicklung und Förderung der vorschulischen Mengen-Zahlen-Kompetenz und

ihre Bedeutung für die mathematischen Schulleistungen. Qualitative Diagnostik der Rechenschwäche ............................................................. 325

Michael Wehrmann Bedeutung der differenzierten Diagnostik im Lernprozess ................................. 333

Christine Gebhardt und Burkhart Fischer Hören und Sehen bei Lernproblemen. Hörtraining und Rechtschreibung bei Le-

gasthenie.Sehtraining und Rechnen bei Dyskalkulie ................................ 339

VII Förderung und Hilfen bei der Rechenschwäche

Andrea Schulz Dyskalkulie bei Grundschulkindern – Ursachen, Diagnostik, Therapie. Eine

Betrachtung aus fachdidaktischer Sicht .................................................... 359

Gerhild Merdian Förderung mathematischer Grundfertigkeiten .................................................... 377

Jens Holger Lorenz Schulische Diagnostik und Förderung bei Rechenschwäche ............................. 389

Inge Kempf-Kurth Integrative Lerntherapie bei LRS und Dyskalkulie .............................................. 399

Marianne Nolte Rechenschwächen – Möglichkeiten und Grenzen der Förderung im Schulalltag 403

Jochen Peter Finger, Bilder, Rechnen. Ein Programm zur Förderung des Zahl- und Rechen-

verständnisses im Zahlraum bis 10 .......................................................... 415

Simone Wejda Der Kampf mit den Zahlen. Hilfen für betroffene Eltern ...................................... 427

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ............................................................ 433

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Einleitung Von Gerd Schulte-Körne

Die Lese-Rechtschreibstörung (Legasthenie) und die Rechenstörung (Dyskalkulie) sind eine der häufigsten Ursachen für Schulleistungsschwierigkeiten und Schulversagen. Trotz intensiven Be-mühens, die Diagnostik und Förderung für Kinder mit Legasthenie und Dyskalkulie zu ver-bessern, besteht nach wie vor ein großer Handlungsbedarf, diagnostische Verfahren und För-derkonzepte zu entwickeln und in ihrer Bedeutung bzw. Wirksamkeit zu überprüfen. Im Vor-dergrund der Forschung der letzten 20 Jahre stehen die Neurowissenschaften und die Genetik mit dem Ziel, die beteiligten Hirnfunktionen und die genetischen Faktoren bei der Legasthenie zu verstehen. Die Dyskalkulie steht erst seit wenigen Jahren im Fokus der Forschung, erste Un-tersuchungen mittels bildgebender Verfahren werden helfen, die einzelnen Rechenoperationen, die bei Kindern mit einer Dyskalkulie beeinträchtigt sind, zu identifizieren. Hier wird sich möglicherweise durch ein verbessertes Verständnis der Hirnfunktionen die Möglichkeit erge-ben, spezifische therapeutische Konzepte zu entwickeln.

In dem vorliegenden Buch wird in 34 Beiträgen der aktuelle Forschungsstand zu den diagnostischen Verfahren und insbesondere zur Förderung bei der Legasthenie und der Dyskal-kulie dargestellt. Die Beiträge beruhen auf den Vorträgen, die die Autoren auf dem 15. Kongress des Bundesverbandes Legasthenie und Dyskalkulie e.V. 2005 in Berlin gehalten haben. Die Vor-träge wurden eingehend überarbeitet und als Buchbeiträge neu konzipiert.

Durch die vielen Beiträge zu Förderung und Hilfen bei der Dyskalkulie und Legasthenie bietet das vorliegende Buch eine hervorragende Basis für Hilfen und Förderung im Schulalltag und in der außerschulischen Förderung. Die Darstellung der Konzepte, die sowohl in der schulischen als auch in den außerschulischen Förderung eingesetzt werden können, sowie die Evaluation einzelner Konzepte, geben dem Leser eine aktuelle und spannende Übersicht, wie schulische Förderung bei Legasthenie erfolgreich umgesetzt werden kann. Die Förderung im Bereich Dys-kalkulie stellt einen weiteren Schwerpunkt dieses Buches dar. Die Ansätze zur schulischen För-derung wurden in den letzten Jahren deutlich weiterentwickelt und es liegen ausgearbeitete Konzepte für die schulische Förderung vor. Allerdings gilt für die Dyskalkulie genau so wie für die Legasthenie, dass die überwiegende Anzahl von Förderkonzepte bisher in ihrer Wirksam-keit noch nicht überprüft wurde. Daher wird es zukünftig entscheidend sein, durch For-schungsvorhaben und vor allem eine ausreichende Forschungsförderung die Wirksamkeit der verschiedenen Förderkonzepte zu überprüfen.

Mein Dank als Herausgeber gilt allen Autoren, die die umfangreichen Beiträge geschrieben ha-ben und dem Verleger, Herrn Dr. Winkler, für die langjährige sehr kooperative und freundliche Unterstützung und Zusammenarbeit.

Prof. Dr. med. G. Schulte-Körne

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Gibt es Zusammenhänge zwischen den sprachanalytischen Leistungen im Heidelberger Vorschulscreening (HVS) und den Lese-Recht-

schreibleistungen zwei Jahre später?

Von Monika Brunner

Einleitung

Das Heidelberger Vorschulscreening zur auditiv-kinästhetischen Wahrnehmung und Sprach-verarbeitung (HVS) wurde in der Abteilung für Stimm- und Sprachstörungen der Universitäts-klinik Heidelberg auf dem Erfahrungshintergrund entwickelt, dass ein Teil der sprachentwick-lungsauffälligen Kinder 2 bis 3 Jahre nach abgeschlossener logopädischer Therapie erneut the-rapeutische Hilfe benötigen, da sie eine Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) aufweisen. Zusam-menhänge zwischen Sprachentwicklungsstörungen und Schriftspracherwerb wurden bereits in den klassischen Lehrbüchern zu Lern- und Lese-Rechtschreibstörungen vor 30 Jahren aufge-zeigt (z.B.; Kossow, H.-J., 1972; Schenk-Danzinger, 1971). Häufig persistieren Schwächen in der Feindiskrimination von Lauten, Schwächen in der artikulomotorischen Antizipation und Se-quenzierung sowie Defizite im Arbeitsspeicher auch dann, wenn die hörbaren Symptome einer Sprachentwicklungsstörung, die Artikulations- und Grammatikfehler, in den Hintergrund ge-treten sind. Die klinische Erfahrung zeigt, dass diese Wahrnehmungs- und Sprachverarbei-tungsstörungen in den logopädischen Therapien bis vor einigen Jahren nur am Rande berück-sichtigt wurden, vermutlich weil sie nur indirekt eine Störung des Kommunikationsaktes dar-stellen. Beispielsweise ist die Differenzierung von stimmlosen und stimmhaften Plosivlauten (wie in „Pärchen – Bärchen“) für das Sprachverstehen nicht relevant, da die Bedeutung auch semantisch erschlossen werden kann. In der Rechtschreibung führt eine mangelnde Lautdiffe-renzierung jedoch zu Fehlern. Ein Teil der Sprachverarbeitungsfähigkeiten rückte in den letzten Jahren unter dem Oberbegriff der phonologischen Bewusstheit stärker in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, angeregt durch Untersuchungen aus dem angelsächsischen und nordeuropäi-schen Raum (z.B. Bryant, 1989; Lundberg, Frost & Petersen, 1988; Vellutino & Scanlon, 1987) Die in diesen Studien untersuchten Fähigkeitsbereiche fanden unter anderem Eingang in das Bielefelder Screening zur Früherkennung von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten (BISC) (Jan-sen, Mannhaupt, H. Marx & Skowronek, 1999). Die Veröffentlichung des BISC erfolgte, als die Voruntersuchungen des HVS weitgehend abgeschlossen waren. Da 3 Untertests der beiden Ver-fahren gleiche Zielsetzungen haben (Expressive Anlautanalyse/ Laut-zu-Wort-Zuordnung, Sil-ben Segmentieren und Reime Erkennen), entstand die Frage, ob die weitere Normierung und Validierung des HVS lohnenswert wäre. Doch stellte sich bei Anwendung des BISC heraus, dass die Aufsprache der Testitems mit einem Sprechfehler behaftet war. Weiterhin enthält das HVS sprach- und sprechanalytische Fähigkeitsbereiche, die im BISC nicht enthalten sind, wie die phonematische Diskrimination, die Artikulomotorik, die Wortstammerkennung und das Zah-

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14 Monika Brunner

lenfolgengedächtnis. Diese Fähigkeiten sind bei sprachauffälligen Vorschulkindern häufig ein-geschränkt und auch im Schulalter noch auffällig (Dierks et al., 1999; Windsor, 2000). Aus die-sen Gründen wurde die Entwicklung des HVS weiter verfolgt.

Ziel der vorliegenden Untersuchung war, den Zusammenhang der im HVS geprüften Leistungen mit späteren schriftsprachlichen Leistungen festzustellen, um Hinweise auf die pro-gnostische Validität des HVS zu gewinnen. Im Sinne einer diskriminanten Validierung sollte darüber hinaus eine Abgrenzung der im HVS erfassten Fähigkeiten zur sprachfreien Grundin-telligenz vorgenommen werden.

Vorstellung des Testverfahrens

Das HVS (Brunner et al., 2001) soll eine objektive Grundlage zur Beurteilung von auditiv-kinästhetischer Wahrnehmung und Sprachverarbeitung im Vorschulalter bieten und damit ei-nen Beitrag zu differenzierter Sprachdiagnostik leisten. Sprachanalytische und artikulatorische Fähigkeiten werden zeitökonomisch erfasst. Im Folgenden werden die einzelnen Untertests vor-gestellt.

1: Auditive Merkspanne: Dieser Untertest prüft die Größe des auditiven Kurzzeitspeichers, in welchem die Reihenfolge phonologischer Information vor der Weiterverarbeitung zwi-schengespeichert wird. Den Kindern werden Zahlenreihen vorgespielt, die sie wiederholen sollen. Die Zahlenreihen sind standardisiert aufgesprochen. Dadurch wird die bei mündli-cher Vorgabe häufig vorkommende Hilfestellung der Rhythmisierung und des Absenkens der Stimme am Ende der Folge vermieden.

2: Expressive Anlautanalyse: Die Expressive Anlautanalyse verlangt das Erkennen und Benen-nen des Anlautes eines Wortes. Die Wahrnehmungsleistung besteht hier darin, den Laut-strom zu untergliedern und den Beginn vom Rest des Wortes zu differenzieren

3: Silben Segmentieren: Die Aufgabe des Silben Segmentierens besteht im Nachsprechen und Silben Klatschen von zwei- bis viersilbigen Wörtern. Es prüft, ob ein Kind den Lautstrom in die klangliche und rhythmische Struktur von Silben untergliedern kann.

4: Phonematische Differenzierung: Dieser Untertest prüft die Feindiskrimination klangähnli-cher Laute anhand von Minimalwortpaaren. Die zu diskriminierenden Laute unterscheiden sich entweder in der Stimmhaftigkeit (z.B. „Seide“ und „Seite“) oder in der Artikulations-stelle (z.B. „Kragen“ und „tragen“). Es werden reale Wörter sowie Kunstwörter dargeboten, bei denen keine Ableitung von der Wortbedeutung möglich ist.

5: Artikulomotorik (Artikulomotorisches Gedächtnis): Dieser Untertest prüft die Umwand-lung phonologischer Information in Artikulationsprogramme. Hierbei wird das Gedächtnis für komplexe artikulatorische Bewegungsmuster erfasst, z.B. für diadochokinetische Bewe-gungsmuster (z.B. „ka-ta-ka-ka-ta-ka“) und Konsonantencluster (z.B. „stra-gu-di“).

6: Wortfamilien Erkennen: Das Wortfamilien Erkennen erfordert mit dem Erkennen von Wortstämmen eine semantische Leistung. Das Kind soll hier unter drei ähnlich klingenden Wörtern wie „laufen“, „Läufer“ und „Leute“ dasjenige herausfinden, welches nicht zur sel-ben Wortfamilie wie die anderen zwei Wörter gehört. Diese bisher in der Literatur wenig beachtete metalinguistische Leistung gehört zum Fähigkeitsbereich der morphologischen Bewusstheit, welche den Einblick in und den Umgang mit den Morphemen als größere se-

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Theoretische und schulpraktische Argumente für die Vereinbarkeit der beiden

kontrovers diskutierten Konzepte Legasthenie / Allgemeine LRS

Von Lisa Dummer-Smoch

1 Einführung in das Problem

Die ältere, klassische Legasthenie-Definition füllte den Begriff „Legasthenie“ inhaltlich mit Aus-sagen zu bis dahin nicht wahrgenommenen und unerwarteten Diskrepanzen bei einer Teilgrup-pe aller lese-rechtschreibschwacher Kinder. Das Merkmalsbild dieser Gruppe wurde als „rätsel-haft“ und „unerklärlich“ beschrieben (Linder 1951), weil im Schulsystem vorher Schwierigkei-ten beim Lesen und Schreibenlernen generell mit niedriger Intelligenz und/oder negativen Mi-lieuverhältnissen erklärt wurden. Die von den Schulpsychologen der Nachkriegszeit neu ent-deckte Gruppe zeigte jedoch schwache Lese- und Rechtschreibleistungen trotz gut durch-schnittlicher Intelligenz und trotz günstiger sozio-ökonomischer Bedingungen im Elternhaus. Entsprechend der Absicht, mit dieser Definition eine vorher unbekannte Untergruppe schwa-cher Rechtschreiber zu beschreiben, nannte die Definition in den Ausschlusskriterien eine gan-ze Reihe von bekannten Untergruppen, deren Schwächen erklärlich schienen.

Wenn Studierende und ausgebildete Lehrkräfte heute in der erziehungswissenschaftli-chen Literatur Informationen über Lese-Rechtschreibschwächen suchen, dann stoßen sie fast ausschließlich auf Arbeiten, in denen Forschungsergebnisse auf Untersuchungsstichproben zu-rückgehen, die nach den Kriterien der so genannten „operationalen Definition“ ausgewählt wurden. Es handelt sich in der Regel um die 15% schwächsten Rechtschreiber (PR ≤ 15 nach den Gesamtnormen für die Altersgruppe), deren Intelligenztestergebnis oberhalb des IQ 85 liegt. Der explizit geäußerten Absicht nach wird mit diesen Kriterien „jegliche Lese-Recht-schreibschwäche“ (Valtin 1978, S. 30) erfasst. Wie aufzuzeigen ist, handelt es sich um eine sehr heterogene Gruppe hinsichtlich der Verursachung und der Erscheinungsbilder.

Diese Gruppe kann mit der ursprünglich durch den Begriff „Legasthenie“ definierten Gruppe der Merkmalsträger einer Diskrepanz zwischen Intelligenz und Lese-Rechtschreib-leistung, nicht völlig identisch sein; denn nach der klassischen Definition handelt es sich bei den Legasthenikern um eine Teilgruppe aus der Gesamtgruppe schwacher Rechtschreiber. Die Ausschlusskriterien der Definition benennen weitere Teilgruppen, nämlich Fälle, für deren Ver-sagen es bekannte und nachvollziehbare Ursachen gibt, wie periphere Seh- und Hörprobleme, Schwachsinn (heute als Minderbegabung bezeichnet) vor allem aber mangelnde Übung „infolge von

– Krankheit, – Fehlen von Schule, – durch Sprach- und Schulwechsel (hier wären heute die Migranten einzuordnen), – ungewöhnliche Schulumstände, – schlechte Schulmethoden oder

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24 Lisa Dummer-Smoch

– offensichtlich gestörte Lehrer-Schüler-Beziehungen“ (Linder, 1951, S. 100).

Das Problem fehlender Überseinstimmung zwischen älteren und jüngeren Forschungsergebnis-sen stellte sich in den 70er Jahren auch im anglo-amerikanischen Sprachraum. Anlässlich einer Tagung, die ausdrücklich nicht auf Diskrepanzfälle, sondern auf andere Gruppen lese-rechtschreibschwacher Schüler gerichtet war, stellt Money diesen Gruppen die Teilgruppe der klassischen Legastheniker gegenüber:

„It is my view that for none of these groops would the term „specific dyslexia“ be appropriate. For I would apply this term to a situation in which a child is unable to learn to read with proper facility despite normal intelligence, intact senses, proper instruction, and normal moti-vation“ (Money 1962, S. 4).

Money fährt fort, man werde vermutlich auf dem Niveau der unterdurchschnittlichen Leistun-gen im Lesen/Rechtschreiben nur eine Minorität von Kindern mit spezifischer Lese-Recht-schreibschwäche (Dyslexie/ Legasthenie) finden. Wenn aber die Gesamtgruppe der schwächsten Leser/Rechtschreiber zusammengefasst werde, als handle es sich um homogene Fälle, dann würden die Forscher nicht zu validen Schlussfolgerungen über Ursachen oder die Effektivität von Behandlungsmethoden gelangen können; denn Gruppen unterschiedlicher Verursachung würden nicht voneinander unterschieden (Money 1962, S. 4). Mehr als ein Jahrzehnt später stellt Eisenberg 1978 fest:

„The vast majority of poor readers in schools are, of course, not characterized by severe dis-crepancies between their reading ability and assessed intelligence“ (Eisenberg 1978, 1979, zit-iert nach Stanovich 1991, S. 127).

Die anglo-amerikanische Diskussion ließ jedoch die Möglichkeit gelten, dass es auch eine – kleinere – Gruppe Leseschwacher mit großen Diskrepanzen gibt. Gough und Tunmer bezeich-neten die heterogene, operational definierte Gruppe der Leseschwachen als „garden variety“ poor readers im Vergleich zu den „dyslexics“. Erstere seien zahlreicher als die Diskrepanz-Fälle (Stanovich 1991, S. 127).

Die gleichen Argumente findet man bei den deutschen Schulpsychologen der 1970er Jahre, die sich um eine Umsetzung der beobachteten Diskrepanzen in Testwerte einer „gleiten-den Diskrepanz“ bemühten: Sie unterschieden eine „allgemeine Schulleistungsschwäche bei ausreichender Intelligenz“ von der Legasthenie. Die allgemeine Schulleistungsschwäche dieser Kinder sollte durch zusätzliche Förderstunden abgebaut werden,

„zumal der prozentuale Anteil dieser Kinder erheblich höher liegt als der von Legastheni-kern (Hervorhebung durch Verf.), gemessen an der Gesamtzahl der Grund- und Hauptschü-ler“ (Fucks und Gräff, 1976, S. 52).

In allen diesen Zitaten kommt die Annahme zweier unterschiedlicher Gruppen zum Ausdruck, der größeren Gruppe normal begabter, aber nicht-diskrepanter schwacher Leser/Rechtschreiber und der kleineren Gruppe legasthener, durch das Merkmal einer zunächst unerklärlichen Dis-krepanz auffallender Schüler.

Es lässt sich sowohl theoretisch als auch empirisch belegen, dass diese beiden Gruppen nicht identisch sind:

– quantitativ mit dem nur mittleren Zusammenhang zwischen Intelligenz und Rechtschreib-leistung (theoretische Argumentation auf Grund von Streuungsdiagrammen bivariater Häu-figkeitsverteilungen) und

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HASE – ein Screening zur Früherkennung von Lese- und Rechtschreibstörungen

Von Hermann Schöler

1 Hintergründe für die Entwicklung des Screenings

Gibt es Möglichkeiten, bereits im Rahmen der obligatorischen Einschulungsuntersuchung Kin-der auffinden zu können, die ein hohes Risiko haben, in der Schule Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben zu entwickeln? Dies war die Ausgangsfrage, die sich 1997 eine Arbeits-gruppe im Gesundheitsamt des Rhein-Neckar-Kreises stellte (s. Schöler, 2001). Für ein diagno-stisches Verfahren stand dafür ein etwa 10-minütiges Zeitfenster zur Verfügung. Unter solchen Bedingungen konnte nur ein Screening entwickelt und eingesetzt werden. Das damals zeitgleich in Bielefeld entwickelte Bielefelder Screening zur Früherkennung von Lese-Rechtschreibschwie-rigkeiten (BISC, Jansen, Mannhaupt, Marx & Skowronek, 1999) hätte diese Bedingung nicht er-füllt.

Die Hoffnung, solche diagnostischen Möglichkeiten zur Früherkennung entwickeln zu können, war durch neue Perspektiven genährt worden: Eine Reihe von Längsschnittstudien (s. den Überblick in Fromm, Schöler & Scherer, 1998) hatte verdeutlicht, dass ein hoher Prozent-satz sprachentwicklungsgestörter Kinder auch beim Lesen- und Rechtschreibenlernen Schwie-rigkeiten zeigen, was die Annahme gleicher zugrunde liegender Bedingungsgefüge nahe legt. Die Erkenntnisse aus den Forschungen zu Spezifischen Sprachentwicklungsstörungen (einen Überblick geben Fromm u.a., 1998) und zur Legasthenie (zu einem Überblick über Dyslexie s. Vellutino, Fletcher, Snowling & Scanlon, 2004) konnten nun unter einer Entwicklungsperspek-tive zusammengeführt werden. Bei der ätiologischen Betrachtung der Legasthenie kam es folge-richtig dann zu einer Dominanzverschiebung „vom Auge zum Ohr“. Die so genannte phonolo-gische Schleife im Arbeitsgedächtnismodell nach Baddeley (2000) und ihre verschiedenen Stö-rungsmöglichkeiten rückten in den Fokus der Aufmerksamkeit. Eine der zur Zeit am besten ab-gesicherten Hypothesen für einen Teil der Sprachentwicklungsauffälligkeiten – und somit auch einen Teil der LRS – besteht in der Annahme einer defizitären phonologischen Schleife als Sub-system des Arbeitsgedächtnisses (vgl. zsf. Hasselhorn & Werner, 2001). Evidenzen für diese Annahme liefern auch die umfangreichen Heidelberger Untersuchungen zur Spezifischen Sprachentwicklungsstörung (Schöler, Fromm & Kany, 1998; Schöler, Roos & Fromm, 2003).

Ein weiterer Grund für die Entwicklung eines Screenings war der Versuch, damit zu ei-ner Vereinheitlichung des diagnostischen Vorgehens beizutragen. Viele Studien, die angeblich eine alarmierende Zahl an Sprachstörungen belegen, lassen sich kaum vergleichen und lassen diese Schlussfolgerungen auch nicht zu: Eine nähere Analyse dieser angeblich in den letzten Jahren dramatisch angestiegenen Zahl von behandlungsbedürftigen Sprachentwicklungsstö-rungen, die aufgrund der vergleichbaren ätiologischen Faktoren auch zu einem Anstieg der Zahl lese- und rechtschreibgestörter Kinder führen muss (zur Kritik s. Schöler, 1999, 2006), zeigt, dass bei der Bestimmung von sprach- und schriftspracherwerbsgestörten Kindern sehr unterschiedliche Kriterien zugrunde liegen, dass Sprache und Kommunikation ebenso wie För-der- und Therapiebedarf oft gleich gesetzt werden. Ein Kind mit einer behandlungsbedürftigen Sprachentwicklungsstörung unterscheidet sich aber dramatisch von einem Kind, das aufgrund

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38 Hermann Schöler

einer anregungsarmen Umgebung vielleicht nicht die sprachlichen und kommunikativen Um-gangsformen erlernen konnte, und letzteres wäre auch nicht mit einem Kind gleichzusetzen, das aufgrund eines Migrationshintergrundes nur unzureichende Sprachkenntnisse erwerben konn-te.

Damit soll nicht geleugnet werden, dass es Hinweise auf sich verändernde Lebensbedin-gungen gibt, die durchaus ein Gefahrenpotenzial für Sprach- und Kommunikationsauffälligkei-ten bieten. So finden sich Zusammenhänge zwischen dem Fernsehkonsum, dem eigenen Fern-seher im Kinderzimmer, den Vorlesezeiten durch die Bezugspersonen und den Sprach- und Kommunikationsauffälligkeiten des Kindes (Schöler u.a., 2004). Der soziale Hintergrund war und ist ein weiterer Faktor für Unterschiede – und selbstverständlich die Migrationssituation. Diese verschiedenen Bedingungsgefüge erfordern aber eine notwendige Differenzierung in der Art der Intervention, zumindest ist ein Förder- von einem Therapiebedarf zu unterscheiden.

2 Problembereiche bei Kindern mit einer spezifischen Sprachentwick-lungsstörung

Kinder mit spezifischen Sprachentwicklungsstörungen (SSES) gelten als Risikokinder für Schriftspracherwerbsstörungen. Bei einem Kind mit einer SSES liegen die sprachlichen Lei-stungen unterhalb des seinem Intelligenzalter angemessenen Niveaus, insbesondere der Erwerb und Gebrauch sprachlich-strukturellen Wissens scheint beeinträchtigt (s. Schöler u.a., 1998). Eine Aufgabe, die solchen Kindern besondere Schwierigkeiten bereitet, ist das unmittelbare Nachsprechen von vorgesprochenen Sätzen. Diese Beobachtung berichtet schon Liebmann: „Beim Nachsprechen treten rudimentare Flexionen auf, es werden auch Unterschiede im Genus gemacht, doch sind die meisten Flexionsformen noch falsch und das Genus wird meist ver-wechselt“ (1901, S. 241). Die folgenden Äußerungen (s. Tabelle 1), die auf einer CD filmisch dokumentiert sind (Schöler & Grabowski, 2004), belegen diese Schwierigkeiten sehr gut (s. Schakib-Ekbatan & Schöler, 1995). „Andreas“, der als 17-Jähriger unauffällig kommunizieren kann, scheitert weiterhin an dieser Aufgabe.

Tabelle 1: Längsschnittliche Betrachtung der Leistung beim Nachsprechen

(a) eines sinnvollen und (b) eines Kunstwortsatzes

(a) Die Familie wird ein Haus im Grünen beziehen, das einen großen Garten hat. 8;1 Jahre In Faminen in grüne Haus und haben eine Garden 8;7 Jahre Die FaFamilie – einziehen – – hat ein großen Gar – tén 9;6 Jahre Familie ziehen – da wo ein Haus – im Grüne stehen 17 Jahre Die Familie wird ein Haus im Grünen beziehen – – – – die in der – – im

Garten hat (b) Ein Molt ist von dem Fix gepalzt worden. 8;1 Jahre nMowel dit – – – – – – worden 8;7 Jahre Der M/Volt wird vom Fix [?] geword [?] 9;6 Jahre Da Moht wertet von Mit [?] gepohtet [?] geworden 17 Jahre Ein Molt wurde von – – – Gilbst gegilbst worden

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Diagnose der orthographischen Kompetenz mit HSP und DSP

Von Peter May

Aktualisierung, Überprüfung und Erweiterung des Konzepts

Die Anfänge der Hamburger Schreibprobe (HSP) reichen bis in das Jahr 1983 zurück. Damals hatte der Autor als Schulpsychologe die Aufgabe, den Hamburger Schulen ein Diagnoseverfah-ren vorzuschlagen, um die förderbedürftigen Kinder für die schulische LRS-Förderung mög-lichst frühzeitig zu erkennen. Als die Auswertungsmethode der damaligen Tests (Auszählen falsch geschriebener Wörter) sich als nicht genügend differenzierend erwies, da zu viele Kinder noch am Ende von Klasse 2 nur wenige der Testwörter vollständig richtig schreiben konnten, wurde aus der Not heraus die Auswertungsmethode der HSP, nämlich die Ermittlung richtig ge-schriebener Grapheme entwickelt.1

Gleichzeitig wurde die damals herrschende Auffassung vom Schriftspracherwerb als eine weitgehend reproduktive Tätigkeit, bei der die Kinder in erster Linie vorgegebene Wörter aus-wendig schreiben lernen sollten, allmählich zugunsten von entwicklungstheoretischen Er-werbsmodellen (sog. Stufenmodelle) überwunden. Dadurch wurde der Weg frei für die Ent-wicklung von Diagnoseverfahren wie der HSP, bei denen die Schreibungen der Kinder strate-giebezogen analysiert werden. Die Kombination der Strategieanalyse mit der Graphemtreffer-methode ermöglicht seitdem eine äußerst ökonomische und treffsichere Feststellung des schriftsprachlichen Lernstandes der Kinder.

Das Entwicklungsmodell der HSP (siehe Abbildung 1) stellt eine Erweiterung des sog. Stufenmodells von Frith (1991) dar. Danach werden bei der HSP folgende Rechtschreibstrategi-en ausgewertet:

– Alphabetische Strategie, d.h. die Rekonstruktion der Schreibungen aufgrund der eigenen Ar-tikulation

– Orthographische Strategie, d.h. die Modifikation der einfachen Laut-Buchstaben-Beziehung durch spezifische Rechtschreibregeln

– Morphematische Strategie, d.h. die Ableitung und Einpassung der Schreibungen von/in die Bedeutungsstrukturen der Sprache

– Wortübergreifende Strategie, d.h. die Beachtung von Wortarten, Syntax und Textmodalitäten beim Rechtschreiben.

Aus dem Grad der Beherrschung der verschiedenen Rechtschreibstrategien, die durch sog. Lu-penstellen bestimmt werden, wird ein individuelles Leistungsprofil gewonnen. Auf ebenso öko-nomische Weise wird das Niveau des Rechtschreibkönnens (Wortschreibungen und Graphem-

1 In der Folge wird seit 1985 die LRS-Diagnose in Hamburg mit den Vorformen der HSP und ihre „Graphemtref-

fermethode“ durchgeführt.

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46 Peter May

treffer) und die Integration der Rechtschreibstrategien („überflüssige“ orthographische Elemente) sowie das Aufmerksamkeits- und Kontrollverhalten beim Rechtschreiben (Oberzeichenfehler) erfasst.

Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen nicht die Fehler als Abweichung von der Norm, sondern das bereits Gekonnte, das sich auch in teilweise richtigen Schreibungen zeigt. Mit die-sem Konzept liefert die HSP mit einem vergleichsweise geringen Aufwand eine sichere Diagno-se des Lernstands und eine solide Grundlage für die Planung von Fördermaßnahmen sowie für die Überprüfung des Fördererfolgs.

Abbildung 1: Entwicklungsmodell der HSP (erweitert nach Frith 1991; May 2001)

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Erstleseunterricht und Lese-Rechtschreibleistungen

Erste Ergebnisse einer Wiener Längsschnittuntersuchung

Von Alfred Schabmann

1 Die Rolle des Unterrichts beim Schriftspracherwerb

Für die meisten Kinder beginnt die systematische Aneignung der Schriftsprache mit dem Ein-tritt in die Schule. Zu diesem Zeitpunkt sind kaum Vorkenntnisse vorhanden (Mann & Wim-mer, 2002; Klicpera, Gasteiger-Klicpera & Schabmann, 1993). Der Unterricht beginnt also für fast alle Kinder gleichsam bei Null. Dennoch sind schon relativ bald nach Schulbeginn deutli-che interindividuelle Unterschiede in den Lese- und Rechtschreibleistungen festzustellen. In vielen Fällen persistieren Schwierigkeiten bis über die Grundschulzeit hinaus (Klicpera & Schabmann, 1993).

Bei der Entstehung von Leistungsunterschieden im Lesen und Rechtschreiben spielt ne-ben individuellen Lernvoraussetzungen und der häuslichen Förderung auch die Gestaltung des Erstleseunterrichts eine Rolle (Klicpera et al., 1993; Schabmann, 2001). Dies zeigt sich vor allem daran, dass zum Teil beträchtliche Leistungsunterschiede zwischen Schulen und selbst zwischen verschiedenen Klassen in ein und derselben Schule bestehen, selbst wenn die sozio-ökono-mischen Rahmenbedingungen vergleichbar sind und die individuellen Lernvoraussetzungen der einzelnen Schüler kontrolliert werden.

Ein wesentliches Merkmal, in dem sich Klassen unterscheiden, ist die grundlegende me-thodische Orientierung im Erstleseunterricht. Im angloamerikanischen Raum wird seit über 50 Jahren eine Debatte zwischen den Vertretern verschiedener Ansätze geführt. Grob sind zwei Formen zu unterscheiden – ein ganzheitlicher wortorientierter Ansatz (früher im Deutschen als Ganzwortmethode bezeichnet), bei dem das sinnvolle Wort als primäre Einheit beim Lesen- und Schreibenlernen verstanden wird, und ein eher am einzelnen Laut orientierter Ansatz, bei dem vor allem die Zuordnung auf Phonem-Graphem-Ebene betont wird (synthetisch-laut-orientierter Leseunterricht).

Studien aus dem englischsprachigen Raum zeigten, dass es den Kindern in einem laut-orientierten Unterricht in der Regel leichter fällt, das Lesen zu erlernen als in einem wortorien-tierten Unterricht bzw. einer Mischform der beiden. In einer Metaanalyse fanden z.B. Ehri, Nu-nes, Stahl, & Willows (2001) Effektstärken1 zwischen d=.49 und d=.98 für das Lesen von Wör-tern und Pseudowörtern. Vor allem Kinder mit Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens dürf-ten vom lautorientierten Unterricht profitieren (Brown & Felton, 1990; Foorman, Francis, Flet-cher, Schatschneider & Metha; 1998; Snow, Burns & Griffin, 1998; Foorman, Fletcher, Francis, & Schatschneider, 2000).

Die Übertragung dieser Befunde auf die Gegebenheiten im deutschen Sprachraum ist nicht unproblematisch. Es hat sich gezeigt, dass es Kindern in regelmäßigeren Schriftsystemen

1 Mit dem im Folgenden mehrfach angegebenen Cohen´s d wird die Stärke eines Effekts ausgedrückt. Eine Effekt-

stärke von d ≈ .20 gilt als gering, d ≈ .50 als mittlere Effektstärke und d ≈ .80 als großer Effekt (Cohen, 1988).

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60 Alfred Schabmann

als dem Englischen (d.h. in Sprachen mit relativ einfachen und transparenten Graphem-Pho-nem-Entsprechungen), insgesamt deutlich leichter fällt, die Zuordnung von Buchstaben zu Lau-ten zu erlernen (Goswami, Gombert & de Barrera, 1998; Bruck, Genesee & Caravolas; 1997; Seymour, Aro, & Erskine; 2003; Ellis & Hooper, 2001). Das Deutsche ist eine in dieser Hinsicht vergleichsweise regelmäßige Sprache, so dass die Unterrichtsmethode, was das Ausmaß an Lautorientiertheit betrifft, von untergeordneter Bedeutung sein könnte (vgl. Landerl, 2000).

Dennoch wurden in frühen Studien gewisse Vorteile beim Erlernen des Lesen und Rechtschreibens für die lautorientierte Unterrichtsform berichtet. Allerdings dürften sich die Unterschiede bis zum Ende der Grundschulzeit weitgehend ausgleichen. So fanden Müller (1964, 1965) und Schubenz (1966) Vorteile für Schüler in einem lautorientierten Unterricht bis zur 3. Klasse. Ferdinand (1970) berücksichtige in der Analyse das unterschiedliche Engagement der Lehrer im Unterricht und fand unter diesen etwas kontrollierteren Bedingungen nur im er-sten Schuljahr Unterschiede zugunsten des lautorientierten Erstleseunterrichts. Einsiedler, Frank, Kirschhock, Martschinke & Treinies (2002) fanden in ihrer Interventionsstudie, in der ein spezielles Training der phonologischen Bewusstheit mit dem deutschen Standard-Fibelunterricht und einem so genannten „Entwicklungsorientierten Unterricht“ verglichen wurde (bei dem keine systematische Instruktion der Graphem-Phonem-Regeln stattfand, son-dern die Kinder anhand von Lauttabellen die Buchstaben-Laut-Zuordnungen selber entdecken sollten) beim Lesen am Ende der ersten Klasse Nachteile zu Ungunsten dieses weniger systema-tisch lautorientierten Programms.

Neben der grundsätzlichen Orientierung der Lehrer im Erstleseunterricht bestehen wei-tere Unterschiede vor allem in der konkreten Umsetzung verschiedener Strategien zur Vermitt-lung des Lesens und Rechtschreibens. Dies betrifft die Auswahl des Leselehrganges (der Lesefi-bel) sowie die Verwendung zusätzlicher Unterrichtsmaterialien wie Computer, Setzkasten, Lernspiele etc. Hier sind die Lehrer in Österreich relativ frei, aus einer Vielzahl von Materialien auszuwählen oder auch eigene zusammenzustellen (z.B. selbst entworfene Wortlisten). Weiter bestehen zwischen den Klassen Unterschiede in der Intensität und Häufigkeit von schriftlichen Hausübungen und auch im Zeitausmaß, das im Unterricht für Lesen und Schreiben aufgewen-det wird.

Kaum beachtet wurde in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung bislang die Ge-schwindigkeit, mit der im Erstleseunterricht vorgegangen wird. Es ist deshalb relativ unklar, welche Effekte ein rascheres oder langsameres Vorgehen nach sich zieht. Einerseits wäre zu er-warten, dass bei einem langsameren Vorgehen die erworbenen Fähigkeiten besser abgesichert werden könnten. Dadurch könnte eine Überforderung speziell schwächerer Schüler vermieden werden. Andererseits hat die Einführung der Buchstaben eine gewisse Dynamik – Je früher die Buchstaben bekannt sind, desto eher besteht für die Kinder die Möglichkeit, auch außerhalb der Schule selbständig zu lesen.

Viele Lehrer bauen zusätzliche Übungen, die in den Leselehrgängen nicht vorgesehen sind, in den Unterricht ein. Neben Übungen auf Buchstabenebene (z.B. „Erleben“ der Buchsta-ben durch fühlen oder selber gestalten) werden verschiedene schriftliche Übungen auf Buchsta-ben-, Wort- und Satzebene sowie Übungen eingesetzt, welche die Wahrnehmung von Lauten in Wörtern verbessern soll. Beispielsweise ist von Lesedidaktikern wiederholt vorgeschlagen wor-den, Handzeichen zu verwenden, um es den Schülern zu erleichtern, Laute in Wörtern korrekt zu erkennen. Hier wurden recht unterschiedliche Systeme von Lautzeichen eingeführt: ein Teil der in der Praxis verwendeten Zeichen erinnert primär an die Buchstabenform, andere Systeme beziehen sich mehr auf den Artikulationsort bzw. die für einen Laut typische Mundstellung

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Kausale Behandlungsansätze in der Legasthenie-Therapie

Von Waldemar v. Suchodoletz

Anliegen kausaler Behandlungsansätze

Bei der Förderung von Kindern mit einer Legasthenie steht in der Regel ein Training von Lese- und Rechtschreibprozessen bzw. deren Vorläuferfertigkeiten im Vordergrund. Entsprechende Therapieprogramme sind unter Berücksichtigung lerntheoretischer Gesichtspunkte nach son-der- und heilpädagogischen Grundsätzen gestaltet, d.h., dass die Aufgaben auf den individuel-len Leistungsstand des Kindes abgestimmt und in kleine Einheiten unterteilt sind, mehrere Sin-nesbereiche einbezogen werden und den Kindern Entscheidungshilfen zur Lösung von Schrift-sprachproblemen an die Hand gegeben werden. Um Schulunlust und Versagensangst abzubau-en, werden Aufgaben so gestaltet, dass dem Kind Erfolgserlebnisse vermittelt werden. Inzwi-schen gibt es eine Vielzahl spezifisch auf die Bedingungen legasthener Kinder abgestimmter Förderprogramme, deren Effektivität in Evaluationsstudien belegt werden konnte.

Relevante Erfolge stellen sich aber nur bei einer intensiven Förderung ein, und nur, wenn diese über Monate oder Jahre erfolgt. Kurzfristige Erfolge können nicht erwartet werden und von Kindern und Eltern werden Mitarbeit und Anstrengungsbereitschaft über einen langen Zeitraum verlangt. In Anbetracht der nur langsam eintretenden und begrenzten Erfolge ist es verständlich, dass nicht nur Fachleute, sondern auch Betroffene bzw. deren Eltern nach effekti-veren Verfahren suchen. Aus diesem Bemühen heraus entstanden zahlreiche Therapiemetho-den, die von dem Gedanken ausgehen, dass bei einer direkt am Lesen und Schreiben ansetzen-den Förderung die Ursache der Legasthenie unberücksichtigt bleibt. Bei einer solchen „Oberflä-chentherapie“ könnten die Erfolge weder ausreichend noch anhaltend sein. Um relevante Er-gebnisse zu erreichen bzw. die Voraussetzungen für eine erfolgreiche sonderpädagogische För-derung zu schaffen, sei eine Beseitigung der Ursache durch eine kausale Therapie erforderlich.

Über die Ursache der Legasthenie bestehen aber trotz Jahrzehnte langer intensiver For-schung kontroverse Auffassungen und demzufolge gehen kausale Behandlungsansätze von ganz unterschiedlichen Konzepten aus. Oft werden als Hintergrund der Schriftsprachschwäche ko-gnitive Grundstörungen angesehen, die durch ein gezieltes Training ausgeglichen werden sol-len. So entstanden u.a. Methoden zum Training der auditiven und visuellen Wahrnehmung, der Blicksteuerung, der Zeitverarbeitung, der Motorik, der Seitigkeit und der Hemisphärenkoordi-nation.

Kausale Therapieansätze haben inzwischen weite Verbreitung gefunden. Von den Ver-fechtern dieser Methoden wird über sprunghafte Verbesserungen nicht nur der Lese- und Rechtschreibleistungen, sondern der gesamten Lebenssituation der Kinder berichtet. Unter der Therapie verschwinde die Schriftsprachschwäche bei den meisten Kindern innerhalb weniger Wochen. Ganz gleich, ob auditiv, visuell oder motorisch trainiert wird oder spezifische Übun-gen zur Spezialisierung der Zusammenarbeit der Hirnhälften durchgeführt werden, Erfolge tre-ten nach Angaben der Anwender der jeweiligen Methode prompt und bei fast allen Kindern ein.

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74 Waldemar v. Suchodoletz

Diese positiven Bewertungen derjenigen, die eine spezifische kausale Therapiemethode entwickelt haben bzw. diese anbieten, werden aber nicht allgemein geteilt. Ergebnisse unabhän-giger Überprüfungen der Effektivität sind eher ernüchternd. Auch ist kaum zu erwarten, dass derart unterschiedliche Behandlungsmethoden zu immer gleich guten Ergebnissen führen. Kausale Therapieansätze müssen somit kritisch hinterfragt werden, weshalb im Folgenden eini-ge dieser Methoden beschrieben und auf Ergebnisse von Effektivitätsstudien eingegangen wer-den soll. Eine ausführlichere Darstellung und Bewertung kausaler Therapiemethoden findet sich bei v. Suchodoletz (2006).

Auditive Wahrnehmungsstörung

Tomatis, ein französischer HNO-Arzt, war der erste, der Lernstörungen und psychische Auffäl-ligkeiten auf Beeinträchtigungen der auditiven Wahrnehmung zurückführte. Er entwickelte das Horchtraining mit dem Elektronischen Ohr (Tomatis-Therapie), bei dem in der Therapiesitzung technisch veränderte Musik gehört wird. In der Musik, meist gregorianische Gesänge oder Mo-zartkompositionen, werden hohe Frequenzen und vom Kind schlecht differenzierte Frequenz-bänder verstärkt, die Lautstärke wird auf dem linken Ohr zunehmend gedrosselt und die Über-tragung erfolgt wechselnd über Luft- und Knochenleitung (Übertragung von Vibrationen auf den Schädelknochen). Tomatis entwickelte ein ausgefeiltes Weltbild, in dem Hörerfahrungen eine zentrale Rolle bei der Entwicklung des Menschen zugeschrieben wird.

Bausteine der Tomatis-Therapie finden sich in vielen, derzeit häufig eingesetzten auditi-ven Behandlungsmethoden. Die Klangtherapie (Audio-Vokales-Integratives Training – AVIT) ist der Tomatis-Therapie sehr ähnlich, jedoch im Vorgehen weniger festgelegt. Beim Hochtontrai-ning wird davon ausgegangen, dass legasthene Kinder Konsonanten mit hohen Frequenzantei-len (z.B. Zischlaute) nicht exakt heraushören können und deshalb falsch schreiben. Die Kinder hören Musik oder Sprache, in denen hohe Frequenzen verstärkt werden. Dem Richtungshörtrai-ning liegt der Gedanke zugrunde, dass Kinder mit Schwächen beim Richtungshören im Ge-räuschwirrwarr einer Klassensituation die wesentlichen Informationen nicht mühelos herausfil-tern können und deshalb falsch hören und Konzentrationsschwächen entwickeln. Tondifferen-zierungsübungen werden als Computerprogramme (Audilex) oder als Bausteine in Gameboy-ähnlichen Geräten (Brain-Boy Universal, FonoTrain) angeboten.

Der Grundgedanke, auf dem das Konzept der auditiven Wahrnehmungsstörung beruht, ist recht plausibel, Ergebnisse von Effektivitätsstudien sind aber widersprüchlich. Sie lassen er-hebliche Zweifel an der Wirksamkeit eines auditiven Trainings aufkommen. Hinsichtlich der Tomatis-Therapie wurden in einigen Arbeiten leichte Verbesserungen beschrieben. In kontrol-lierten Studien unter Berücksichtigung von Placebo-Effekten konnten jedoch keine Hinweise auf eine Wirksamkeit der Tomatis-Therapie gefunden werden. Ein Training mit Audilex verbes-sert nach einer Überprüfung durch Kujala et al. (2001) die Lesefähigkeit. Eine andere Arbeits-gruppe fand hingegen keine positiven Effekte auf Lese- und Rechtschreibleistungen (Bitz et al. 2005). Ein Richtungshörtraining kann nach eigenen Erfahrungen schriftsprachliche Fähigkeiten nicht verbessern (Berwanger & v. Suchodoletz 2004). Insgesamt kann somit nicht davon ausge-gangen werden, dass durch ein auditives Training wesentliche Fortschritte beim Schriftsprach-erwerb zu erreichen sind.

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Erfolgreich Rechtschreiben mit LOLLIPOP Ein integratives Konzept im Rahmen des Sprach- und Sachunterrichts

Von Gisela Dorst

Das Rechtschreibkonzept des Sprach-Sachbuches LOLLIPOP konnte in dem Hessischen Modell-versuch zum Schriftspracherwerb beeindruckende Lernerfolge aufzeigen. Der von der Universi-tät Marburg wissenschaftlich evaluierte Versuch beweist:

a) Die Lese- und Rechtschreibleistungen der Kinder unterscheiden sich deutlich je nach Un-terrichtskonzept.

Abbildung 1:

Rechtschreib-T-Werte nach 2 Jahren; Nov. 2004 L = Lollipop, R = Rechtschreibwerkstatt, K = Kontrollgruppe

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82 Gisela Dorst

b) Die Anzahl der lese-rechtschreibschwachen Kinder lässt sich durch ein entsprechend fundier-tes Unterrichtskonzept um die Hälfte verringern (4,3% bei Lollipop statt 10% im Bundes-durchschnitt).

Abbildung 2:

Anteil der Kinder mit PR<10 im RST nach 2 Jahren; Nov. 2004 L = Lollipop, K = Kontrollgruppe, R = Rechtschreibwerkstatt

„Ein sensationelles Ergebnis“, weil es darauf hinweist: „Schule hat eine große Bedeutung für die-se Störung. Und wenn man den Unterricht verändert, kann man sehr viel erreichen“, erklärt Dr. Gerd Schulte-Körne gegenüber bildungsklick.de.

An dem Projekt, das im Auftrag des Hessischen Kultusministeriums vom Staatlichen Schulamt Fritzlar durchgeführt wurde, waren insgesamt 69 Klassen mit ca. 1350 Schülerinnen und Schü-ler der Jahrgangsstufen 1 bis 6, davon 27 Anfangsklassen, beteiligt. Die Lehrerinnen und Lehrer wählten eines von zwei alternativen Unterrichtskonzepten, das sie über zwei Schuljahre hinweg (vom August 2002 bis Juli 2004) im Deutschunterricht erprobten und wurden gleichzeitig in Kompaktseminaren und monatlichen Treffen konzeptspezifisch fortgebildet.

Für die Konzeptevaluation wurden 15 Klassen ausgewählt, je fünf Anfangsklassen pro Unterrichtskonzept und zusätzlich fünf Kontrollklassen.

Nach der Veröffentlichung der Ergebnisse im Dezember 2004 wird die wissenschaftliche Evaluation der beiden Konzepte bis zum Ende der Grundschulzeit fortgesetzt.

Nach meiner Einschätzung lassen sich mehrere Gründe für das erfreuliche Ergebnis nennen:

a) Dem Lollipop-Konzept liegt ein ganzheitlicher Lernbegriff zugrunde, der nicht in erster Linie Teilleistungen isoliert, sondern Rechtschreibung als integrativen Bestandteil des Deutschunterrichts sieht.

b) Er zielt von Anfang an auf die Analyse und Prävention von Schwierigkeiten beim Schreiben.

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Paarweises Tutoring im Leseunterricht – eine wirksame Methode zur Förderung

der Lesegeschwindigkeit1 Von Christian Klicpera, Barbara Gasteiger-Klicpera,

Simone Rainer und Nicole Gelautz

Abstract: 178 Kinder aus acht Klassen der 2. Klassenstufe Grundschule in Graz nahmen an einer Interventionsstudie Teil, in der in drei Klassen über etwa drei Monate pro Woche für zwei Stunden ein paarweises Tutoring durchgeführt wurde, in weiteren drei Klassen wurde ein Projekt zum sozialen Lernen durchgeführt (als Zuwendungskontrollgruppe) und zwei Klassen dienten als unbehandelte Kontrollgruppe. Über prä-/post-Messungen wurden einerseits die Leistun-gen im Lesen und Rechtschreiben, andererseits Veränderungen im Sozialverhalten bei den Schülern der acht Klassen erhoben. Nach den Testergebnissen verbesserte sich die mündliche Lesegeschwindigkeit in den Klassen mit dem paar-weisen Tutoring signifikant stärker als in den beiden anderen Vergleichsgruppen. Die Analyse der Fragebogen wies auch auf günstige Veränderungen im Sozialverhalten hin, wobei allerdings die Fortschritte in der Kontrollgruppe, in der das Projekt zum sozialen Lernen stattfand, deutlich größer waren. Einleitend werden Tutoringprogramme aus dem an-glo-amerikanischen Sprachraum vorgestellt (siehe auch Klicpera et al., 2003) und darauf hingewiesen, dass diese einen neuen Ansatz in der schulischen Förderung darstellen, da damit ein Ausweg aus dem Dilemma der knappen Ressour-cen für die individuelle Zuwendung durch ausgebildete Lehrer gewiesen werden könnte. In der Diskussion wird auf die inhaltliche Gestaltung des Tutoring etwas eingegangen und auf die Gefahr hingewiesen, das Tutoring mit zu vielen In-halten zu überfrachten.

Die bisherigen Bemühungen, Kinder mit Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und Schreibens speziell zu unterstützen und zu fördern, haben bisher im deutschen Sprachraum in erster Linie in Förderstunden von Lehrern bestanden, die zumeist in einer kleinen Gruppe au-ßerhalb der Klasse stattfanden (Klicpera, Gasteiger-Klicpera & Hütter, 1993). Damit ergeben sich eine Reihe von Problemen, einmal stellt sich natürlich das Problem der Auswahl jener Kin-der, die eine zusätzliche Förderung nötig haben, ein Problem, das v.a. dadurch an Bedeutung gewinnt, wenn man sich von der traditionellen Vorstellung des typischen legasthenischen Kin-des, das durch bestimmte besondere Merkmale gekennzeichnet ist, distanziert, sondern von ei-nem Kontinuum an Leistungen beim Lesen und Rechtschreiben ausgeht, wo unter Umständen viele Kinder in der Klasse mehr oder weniger zusätzliche Unterstützung brauchen, die Ent-scheidung für die Auswahl der zu fördernden Kinder also nicht so leicht zu treffen ist. Ein wei-teres Problem ergibt sich dadurch, dass bei vielen Kindern die Lese- und Rechtschreibprobleme mit Problemen beim Aufrechterhalten der Aufmerksamkeit einhergehen und diese Kinder dann wirklich individuelle Zuwendung und Unterstützung brauchen, damit sie bei der Sache bleiben und von Übungen profitieren können. Hier sollte dementsprechend die Förderung als Einzel-förderung erfolgen. Wenn diese zusätzliche Unterstützung aber von Lehrern gemacht werden soll, dann ist das nicht leistbar. Von daher ist es dringend nötig, alternative Formen der Förde-rung in Betracht zu ziehen, die den Lehrer-geleiteten Gruppenunterricht ersetzen können. Drei Möglichkeiten kommen prinzipiell in Betracht: die Förderung durch die Eltern zu Hause, die Unterstützung durch erwachsene ehrenamtliche bzw. freiwillige Helfer von außerhalb der Schu-le und das Mitschüler-Tutoring. Alle diese Formen haben gewisse Vor-, aber auch Nachteile.

1 Erstveröffentlichung in leicht überarbeiteter Fassung: Klicpera, C., Rainer, S. & Gelautz, N.: Einfluss eines klas-

senweisenMitschüler-Tutoring auf die Entwicklung des Lesens und Rechtschreibens sowie das Sozialverhalten in der 2. Klasse Grundschule. Heilpädagogische Forschung, 31, 145-152, 2005.

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96 Christian Klicpera, Barbara Gasteiger-Klicpera, Simone Rainer und Nicole Gelautz

Die Idee der Verwendung des Mitschüler-Tutoring bei der Intervention von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten ist im anglo-amerikanischen Sprachraum, v.a. in den USA, schon vor einiger Zeit aufgegriffen worden und ist mittlerweile durch eine Reihe an Berichten als durchaus realistische Möglichkeit für Kinder verschiedener Klassenstufen zu betrachten (für Übersichten siehe etwa Damon & Phelps, 1989; Morrow & Woo, 2001; Shanahan, 1998; Top-ping, 1998). In einigen Projekten ist man über das seit langem bekannte Mitschüler-Tutoring bei einzelnen Kindern hinausgegangen und hat das gemeinsame paarweise Arbeiten von Mit-schülern mit allen Schülern einer Klasse eingeführt. Ein bekanntes derartiges Projekt ist an der Vanderbilt Universität initiiert worden und wird mittlerweile auch an anderen Orten durchge-führt. Das Projekt wird Peer-assisted Learning Strategies (PALS) genannt und ist auch für Kin-der der ersten Klassen Grundschule erprobt worden (Mathes, Fuchs, Fuchs et al., 1994; Mathes, Howard, Allen et al., 1998; Mathes, Grek, Howard et al., 1999).

Untersuchungsmethode

Stichprobe: Insgesamt 176 Kinder (84 Buben und 92 Mädchen) der 2. Klassenstufe aus acht Klassen in vier Volksschulen nahmen mit Einverständnis der Eltern an der Untersuchung teil. Ursprünglich waren eigentlich neun Klassen – je drei für die Intervention mit dem paarweisen Tutoring im Lesen und Rechtschreiben (Tutoringgruppe), für eine Intervention zur Förderung des sozialen Zusammenhalts bzw. eine Zuwendungskontrollgruppe und für eine Kontrollgrup-pe ohne Intervention – vorgesehen, jedoch hat eine Lehrerin ihre ursprüngliche Zustimmung zur Mitarbeit zurückgezogen, als sie erfahren hatte, dass ihre Klasse nur im Rahmen der Kon-trollgruppe teilnehmen sollte. Somit verblieben drei Klassen mit 62 Schülern in der Tutoring-gruppe, drei Klassen mit 70 Schülern in der Zuwendungskontrollgruppe und zwei Klassen mit 44 Schülern in der Kontrollgruppe ohne jede Intervention.

Durchführung der Intervention mit dem paarweisen Tutoring in der Klasse: Es sollten pro Klasse jeweils Paare von Schülern gebildet werden, die pro Woche für zwei Unterrichtsstunden mitsammen arbeiteten, wobei jeweils ein Schüler im Lesen und Rechtschreiben etwas besser sein sollte. Um dies zu erreichen, wurden die Kinder jeder der drei Klassen nach den Eingangs-tests für das Lesen und Rechtschreiben in zwei Gruppen, eine bessere und ein schwächere, ge-teilt und dann jeweils der beste der besseren Hälfte dem besten der schwächeren Hälfte zugeteilt und so fort. Damit sollte garantiert werden, dass einerseits jeweils ein Schüler etwas besser als der andere ist, dass aber die Leistungsunterschiede zwischen den beiden Schülern, die paarwei-se zusammenarbeiteten, nicht so groß sind.

Im Mittelpunkt des Tutoring stand das gemeinsame Lesen einer kurzen Geschichte (je-weils eine Viertelstunde), wobei abwechselnd vom Tutee und vom Tutor ein Satz gelesen wird (Korrekturprozedur bei Fehler vereinbart). Am Ende sollte der Tutee, mit Hilfe von Fragen des Tutors, die Geschichte zusammenfassen. Zusätzlich wurden Teilkomponenten des Lesens und Schreibens mit Material, das aus verschiedenen Förderprogrammen zusammengestellt worden ist, geübt.

Durchführung der Förderung von Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit in der Zu-wendungskontrollgruppe: In paarweiser Zuordnung sollten sich die Schüler in insgesamt etwa 20 Sitzungen mit für das Zusammenleben relevanten Themen bzw. Übungen beschäftigen. Das reichte vom gegenseitigen Kennenlernen, dem Erkennen und Äußern von Gefühlen, den per-sönlichen Eigenheiten, den Strategien zum Lösen von sozialen Problemsituationen und dem Problem von Außenseitern. Die paarweise Zuordnung erfolgte hier mit einem Zufallsverfahren

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Das Konzept der „Lautgetreuen Lese-Rechtschreibförderung“

Von Carola Reuter-Liehr

Anliegen ist, die elementaren Bestandteile des Konzepts der „Lautgetreuen Lese-Recht-schreibförderung“ im Überblick vorzustellen und das Zusammenwirken dieser einzelnen Teile aufzuzeigen. Erst die Verknüpfung dieser Teile führt zum nachhaltigen Erfolg. So macht es we-nig Sinn, einzelne Teile herauszunehmen und in ein Behandlungsvorgehen einzubetten, das abweichend davon aufgebaut ist. Denn effektiv ist nach unserer Auffassung nicht das Neben-einander verschiedener Elemente oder gar verschiedener Methoden. Vielmehr ist wichtig, eine in sich schlüssige Herangehensweise an Schriftsprache mit dem legasthenen Kind zu erarbeiten, die es ihm erlaubt, die Regelmäßigkeiten der Schriftsprache ohne Stolpersteine zu erfahren, da es ihm nicht gelingt, diese intuitiv zu erfassen. Auf der Grundlage eigener Erfahrungen und Er-kenntnisse lässt sich der so notwendige Transfer des Trainierten für das Kind eher erreichen.

Der nachhaltige Erfolg dieses Vorgehens ist durch Ergebnisse einer Follow-up-Studie aus dem Jahr 2004 (Unterberg 2005) belegt worden. Die wichtigsten Ergebnisse werden im zweiten Teil des Beitrages vorgestellt.

1 Konsequente Verknüpfung vier elementarer Bestandteile in der Le-gasthenietherapie

Das Konzept sieht vor, vier elementare Teile konsequent miteinander zu verknüpfen, um auf der Grundlage dieses integrativen Vorgehens ein strategiegeleitetes Lernen zu ermöglichen (s. Ta-belle 1).

Tabelle 1: Vier elementare Bestandteile strategiegeleiteten Lernens in der Legasthenietherapie

1. Zweckbezogene Sprachsystematik

Entwicklungsorientierter Schriftspracherwerb: von der phonemischen zur morphemischen Strate-gie

2. Lautanalytisch ausgewähltes Wortmaterial

Mitsprechwörter Regelwörter / Speicherwörter

3. Sensomotorisch orientierte / sprachstrukturierende Methoden

Lautgebärden Rhythmisches Syllabieren Morphemsegmentierung

4. Verhaltenstherapeutische Verstärkung

Gezielte Belohnung von Anstrengungen Visualisieren und Verstärken von Erfolgen Selbstinstruktion Aufbau von Eigenverantwortung

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108 Carola Reuter-Liehr

1.1 Sprachsystematischer Aufbau analog zum normalen Schriftspracherwerb

Teil 1 umfasst den sprachsystematischen Aufbau des Trainings. Unter dem Begriff „zweckbezo-gene Sprachsystematik“ (s. Tabelle 1) verstehen wir die Einbeziehung der Erkenntnisse über Häufigkeiten und Regelmäßigkeiten der deutschen Orthographie in den Schriftsprachaufbau, aber nur die, die für den Lernprozess des legasthenen Kindes hilfreich und nachvollziehbar sind. Beispielsweise helfen ihm keine komplizierten und gerade für dieses Kind schwer hörba-ren Betonungsregeln; so ist auch die Unterscheidung langer und kurzer Vokale ein langwieriger Prozess, auf den wir mit Hilfe der integrierten Methode des rhythmischen Syllabierens (s. 1.3) verzichten können.

Die Sprachsystematik des Legasthenietherapiekonzepts folgt in ihrem Aufbau dem nor-malen Erwerb von Schriftsprache, die einzelnen Stufen dieses Schriftspracherwerbs gelten in-zwischen allgemein als belegt (Mannhaupt 2003). Nach der logographischen Verarbeitung von Schrift im Vorschulalter folgt die Entdeckung alphabetischer Gesetzmäßigkeiten, um später or-thographisch korrekte Rechtschreibregeln aufzunehmen. Damit wird dem Dreiphasenmodell von Uta Frith (1986) gefolgt.

Wir möchten uns, angelehnt an Naumann (2004) und Scheerer-Neumann (1997, 2002) begrifflich davon wieder distanzieren und nennen die zweite Phase, welche nach den Vorstufen des Schreibens folgt, ebenfalls lautorientiert. In dieser Phase wird die phonemische Strategie (s. Tabelle 2) entwickelt, d. h. das Kind orientiert sich an den Lauten und ihren wesentlichen Un-terschieden. Konsonantische Skelettschreibungen werden langsam gefüllt (Beispiele: HS zu Haus, but zu bunt), bis das Wort in der voll entfalteten phonemischen Strategie (Beispiel: lesn) bereits gut zu lesen ist.

Das Kind erkennt nach und nach strukturelle Regelmäßigkeiten und kommt so zu einer erweiterten phonemischen Strategie – dies auf der Grundlage der Silbensegmentierung, deren bewusst gesteuerte Artikulation wir als „pilotsprachliche Sprechweise“ bezeichnen. Damit ist eine Sprechweise gemeint, die sich möglichst eng an der Schriftsprache orientiert, um deren Regel-mäßigkeiten (beispielsweise der häufigen Endungen: lesen, Schaufel, Mutter) eher bewusst zu machen. Diese Strategie kann wiederum bei Abweichungen von den erfahrenen Regelmäßigkei-ten übergeneralisiert werden – wie beispielsweise bei der seltenen a-Endung in dem Wort „So-fa“ als „Sofer“, da „-er“ am Ende eines Wortes die Regel ist. Solche Schreibweisen sollten in die-ser Lernphase als gelungene Übernahme der Strategie gewertet und nicht als Fehler ausgewie-sen werden, den das Kind hätte vermeiden können. Die Phase der Übergeneralisierung gilt es, durch häufigen Einsatz von Sprechen, Lesen und bewusstem Schreiben wieder zu überwinden.

Nach Sicherung der phonemischen Strategie – also dem lauttreuen Lesen und Schreiben – verfolgt das Konzept den systematischen Aufbau orthographischer Strukturen auf der Grund-lage der Morphemsegmentierung, welche eine weitere strukturelle Hilfe beim Erfassen der Schriftsprache bietet. Über das Erkennen von Anfangs- und Endmorphemen ist es dem Kind möglich, das Hauptmorphem zu isolieren, um so mit Hilfe von übergeordneten Ableitungsstra-tegien das Problem des Ableitens (Verlängern von Wort- oder Wortstamm-Endungen) zu be-wältigen (Reuter-Liehr, Bd. 1, 2001).

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Die Wirksamkeit von Trainingsprogrammen und Übungen zur Förderung der Rechtschreibung:

wissenschaftliche Studien und praktische Erfahrungen

Von Gero Tacke

Zusammenfassung Zunächst werden die im deutschsprachigen Raum vorliegenden Evaluationsstudien zur schulischen Rechtschreibförde-rung dargestellt. Sodann geht es um spezielle Rechtschreibprogramme, bei denen zwischen nicht-sprachlichen und sprachbezogenen Konzepten unterschieden wird.

Während zu den nicht-sprachlichen Programmen so gut wie keine Wirksamkeitsnachweise vorliegen, sind in Be-zug auf sprachbezogene Konzepte eine Reihe von Erfolg versprechenden Studien durchgeführt und publiziert worden. Dabei sind insbesondere zwei Ansätze zu nennen: die Orientierung an Wortbausteinen (Morphemen) und das silbie-rende Mitsprechen beim Schreiben. Die Evaluationsstudien zu den beiden Konzeptionen werden referiert.

Schließlich wird ein Rechtschreibprogramm vorgestellt, das der Autor unter dem Aspekt der Zeitökonomie entwik-kelt hat. Das Programm orientiert sich zum einen an den Erfordernissen der Praxis zum anderen an vorliegenden empi-rischen Befunden zur Wirksamkeit spezieller Rechtschreibübungen.

Zum Schluss wird der Frage nachgegangen, ob und in welchem Ausmaß die Rechtschreibung verbessert werden kann, wenn man die Schüler dazu bringt, möglichst viel zu lesen. Die Studien, die im deutschen Sprachraum dazu ver-öffentlicht worden sind, werden dargestellt.

1 Die Wirksamkeit von schulischen Förderkursen

Ein großes Problem bei der Förderung lese- rechtschreibschwacher Schüler ist der Mangel an Zeit. In der Regel sind die betroffenen Kinder durch die Hausaufgaben sehr belastet. Kommen dann zusätzlich noch Lese- und Rechtschreibübungen hinzu, so bleibt den Schülern kaum noch Zeit für andere Aktivitäten. In dieser Situation sollte man sehr genau bedenken, für welche Art von Förderung man sich entscheidet. Basis für solche Überlegungen sollten nicht marktschreie-rische Versprechen sein, wie man sie von vielen unseriösen Anbietern zu hören bekommt, son-dern sorgfältige Studien, in denen der Erfolg des Vorgehens evaluiert worden ist.

Die erste Adresse für Erfolgsüberprüfungen sind Förderkurse, die in der Schule durchge-führt werden. Ende der achtziger Jahre haben Gasteiger-Klicpera und Klicpera (1989) recht-schreibschwache Schüler, die von der zweiten Klasse an mit zwei Wochenstunden gefördert wurden, mit leistungsgleichen Schülern verglichen, die aus organisatorischen Gründen nicht in den Genuss von zusätzlichen Maßnahmen gekommen sind. Nach Ablauf des Förderzeitraums von zwei Jahren wiesen die speziell unterrichteten Schüler keine besseren Rechtschreibleistun-gen auf als die nicht geförderten der Kontrollgruppe. Ende der neunziger Jahre haben Klicpera und Gasteiger-Klicpera (2001) eine weitere Studie mit analogem methodischem Vorgehen durchgeführt. Dabei wurden die Resultate der ersten Untersuchung bestätigt. Eine weitere Stu-die ist von Hingst (1999) vorgelegt worden, mit dem Ergebnis, dass Viertklässler nach einem Jahr Förderung ebenfalls keine besseren Leistungen erzielten als Schüler einer Kontrollgruppe ohne Zusatzunterricht.

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136 Gero Tacke

Die Ergebnisse der Studien sind zwar deprimierend, aus ihnen ergeben sich aber Hin-weise auf mögliche Ursachen für den ausgebliebenen Erfolg. In allen drei Untersuchungen stell-te sich heraus, dass die Auswahl der Förderschüler recht unsystematisch erfolgte. So haben in der Studie von Hingst (1999) nicht nur rechtschreibschwache Schüler, sondern insgesamt 45 Prozent aller Viertklässler an der Förderung teilgenommen, wobei die Zahl der Förderstunden von 1 bis 53 variierte. Dass bei einem solchen Vorgehen keine Erfolge erzielt werden ist im Grunde nicht verwunderlich.

Ein weiterer wesentlicher Faktor ist das didaktische Vorgehen. In den beiden Studien von Gasteiger-Klicpera und Klicpera (1989) und Klicpera und Gasteiger-Klicpera (2001) zeich-neten sich die erfolgreicheren Kurse dadurch aus, dass bei ihnen der Anteil des Schreibens be-sonders groß war. Gleichzeitig nahm bei ihnen der Anteil an Funktionsübungen, bei denen nicht das Schreiben, sondern basale Fähigkeiten wie z.B. Wahrnehmung und Konzentration trainiert werden, nur wenig Raum ein.

In einer eigenen Arbeit (Tacke, Nock und Staiber, 1987) wurden Hauptschüler der fünf-ten Klasse, deren Rechtschreibnote schlechter als ausreichend war, ein Jahr lang gefördert. Als Übungsmaterialien wurden Rechtschreibübungen verwendet, die gängigen Fördermaterialien entnommen waren. Im Vergleich zu gleich schwachen Fünftklässlern einer Kontrollgruppe, die keinen zusätzlichen Unterricht erhalten hatte, erzielten die geförderten Schüler einen signifikant größeren Leistungszuwachs. Allerdings war der Effekt nicht sehr groß. Um deutlich zu machen, wie groß die Wirkung einer Maßnahme (z.B. die Förderung schwacher Schüler) ist, wird übli-cherweise die sog. Effektstärke d berechnet. Eine Effektstärke von d = 0,20 gilt als schwach, d = 0,50 wird als mittlerer Effekt angesehen und ist d größer als 0,70, so liegt ein starker Effekt vor. In der angeführten Arbeit lag die Effektstärke bei d = 0,35.

2 Rechtschreibprogramme

Spezielle Programme zur Verbesserung der Rechtschreibung gibt es in großer Zahl. Dabei kommen ganz unterschiedliche Konzeptionen zum Einsatz. Als übergeordnetes Unterschei-dungsmerkmal kann man sie in zwei Gruppen einteilen. Die eine umfasst Ansätze, bei denen die gesprochene und vor allem die geschriebene Sprache direkt trainiert wird. Die andere Gruppe bezieht sich auf nicht-sprachliche Merkmale, von denen angenommen wird, dass sie ei-nen ursächlichen Einfluss auf die Rechtschreibung haben.

2.1 Nicht-sprachliche Programme

Nach dem traditionellen Legastheniekonzept hat man angenommen, dass schwache Lese- und Rechtschreibleistungen durch allgemeine Funktionen wie z.B. die visuelle und akustische Wahrnehmung verursacht seien. Bereits Ende der siebziger Jahre hat Scheerer-Neumann (1979) in einer zusammenfassenden Darstellung herausgearbeitet, dass Trainings solcher Funktionen nicht zu einer Verbesserung der Rechtschreibung führen. In dieselbe Richtung gehen die beiden bereits erwähnten Studien von Gasteiger-Klicpera und Klicpera (1989) und Klicpera und Ga-steiger-Klicpera (2001). Darüber hinaus wird der Befund durch mehrere Sammelreferate bestä-

Die Effektstärke d gibt an, wie groß der Unterschied zwischen den Mittelwerten zweier Gruppen ist. Sie kann auf

verschiedene Weisen berechnet werden, z.B. indem man die Differenz der beiden Mittelwerte durch die Stan-dardabweichung der nicht behandelten Gruppe teilt.

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Aspekte der schulischen LRS-Förderung im Fach Englisch der Sekundarstufe I

Von Barbara Wölms

Im Schulalltag haben legasthene Kinder schon im Umgang mit der deutschen Sprache unter-schiedlichste Probleme und Herausforderungen zu meistern. Im Hauptfach Englisch stehen sie nun vor noch schwierigeren Anforderungen. Was das Fremdsprachenlernen so schwer macht und warum hier eine Förderung so dringlich ist, wird im Folgenden beschrieben.

Es werden spezielle Prinzipien für die Förderung in der Fremdsprache vorgestellt, die auf Grundlage von Unterrichtsreflektionen und -analysen und unter Einbeziehung allgemeingülti-ger Förderprinzipien erarbeitet und erprobt wurden. Diese Prinzipien werden durch Praxisbei-spiele aus der Arbeit mit Legasthenikern an Realschulen und Gymnasien illustriert. Sowohl die Prinzipien als auch die Übungen sind als Anregungen zu verstehen und sollten gegebenenfalls im Interesse der damit arbeitenden legasthenen Kinder modifiziert werden. Ziel der Förderung in Englisch ist es, legasthene Schüler zu ermutigen, auch für das Misserfolg-beladende Fach Englisch möglichst verlässliche und effektive Lernstrategien zu erwerben und diese längerfristig erfolgreich anzuwenden.

1 Problemlage

Fällt der Begriff der Förderung von Legasthenikern, wird oft nur an eine Förderung im Bereich der deutschen Sprache gedacht. Wenn dann in Klasse 9 oder 10 die in Mecklenburg-Vorpommern zentralen Prüfungen bedrohlich ins Blickfeld rücken und nicht das Fach Deutsch, sondern das Fach Englisch anscheinend „plötzlich“ über Bestehen oder Nicht-Bestehen ent-scheiden wird, häufen sich Fragen nach der LRS-Förderung im Fach Englisch. Die legasthenen Jugendlichen dann in relativ kurzer Zeit auf die Englisch-Prüfung (Mittlere Reife oder Zwi-schenprüfung in Klasse 10 an Gymnasien) vorzubereiten, ist ein Kraftakt für alle Beteiligten und leider nicht immer von Erfolg gekrönt.

Wie erlernt ein Schüler die englische Sprache? Das Kind erwirbt Kenntnisse zur Aus-sprache des Wortes (Wortklang), zu seiner Bedeutung und zu seiner Schreibung (Wortbild).

In Klasse 3 und 4 des frühbeginnenden Englischunterrichts in der Grundschule in Mecklenburg-Vorpommern wird vorrangig mündlich gearbeitet, d.h. über Wortklang und Wortbedeutung werden die Sprachfertigkeiten im Hören und Sprechen altersspezifisch heraus-gebildet. Ab Klasse 5 ist auch das Wortbild als dritte Komponente Lerngegenstand und glei-chermaßen wichtig. Wird auch nur eine der drei Komponenten nicht richtig wahrgenommen, fehlerhaft reproduziert und produziert, verstärken sich die Schwierigkeiten im Lernprozess der Fremdsprache.

Die Lernschwierigkeiten und Probleme, die legasthene Schüler beim Erlernen der engli-schen Sprache haben können, sind überaus vielfältig. Anscheinend geringfügige Schreibfehler können einen schwerwiegenden Einfluss auf Erfolg oder Misserfolg haben, so können z.B. Feh-ler im Rechtschreibbereich, die durch Weglassen, Hinzufügen, Umstellen oder Ersetzen von Buchstaben entstehen, ein anderes existierendes Wort der Fremdsprache hervorbringen, was

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154 Barbara Wölms

den Sinn des Textes verändern oder sogar entstellen kann. (s. dazu ‚Fehlerbeispiele Englisch und Französisch’ in: Handreichung mit Empfehlungen zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen, 2005, S.42 ff.)

Der „kleine“ Rechtschreibfehler führt durch die veränderte Wortbedeutung auch zu in-haltlichen Veränderungen, wodurch der Schüler Inhaltspunkte verliert, sich diesen Punkteab-zug aber oft nicht erklären kann, denn seiner Meinung nach steht das Wort doch da.

Ebenso kann ein „kleiner“ Rechtschreibfehler die grammatische Struktur verändern und dadurch einen für die Bewertung schwerer wiegenden Strukturfehler produzieren.

Die Englisch-Förderung für legasthene Kinder muss also sinnvollerweise mit Beginn der Klasse 5 einsetzen. Was LRS-Kinder leisten müssen, um sich erfolgreich in der nicht-lautgetreuen, scheinbar wenig regelhaften und an Homophonen reichen Sprache Englisch zu bewegen, kön-nen wir Englisch-Lehrer meistens nur erahnen. Für eine individuell effektive LRS-Förderung sind Ergebnisse von Fehleranalysen unabdingbar.

Schulische LRS-Förderung in Englisch kann in einer Förderstunde nach dem Unterricht oder im binnendifferenzierten Englischunterricht der Klasse erfolgen. Ersteres birgt aufgrund einer gewissen Homogenität („geschützter Raum“) ein nicht zu unterschätzendes pädagogisches Potenzial.

Der hier dargestellte Förderansatz für die außerhalb des Englischunterrichts stattfinden-de Förderstunde zielt in erster Linie auf Vervollständigen und Festigen von Grundkenntnissen im Fach Englisch, nur in seltenen Fällen werden aktuelle Unterrichtsgegenstände bearbeitet. Die Entscheidung über Förderinhalte und Fördermaterial fällt auf Grundlage von zahlreichen Feh-leranalysen. Die durch Förderung gefestigten Grundkenntnisse sollen dem Schüler als Funda-ment im Englischunterricht dienen, auf das er während seiner Schulzeit bauen kann.

2 Prinzipien der Förderung beim Englischlernen

Die Prinzipien der schulischen Englischförderung sind miteinander verflochten, sie bedingen und ergänzen einander. Obgleich auf Englisch bezogen, lassen sie sich auch für eine fachlich anders ausgerichtete LRS-Förderung erfolgreich adaptieren.

Wiederholen des anscheinend einfachen Grundlagenwissens Erfahrungsgemäß vergessen viele LRS-Schüler vieles schnell, nachdem ein Unterrichtsthema abgeschlossen ist. Manchmal sind sie auch froh, das Thema irgendwie hinter sich gebracht zu haben, dies erlebe ich z.B. bei Legasthenikern in Klasse 5 immer wieder mit dem Thema „Num-bers / Time“. Durch planvolles Wiederholen in Form wiederkehrender Aufgaben kann das Grundwissen im Förderunterricht aufgebaut und gefestigt werden. Mit zunehmendem Lernal-ter erhalten die Schüler zu gleichen Lerninhalten anspruchsvollere Aufgabenstellungen, d.h. dass meine jetzigen Fünftklässler im Förderunterricht der nächsten Schuljahre immer wieder mit Zahlen und Uhrzeiten umgehen werden.

Weniger ist mehr Hierbei geht es darum, die Grundkenntnisse mit Hilfe weniger Texte und Vokabeln zu erlangen und zu festigen anstatt den Englisch-Lernprozess mit vielen Texten und vielen Wörtern zu überfrachten. Immer neue Übungstexte verlangen jedes Mal wieder eine längere Zeit für die mühevolle Übersetzung, indes kann an einem inhaltlich bereits erfassten Text in den Folge-

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Einsatz von Lernsoftware bei Lese-Rechtschreibschwäche (LRS)

Von Ingrid Schmidt und Gerd Schneider

Zusammenfassung Es werden die Möglichkeiten und Risiken der Nutzung von Lernsoftware von Kinder mit LRS erörtert, exemplarisch wird eingeschätzt, welche Unterstützung Bilder diesen Kindern beim Lesen bieten können, dies geschieht mit Hilfe der Blickrichtungsanalyse (Eye-Tracking-Technik), einer psychologischen Messmethode der Wahrnehmungsforschung.

Im Anschluss wird ein Kriterienkatalog für Lernsoftware unter Berücksichtigung inhaltlicher, didaktischer und lernpsychologischer Aspekte sowie der Multimediaqualität und dem Bezug auf die unterrichtspraktische Qualität bei Kindern mit LRS an Beispielen von Softwareanalysen vorgestellt.

Einleitung Die Untersuchungen beziehen sich auf Kinder an einer Grundschule mit dem Förderschwer-punkt Sprache mit erheblichen Schwierigkeiten im Lesen und Schreiben. (Es handelt sich um Schüler, die in entsprechenden Tests (Bako 1-4, HSP oder SLRT) einen Prozentrang weit unter 5 liegend erreichen.) An den Förderkursen nehmen ca. 4-6 Kinder teil und um Zeit für die not-wendige individuelle Förderung zu gewinnen setze ich Software im Unterricht ein, z.B. Audio-Log, Budenberg, Der neue Karolus, Cesar Lesen und Schreiben. Dieser Einsatz wird wissen-schaftlich durch das Arbeitsgebiet „Rehabilitationstechnik/Neue Medien“ am Institut für Reha-bilitationswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin begleitet. Dieses Arbeitsgebiet beschäftigt sich verstärkt mit Fragen der auditiven und visuellen Normabweichungen beim Schriftspracherwerb und setzt dabei unter anderem die Blickrichtungsanalyse ein.

Fragestellung Zur Förderung von Schüler und Schülerinnen mit Schriftspracherwerbsproblemen ergeben sich beim Einsatz von Lernsoftware folgende Fragestellungen:

Welche Risiken aber auch Möglichkeiten sind durch die verstärkte multimediale Aus-richtung von Lernsoftware auf Kinder mit Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) zu beobachten?

Sind die bestehenden Kriterien für Software im Unterricht auch bei Schüler und Schüle-rinnen mit einer Lese-Rechtschreibschwäche anzuwenden?

Welche theoretischen Analysen zur LRS können für die inhaltliche und formale Gestal-tung von Software übernommen werden, die sinnvoll praktisch eingesetzt werden kann?

Hierzu wird in Einzelfällen versucht, auf mögliche Wahrnehmungsstrategien bei Lern-software mit Hilfe der Blickrichtungsanalyse (Eye-Tracking-Technik) zu schließen.

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164 Ingrid Schmidt und Gerd Schneider

Begriffsklärung

Lese-Rechtschreibschwäche Der Begriff ist eine Fokussierung auf die schulische Sichtweise, d.h. allen Schülern mit besonde-ren Schwierigkeiten beim Erwerb des Lesens und Schreibens sind adäquate Hilfen anzubieten. (In den Grundsätzen der KMK zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben (2003) beschlossen und in der Grundschulord-nung für Berlin (2005) niedergelegt.) Der auch häufig verwendete Begriff der Störungen des Schriftspracherwerbs beschreibt ein gestörtes aktives Konstruieren von Regeln, wobei Störun-gen ätiologisch zu verstehen sind, als ein Zusammenspiel von individuellen, familiären und schulischen Faktoren (Osburg 2000). Jedoch berücksichtigt der Begriff „Leserechtschreib-schwäche“ im Grundschulbereich am besten die pädagogische Einstellung, zumal neurologisch diskutierte Störungen und die Definition der Legasthenie als Diskrepanz zwischen Lesefähig-keit und Intelligenz im Schulalltag nicht nützlich sind. Individuelle Faktoren, psychophysiologi-sche Faktoren wie Angst oder Stress, die Selbsterwartungshaltung, die Sprachentwicklung in Bezug auf Semantik, Grammatik, Artikulation und Metasprache, soziale und kulturelle Einflüs-se, Aufmerksamkeit, Hyperaktivität u.a. können, wenn sie nicht beachtet werden, die kognitive Entwicklung beeinflussen.

Lernen Lernen ist als ein aktiver individueller Prozess zu verstehen, Lernen wird von Interessen, Vor-wissen und Strategien des Einzelnen beeinflusst, Inhalte erfahren während des Lernens indivi-duell bedingte Veränderungen. Der Lernerfolg selbst wird letztendlich durch vielfältige Fakto-ren beeinflusst: durch die Einstellung zum Medium, durch die Lehrerpersönlichkeit und durch die Voraussetzungen des Schülers (vgl. May 2001). Viele dieser Variablen können in Evaluati-onsstudien nur ungenau erfasst werden.

Lernprogramme können den Lehr- und Lernprozesse durch tutorielle Programme oder Übungsprogramme unterstützen, so dass Schüler eigenständig arbeiten können, durch das Pro-gramm eine Rückmeldung auf ihre Eingaben erhalten und selbstständig die eigene Leistung überprüfen können. Sie dienen der individuellen Förderung von Fähigkeiten, sind dem Lern-tempo und im Schwierigkeitsgrad dem jeweiligen Wissenstand des Nutzers angepasst. Grund-sätzlich gilt, dass eine Software Baustein einer komplexen Lernumgebung ist, und in der Grundschule gilt es, Lernumgebungen bereitzustellen, in denen die Schülerinnen und Schüler sowohl Gelegenheit zum spielerisch-experimentellen Umgang mit Medien haben als auch Fä-higkeiten erwerben, um Medien als Lern- und Arbeitsmittel zu nutzen.

Usability Die Usability, die Gebrauchstauglichkeit einer Software setzt sich aus der Effektivität (zur Lö-sung einer Aufgabe), der Effizienz (der Handhabung des Systems), und der Zufriedenheit des Nutzers zusammen. Vermutet wird bei hoher Usability eine intensivere und längere Auseinan-dersetzung mit dem Inhalt.

Eye-Tracking-Methode Die Usability kann mit der Eye-Tracking-Methode, Blickrichtungsanalyse, einer psychologi-schen Messmethode der Wahrnehmungsforschung, bei der die Augenbewegungen aufgezeich-net werden, untersucht werden (näheres im folgenden). Die Eye-Tracking-Methode wird z.B. eingesetzt, um Aussagen über die Aufmerksamkeitsverteilung und den Blickverlauf auf einer

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Evaluation von multimodalen Therapieprogrammen

zur Förderung von Kindern mit einer Legasthenie

Von Ulrich Strehlow

1 Einleitung

In diesem Beitrag wird der Stand der Evaluation von Therapieprogrammen für Kinder mit ei-ner Legasthenie dargestellt und auf die Schwierigkeiten insbesondere bei der Beurteilung von multimodalen Therapieprogrammen eingegangen.

Im deutschsprachigen Raum stehen unter anderem folgende Programme zur Verfügung: – Kieler Lese- und Rechtschreibaufbau – Freiburger Rechtschreibschule (FRESCH) – Trainingsprogramm von Kossow – Rechtschreibtraining von Scheerer-Neumann – Strategisches Lernen nach Mannhaupt – Marburger Rechtschreibtraining – Würzburger Trainingsprogramm zur Prävention

An Methoden, die nicht direkt an der Schriftsprache intervenieren, sondern ihren Schwerpunkt eher auf Veränderungen der für die Entwicklung der Schriftsprache grundlegenden kognitiven Fähigkeiten haben, sind zu nennen: – Tomatis Therapie – Davis-Methode – Irlen-Therapie mit Farbfolien – Edu-Kinestetik

Im englischsprachigen Bereich hat sich die Methode Fast ForWord (Scientific Learning Corpo-ration, 1996) etabliert, die sich stark auf neurobiologische Wurzeln beruft, die einzelnen Kom-ponenten, die in Fast ForWord enthalten sind, zu Grunde liegen sollen.

Die verschiedenen Methoden der Förderung können z.B. unter folgenden Gesichtspunkten ge-gliedert werden: – Sehhilfen – Hörhilfen – Training der visuellen Wahrnehmung – Training der akustischen Wahrnehmung – Training der phonologischen Bewusstheit – Training von Rechtschreibregeln – Training allgemeiner Sprachfertigkeit

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178 Ulrich Strehlow

Die meisten Trainingsprogramme beinhalten Komponenten aus verschiedenen Bereichen, wie ja auch der allgemeine Erstlese- und -rechtschreibunterricht Elemente aus den verschiedensten Bereichen enthalten soll.

Insgesamt gibt es noch immer recht wenige, gut evaluierte Programme. Einen guten Überblick geben z.B. von Suchodoletz (2006) und speziell Mannhaupt (2006). Fast alle Thera-peuten haben subjektiv den starken Eindruck, dass die von ihnen geförderten Kinder deutliche Fortschritte machen. Das ist sicher richtig, kann aber leicht irre führen, denn alle Kinder lernen sehr schnell. Bei einer systematischen Evaluation muss geklärt werden, ob diese Fortschritte größer sind, als ohne die in Frage stehende Förderung zu erwarten wäre. Oft ist es sehr schwie-rig zu belegen, dass dieses Aufholen im Vergleich zu den nicht beeinträchtigten Kindern spezi-ell auf die untersuchte Methode und nicht auf unspezifische Effekt, wie z.B. erhöhte Aufmerk-samkeit, verstärktes Lernpensum oder andere unspezifische Maßnahmen zurückgehen kann. Noch schwieriger wird die Situation, wenn das Förderprogramm verschiedene Komponenten umfasst, die nacheinander, abwechselnd oder auch zugleich angewandt werden. Hier kann häu-fig nur die Wirksamkeit des gesamten Programms belegt werden. Auch das ist zwar schon sehr hilfreich. Wenn jedoch hohe Aufwendungen (z.B. Computerprogramme oder Gerätschaften) für ein Trainingsprogramm erforderlich werden, so sollte möglichst nachgewiesen sein, dass die aufwändigen Komponenten für den Therapieerfolg auch wirklich erforderlich sind.

Dieser Beitrag soll in diese Problematik einführen, so dass der Leser Evaluationsstudien sachgerechter aufnehmen und beurteilen kann.

2 Vorgehensweise

Es werden zwei multimodale Förderprogramme und Ergebnisse einer eigenen Studie darge-stellt. Es handelt sich zum einen um das Würzburger Trainingsprogramm und zum anderen um das Fast ForWord Programm aus den USA. Die eigene Studie (Strehlow et al. 2006) hatte das Ziel, die behauptete spezifische Wirksamkeit von Komponenten des Fast ForWord Trainings-programms zu replizieren. Das Würzburger Trainingsprogramm (Schneider et al. 1998, Schnei-der et al. 1999 und Küspert et al. 2000) geht zurück auf eine skandinavische Studie von Lund-berg et al. (1988) und ist nun Deutschland inzwischen weit verbreitet und gut untersucht. Fast ForWord wird unter starken kommerziellen Interessen in den USA vertrieben, eine direkte Ent-sprechung auf dem deutschen Markt gibt es (noch) nicht. Anhand dieses Programms lassen sich die Schwierigkeiten in der Evaluation der einzelnen Komponenten gut aufzeigen und es gibt ei-ne Vielzahl hoch interessanter Befunde zu diesem Programm. Die eigene Studie untersucht, inwieweit durch spezielles Training verbesserte akustische Wahrnehmungsverarbeitung zu einer verbesserten Lese- bzw. Rechtschreibleistung führt, wenn gleichzeitig ein „konventionelles“ Le-se-Rechtschreibtraining, in unserem Fall der Kieler Leseaufbau, durchgeführt wird.

Die drei vorgestellten Ansätze gehen davon aus, dass der Legasthenie häufig akustische Wahrnehmungsverarbeitungsstörungen zugrunde liegen. Fast ForWord trainiert die Verarbei-tung schneller akustischer Informationen und meint, so die Grundlage für eine verbesserte phonologische Bewusstheit zu schaffen. Einige Studien scheinen diese Vermutung auch zu bele-gen (Hautus et al. 2003, Nagarajan et al. 1999, Poldrack et al. 2001, Talcott et al. 2002 und Tallal 1980), während andere Arbeiten (Bailey und Snowling 2002, Bishop et al. 1999, Heath et al. 1999, Heiervang et al. 2002, Ramus et al. 2003, Share et al. 2002) diesen kausalen Zusammen-hang in Frage stellen. Die drei vorgestellten Ansätze arbeiten zusätzlich oder schwerpunktmäßig mit Übungen zur phonologischen Bewusstheit. Viele Studien außer den beim Würzburger Trai-

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Diagnostik und Behandlung von schweren Lese- und Rechtschreibstörungen

in Kombination mit Sprachstörungen Von M. Noterdaeme und A. Breuer-Schaumann

Einleitung

Lese-Rechtsschreibstörungen gehören zu den häufigsten Teilleistungsstörungen im Grund-schulalter. Kinder mit Lese-Rechtschreibstörungen sind in ihrer schulischen sowie in ihrer so-zio-emotionalen und kognitiven Entwicklung erheblich beeinträchtigt.

Die Lese-Rechtschreibstörung ist eine komplexe Entwicklungsstörung. Kinder mit einer solchen Problematik haben oft begleitende umschriebene Teilleistungsdefizite im Sinne einer motorischen Störung, Sprachentwicklungsstörung oder einer Rechenstörung. Darüber hinaus treten überzufällig häufig begleitende psychische Probleme wie Aufmerksamkeitsstörungen, Störungen des Sozialverhaltens oder emotionale Störungen auf.

Um die Lese- und Rechtschreibstörung genau diagnostizieren zu können, ist eine umfas-sende, mehrdimensionale Diagnostik notwendig.

Die Behandlung orientiert sich an den vorhandenen Defiziten und besteht aus mehreren Bausteinen. Im Vordergrund der Therapie steht der grundlegende Lese- und Rechtsschreibauf-bau (unter Verwendung von Handzeichen), wobei die Auffälligkeiten der Kinder mit Sprach-entwicklungsstörungen eingehend berücksichtigt werden.

Der Aufbau von Arbeitsverhalten und Motivation ist ein wichtiger Aspekt in der Inter-ventionsplanung ebenso wie die Beratung von Eltern und Lehrern.

Das Erscheinungsbild der Lese-Rechtschreibstörung

Definition

In der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) wird die Lese-Recht-schreibstörung im Kapitel F8 „Entwicklungsstörungen“ verschlüsselt. Es handelt sich um eine Störung, bei der der normale Erwerb des Lesens und Schreibens von Anfang an beeinträchtigt ist.

Die Lese-Rechtschreibleistung liegt unter dem Niveau, das aufgrund der Beschulung zu erwarten ist. Sie ist nicht verursacht durch mangelnde Förderung, erworbene Hirnschädigung, neurologische Erkrankung oder eine Seh- bzw. Hörstörung.

Die Störung wird durch ein doppeltes Diskrepanzkriterium definiert: 1. Diskrepanz: das Niveau im Lesen und in der Rechtschreibung ist mangelhaft oder ungenügend im Vergleich al-tersgleicher Schulpopulation. 2. Diskrepanz: das Niveau im Lesen und in der Rechtschreibung ist wesentlich niedriger als das gemessene Intelligenzniveau. Die Lese-Rechtschreibstörung ge-hört zu den häufigsten Lernstörungen im Grundschulalter. Je nach festgelegten Kriterien und Studien wird von einer Häufigkeit von 10 bis 15% lese- und rechtschreibauffälliger Kinder aus-

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188 M. Noterdaeme und A. Breuer-Schaumann

gegangen. Bei etwa 5% dieser Population liegt eine Lese-Rechschreibstörung nach ICD-10 Kri-terien vor. Störungen und Schwächen in den Kulturtechniken zeigen ohne gezielte Intervention eine hohe Persistenz und wirken sich nachteilig auf die soziale und emotionale Entwicklung der Kinder aus.

Symptomatik der Lese-Störung

Bei der umschriebenen Lesestörung ist das Hauptmerkmal eine isolierte und bedeutsame Be-einträchtigung in der Entwicklung der Lesefähigkeit, die nicht durch eine herabgesetzte intellektuelle Leistungsfähigkeit, durch Probleme der Sehschärfe oder durch unangemessene Beschulung zu erklären ist. Dieser Störung gehen oft Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung voraus. In einigen Fällen können neben Schwierigkeiten in der auditiven auch Defizite in der visuellen Informationsverarbeitung vorliegen.

Tabelle 1: Anzeichen einer Lesestörung nach ICD-10

– Auslassen, Ersetzen, Verdrehen oder Hinzufügen von Buchstaben, Wörter oder Worttei-len

– Verlangsamte Lesegeschwindigkeit – Startschwierigkeiten beim Vorlesen, langes Zögern oder Verlieren der Zeile im Text,

stockendes Lesen von Wort zu Wort, aber auch von Buchstabe zu Buchstabe; ungenaues, nicht sinnhaftes Betonen beim Lesen

– Vertauschen von Wörtern im Satz oder von Buchstaben im Wort – Die Unfähigkeit, Gelesenes wiederzugeben, aus Gelesenem Schlüsse zu ziehen oder

Zusammenhänge zu erkennen

Unauffällig entwickelte Kinder lernen innerhalb von einigen Monaten die ersten 10 bis 15 Buchstaben und 30 bis 40 Wörter. Schon in den ersten Schulwochen zeigen sich Probleme bei Kindern mit einer Lesestörung. Diese Kinder haben Schwierigkeiten, die Buchstaben korrekt zu benennen und sie beim Erlesen von neuen Wörtern zu nutzen. Sie haben Probleme, Laute audi-tiv zu diskriminieren und Silben zu Wörtern zusammenzulesen.

Symptomatik der Rechtschreibstörung

Tabelle 2: Anzeichen einer Rechtschreibstörung nach ICD-10

– Verdrehungen von Buchstaben im Wort – Umstellungen von Buchstaben im Wort – Auslassungen von Buchstaben – Dehnungsfehler – Fehler in der Groß- und Kleinschreibung (Regelfehler) – Verwechslung von d/t, g/k, v/f (Wahrnehmungsfehler) – Gleiche Wörter können immer wieder unterschiedlich falsch oder zwischendurch auch

richtig geschrieben werden

Bei der umschriebenen Rechtschreibstörung ist das Hauptmerkmal eine isolierte und bedeut-same Beeinträchtigung in der Entwicklung der Rechtschreibfertigkeit, die nicht durch eine her-

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Psychotherapie bei Legasthenie und Dyskalkulie – sinnvoll oder überflüssig?

Von Ulrike Lehmkuhl

Entwicklungsstörungen sind häufig kombiniert mit Störungen im emotionalen oder im Verhal-tensbereich. Untersuchungen über die Prävalenz von psychiatrischen Erkrankungen bei Kin-dern und Jugendlichen mit Legasthenie zeigen zum Beispiel, dass in dieser Gruppe ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung psychischer Störungen besteht. Bei Kindern mit Lese-Rechtschreib-störungen treten in hohem Maße Verhaltensauffälligkeiten, Hyperaktivität, geringe Konzentra-tionsleistungen sowie aggressive und delinquente Störungen auf (Abb. 1). Die Schulkarriere von Kindern mit Teilleistungsstörungen, die den schulischen Bereich betreffen, ist oft durch zusätz-liche emotionale Probleme belastet, da sie bei guter Intelligenz sehr deutlich merken, wie sie trotz großer Anstrengungen nicht genügen, die an sie gestellten Erwartungen nicht erfüllen. Früher oder später „geben sie auf “, beschäftigen sich im Unterricht mit anderen Themen oder verweigern den Schulbesuch völlig. Besonders schwierig ist die Lage, wenn den Teilbereichsde-fiziten der Kinder keine besondere Aufmerksamkeit und Rücksicht geschenkt wird in Form von spezifischen Fördermaßnahmen. Ein nicht geringer Teil dieser Kinder benötigt ergänzend psy-chotherapeutische Unterstützung, um gesundes Selbstbewusstsein zu haben für den schweren und belastenden Weg durch Schule und Ausbildung. Esser und Schmidt (1993) berichten von Kindern und Jugendlichen, die sich zusätzlich mit Traurigsein, Selbstmordgedanken, Schlaf- und Essstörungen „herumschlagen“ (Abb. 2).

– Verhaltensauffälligkeiten – Hyperaktivität – geringe Konzentrationsleistung – aggressive Störungen – delinquente Störungen

Abbildung 1: LRS und andere psychische Störungen

– Traurigsein – Selbstmordgedanken – Schlafstörungen – Essstörungen

Abbildung 2: zusätzliche emotionale Belastungen

(aus: Esser und Schmidt 1993, „Kurpfalzstudie“)

In der Berliner Klinik wurde in den Jahren 1999 bis 2003 bei 512 Kindern und Jugendlichen ei-ne Diagnose aus dem Bereich F81.x gestellt: sie hatten also eine Legasthenie oder eine Dyskal-kulie oder gar beides (Abb. 3). Nur siebzig Kinder erhielten keine weitere psychiatrische Dia-

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198 Ulrike Lehmkuhl

gnose. Am häufigsten trat eine Störung umschriebener schulischer Fertigkeiten in Verbindung mit einer einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung auf, gefolgt von emotionalen Stö-rungen des Kindesalters. Die übrigen Diagnosen verteilen sich über das gesamte Spektrum. F81.x keine weitere Dia-

gnose F90.0 + F90.1 F93.x restliche Diagnose-

gruppen

512 70 141 105 196

Abbildung 3: Daten der Berliner Klinik (1999-2003)

Leider ist bislang kaum erforscht, ob und wie sich schulische Teilbereichsdefizite und komorbi-de psychiatrische Erkrankungen zueinander verhalten, insbesondere in der Therapiephase. Die-se Tatsache spiegelt die fast durchgängige Realität im Bereich der Psychotherapie-Forschung bei Kindern und Jugendlichen wieder.

Bis heute können wir nur annehmen, dass die psychischen Belastungen bei Lese-Rechtschreibschwäche und bei Dyskalkulie ähnlich sind. Getrennte Forschungsergebnisse lie-gen bislang zu diesem Thema nicht vor.

Zur Veranschaulichung sollen zwei kurze Vignetten beitragen:

Vignette 1: Der 16-jährige Alexander wird vorgestellt wegen massiver Schulängste. Außerdem habe er so gut wie keinen Kontakt zu Gleichaltrigen. Ein Versuch der Mutter, Alexander bei ei-nem Jugendpsychiater vorzustellen, scheiterte vor drei Jahren am Widerstand des Jugendlichen. Aktuell drängte wiederum die Schule, da Alexander dort große Fehlzeiten hatte, insbesondere wenn Tests und Klassenarbeiten geschrieben werden sollten. Alexander ist das Mittlere von drei Kindern, die mit Abstand von je vierzehn Monaten geboren wurden. Er selbst beteuert, es gehe ihm gut, er brauche keinerlei Hilfe, er sei aber bereit, sich jetzt untersuchen zu lasse, wenn es denn die Mutter beruhige. Er sei gerne für sich allein, habe gerne seine Ruhe und habe ausrei-chend Kontakt zu seinen Geschwistern. In der Schule sei der Unterricht bisweilen für ihn lang-weilig und ihn interessiere vieles nicht, womit sich seine Mitschüler beschäftigen.

In der Schule ist Alexander eher passiv, nimmt kaum am Unterricht teil, so dass sein Wissen gar nicht erkennbar ist. Zu Hause bekommt er hin und wieder Wutanfälle, wenn er von seinem älteren Bruder geärgert wird.

Bei der testpsychologischen Untersuchung erreicht Alexander eine allgemeine intellek-tuelle Gesamtbefähigung, die im durchschnittlichen Bereich liegt (HAWIK-III). Das Testprofil ist inhomogen ausgebildet. Es ergibt sich eine signifikante Differenz zwischen Verbal- und Handlungsteil zu Gunsten des Verbalteils. Die Stärken des Jugendlichen liegen im Bereich des sprachlichen Verständnisses, Schwächen zeigen sich im Bereich der Wahrnehmungsorganisati-on.

Der Rechtschreibtest (RT) zeigt bezogen auf die Gymnasialnorm ein Ergebnis im weit unterdurchschnittlichen Bereich. Bei qualitativer Betrachtung fallen Verwechslungen auf, grammatikalische Fehler sowie Defizite in der Groß- und Kleinschreibung. Die Leseleistung ist unauffällig. Unter Berücksichtigung der intellektuellen Gesamtbefähigung kann bei quantitati-ver Betrachtung – bezogen auf die Gymnasialnorm – von einer isolierten Rechtschreibstörung ausgegangen werden. Depressionsskalen und Angstfragebögen zeigen Normwerte. Der Wert

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Lernen mit ADHS-Kindern

Von Claudia Oehler und Armin Born

1 Ausgangssituation

Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) gehören mit einer Prävalenzrate zwi-schen 3 und 7% zu den häufigsten psychischen Auffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter. Durch ihre hohe Persistenz bis ins Erwachsenenalter und entsprechenden Komorbiditäten, stel-len sie ein erhebliches Entwicklungsrisiko dar. Die Symptomtrias von Aufmerksamkeitsschwä-che, Impulsivität und Hyperaktivität führt zu einer beträchtlichen Anzahl von Verhaltenspro-blemen, die sich insbesondere auch in Form von beeinträchtigten Interaktionen mit Bezugsper-sonen auswirken (Hampel, Petermann 2004). Neben der pharmakologischen Behandlung der betroffenen Kinder und Jugendlichen sind es insbesondere diese Verhaltensprobleme, die Ge-genstand von Interventionen und Therapieansätzen im Rahmen eines multimodalen Behand-lungskonzeptes sind.

Neben der Verhaltensproblematik sind es aber auch die Lern- und Leistungsprobleme, die Eltern und Kinder verzweifeln lassen. Trotz oft normaler Begabung mehren sich bereits zu Beginn der Grundschulzeit Misserfolge und Frustrationen – Leistungsdefizite in den Grundfer-tigkeiten Lesen, Schreiben und Rechnen entstehen, welche dann oft der Einstieg in einen Teu-felskreis Lernstörungen sind. Betrachtet man statistische Zahlen, so finden sich in Abhängigkeit der Definition von Teilleistungsstörungen (Diskrepanzmaße) bei ADHS-Kindern in 8-39% Le-sestörungen, in 12-36% Rechtschreibstörungen und in 12-33% Rechenstörungen (vgl. Barkley 1998, Döpfner, Schürmann , Lehmkuhl 2000).

Andererseits wird man nun aber zunehmend darauf aufmerksam, dass sich unter den Kindern mit Teilleistungsstörungen, d.h. bei Kindern mit einer Lese- und Rechtschreibschwä-che oder -störung und einer Rechenschwäche oder -störung, ein großer Anteil von Kindern be-findet, die gleichzeitig auch Symptome eines ADHS aufweisen. Von den 4,4-6,7% der Kinder, die im deutschsprachigen Raum von einer Dyskalkulie betroffen sind, zeigen z.B. 26-42% gleichzeitig auch ein ADHS (vgl. Jacobs, Petermann 2003).

Konsequenzen der Leistungsprobleme sind dann für ADHS-Kinder oft auch emotionale Probleme, verbunden mit sinkender Motivation und einem geringen Selbstwertgefühl. In 20-30% finden wir bei ADHS-Kindern Angststörungen und in 10-38% depressive Störungen mit Selbstwertproblemen (vgl. Barkley 1998, S. 99 ff; Döpfner, Schürmann, Lehmkuhl 2000, S. 7 ff).

Die Besonderheiten der ADHS-Kinder in ihrer spezifischen Informationsverarbeitung mit Störungen der Selbstregulation, treffen nun oft auf schulische Lernwege, die für diese Kin-der unpassend sind. Ein Dilemma im Bildungsbereich, so die OECD (2005 S. 96), ist der Um-stand, dass in der Aus- und Fortbildung von Lehrern die Vermittlung von aktuellen neurowis-senschaftlichen Kompetenzen fehlt. Wissen über Lernprozesse im Allgemeinen und über Lern-prozesse bei Kindern mit ADHS oder bei Kindern mit Teilleistungsschwächen und -störungen im Besonderen, werden nur in unzureichender Weise vermittelt. Andererseits wird aber auch in der therapeutischen Behandlung von ADHS-Kindern deren Leistungsproblematik in unzurei-chender Weise aufgegriffen.

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206 Claudia Oehler und Armin Born

Am Beispiel der schriftlichen Hausaufgaben, die von schulischer Seite als ein Bestandteil zur Absicherung des Lernerfolges eingesetzt werden, soll die Problematik kurz aufgezeigt wer-den. Das Erledigen der schriftlichen Hausaufgaben stellt die mit Abstand problematischste Si-tuation in Familien mit hyperkinetischen Kindern im Alter von 6-10 Jahren (vgl. Döpfner, Schürmann, Frölich, S. 2 f) dar. Die Erledigung der schriftlichen Hausaufgaben kostet ADHS-Kinder und vor allen Dingen deren Mütter ein enormes Ausmaß an Zeit, Energie und Nerven-belastung. Ob dieser Aufwand jedoch in einem angemessenen Verhältnis zur damit erzielten Lern- und Behaltensleistung steht, ist mehr als fraglich. Der ohnehin begrenzte Arbeitsspeicher von ADHS-Kindern wird durch den Schreibvorgang noch mehr belegt und begrenzt. Das Wie-derholungsmoment der schriftlichen Hausaufgaben zum Einprägen des neuen Schulstoffes ist zu gering, zu viele Informationen werden in kurzer Zeit präsentiert, zu viele unterschiedliche schriftliche Lernwege und –formen verhindern die Möglichkeit zum notwendigen Abspeichern der Lerninhalte und folglich ist die Motivation extrem reduziert.

Die Hausaufgabensituation im therapeutischen Setting als reines Verhaltensproblem (vgl. Döpfner, Schürmann, Lemkuhl, 1999; S. 204 ff) zu betrachten, erscheint somit auch zu kurz gegriffen. Es reicht nicht aus, Eltern Verhaltensmaßregeln an die Hand zu geben, den for-malen, strukturellen und interaktionellen Ablauf der Hausaufgabensituation zu verbessern. Therapeuten und auch Eltern sollten stets den durch die schriftlichen Hausaufgaben tatsächlich erzielten Lerneffekt im Auge behalten.

2 Wie ist die häufige Komorbidität zwischen ADHS und Teilleistungs-schwächen bzw. -störungen erklärbar?

Rechenleistungen und Schriftsprachkompetenz basieren auf gemeinsamen kognitiven Vorläu-ferfertigkeiten (Petermann 2003). Bei diesen zentralen kognitiven Vorläuferfertigkeiten handelt es sich um die Gedächtnisleistung, Begabung und Konzentrationsfähigkeit. So stellt die Ge-dächtnisleistung, insbesondere die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses (Schwenk, Schneider 2003), einen wichtigen Einflussfaktor auf das Lösen mathematischer Aufgaben dar. Im Arbeits-gedächtnis müssen Zwischenergebnisse und formale Aufgabeninformationen gespeichert wer-den, gleichzeitig müssen aus dem Langzeitgedächtnis Zahlenfakten, Strategiewissen und Wissen über das Vorgehen bei bestimmten Aufgaben abgerufen werden.

Auch die Konzentration stellt eine wichtige Vorläuferfertigkeit für Mathematik und Schriftsprachleistungen dar. Besonders in der Phase der Automatisierung sowohl im Lesen- und Schreibenlernen als auch im Rechnen, ist ein hohes Maß an Konzentration über eine länge-re Zeit notwendig, so dass Defizite in diesem Bereich zu mangelnder Automatisierung führen. Untersuchungen zeigen, dass Kinder mit kombinierten Defiziten im Rechnen und Schreiben besonders Schwächen im Bereich des Gedächtnisses aufweisen. Ebenso finden sich geringere Leistungen in den Bereichen phonologische Bewusstheit und Aufmerksamkeit. Bei Kindern mit besonderen Problemen im rechnerischen Bereich, finden sich starke Aufmerksamkeitsprobleme und geringere Zählfertigkeiten, bei Kindern mit isolierten Schwächen im Schriftspracherwerb zeigen sich geringere Leistungen in der phonologischen Bewusstheit und dem Gedächtnis (Schwenk, Schneider 2003).

Betrachtet man nun die neuropsychologischen Voraussetzungen von ADHS-Kindern, so ist die Komorbidität mit den oben genannten Teilleistungsschwächen und -störungen erklärbar. Neben der geringen Frustrationstoleranz weisen sie ein geringes Durchhaltevermögen und

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Aufmerksamkeitsdefizitstörungen mit und ohne Hyperaktivität (ADHS) und Schule

Von Kurt Czerwenka

1 Einführung

Die Aufgaben der Schule in einer globalisierten Gesellschaft sind wieder stärker ins Bewusst-sein der Öffentlichkeit geraten. Zwei Gründe sind dafür vor allem maßgebend: Einmal das schlechte Abschneiden deutscher Schüler bei internationalen Vergleichsstudien (PISA, TIMSS, IGLU) und zweitens die stärkere Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt durch ein zusammenwach-sendes Europa. In diesem Zusammenhang sind vor allem Lerndefizite und Entwicklungshandi-caps bzw. deren Behebung wichtig geworden. Gerade für Kinder mit normaler oder auch über-durchschnittlicher Intelligenz muss gewährleistet werden, dass sie ihre potentiellen Fähigkeiten auch in Leistungen realisieren können und ihre Gesamtpersönlichkeit entwickeln. Damit wird es auch hoch bedeutsam, dass Bildungseinrichtungen, besonders die Schule, sich noch besser auf relativ gut therapierbare Handicaps und Einschränkungen einstellen und diesbezüglich die diagnostischen und pädagogisch-psychologischen Kompetenzen erhöhen. Es kann und darf nicht mehr sein, dass Kinder allein aufgrund ihres Verhaltens in Bildungseinrichtungen schei-tern, die sie aufgrund ihrer Dispositionen sonst mühelos durchlaufen könnten.

Besonders bedeutsam wird die Förderung dieser Kinder beim Schulanfang. In vorschuli-schen Einrichtungen, die weniger Konformität und Leistung erwarten, können ADHS-Kinder oft noch gut integriert werden. In der Schule treten die Symptome aber meist ungeschminkt zu Tage. ADHS und Schule vertragen sich ganz schlecht miteinander und aus späteren Berichten Betroffener wird deutlich, dass die Schulzeit die schwierigste Zeit für sie war und dass berufli-che Situationen in der Regel besser auf die Symptomatik ausgerichtet werden können. In der Schule mit ihren hohen Aufmerksamkeits- und Anpassungserwartungen aber gibt es kein Ent-weichen. Aus anderen Kulturkreisen, die einen niedrigeren Erwartungsdruck auf Kinder aus-üben, wissen wir, dass dort Kinder mit ADHS weniger Schwierigkeiten erleiden. Oft wäre schon mit verbesserter Betreuung dieser Kinder, gerade am Beginn der Schulzeit, viel geholfen.

2 Der pädagogische Unglaube

Immer noch geistern durch Gazetten, Medien und selbst durch pädagogische Fachliteratur Meinungen über ADHS, die in keiner Weise dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand entspre-chen. Da ist von „erfundenen Krankheiten“ die Rede, bis hin zu einem Generalverdacht, dass die Symptomatik nur von geldgierigen Therapeuten bzw. der Pharmaindustrie ausgeheckt wor-den sei.

Darauf reagierend haben führende Wissenschaftler aus der ganzen Welt eine gemeinsame Er-klärung abgegeben:

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218 Kurt Czerwenka

Internationale Konsensus-Erklärung von führenden Wissenschaftlern (USA, Australien, UK, Schweden, Brasilien, Neuseeland, Israel, Niederlande, Kanada, Norwegen) zu ADHS (2002). Alle bekannten amerikanischen Fachorganisationen und die führenden Wissenschaftler der Welt erklären, dass – trotz regelmäßig auftauchender unsachlicher Berichte in den Medien – ADHS eine real existierende Störung ist, weil die wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu sehr überzeugend sind. Die Wissenschaftler befürchten, dass unsachliche Berichte, viele Tausende von Betroffenen davon abhalten werden, für sich qualifizierte Hilfen zu suchen.

[Clinical Child and Family Psych. Review 5 (2), 89-111, 2002]

Nun sollte man meinen, dass Erziehungswissenschaftler gegen derartigen Unglauben gefeit sei-en und sich der Vielzahl seriöser Untersuchungen bedienen würden. Dass dies noch nicht gene-rell so ist, dürfte daran liegen, dass Medizin und Pädagogik unterschiedliche wissenschaftstheo-retische Grundlagen haben, die auch ihre Einstellung zur Symptomatik ADHS beeinflussen (Czerwenka 1995). Vereinfacht gesagt geht die Pädagogik vom „Subjekt-Modell“ des Menschen aus, der bei ausreichenden Angeboten und einer entsprechend gestalteten Umgebung sein Le-ben selbst gestalten kann. Daraus würden Selbständigkeit oder Mündigkeit erwachsen. Die Me-dizin hätte dementsprechend ein „Objekt-Modell“ des Menschen und versuche ihn von Außen zu beeinflussen oder zu korrigieren. Das hat natürlich bei Krankheiten seine Berechtigung, da es hier um Wiederherstellung, im schlimmsten Falle um „Reparatur“ geht. Fällt nun ADHS un-ter die Krankheiten, erklären viele Pädagogen ihre Unzuständigkeit, gehört es aber in den Be-reich der Pädagogik, muss es der „Selbstheilung“ zugänglich sein und sich der Medikamentie-rung entziehen.

So einfach ist es mit ADHS aber nicht. Wir haben es hier mit einem Symptomkomplex zu tun, der in viele Bereiche auch pädagogische und soziale, hineinreicht und deshalb auch von unterschiedlichen Disziplinen her gesehen und in Fürsorge genommen werden muss.

Dazu noch einige Fakten aus der bereits genannten Erklärung.

Aus der Erklärung führender Wissenschaftler (2002): ADHS kann für Betroffene verheerende Auswirkungen haben:

32% - 40% verlassen vorzeitig die Schule 50% - 70% haben weniger oder keine Freunde 70% - 80% üben keinen begabungsentspr. Beruf aus 40% - 50% führen vermehrt asoziale Handlungen aus oder konsumieren illegale Drogen 40% der Jugendlichen haben Frühschwangerschaften 16% haben sexuell übertragbare Krankheiten 20% - 30% der Erwachsenen sind häufiger depressiv 18% - 25% haben Persönlichkeitsstörungen Sie übertreten häufiger Geschwindigkeitsbegrenzungen, haben mehr Autounfälle und er-leiden tagtäglich Hunderte von kleinen Missgeschicken.

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Die Bedeutung der Phonologie für die Lese-Rechtschreibstörung

Von Carolin Ligges

Einleitung

Im Rahmen der Forschung zur Lese-Rechtschreibstörung (LRS) werden unterschiedliche Ursa-chenmodelle diskutiert. Einige Ansätze gehen davon aus, dass Störungen der grundlegenden auditiven und/oder visuellen Reizverarbeitung für die Probleme beim Lesen und Schreiben ver-antwortlich sind. Ein anderer Ansatz, der mit Abstand die größte wissenschaftliche Evidenzba-sis aufweisen kann, geht davon aus, dass als Hauptursache für die LRS angeborene Defizite im Bereich der Sprachlautverarbeitung, also der phonologischen Sprachverarbeitung anzunehmen sind.

Gute phonologische Sprachverarbeitungsfähigkeiten stellen eine wesentliche Vorausset-zung für den erfolgreichen Schriftspracherwerb dar. Unter phonologischen Sprachverarbei-tungsfähigkeiten versteht man die Fähigkeit, mit Sprachlauten hantieren zu können, z.B. Reime zu erkennen, oder bereits im Vorschulalter die Fähigkeit, Wörter in ihre groben Bestandteile, z.B. ihre Silben zerlegen zu können. Diese Fähigkeit wird auch als Phonologische Bewusstheit bezeichnet. Die Phonologische Bewusstheit erlaubt es dann im Rahmen des Schriftspracher-werbes die so genannte Buchstaben-Laut-Korrespondenzregel zu erlernen. Dabei erlernt das Kind, welcher Sprachlaut mit welchem Buchstaben verknüpft ist. Das Kind kann so immer bes-ser gehörte Wörter aufschreiben oder beim Lesen die Buchstaben in die zugehörigen Laute um-setzen, um gelesene Wörter laut auszusprechen.

Im Folgenden soll zunächst ein Überblick darüber gegeben werden, warum die Phono-logie überhaupt ein wichtiges Konzept für die LRS ist. Nach der Darstellung, welchen Kenntnis-stand die neurobiologische Sprachforschung mittlerweile hinsichtlich des Verständnisses der Hirnaktivierungsmuster normallesender Probanden erreicht hat, folgt abschließend ein Über-blick über die neurowissenschaftlichen Befunde, die derzeit hinsichtlich der Untermauerung eines phonologischen Verarbeitungsdefizits bei der LRS vorliegen. Dabei soll vor allem auf die Daten aus Untersuchungen mit der funktionellen Kernspintomographie (fMRT1) eingegangen werden.

1 Unter der funktionellen Kernspintomographie (bzw. funktionellen Magnetresonanztomographie, fMRT), versteht

man ein neurobiologisches Messverfahren, mit dem man äußerst präzise Hirnaktivierungsmuster beobachten und darstellen kann. Da dieses Verfahren über den Einsatz von Magnetfeldern arbeitet und bei der Messung kei-ne Belastung durch Röntgenstrahlen auftritt, ist es ein Verfahren, das besonders auch zur Untersuchung der Hirnaktivität von Kindern und Jugendlichen geeignet ist.

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238 Carolin Ligges

Warum ist die Phonologie ein so wichtiges Konzept für die LRS?

Um zu untersuchen, welche kognitiven Verarbeitungsprozesse am Leseprozess beteiligt sind, wurden zahlreiche Forschungsstudien durchgeführt. Auf der Basis dieser Leseforschung wur-den über die Jahre verschiedene kognitive Lesemodelle erstellt, die die einzelnen Bestandteile des Leseprozesses darstellen (Brown & Hagoort, 2003). Die meisten kognitiven Lesemodelle un-terscheiden dabei mindestens drei Verarbeitungsebenen, die am Leseprozess beteiligt sein sol-len: (1.) die orthographische Analyse der visuellen Form der Wörter (Wortgestalt), (2.) phono-logische Verarbeitungsprozesse verantwortlich für die Verarbeitung der Sprachklänge und letzt-lich (3.) die semantische Analyse, die sich mit der Bedeutung von Wörtern und Sätzen befasst.

Eines der wohl bekanntesten Lesemodelle ist das so genannte Zwei-Wege-Lesemodell. Dieses Modell nimmt an, dass in Abhängigkeit von dem zu lesenden Wortmaterial zwei unter-schiedliche Lesestrecken bzw. -wege aktiviert werden sollen (vgl. Abbildung 1a). Der erste Weg, die direkte Lesestrecke, soll besonders bei gut bekannten Wörtern zum Einsatz kommen. Durch den hohen Bekanntheitsgrad dieser Wörter soll im wortspezifischen Langzeitgedächtnis, dem so genannten mentalen Lexikon, das Wort in seiner visuellen Wortgestalt abgespeichert sein. Der Zugriff und Abruf der Wortbedeutung erfolgt auf dieser Strecke direkt über die Wahrneh-mung der Wortgestalt. Die zweite Strecke soll besonders bei weniger bekannten oder gänzlich unbekannten Wörtern zum Einsatz kommen. Hierbei erfolgt der Zugriff auf das mentale Lexi-kon darüber, dass beim Erlesen dieser Worte zunächst sukzessive die Buchstaben in ihre zuge-hörigen Sprachlaute übersetzt werden. Diese einzelnen Sprachlaute werden dann zu einem ge-samten Wortklang (phonologischer Wortcode) zusammengesetzt (assembliert). Anhand dieses assemblierten phonologischen Codes kann dann der Abruf aus dem Lexikon erfolgen.

Abbildung 1:

Schematische Darstellung zweier kognitiver Lesemodelle 1a: Zwei-Wege-Lesemodell

1b: Netzwerkmodell (vgl. Brown & Hagoort, 2003)

Ein alternatives Modell aus der Familie der so genannten Netzwerk-Lesemodelle (Abbildung 1b) nimmt an, dass die wortspezifischen Eintragungen im mentalen Lexikon unter anderem aus

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Ein Vergleich zwischen drei LRS-Trainingsprogrammen – eine Evaluation mittels

Tests und MEG Von Isabella Paul, Christof Bott, Sabine Heim, Christian Wienbruch

und Thomas Elbert

Einleitung

Ein Mangel an phonologischer Bewusstheit gilt gemeinhin als wichtiger ätiologischer Faktor für Lese-Rechtschreibschwäche (LRS, [1-4]). Phonologische Bewusstheit ist nicht nur die Voraus-setzung für Sprachwahrnehmung, sondern auch für das Erlernen von Graphem-Phonem-Korrespondenzen. Das Wissen über diese ist wiederum essentiell für das Erlernen von Lesen und Rechtschreibung [2, 5-8]. Kinder mit LRS machen mehr Fehler bei der Kategorisierung von Sprachreizen [9-11] und viele LRS-Kinder haben Schwierigkeiten, bestimmte Konsonant-Vokal-Silben (KV-Silben) voneinander zu unterscheiden [12]. Dies scheint mit einem Defizit bei der Verarbeitung von Stop-Konsonanten zusammenzuhängen [12, 13]. Stop-Konsonanten zeichnen sich durch schnelle Frequenzänderungen in einem Zeitbereich von nur wenigen Mil-liskunden aus. Aus diesem Grund wurde argumentiert, dass die Verarbeitungsschwierigkeiten bei LRS nicht rein phonologischer Natur seien, sondern aus einem Defizit bei der zeitlichen au-ditorischen Verarbeitung resultierten [14-18].

Die Komponenten Mismatch Negativity (MMN) und Mismatch Field (MMF), die im EEG, bzw. MEG während sprachspezifischer Verarbeitung aufgezeichnet werden können, bie-ten Aufschluss darüber, ob LRS ein phonologisches oder grundlegenderes auditorisches Verar-beitungsdefizit ist. Schulte-Körne und Kollegen [19] berichteten eine reduzierte MMN in ihrer Stichprobe von LRS-Kindern im Vergleich zu einer Kontrollstichprobe, wenn die KV-Silben /ba/ (standard) und /da/ (deviant) als Stimulation dienten. Keine Gruppenunterschiede wurden gefunden, wenn die Stimulation aus einfachen Sinustönen bestand (Standard 1000 Hz, Deviant 1050 Hz). Dies wurde als Unterstützung für die Hypothese interpretiert, dass LRS eher durch ein phonologisches Defizit als durch ein basaleres auditorisches Defizit charakterisiert ist. In ei-ner Folgestudie präsentierten Schulte-Körne und Kollegen [20] eine Folge von vier Tönen als Standard- und Deviant-Reiz. Der einzige Untschied zwischen Standard- und Deviant-Stimuli war die Position der Töne 2 und 4 innerhalb der Tonfolge. Ton 2 und Ton 4 hatten dieselbe Tonhöhe, waren aber unterschiedlich lang. D.h., Standard- und Deviant-Stimuli unterschieden sich nicht in ihrer Tonhöhen-Struktur, sondern lediglich in ihrem zeitlichen Muster. Mit dieser Stimulation zeigte sich eine reduzierte MMN in der LRS-Gruppe verglichen mit der Kontroll-gruppe. Die Ergebnisse der Schulte-Körne Studien zeigen, dass LRS sowohl durch ein Defizit bei der Verarbeitung von Sprachreizen als auch nicht-Sprachreizen gekennzeichnet ist, wenn letztere eine komplexe zeitliche Struktur haben. Es scheint also, dass LRS kein rein phonologi-sches Defizit ist.

Trainingsstudien bieten eine weitere Möglichkeit, die Ätiologie von LRS zu untersuchen. Tallal und Kollegen [16] entwickelten ein Computer-basiertes adaptives Trainingsprogramm, das aus zwei „Spielen” bestand. Im ersten Spiel sollten die Kinder die Reihenfolge zweier fre-

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248 Isabella Paul, Christof Bott, Sabine Heim, Christian Wienbruch und Thomas Elbert

quenzmodulierter Töne wiedergeben. Im zweiten Spiel wurde den Kindern eine Zielsilbe vorge-spielt, die von zwei weiteren Silben gefolgt wurde. Die Aufgabe war es zu unterscheiden, welche dieser beiden Silben identisch mit der Zielsilbe war. Die Spiele waren adaptiv, d.h. je besser die Kinder wurden, umso schwieriger wurde die Aufgabe (Schwierigkeit wurde durch Kürzung des Interstimulusintervalls (ISI), der Länge der Töne, bzw. der Formantentransitionsperiode der Silben operationalisiert). Obwohl das Training lediglich die zeitliche Verarbeitung der Kinder traininierte, verbesserte sich deren Leistung auch beim Sprachverständnis und bei der Phonem-diskrimination. Die Ergebnisse von Tallal und Kollegen legen also ebenfalls nahe, dass LRS kein rein phonologisches Problem darstellt.

Weitere Unterstützung für die auditorische Verarbeitungsdefizit-Hypothese lieferten Ku-jala und Kollegen [21], die die MMN bei LRS vor und nach einem audio-visuellen Training un-tersuchten. Das Training beinhaltete Töne, die sich in ihrer Tonhöhe, Dauer und Lautstärke un-terschieden. Visuell wurden die Töne durch Rechtecke repräsentiert, die sich entsprechend in ihrer vertikalen Position, Breite und Höhe unterschieden. Aufgabe war es entweder zu entschei-den, welche von zwei visuell präsentierten Sequenzen aus Rechtecken einer auditorisch präsen-tierten Tonfolge entsprach, oder der visuell präsentierten Sequenz aus Rechtecken zu folgen und die Leertaste zu drücken, wenn eine Tonfolge das letzte Element der visuellen Sequenz er-reicht hatte. Untersucht wurden zwei LRS-Gruppen, die sich in ihrer Leseleistung und MMN Amplitude vor dem Training nicht unterschieden. Nur eine der beiden Gruppen nahm an dem Training teil, die andere Gruppe diente als Kontrolle. Nach dem Training machte die Trainings-gruppe weniger Fehler beim Lesen als die Kontrollgruppe. Zusätzlich zeigte sich eine Korrelati-on zwischen dem Anstieg der MMN Amplitude und der Veränderung der Leseleistung.

Die oben beschriebenen Ergebnisse zeigen, dass Trainingsstudien, die von psychophy-siologischen Messungen begleitet werden nicht nur dazu geeignet sind, kortikale Korrelate von Verbesserungen auf Verhaltensebene zu untersuchen, sondern auch dazu beitragen, offene Fra-gen bezüglich der Ätiologie von LRS zu beantworten.

Die vorliegende Studie versuchte, sich dies zunutze zu machen und verglich den Effekt von drei Trainingsprogrammen, die an unterschiedliche Ebenen von LRS ansetzten. Eines der Trainings sollte die auditorische Wahrnehmung verbessern und war an die Studie von Tallal und Kollegen [16] angelehnt. Das zweite Training sollte die phonologische Bewusstheit der Kinder erhöhen, und das letzte Training zielte rein auf kognitive Kompensation durch Erlernen und Üben von Rechtschreibregeln ab. Unser Ziel war es, differentielle Einflüsse der verschiede-nen Trainingsprogramme auf Lese- und Rechtschreibleistung, sowie kategoriale Wahrnehmung zu untersuchen. Zusätzlich maßen wir das MMF für die Standardsilbe /ba/ und Deviantsilbe /da/ vor und nach der Trainingsperiode. Wir nahmen an, die meisten Veränderungen der ab-hängigen Variablen (Verbesserung der Lese-und Rechtschreibleistung, kategorialen Wahrneh-mung und Vergrößerung des MMF) durch das Training der auditorischen Wahrnehmung zu finden, wenn ein Defizit in selbiger der hauptsachliche ätiologische Faktor von LRS wäre. Wäre jedoch ein Mangel an phonologischer Bewusstheit die Hauptursache von LRS, erwarteten wir die größten Veränderungen der abhängigen Variablen durch das entsprechende Training. Das kognitive Kompensationstraining diente als Kontrolle, da weder Phonologie noch auditorische Wahrnehmung traininert wurden und war mit keinen spezifischen Hypothesen verbunden.

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Rechtschreibschwäche im Fokus der Kompetenzdiagnostik

Ergebnisse aus der internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU-E)

Von Ilona Löffler, Ursula Meyer-Schepers und Thomas Lischeid

Die Ansprüche der „Informations- und Wissensgesellschaft“ an Lese- und (Recht-)Schreib-kompetenz sind keineswegs geringer geworden, sondern gestiegen. Es gibt kaum mehr Arbeits-plätze, an denen keine Computer- bzw. Textverarbeitungskenntnisse verlangt werden. Auch das Internet ist ein Schriftmedium. Suchmaschinen finden kein sinnvolles Resultat, wenn z. B. statt „Benzin“ das Wort „Bentzin“ eingegeben wird, eine Falschschreibung, die wir im Rahmen der internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU-E) immerhin bei 13 Prozent der Schü-lerinnen und Schüler am Ende der vierten Jahrgangsstufe fanden. Die Neuen Medien sind für diejenigen von Vorteil, die sie nutzen können. Sie bedeuten Zugang und Partizipation an In-formation und Wissen. Für rechtschreibschwache Menschen aber bedeutet sie Ausschluss da-von. Nachteile in beruflichen und sozialen Zusammenhängen sind die Folge.

Lesen und Schreiben sind gerade im Zeitalter der „IT-Gesellschaft“ also die elementaren Kulturtechniken geblieben, um die eigene Biografie, Berufs- und Lebensperspektive gestalten und am gesellschaftlichen Leben partizipieren zu können. Insofern der Umgang mit Schrift ei-nen wesentlichen Teil der Lebensbewältigungskompetenz ausmacht, sind mangelnde Lese-Schreibfähigkeiten mehr denn je eine tief greifende Behinderung, um an den gesellschaftlichen Möglichkeiten zur Gestaltung der eigenen Zukunft teilzuhaben.

Im Unterschied zu PISA wurde deshalb im Rahmen von IGLU-E, der nationalen Ergän-zungsstudie zur internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU), auch die Rechtschrei-bung der Schülerinnen und Schüler am Ende der 4. Jahrgangsstufe überprüft. Eingesetzt wurde die Dortmunder Schriftkompetenz-Ermittlung (DoSE), die den Stand des Rechtschreiberwerbs der IGLU-Schülerpopulation auf Grundlage eines bestimmten orthografiedidaktischen Kompe-tenzmodells (gutschrift|Kompetenzmodell) erfasste. „Kompetenzdiagnostik“ und „Kompetenz-förderung“ bilden zwei Schlüsselbegriffe der aktuellen bildungspolitischen und bildungswissen-schaftlichen Diskussion, die sich im Anschluss an die großen Schulleistungsstudien PISA und IGLU entwickelt hat und zu deren wichtigsten Konsequenzen die Implementierung von Bil-dungsstandards und Kompetenz-Erwartungen in die KMK-Beschlüsse und die neuen Kern-lehrpläne der Bundesländer gehören.

Das Instrumentarium DoSE ist inzwischen zu einem auch für die Klassen- und Indivi-dualdiagnostik nutzbaren internetbasierten Testsystem unter dem Namen gutschrift|diagnose ausgebildet worden. Zu ihren wichtigsten Ergebnissen bislang gehört es, nicht nur eine neue, repräsentativ-statistische Datenlage zur Schriftsprachkompetenz deutscher Schülerinnen und Schüler geschaffen zu haben, sondern, insbesondere mit Blick auf Kinder mit Rechtschreib-schwierigkeiten, einen Beitrag zu einer Überprüfung und möglicherweise Neuformulierung des Legasthenie-Begriffs auf Grundlage einer Kompetenzdiagnostik leisten zu können, der zugleich dazu angetan ist, einen veränderten Blick auf den förderdidaktischen Umgang mit diesem Phä-nomenbereich zu werfen.

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268 Ilona Löffler, Ursula Meyer-Schepers und Thomas Lischeid

1 Der Rechtschreibtest „DoSE“ und das gutschrift|Kompetenzmodell

Mit DoSE liegen durch den Einsatz in IGLU-E für den Bereich der Rechtschreibkompetenz ak-tuelle und bundesweit als repräsentativ geltende Werte vor, die an einer nach Größe und Aus-gewogenheit der Datenquelle signifikanten Großgruppe gewonnen wurden und sich auf den Lernstand am Ende der Primarstufe beziehen.

DoSE ist ein Rechtschreibtest im Lückentextformat, der aus 19 Sätzen mit 45 darin ein-zusetzenden Wörtern besteht. Die Auswahl der Wörter und ihrer Bestandteile orientierte sich an zwei Hauptgesichtspunkten, zum einen an dem Kriterium der inhaltlich-semantischen Be-kanntheit, zum anderen an dem Kriterium des sach- und entwicklungslogischen Aneignungs-niveaus der Wörter. Das erste Kriterium wurde erfüllt, indem eine hohe Schnittmenge mit be-kannten Wortschatzlisten der Grundschule hergestellt wurde. Dem zweiten Kriterium liegt ein bestimmtes orthografiedidaktisches Konzept zugrunde, nämlich das gutschrift|Kompetenzmo-dell.

Zur Erläuterung des Modells sei zunächst auf ein kurzes Beispiel eingegangen, das als ei-ne Art Experiment schon mehrfach im Rahmen von Lehrerfortbildungsveranstaltungen durch-geführt worden ist. Den Teilnehmern dieser Veranstaltungen, die ohne Frage als rechtschreib-kompetent gelten können, wurde die sinnfreie Lautfolge /bi'trεlª/ vorgesprochen und sie wur-den gebeten dieses Kunstwort („bitrella“) nach Diktat aufzuschreiben. Die anschließenden Ver-suche einer ‚Übersetzung’ dieser erfundenen und sinnfreien Lautfolge in die Schriftsprache, die von den schriftkompetenten Teilnehmern präsentiert wurden, zeigten eine schmale und gut an-tizipierbare Bandbreite von Verschriftungsmöglichkeiten, die aus folgenden vier bzw. acht Schreibangeboten bestand:

Bitrella bzw. bitrella Bitreller bzw. bitreller Biträlla bzw. biträlla Biträller bzw. biträller

Dieses Beispiel ist deswegen aufschlussreich, weil es über bestimmte Phänomenbereiche und Schwierigkeitsstufen beim orthografisch geleiteten Verschriften von Wörtern im Deutschen Aufschluss gibt. Die Übereinstimmungen in bestimmten Wortbestandteilen (b-i-t-r-l) verwei-sen auf einen Konsens über die Regeln der Verschriftung bestimmter Laut-Buchstaben-Zuordnungen, der – linguistisch gesprochen – auf einer Phonemanalyse des je wortspezifischen schriftrelevanten Lautbestands mit anschließender graphematischer ‚Korrespondenzbildung’ beruht. Im Falle der übrigen Wortbestandteile erweist sich die ‚richtige’ Verschriftung selbst bei rechtschreibkompetenten Schreibern als problematischer, da uneindeutig: Soll man in der Mitte „e“ oder „ä“, am Ende „-a“ oder „-er“, am Anfang ein kleines oder großes „b/B“ schreiben? Or-thografisch korrekt lassen sich diese Fragen nur beantworten, wenn neben der Orientierung an der reinen Phonem-Graphem-Korrespondenz ein Wissen explizit grammatischer Art mitakti-viert wird (in diesem Fall über die Verschriftung der Morphemkonstanz, der Endungen sowie syntaktisches Wissen über die Großschreibung).

Das Beispiel belegt, warum das theoretische Konstrukt des gutschrift|Kompetenzmodells zwei Dimensionen der Schriftkompetenz, eine „phonographische“ (Lautzeichen-Schriftzeichen-Zuordnung) und eine „(wort-/satz-) grammatische Kompetenzdimension“ modelliert. Zugleich will es als ein integratives Schriftsprachmodell verstanden werden, da es Schriftkompetenz und deren Aufbau in der Beschreibung beider Kompetenzdimensionen eingebettet sieht.

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Schulrechtliche Ansprüche von Schülerinnen und Schülern

mit Legasthenie und Dyskalkulie unter besonderer Berücksichtigung

von Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG

Von Gabriele Marwege

Einleitung

Der Workshop auf dem Kongress des BVL zu den schulrechtlichen Ansprüchen bei Legasthenie und Dyskalkulie setzte sich umfassend mit den schulrechtlichen Fragen der Berücksichtigung der Legasthenie und Dyskalkulie auseinander. Grundlage der Diskussion war zunächst die Dar-stellung der verschiedenen schulrechtlichen Vorschriften in den 16 Bundesländern, die überaus verschieden und vielseitig sind (I).

Mit diesen Fragen hat sich die juristische Literatur bis zum Ende des Jahres 2005 kaum beschäftigt. Der Fokus der juristischen Diskussion lag vielmehr auf den Problemen, die die Teil-leistungsstörungen im Bereich der Jugendhilfe und vor allem der Eingliederungshilfe verursa-chen.1 Grundlage des Workshops war deshalb eine Ausarbeitung zur Frage der Rechte von Le-gasthenikern und Dyskalkulikern in der Schule (II).

Im Jahr 2006 haben sich Verwaltungsgerichte und die juristische Wissenschaft vermehrt und stärker mit der Frage beschäftigt, welche Rechte Legastheniker und Dyskalkuliker in der Schule haben. Neben mehreren Beschlüssen liegt inzwischen auch ein grundlegendes Gutach-ten von Prof. Langenfeld zu den Rechten von Schülern und Schülerinnen mit Legasthenie in der allgemeinen Schule vor (III).

I Schulrechtliche Vorschriften

1 Grundsätze

Fast alle Bundesländer verfügen über Rechtsvorschriften zur Förderung von Kindern mit be-sonderen Schwierigkeiten beim Lesen und Rechtschreiben.2 Sie beziehen sich generell auf alle Kinder mit Schwierigkeiten beim Lesen und Rechtschreiben und differenzieren nur in Aus-nahmefällen zwischen einer Lese-Rechtschreibschwäche und einer Legasthenie (z. B. Bayern, Schleswig-Holstein). Thüringen hat bisher keine spezielle Regelung für den Bereich der Lese-

1 S. dazu Meysen, Thomas, Die Kinder- und Jugendhilfe als Ausfallbürge bei schwerer Legasthenie und/oder

Dyskalkulie Jamt 2003, 53ff. 2 S. Anhang; Sammlung der Ländererlasse auf der homepage des BVL www.bvl-legasthenie.de und zum Teil re-

cherchierbar unter www.bildungsserver.de – Bearbeitungsstand 1.3.2007.

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284 Gabriele Marwege

Rechtschreib-Schwierigkeiten und wendet die allgemeinen Vorschriften der Schulordnung und der Verordnung zum sonderpädagogischen Förderbedarf an. Viele Bundesländer sind zur Zeit dabei, ihre Rechtsvorschriften zu überarbeiten und an die KMK-Empfehlung vom 4. 12. 2003 „Grundsätze zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben“ anzupassen. Zum Teil werden dabei auch Regelungen für Kinder mit Rechenschwierigkeiten getroffen (Brandenburg, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpom-mern, Niedersachsen).

Im Folgenden soll ein Überblick über die schulrechtlichen Regelungen für wesentliche Punkte der Berücksichtigung der Legasthenie und Dyskalkulie gegeben werden.

1.1 Diagnostik

Grundlage allen Handelns der Schule muss zunächst einmal sein, dass Schwierigkeiten der Schüler überhaupt erkannt werden. Nach den schulrechtlichen Vorschriften ist es grundsätzlich immer Aufgabe der unterrichtenden Lehrer/innen vor allem des Faches Deutsch, Schwierigkei-ten zu erkennen (z. B. BW Nr. 2 der VV; BE § 16 Abs. 2 GrundschulVO; BB Nr. 3.1 VV-LRS, MV Nr. 4 (2) VV-LRS; NI. Nr. 1 LRS-Erlass; NW Nr. 2.1 LRS-Erlass).3

Fallen den Lehrer/innen oder, wie dies sehr häufig vorkommt, den Eltern, Schwierigkei-ten beim Lesen, Rechtschreiben und Rechnen auf, so ist es je nach Bundesland sehr unter-schiedlich, wie dann die Feststellung oder Diagnostik dieser Schwierigkeiten erfolgt.

Die KMK-Empfehlung vom 4. 12. 20034 stellt fest: „Unbestritten ist, dass die Diagnose ... zu den Aufgaben der Schule gehört“.5 Eine Diagnose i.S. einer medizinischen Diagnostik ist damit wohl nicht gemeint.

In vielen Bundesländern erfolgt die Feststellung der Schwierigkeiten durch den Lehrer (BE § 16 Abs. 3 GrundschulVO; BB Nr: 3.1 VV-LRS) und erfordert dann eine weitere Entschei-dung der Klassenkonferenz (BW 3.3 VV; HE § 4 Abs. 2 VOLRR; NI Nr. 3 LRS-Erlass; NW Nr. 2.1 LRS-Erlass; SL Nr. 3.1 LRS-Erlass) oder des Schulleiters (HB 1.3 LRS-Erlass). In Sachsen gibt es ein eigenes Diagnostik-Team (SN Nr. 5.1.2 VwV –LRS). In Mecklenburg-Vorpommern wird die Legasthenie durch das Schulamt ((MV Nr. 5.1 (4) VV-LRS), in Schleswig-Holstein durch die untere Schulaufsichtsbehörde festgestellt (SH Nr. 2.3.4 LRS-Erlass). Hamburg hat ein eigenes Verfahren der Schule zur Feststellung der Teilleistungsschwierigkeiten auf der Grundlage allein der Hamburger Schreibprobe (HSP), Leseprobe (HLP) und des Hamburger Rechentests (Ha-ReT) in Verbindung mit Tests nach CFT 1 bzw. 20 R entwickelt (HH Nr. 2.1 und 2.2 RL-LRR). Die Entscheidung im Einzelfall liegt bei der Klassenkonferenz (HH Nr. 4.3 Satz 2 RL-LRR). In Bayern erfordert die Berücksichtigung der Legasthenie eine Diagnostik durch den Kinder- und Jugendpsychiater (BY Nr. IV KMBek).

Sehr unterschiedlich ist geregelt, ob außerschulische medizinische Gutachten bei der Feststel-lung der Schwierigkeiten zu berücksichtigen sind. In Bayern sind sie für eine Feststellung zwin-gend erforderlich (BY Nr. IV KMBek). In Hessen müssen sie in das Entscheidungsverfahren

3 Die Abkürzungen der Bundesländer entsprechen den vom Bundestag verwendeten Abkürzungen

http://www.bundestag.de/parlament/wahlen/sitzverteilung/1545.html. 4 Beschluss der KMK v. 4.12.2003 „Grundsätze zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen

Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben“ http://www.kmk.org/doc/beschl/Foerderung_Lesen_Recht-schreiben.pdf.

5 Beschluss der KMK v. 4. 12. 2003 unter Ziele Abs. 2.

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Sozialrechtliche Aspekte von Legasthenie und Dyskalkulie1

Von Johannes Mierau

I Einleitung

Ob Kindern oder Jugendlichen Hilfen für besondere Lebenssituationen gewährt werden, ist (neben den Leistungsgesetzen der Kranken- oder Rentenversicherung) vor allem im Achten Buch Sozialgesetzbuch – Kinder- und Jugendhilfe – (SGB VIII)2 geregelt. Eine zentrale Rolle in der Praxis nimmt dabei die Gewährung von Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII ein. Im Falle einer (drohenden) seelischen Behinderung ist das jeweils zuständige Jugendamt als Träger der öffentlichen Jugendhilfe verpflichtet, die geeignete und notwendige Maßnahme zur Verhü-tung, Beseitigung oder Milderung einer seelischen Behinderung3 entweder selbst zu ergreifen oder die Kosten hierfür zu übernehmen.

Mit dem zum 01.10.2005 in Kraft getretenen Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Ju-gendhilfe (Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz – KICK)4 ist es nun zu einer Prä-zisierung des Gesetzeswortlautes gekommen. Der Gesetzgeber verfolgt damit u.a. das Ziel, „Streitigkeiten über die Rollenverteilung zwischen Arzt bzw. Psychotherapeuten und den Fach-kräften im Jugendamt“5 zu vermeiden.

II Neuregelung des § 35a SGB VIII zum 01.10.2005

Durch die Änderungen in § 35a SGB VIII dürfte nunmehr klar sein, dass das Gesetz einen zweistufigen Tatbestand beinhaltet. Nach § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII haben Kinder oder Ju-gendliche einen Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn (1.) ihre seelische Gesundheit mit ho-her Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht und (2.) daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zumindest zu erwarten ist.

1. Seelische Störung

Die Abweichung der seelischen Gesundheit nach § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII ist gleich-zusetzen mit dem Begriff der seelischen Störung. Ob eine solche vorliegt, ist nach dem neuen Gesetzeswortlaut nunmehr verbindlich nach dem Klassifikationsschema für psychische Störun- 1 Der Beitrag entspricht im wesentlichen einer rechtlichen Stellungnahme für den Bundesverband der Ärzte für

Kinder- und Jugendpsychiatrie im Frühjahr 2006. 2 SGB VIII vom 26.09.1990, BGBl. I S. 1163. 3 Hinsichtlich der Aufgaben der Eingliederungshilfe verweist § 35a Abs. 3 SGB VIII auf §§ 53 Abs. 3, 4 Satz 1, §§

54, 56 und 57 SGB XII. 4 KICK vom 08.09.2005, BGBl. I S. 2729. Hinweis: Der Gesetzestext mit Begründung ist als Broschüre zu beziehen

über die Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe (AGJ), Mühlendamm 3, 10178 Berlin, www.agj.de. 5 So die Gesetzesbegründung, vgl. BT-Drs. 15/3676, zu Nummer 11 (§ 35a) Buchstabe b, S. 36.

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304 Johannes Mierau

gen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 der WHO zu bestimmen (vgl. § 35a Abs. 1a Satz 2 SGB VIII).6

Umstritten war in der Vergangenheit, ob Teilleistungsstörungen wie die Legasthenie oder Dyskalkulie für sich bereits eine seelische Störung darstellen oder nicht.7 So hatte das Bundes-verwaltungsgericht mit Urteil vom 26.11.1998 seelische Störungen im Zusammenhang mit schulischen Problemen erst dann angenommen, wenn die auf Versagensängsten beruhende Schulphobie, die totale Schul- und Lernverweigerung, der Rückzug aus jedem sozialen Kontakt und die Vereinzelung in der Schule vorliegt.8 Diese restriktive Entscheidung wurde in der Fol-gezeit vor allem auch von Kinder- und Jugendpsychiatern kritisiert.9

Indem einerseits das Gesetz zur Bestimmung der seelischen Störung ausdrücklich auf die Internationale Klassifikation der Krankheiten verweist und andererseits sowohl die Legast-henie als auch die Dyskalkulie in dieser aufgeführt sind, ist klar zu schlussfolgern, dass beide für sich genommen bereits eine seelische Störung darstellen.10 Die sich infolge der Teilleistungsstö-rungen ergebenden konkreten Schwierigkeiten in Schule, Familie und Freundeskreis können al-lesamt bei der Prognoseentscheidung über das Vorliegen der drohenden seelischen Behinde-rung Verwendung finden.

2. (Drohende) seelische Behinderung

Seelische Störungen reichen für sich genommen noch nicht aus, eine (drohende) seelische Be-hinderung anzunehmen. Nach § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII muss in deren Folge die Teil-habe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt oder eine solche Beeinträchtigung zu erwar-ten sein.

In der Praxis ergeben sich vor allem Schwierigkeiten bei der Bestimmung der drohenden seeli-schen Behinderung. In der bis September 2005 gültigen Fassung reichte für die dabei anzustel-lende Prognose über den Eintritt einer Beeinträchtigung an der Teilhabe am Leben in der Ge-sellschaft jeder Grad der Wahrscheinlichkeit aus.11 Der Gesetzgeber hat nun bewusst die An-spruchsschwelle angehoben, namentlich mit dem Ziel, die Kostenlast für die Kommunen zu senken.12 Von einer seelischen Behinderung bedroht sind nach der Neufassung des Gesetzes13

6 Bereits zuvor wurde dies in der Praxis so gesehen, vgl. Vondung in LPK-SGB VIII, 2. Aufl. Baden-Baden 2003, §

35a Rn. 8a. 7 Offen gelassen noch von BayVGH, Beschluss vom 10.08.2004, 12 ZB 04.102 („mag zweifelhaft sein“); abgelehnt

von VG Düsseldorf, Urteil vom 22.01.2001, 19 K 11140/98, ZfJ 2001, S. 196-204 (198); VG Braunschweig, Urteil vom 13.10.2005, 3 A 78/05.

8 BVerwG, Urteil vom 16.11.1998, 5 C 38.97. 9 So z.B. Sachverständigengutachten Frau Prof. Amorosa, ehem. Leiterin der Abteilung Solln der Heckscher Klinik

München in einem vom Autor geführten Gerichtsverfahren vor dem VG München: „Bei den vom Kreisjugend-amt ... angesprochenen Störungen, wie Schulphobie, totale Schul- und Lernverweigerung oder Rückzug aus je-dem sozialen Kontakt u.a., die auch im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts als Voraussetzung für die Annahme einer seelischen Behinderung oder einer drohenden seelischen Behinderung gefordert werden, ist erfahrungsge-mäß eine sofortige stationäre kinderpsychiatrische Behandlung notwendig. Dies sind keine Störungen, bei denen eine ambulante Eingliederungsmaßnahme zur Vorbeugung einer drohenden seelischen Behinderung beitragen kann.“

10 So nunmehr auch ausdrücklich Wiesner, SGB VIII, 3. Aufl. München 2006, § 35a Rn. 14, in Abgrenzung zur vor-herigen Rechtsprechung.

11 Vgl. hierzu Vondung,, a.a.O. (Fn. 6), § 35a Rn. 8. 12 Kador, in: Jung (Hrsg.): SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe, 1. Aufl. Berlin 2006, § 35a Rn. 9. 13 Vgl. den neu eingefügten § 35a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII.

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Erkennen von Rechenstörungen in der Schule

Von Silvia Wessolowski

Wenn man in der Grundschule unterrichtet, erstaunen Lösungen, wie die folgenden, nicht.

1. 12 + 8 = 6 13 + 7 = 4

3. 12 Brötchen werden an 3 Kinder verteilt. Wie viele Brötchen be-kommt jedes Kind? R: 12 + 3 = 15 A: Es werden 15 Brötchen verteilt.

2. 57 + 25 = 712

4. Auf einem Bild sind 15 Kinder zu sehen, die in einer Reihe ste-hen. Auf die Frage, wie viele Kinder noch stehen bleiben, wenn das dritte und das siebte Kind nach Hause gehen, kann man durchaus als Antwort bekommen:

Es bleiben noch 5 Kinder stehen, denn 3 + 7 = 10 und 15 – 10 = 5.

Bedenkenlos werden Brötchen und Kinder addiert (vgl. Beispiel 3) und ein Kind und noch ein Kind ergeben 10 Kinder, nur weil sie an 3. und 7. Stelle in der Reihe stehen, und dass, obwohl jedes Kind weiß 1 + 1 = 2 (vgl. Beispiel 4).

Natürlich können solche Fehler wie beim Lösen der Textaufgabe auch daher rühren, dass Aufgaben nur flüchtig gelesen werden und dann mit den ins Auge springenden Zahlen ir-gendeine Rechenoperation ausgeführt wird, oft die, die im Unterricht gerade aktuell behandelt wird. Meist kommen solche Fehler jedoch daher, dass Kinder keine Vorstellung von den Rechen-operationen aufgebaut haben, in dem Sinne, dass sie nicht wissen, welche Handlungen mit den Rechenzeichen +, -, ·, : verbunden sein könnten und daher auch nicht entscheiden können, wel-che Rechenoperation zu welcher Situation passt. Solche Fehler wie im vierten Beispiel zeigen, dass ein Kind nur einen unvollständigen Zahlbegriff entwickelt hat. In diesem Fall fehlt das Ver-ständnis für den Zusammenhang oder auch den Unterschied zwischen Ordinal- und Kardinal-zahl. Fehlerhafte Rechenstrategien wie in den ersten beiden Beispielen stehen mit den genann-ten, einseitigen oder fehlerhaften Vorstellungen in engem Zusammenhang.

Auch wenn sich die Schwierigkeiten einzelner Kinder im Detail von denen anderer Kinder un-terscheiden können, stehen die Beispiele für typische Schwierigkeiten: – einseitige Zahlvorstellungen, – einseitige Operationsvorstellungen, verbunden mit – verfestigtem zählenden Rechnen.

Diese lassen sich auch als wesentliche Symptome für Rechenstörungen benennen, die einen Großteil der Einzelprobleme derjenigen Kinder umfassen, die als rechenschwach bezeichnet werden können (vgl. Schipper 2003, Kaufmann, Wessolowski 2006). Außerdem lassen sich so-wohl bei der Zahldarstellung und der Zahlauffassung als auch bei Vorstellungen von Rechen-operationen Schwierigkeiten oder die Unfähigkeit, zwischen verschiedenen Repräsentations-modi flexibel zu wechseln, beobachten.

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316 Silvia Wessolowski

Diagnostische Möglichkeiten in den ersten Schulwochen

Auf solche offensichtlichen Fehler, wie sie oben beschrieben wurden, trifft man natürlich noch nicht am Schulanfang. Hinzu kommt, dass kein Kind mit einer Rechenstörung in die Schule kommt. Auch wenn man heute noch keine Ursachen im Sinne von Faktoren kennt, die unwei-gerlich eine Rechenstörung bedingen, so ist es doch möglich Fähigkeiten zu benennen, die ein erfolgreiches Mathematiklernen befördern können, bzw. wenn es Entwicklungsrückstände oder Erfahrungsdefizite gibt, natürlich auch behindern können. Insbesondere, so zeigen bisherige wissenschaftliche Untersuchungen, sind es Störungen im Wahrnehmungs- und Vorstellungsbe-reich (vgl. Kaufmann 2003) und wenig entwickelte arithmetische Vorkenntnisse (vgl. Krajewski 2003), die als ungünstige Lernvoraussetzungen angesehen werden können und aus denen sich eine Rechenstörung entwickeln kann. Damit verbunden sind häufig auch Schwierigkeiten, prä-positionale Beziehungen wie vor, hinter, zwischen, … zu verstehen.

An dieser Stelle sollen die genannten Bereiche nicht vollständig beschrieben werden, sondern an Hand eines konkreten Beispiels für eine Lernstandserhebung, die in den ersten sechs Wo-chen des ersten Schuljahres durchgeführt werden sollte, gezeigt werden, welche Aspekte dazu gehören. Das Beispiel stammt aus „Spitze in Mathematik 1“ (vgl. Schulz 2005). Bei dieser Erhe-bung geht man nicht im Sinne eines standardisierten Tests vor. Die Kinder sollten wissen, dass Aufgaben dabei sind, die sie vielleicht schon lösen können, andere lernen sie aber erst in Klasse 1 kennen. Es geht also darum zu zeigen, was sie schon alles können. Was zu schwer ist, muss nicht bearbeitet werden. Die Aufgaben sollten auch nicht alle auf einmal, sondern z.B. seiten-weise zu unterschiedlichen Zeiten bearbeitet werden. Den Kindern soll auch genügend Zeit ge-geben werden, sodass keine Wettbewerbssituation entsteht.

Eine Lernstandserhebung in dieser Form kann zunächst einmal quantitativ ausgewertet werden, indem man feststellt, wie viele Aufgaben vollständig richtig, zum Teil richtig, völlig falsch oder gar nicht bearbeitet wurden. Insbesondere in den letzten drei Fällen sollte die Analyse durch qualitative Aussagen ergänzt werden, die darauf beruhen, das man einzelne Kinder beim Lösen der Aufgaben beobachtet, die Aufgabe ggf. noch einmal in anderer Form präsentiert oder Mate-rial anbietet bzw. einsetzt. Dadurch erfährt man, wodurch die Fehler verursacht wurden und was das Kind eventuell auf einer anderen Darstellungsebene doch schon kann.

Im Folgenden sollen nur die ersten neun von insgesamt zwölf Aufgaben vorgestellt wer-den, da diese auf notwendige Lernvoraussetzungen für erfolgreiches Mathematiklernen abzie-len.

In Aufgabe 1 muss den drei Mengen jeweils die richtige Zahl zugeordnet werden. Beo-bachtet man Kinder beim Lösen der Aufgabe, kann man sehen, ob sie Anzahlen auf einen Blick erfassen können, wie sie zählen – nur mit den Augen oder durch Antippen der Kringel –, ob die Eins-zu-Eins-Zuordnung gelingt und ob sie vielleicht das richtige Zahlwort nennen, aber die zugehörige Ziffer noch nicht schreiben können. Aufgabe 2 überprüft, in wieweit einer Ziffer ei-ne Zahl und eine Menge durch Anmalen der entsprechenden Anzahl von Kästchen zugeordnet werden können. Man kann beobachten, wie gut die Auge-Hand-Koordination gelingt und ob Kinder beim Anmalen die Anzahl noch überblicken oder immer wieder neu abzählen müssen. Beim Verbinden der Würfelbilder mit den passenden Ziffern in Aufgabe 3 wird ersichtlich, ob die Würfelbilder bekannt sind oder ob die Punkte jeweils abgezählt werden müssen.

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Entwicklung und Förderung der vorschulischen Mengen-Zahlen-Kompetenz und ihre Bedeutung

für die mathematischen Schulleistungen Von Kristin Krajewski

1 Entwicklung der Mengen-Zahlen-Kompetenz und ihre Bedeutung für die Früherkennung von Rechenschwierigkeiten

Eine präzise, knappe Beschreibung für die Symptomatik von Rechenschwierigkeiten lässt sich in der Literatur nicht finden, denn es werden äußerst vielfältige und uneinheitliche Fehler be-richtet. Diese lassen sich als Vielzahl von „Anfängerfehlern“ charakterisieren und deuten darauf hin, dass es sich bei Schwierigkeiten mit dem Rechnen um eine Entwicklungsstörung handelt. Eine Entwicklung mathematischer Kompetenzen, die sehr früh beeinträchtigt ist, zieht wieder-um immer größere Lücken in Mathematik nach sich, wenn auf dieses Wissen aufgebaut werden soll. Deshalb ist es wichtig, den natürlichen Verlauf der Entwicklung früher mathematischer Kompetenzen zu betrachten und zu untersuchen, inwieweit sich Verzögerungen in dieser frü-hen Entwicklung in den späteren Mathematikleistungen widerspiegeln. Daraus lassen sich ge-gebenenfalls Folgerungen ableiten, wie Rechenstörungen frühzeitig entgegengewirkt werden kann.

1.1 Entwicklung früher mathematischer Kompetenzen

Wie man sich die Entwicklung früher mathematischer Kompetenzen vorstellen kann, be-schreibt das Modell (Krajewski, in Druck) in Abbildung 1.

Erwerb numerischer Basisfertigkeiten (Ebene I). Bereits sehr früh entwickeln sich bei Kindern basale Fertigkeiten für den Umgang mit Mengen und Zahlen. So erwerben sie auf der ersten Kompetenzebene den quantitativen Begriff der Menge und benutzen Wörter wie „viel“ und „wenig“ um Mengen zu beschreiben. Später gelingt ihnen auch der (unpräzise) Vergleich von zwei unbestimmten Mengen, sodass sie (ohne zu zählen) feststellen können, dass eine Menge „mehr“ oder „weniger“ ist als eine andere Menge (Mengenvergleich). Sie lernen die Zahlwörter kennen und bringen diese beim Zählen in ihre exakte Reihenfolge. Zahlworte und das Zählen werden jedoch noch nicht mit den dahinter stehenden Mengen (Anzahlen) in Verbindung ge-bracht, denn die Basisfertigkeiten entwickeln sich auf der ersten Ebene noch nebeneinander. Kinder benutzen die Zahlenfolge hier ausschließlich, um Elemente in eine feste Reihenfolge zu bringen (sie zu „labeln“). Damit ist diese in ihrem Gebrauch noch der Buchstabenfolge ver-gleichbar.

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326 Kristin Krajewski

Abbildung 1:

Entwicklungsmodell früher mathematischer Kompetenzen (Krajewski, in Druck)

Ausbildung des Anzahlkonzepts (Ebene II). Die zweite Ebene ist gekennzeichnet durch die Erkenntnis, dass Zahlen Anzahlen repräsentieren, dass hinter Zahlen also Mengen stehen. Durch die Verknüpfung mit dem Mengenkonzept erlangen die Zahlworte erstmals eine quanti-tative Bedeutung. Die Zahlen werden in einer ersten Phase (unpräzises Anzahlkonzept) jedoch noch nicht mit exakten Anzahlen in Verbindung gebracht, sondern zunächst nur einem unbe-

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Qualitative Diagnostik der Rechenschwäche Bedeutung der differenzierten Diagnostik im Lernprozess

Von Michael Wehrmann

Die Thematik „Dyskalkulie“ erlebt in den letzten Jahren einen regelrechten Boom, was sich an der BVL-Tagung in Berlin ebenso ablesen lässt wie an einer Unzahl von Neuerscheinungen aus diesem Bereich. Vielfach spielt bei den (mehr oder weniger seriösen) Hilfsangeboten die inhalt-liche Diagnostik der Lernprobleme eine untergeordnete bis gar keine Rolle. Dieser Artikel fasst die wichtigsten Punkte meines Vortrags thesenartig zusammen und soll einen Beitrag leisten zur Aufwertung qualitativer Diagnostikinstrumente (i. e. Initial-, Verlaufs- und Präventionsdia-gnostik) als integraler Bestandteil angemessener Förderung rechenschwacher Kinder.

Dyskalkulie ist ein Entwicklungsrückstand im mathematischen Denken

Die sog. Rechenschwäche (gebräuchliche Synonyme hierfür sind Dyskalkulie oder Arithmas-thenie) ist eine Entwicklungsverzögerung resp. -störung im Bereich des Erlernens, Verstehens und Anwendens mathematischer Grundlagenkenntnisse. Sie äußert sich in beständigen Min-derleistungen im Lernstoff des arithmetischen Grundlagenbereiches (Mächtigkeitsverständnis, kardinaler Zahlbegriff, Grundrechenarten und Dezimalsystem), wobei die betroffenen Schüler mit ihrer subjektiven Logik in systematisierbarer Art und Weise Fehler machen, die auf begriff-lichen Verinnerlichungsproblemen beruhen. Die Erscheinungsformen und der individuelle Ausprägungsgrad können sehr verschieden und vielfältig sein – eines haben die betroffenen Kinder und Jugendlichen jedoch gemeinsam: Das Verständnis der grundlegenden Logik der Zahlen und der mathematischen Operationen ist bei ihnen nicht oder nur mangelhaft entwik-kelt. Diese Störungen beim Mathematiklernen sind für sich genommen keine Krankheit, brin-gen aber auf Grund der Bedeutung des Fachs für die Schule und den Alltag oft Krankheitsbilder im Sinne einer sekundären Neurotisierung hervor.

Rechenschwache Schüler sind in der Regel rein zählende Rechner

Wenn der Gehalt der natürlichen Zahlen als allgemeine Vorstellung von Anzahl nicht auf Ver-ständnis gestoßen ist, d. h. der kardinale Zahlbegriff nicht ausgebildet ist, verharren diese Schü-ler zumeist im Stadium des rein zählenden Operierens. Dafür hat sich der Begriff „Nominalis-mus“ herausgebildet: Diese Kinder kennen wohl die Zahlnamen und deren Reihenfolge aus-wendig, verknüpfen diese jedoch mit keiner quantitativen Vorstellung – sie identifizieren Zah-len dann lediglich über ihre ordinale Position in einer unstrukturierten Zahlwortreihe. Rechen-schwache Schüler müssen daher jegliche Rechenoperationen, die ja an sich Veränderungen von Kardinalzahlen bedeuten, über ein mühevolles Abgehen der Zahlwortreihe bewältigen. Größere Operanden bedeuten dann automatisch eine Verlängerung der Zählwege und damit verbunden eine höhere Fehleranfälligkeit. Die Subtraktion ist häufig sehr unbeliebt, da diesen Kindern die Rekonstruktion der Zahlwortreihe rückwärts ungleich schwerer fällt. Durch diese immensen

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334 Michael Wehrmann

Konzentrationsleistungen neigen die Kinder in langen Übungssitzungen häufig auch zu Kon-zentrationsproblemen, die dann genau genommen Folge (und nicht Ursache) ihrer Rechen-schwierigkeiten sind.

Qualitative Diagnostik: Erforschung der Genese der Rechenergebnisse

Eine individuelle Förderung setzt die genaue Ermittlung der Lernausgangslage des Schülers voraus. Die qualitative Diagnostik von Rechenschwierigkeiten ist eine Differenzial- und För-derdiagnostik, sie untersucht die konkreten Schwierigkeiten im mathematischen Grundlagen-bereich, die betroffenen Stoffgebiete, deren individuelles Ausmaß und die konkreten Erschei-nungsformen. Eine Erforschung der individuellen Wissenskonstrukte beim Schüler muss über eine reine Aufzählung und Messung von Fähigkeiten hinaus gehen. Denn gleichgültig, wie dif-ferenziert ein Fähigkeitskatalog ausgearbeitet sein mag, solch eine Untersuchung bleibt bei der Katalogisierung von Reproduzierbarem stehen, ohne die begriffliche Grundlage des Kindes nä-her zu betrachten. Die subjektiven Überlegungen und Beweggründe eines Schülers, die einzelne Leistung zu erbringen, bleiben verborgen. Mechanismen, denen kein Verständnis zu Grunde liegt und die deshalb unverstanden wiedergegeben werden, können auf diese Weise nicht von begrifflich verinnerlichten Stoffinhalten geschieden werden. Die Erfahrung zeigt, dass viele Kinder eine breite Palette solcher „abspulbereiter“ Fertigkeiten vorrätig haben, die sie im Ab-fragefall stur reproduzieren, ohne dass die Ergebnisse jedoch auf einem Verständnis der ma-thematischen Sachverhalte aufbauen. In solch einem Fall sind vom Schüler meist keine Zu-sammenhänge erkannt worden und das Reproduzierte beruht auf unverstanden auswendig Ge-lerntem. Insofern erscheint es nicht angebracht, dies im engeren Sinne als Wissen oder Kennt-nisse über Mathematik zu bezeichnen. Ich halte es für angemessener, hier von abgespeicherten Mechanismen zu sprechen, auch wenn bei diesem Vorgehen (vom Ergebnis aus betrachtet) durchaus richtige Resultate erzielt werden.

Eine qualitative Untersuchung ermittelt daher nicht, wie viel richtig ist, sondern auf wel-cher kognitiven Grundlage die Ergebnisse, ob richtig oder falsch, produziert werden. Ziel ist daher nicht die Rangwertung der Leistungen, sondern die genaue Beschreibung der begriffli-chen Verinnerlichung. Dafür sind differenzierende qualitative Diagnostikinstrumente erforder-lich, sog. mikrogenetische Verfahren, die unter die Oberfläche der falschen und richtigen Er-gebnisse tauchen und darüber die subjektiven Bewältigungsstrategien der Kinder beim Lösen mathematischer Aufgabenstellungen offenlegen. Wichtig ist dabei die Rekonstruktion der inne-ren Denk- und Handlungspläne sowie der individuellen Algorithmen der Kinder beim Bearbei-ten mathematischer Aufgabenstellungen. Die Methode der qualitativen Fehleranalyse ermög-licht es, die Quellen der Rechenfehler schrittweise einzugrenzen, bis sich ein individuelles Defi-zitbild, das persönliche Fehlerprofil, ergibt. Angemessene Diagnostikinstrumente sind inner-halb des klinischen Interviews die Methode des lauten Denkens, die Analyse des Umgangs mit Veranschaulichungsmaterialien sowie die Beobachtung der Mimik und Gestik des Schülers.

Eine so ermittelte Standortbestimmung der Kinder im „mathematischen Gebäude“, die Konstatierung ihrer jeweiligen Lernausgangslage, ist die wichtigste Grundlage für eine im An-schluss zu entwickelnde lerntherapeutische Förderkonzeption. Das Ergebnis einer qualitativen Diagnose von Rechenschwierigkeiten besteht konsequenterweise nicht in einem Noten- oder Punkteergebnis, d. h. die untersuchten Leistungen der Schüler werden nicht auf einer Skala quantitativ vergleichbar gemacht. Die Auswertung mündet vielmehr in einem qualitativen Feh-lerprofil, das die individuelle Lernausgangslage des untersuchten Schülers so genau wie möglich

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Hören und Sehen bei Lernproblemen Hörtraining und Rechtschreibung bei Legasthenie

Sehtraining und Rechnen bei Dyskalkulie

Von Christine Gebhardt und Burkhart Fischer

Zusammenfassung In diesem Beitrag werden die Entwicklung und neurobiologischen Grundlagen der sprachfreien auditiven Differenzie-rungsfähigkeit und der visuellen Simultanerfassung vorgestellt. Aus explorativen Studien wurden Erkenntnisse gewon-nen, die als Grundlage der Diagnostik bei Kindern mit Dyslexie bzw. Dyskalkulie genutzt werden können. Die Kinder mit spezifischen Lernschwächen bei normaler Intelligenz zeigen in den behandelten Wahrnehmungsbereichen deutli-che Defizite und „hinken“ der Altersentwicklung der Kontroll-Kinder ohne schulische Schwierigkeiten hinterher. Die positiven Wirkungen der entsprechenden Trainingsverfahren auf die sprachgebundene Lautdifferenzierung und die Rechtschreibung sowie auf das Rechnen werden anhand der Studien gezeigt. Möglichkeiten und Grenzen der Analyse und des Trainings der Sinnesfunktionen beim Erwerb schulischer Fertigkeiten werden diskutiert.

1 Einleitung

Der Erwerb der Sprache, insbesondere aber der Schriftsprache, stellt sehr hohe Anforderungen an das Seh- und Hörvermögen. Das Gehirn muss etwas lernen, auf das es in seiner phylogeneti-schen Entwicklung nicht vorbereitet wurde. Gesunde Sinnesorgane und eine möglichst fehler-freie Verarbeitung der Sinnesinformationen im Gehirn sind dabei sehr wichtig. Dazu gehören beispielsweise die präzise Unterscheidung von Lauteigenschaften in der gesprochenen Sprache, genügend schnelles dynamisches Sehen, eine zuverlässige Blicksteuerung und eine gute visuelle Simultanerfassung. Dies sind alles Leistungen, die nicht von den Sinnesorganen selbst erbracht werden können, sondern von speziellen Hirnfunktionen. Sie werden, wie andere Leistungen des Gehirns, erlernt und können einen mehr oder weniger hohen Grad an Genauigkeit und Zuver-lässigkeit erreichen. Auch bei gesunden Sinnesorganen können bei der Verarbeitung der Infor-mationen auf dem Weg von den Sinnesorganen bis zu den Zentren im Gehirn, Fehler auftreten und die Lernprozesse schon an der Basis stören.

Diese Lernprozesse finden im Allgemeinen ohne unser bewusstes Zutun sozusagen „von alleine“ statt. Das Gehirn lernt ein Leben lang und die Lernprozesse werden gerade dann ange-regt, wenn neue und wachsende Anforderungen gestellt werden, z. B. beim Eintritt in die Schu-le. Tatsächlich verbessern sich grundlegende Sinnesleistungen auch bis ins Erwachsenenalter, verändern sich über die Lebensspanne hinweg und können später im Leben auch wieder einge-schränkt sein.

Beim Erwerb schulischer Grundfertigkeiten müssen die Kinder mehr denn je ihre Sin-nesleistungen einsetzen, denn fast alles wird ihnen über den Sehsinn und Hörsinn erklärt. Eine zuverlässige Sinneswahrnehmung ist gefragt. Wenn Eltern, Lehrer und Therapeuten dies nicht wissen, können Kinder vor Aufgaben gestellt werden, die sie noch gar nicht zuverlässig lösen können, weil ihnen die eine oder andere Hör- oder Sehfähigkeit noch nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung steht.

Von der Arbeitsgruppe (AG) Hirnforschung im Zentrum für Neurowissenschaften der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg sind neue Test- und Trainingsverfahren für spezifische Wahrnehmungsbereiche entwickelt und erprobt worden. Die Arbeit hat einen multidiszi-

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340 Christine Gebhardt und Burkhart Fischer

plinären Hintergrund aus Biophysik, Neurobiologie, Neurophysiologie, Neurologie, Ophthal-mologie, Neuropsychologie, Pädagogik und Psychologie. Es hat sich herausgestellt, dass Kinder mit Lernproblemen in der Schule oft die notwendigen Entwicklungsstufen der Sinnesverarbei-tung im Gehirn nicht erreicht haben, sie aber in den meisten Fällen noch nachholen können. Die Verarbeitungsprozesse können quantitativ erfasst werden. Die Datenbank der Arbeitsgrup-pe enthält derzeit Eintragungen von knapp 4000 untersuchten Personen und stellt damit eine wichtige Datensammlung im Bereich der auditiven Differenzierungsfähigkeit, der visuellen Si-multanerfassung und auch des dynamischen Sehens sowie der Blicksteuerung dar. Bei Einzel-personen können Entwicklungsrückständen durch die entwickelten diagnostischen Verfahren erkannt und durch ein gezieltes und kontrolliertes tägliches Training zu Hause aufgeholt und damit schulische Lernprozesse begünstigt werden. Das Training ist natürlich kein Ersatz für das Üben von Lesen, Schreiben und Rechnen sondern es soll das Lernen für die Schüler und das Lehren für die Pädagogen erleichtern und eine erweiterte Fördermöglichkeit bieten.

In diesem Beitrag wird auf die auditive Differenzierung und die Simultanerfassung ein-gegangen. Verschiedene Untersuchungen haben bereits gezeigt, dass bei Legasthenie und ande-ren Lernschwächen schon relativ einfache Hör- und Sehfunktionen, vor allem im Bereich der zeitlichen Auflösung, nicht altersgerecht entwickelt sind (McAnnaly & Stein, 1996; Wright et al., 1997). Im Rahmen neuropsychologischer Untersuchungen wird häufig dem Sehorgan erheblich mehr Aufmerksamkeit gewidmet, als dies für den Hörapparat der Fall ist. So stehen einer Viel-falt von psychometrischen Tests für visuelle Modalitäten nur wenige fundierte Verfahren zur Prüfung vor allem höherer Hörleistungen gegenüber (vgl. Eder, 2005). Die Trainierbarkeit ein-zelner, im Folgenden beschriebenen, Wahrnehmungsfunktionen wurde untersucht, die Ergeb-nisse (Fischer & Hartnegg, 2000; Fischer et al., 2002) werden hier berichtet und diskutiert.

2 Hören – sprachfreie auditive Differenzierung

2.1 Neurobiologische Grundlagen der auditiven Differenzierungsfähigkeit und Begriffs-definitionen

Die auditive Information durchläuft auf ihrem Weg von den Ohren zu den sprachverarbeiten-den Hirnstrukturen eine komplexe Vorverarbeitung. Die Komplexität des auditiven Systems wird dadurch deutlich, dass es eine Reihe von Nervenfaserbündel und Schaltzentren gibt, die die akustische Information von der Cochlea über Hirnstamm, Mittelhirn und Thalamus zur Großhirnrinde leiten. Außerdem gibt es Fasern, die Signale vom Gehirn an die Cochlea zurück-leiten. Gut differenziertes Hören ist, neben anderen unerlässlichen Leistungen und Fähigkeiten, eine wesentliche Voraussetzung für das Sprachverständnis und die Rechtschreibung. Die Ent-wicklung der auditiven Differenzierungsfähigkeit dauert bis ins Erwachsenenalter an. Ein dia-gnostisches Verfahren „FonoFix“ zur Überprüfung der sprachfreien auditiven Differenzierung wird vorgestellt. Nachgewiesene Entwicklungsrückstände in einzelnen Bereichen des sprach-freien Hörens können wie eine explorative Studien ergaben, durch ein spezielles Training in bis zu 70-80% der Fälle aufgeholt werden (Fischer & Hartnegg, 2000; Fischer et al., 2002; Fischer, 2003; Schäffler & Sonntag, 2003). Das Verfahren ist standardisiert und die Re-Test-Reliabilität ist nach Fischer (2003) als hoch einzuschätzen.

Aspekte des zentralen Hörens sind in der Literatur mit den verschiedensten Begriffen beschrieben worden. Um den häufig vagen und uneinheitlichen Definitionen vorzubeugen, ha-ben Ptok, Berger, von Deuster, Gross, Lamprecht-Dinnesen, Nickisch, Radü und Uttenweiler

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Dyskalkulie bei Grundschulkindern – Ursachen, Diagnostik, Therapie

Eine Betrachtung aus fachdidaktischer Sicht

Von Andrea Schulz

1 Vorbemerkungen

Lernen und Spielen gehören zu den natürlichen Bedürfnissen des Menschen von Geburt an. „Wenn es etwas gibt, was Menschen vor allen anderen Lebewesen auszeichnet, dann ist es die Tatsache, dass wir lernen können und dies auch zeitlebens tun. Wir lernen Trinken, Laufen, Sprechen, Essen, Singen, Lesen, Radfahren, Schreiben, Rechnen, Englisch und uns zu beneh-men – mit mehr oder weniger Erfolg.“ (Spitzer 2003, XIII).

Kinder möchten am liebsten schon vor der Schule lesen, schreiben und rechnen lernen und ahmen oft Erwachsene nach. Durch das Spiel und das Leben in der Gemeinschaft erwer-ben sie wichtige Voraussetzungen dafür und machen unterschiedliche Erfahrungen. In der Schule steht das systematische Erlernen der Kulturtechniken in den ersten Jahren im Mittel-punkt. Lernprozesse in der Schule haben jedoch ihren besonderen Charakter. Ziele sollen in be-stimmten Zeiten erreicht werden, Inhalte werden von Erwachsenen ausgewählt und stark struk-turiert, Lernergebnisse unterliegen ständiger Kontrolle und Bewertung, jeder neue Lernschritt baut auf dem vorangegangenen auf. Erfolg beim Lernen hängt aber nicht nur vom Lernenden selbst, von seinen Erfahrungen und seinen Übungen, sondern auch vom Lerninhalt, von der Lernumgebung, von der Lehr- und Lernmethode und von weiteren beteiligten Personen wie Lehrer, Mitschüler und Eltern ab. Aufgrund dieser Komplexität ist das Lernen in der Schule störanfällig.

2 Schwierigkeiten beim Rechnenlernen – zum Beispiel Sonja

Sonja war 8 Jahre alt und ging in die 3. Klasse als sie in unserer Beratungsstelle vorgestellt wur-de. Sie kam im Mathematikunterricht ihrer Klasse überhaupt nicht mehr mit, während sie in den anderen Fächern gute und sehr gute Leistungen zeigte. An dieser Stelle sollen einige Aufga-ben mit Sonjas Rechenstrategien vorgestellt werden. Sie bearbeitete diese Aufgaben nach der Methode des lauten Denkens und erklärte uns jeden Schritt, den sie im Kopf durchführte.

1. Aufgabe: 44 + 32 = 67 Sonja rechnete 4 + 2 = 6 und 4 + 3 = 7, wobei sie zuerst die beiden Außenziffern der Aufgabe und dann die beiden Innenziffern miteinander verknüpfte. Sie sagte uns, dass ihre Eltern und Geschwister immer neue Arten zeigen, wie sie solche Aufgaben rechnen kann. Und jetzt weiß sie, dass sie die Zahlen auseinander nehmen und einzeln mit kleinen Zahlen rechnen kann. Die Teilaufgaben löste sie zählend, wobei sie sich mit einem Bleistift an die Stirn tippte und dabei leise weiterzählte.

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360 Andrea Schulz

2. Aufgabe: 19 – 16 = 30 Sonja rechnete 1 – 1 = 0 und 9 – 6 = 3. Dass sie hier eine andere Reihenfolge der Ziffern zum Verknüpfen wählte, war ihr nicht bewusst. Die Teilaufgabe 9 – 6 löste sie mit den Fingern. Sie zeigte sich 9 Finger, klappte 6 weg und sah 3 Finger.

3. Aufgabe: 55 + 27 = 72 Sonja rechnete 5 + 2 = 7 zählend im Kopf. 5 + 7 = 12 löste sie zählend an den Fingern. Dann schrieb sie 2 auf. Auf unsere Frage, warum sie 2 aufschreibt, antwortete sie: „Eigentlich ist es 12, aber man schreibt nur die 2, sonst ist es ja etwas mit Hundert.“

Sonjas Rechenstrategien und die Gespräche mit ihr zeigten, dass sie die grundlegenden Inhalte des Mathematikunterrichts nicht verstanden hatte. Sie verfügte weder über brauchbare Zahlvor-stellungen, noch hatte sie sich einen Zahlenraum aufgebaut oder Rechenoperationen über Handlungen erfasst. Mathematik war für sie ein inhaltsloses Regelwerk, das sie auswendig lern-te. Alle gut gemeinten Bemühungen der Lehrerin, der Eltern und Geschwister mussten schei-tern, da sie nicht dazu beitrugen, bei Sonja Verständnis aufzubauen. Da die anderen Kinder ih-rer Klasse bereits erfolgreich Aufgaben mit dreistelligen Zahlen lösten, hatte Sonja keine Chan-ce mehr, im Unterricht mitzukommen.

Nun gehörte Sonja aber gerade zu den fleißigen und ehrgeizigen Schülerinnen ihrer Klasse, die sich viel Mühe gaben, viel übten und erfolgreich lernen wollten. Der scheinbare Wi-derspruch zwischen ihren Bemühungen und den Ergebnissen wurde für die Erwachsenen im-mer größer. Die beschriebenen Fehlstrategien hat Sonja keiner so falsch beigebracht. Immer wenn Kinder beim Lösen von Aufgaben nicht weiter kommen, entwickeln sie eigene Strategien oder erfinden neue Regeln, die nach ihrem Verständnis stimmen könnten. Von diesen falschen Strategien lösen sich die Kinder kaum von selbst, weil sie die Unsinnigkeit ihres Vorgehens nicht erkennen (vgl. Anderson 1989).

3 Ursachen für extreme Lernschwierigkeiten im Mathematikunterricht (Rechenstörungen, Dyskalkulie)

Schwierigkeiten beim Lernen in der Schule können bei jedem Kind auftreten. Sie entstehen dann, wenn die Anforderungen an den Lernenden in einer konkreten Situation zu hoch sind und seine Voraussetzungen und Erfahrungen zu wenig beachtet werden. Oft können Schwie-rigkeiten in kurzer Zeit durch besondere Anstrengungen und Übungen überwunden werden. Gelingt das jedoch nicht, dann verfestigen sich Lernschwierigkeiten.

Mit der folgenden Abbildung wird veranschaulicht, in welchen Bereichen Ursachen für Lernschwierigkeiten bestehen können (vgl. Schulz 1995, 16 ff.):

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Förderung mathematischer Grundfertigkeiten Von Gerhild Merdian

1 Förderdiagnostik besonderer Rechenschwierigkeiten

Die Zahl der Kinder, die aufgrund einer Rechenschwäche ergänzende Lernförderung benötigen, ist in den letzten Jahren deutlich angestiegen. Dies hängt in hohem Maße damit zusammen, dass neben der Lese- und Rechtschreibschwäche nun auch Rechenschwäche an Schulen zum Thema geworden ist und demzufolge verstärkt ein Handlungsbedarf wahrgenommen wird.

Das Problem erkannt zu haben bedeutet noch lange nicht, damit adäquat umgehen zu können. Nicht nur Lehrkräfte, sondern auch Lerntherapeuten, Schulpsychologen, Kinder- und Jugendpsychiater sind oft unsicher in Bezug auf die Diagnostik und Förderung von Kindern mit Rechenschwächen. Wer selbst mit diesem Problem konfrontiert ist, weiß, dass – im Unterschied zur Lese- und Rechtschreibschwäche – nur wenige geeignete Diagnoseinstrumente und För-dermaterialien zur Verfügung stehen.

Erst in den letzten Jahren hat sich die Situation deutlich verbessert. Mit dem ZAREKI Testverfahren zur Dyskalkulie (von Aster 2001) stand erstmals ein Instrumentarium zur Verfü-gung, das zur Überprüfung einer Dyskalkulie in den Klassenstufen zwei bis vier herangezogen werden kann. Das Screeningverfahren erfasst allerdings nicht alle betroffenen Kinder, da es sich im Wesentlichen auf die Zahlverarbeitung beschränkt, während andere Bereiche, die die Sym-ptomatik einer Rechenschwäche ausmachen, unberücksichtigt bleiben. Die Erweiterung und Neunormierung des Tests ZAREKI-R (von Aster & Weinhold 2006) bezieht neben den numeri-schen Bereichen auch Arbeitsgedächtnisleistungen mit ein. Andere Tests, wie etwa die DEMAT-Reihe (Krajewski, Küspert & Schneider 2002; Krajewski, Liehm & Schneider 2004; Roick, Gölitz & Hasselhorn 2004; Gölitz, Roick & Hasselhorn 2006) oder der Heidelberger Rechentest (Haff-ner, Baro, Parzer & Resch 2005), sind als Schulleistungstests nicht primär zur Erkennung von Rechenschwächen konzipiert. Dies beabsichtigt allerdings das Rechenfertigkeiten- und Zahlen-verarbeitungsdiagnostikum für die 2. bis 6. Klasse (Jacobs & Petermann 2005a). Es ist ein indi-vidualdiagnostisches Verfahren, das alle grundlegenden numerischen Bereiche berücksichtigt.

Die Interpretation der Ergebnisse aus diesen Tests erlauben zwar quantitative Aussagen und Vergleiche mit den Leistungen der jeweiligen Altersgruppe – qualitative Aussagen sind aber nur eingeschränkt möglich und die gewonnenen Daten reichen als Grundlage für die Erstellung von Therapie- oder Förderplänen oft nicht aus.

In der Praxis besteht ein hoher Bedarf an Instrumentarien, die nicht nur die Erschei-nungsformen, sondern auch zu Grunde liegende Bereiche erfassen und gleichzeitig Hinweise auf konkrete Fördermöglichkeiten geben. Diesem Anspruch genügen will ein neues förderdia-gnostisches Verfahren, die Bamberger Dyskalkuliediagnostik BADYS 1-4+ (Schardt & Merdian 2006), ein normiertes Verfahren zur differenzierten Erfassung von besonderen Rechenproble-men. Neben einem grundlegenden Verständnis für Rechenoperationen und deren Ausführung werden individualdiagnostisch auch pränumerische Bereiche, die zur Ausprägung einer Dyskal-kulie beitragen können, überprüft. Der Test enthält Aufgaben zur Mengen- und Zahlerfassung, es werden aber auch Gedächtnisleistungen und visuell-räumliche Grundfertigkeiten berück-sichtigt. Da BADYS 1-4+ als förderdiagnostisches Verfahren konzipiert wurde, differenziert es

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vor allem im unteren Leistungsbereich. Um Rechenschwächen auch über die Grundschulzeit hinaus erfassen zu können, ist das Verfahren ab Ende der ersten bis zu Beginn der sechsten Klassenstufe anwendbar. In der Kurzform kann BADYS 1-4+ auch als Gruppentest für die Jahr-gangsstufen 1+, 2+, 3+ und 4+ eingesetzt werden.

Warum ist es wichtig, bei Verdacht auf Rechenschwäche nicht ausschließlich die arith-metischen Fähigkeiten von Grundschulkindern näher zu betrachten? Welche Hinweise gibt es, dass möglicherweise bereits pränumerische Fertigkeiten entscheidenden Einfluss auf den späte-ren Umgang mit Mathematik haben?

In diesem Zusammenhang sollte zwischen allgemeinen kognitiven Basisfunktionen wie Sprache, Gedächtnis, Konzentration und spezifischen pränumerischen Fertigkeiten wie Mengen-erfassung, Zählfertigkeiten, Klassifikations- und Seriationsleistungen unterschieden werden.

2 Allgemeine kognitive Basisfunktionen Sprache, Gedächtnis und Kon-zentration

Zunächst soll auf jene allgemeinen Funktionen eingegangen werden, die von einigen Autoren (z.B. Schulz 1995) in Verbindung mit mathematischen Leistungen kognitive Stützfunktionen genannt werden und die an den unterschiedlichsten kognitiven Leistungen beteiligt sind: Spra-che, Gedächtnis und Konzentration.

2.1 Sprachliche Funktionen

Sprachliche Prozesse beeinflussen mathematische Leistungen in hohem Maße. Für die Zahlbe-griffsentwicklung – z.B. für den Erwerb der Zahlwortreihe – sind auditive Wahrnehmungslei-stungen entscheidend. Was den späteren Umgang mit mathematischen Inhalten anbelangt, so können sich Sprachverständnisprobleme nachteilig auf das Verständnis mathematischer Begrif-fe auswirken sowie auf die Bearbeitung von Textaufgaben. Auch die Speicherung von Zahlen-material erfordert sprachliche Leistungen. Es ist bekannt, dass rechenschwache Kinder oft auch bei sprachgebundenen Aufgaben Probleme haben. In der Literatur wird deshalb zwischen iso-lierten Rechenstörungen und kombinierten Rechen- und Lese-Rechtschreibstörungen unterschie-den (vgl. Petermann 2003). Zur Erklärung des kombinierten Auftretens beider Störungen wird häufig ein neuropsychologisches Modell von Dehaene (1992) herangezogen, das Triple-Code-Modell. Dieses und ähnliche Modelle (von Aster 2001) gehen von unterschiedlichen hirnorga-nischen Repräsentationen der Rechenfähigkeiten aus, wovon ein Teil linkshemisphärisch lokali-siert ist und eher auditiv-sprachliche Areale betrifft, ein anderer Teil dagegen rechtshemisphä-risch in eher visuell-räumlichen Arealen repräsentiert ist. Die Einheiten arbeiten im Umgang mit Zahlen unabhängig voneinander und können somit auch unabhängig voneinander beein-trächtigt sein, was zu unterschiedlichen Störungsbildern führt.

2.2 Gedächtnisleistungen

Eine weitere wesentliche kognitive Funktion ist das Gedächtnis. Es ist mittlerweile eine ganze Reihe von Untersuchungen bekannt, die die Signifikanz der Zusammenhänge zwischen einge-schränkten Gedächtnisleistungen und Rechenschwäche nachgewiesen haben (z.B. Gaupp 2003). Rechenschwache Kinder haben demnach keine generellen Gedächtnisprobleme: Während sie

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Schulische Diagnostik und Förderung bei Rechenschwäche

Von Jens Holger Lorenz

1 Repräsentation der Zahlen und Rechenoperationen

1.1 Problemstellung

Wie sind Zahlen im menschlichen Kopf repräsentiert? Oder leichter (?): Wie denken Sie, liebe Leserin, lieber Leser, Zahlen, wie rechnen Sie? Wahrscheinlich ist die Frage zu allgemein, zu ab-strakt gestellt, denn wir, die Erwachsenen, rechnen natürlich gut, richtig, sicher. Wie wir dies al-lerdings machen, entzieht sich meist unserer Beobachtung, denn es geschieht sehr schnell und, zum Glück, zuverlässig. Dann stellen wir die Frage neu, genauer: Wie rechnen Sie 47+19?

Sie werden jetzt verschiedene Lösungswege angeben können, denn die einen rechnen 47+10+9, die anderen wiederum 47+20-1, wiederum andere 47+3+10+6 oder gar 40+10+7+9. Und Schulkinder finden noch wesentlich mehr Rechenwege, um diese Aufgabe zu lösen, das Strategiearsenal ist unerschöpflich.

Aber haben wir damit die Frage beantwortet, wie wir rechnen? Vielleicht sollte die Frage noch einmal gestellt werden: Wie sind Zahlen und Rechenoperationen bei Ihnen repräsentiert? Noch genauer: Was passiert dabei in Ihrem Kopf?

Wie kommt Ihr Gehirn auf die Lösungsstrategie 47+20-1? Im menschlichen Gehirn werden Zahlen und Rechenoperationen in Form eines vorge-

stellten Zahlenraumes repräsentiert. Zahlen existieren darin lediglich als Beziehungen zu ande-ren Zahlen, nicht als absolute Größen. Sie werden entlang einer Linie, eines Zahlenstrahls ge-dacht, auf dem die Zahlen der Reihe nach verortet sind. Die Zahl „100“ hat dabei in unserem Denken keine feste Größe, etwa einen Meter lang, sondern irgendeine Länge: Allerdings ist das Doppelte von 100 in unserem Denken 200, die Hälfte ist 50 und die Zahl 98 liegt sehr nahe bei der 100.

Die Zahlen zeichnen sich also durch ihre Beziehung aus, man spricht daher von „Rela-tionalzahlen“ im menschlichen Denken. Es sind geometrische Beziehungen wie Abstand, Ent-fernung und Nähe, die Zahlen charakterisieren, und Rechenoperationen sind im Denken Be-wegungen, Sprünge in diesem vorgestellten Zahlenraum. Aus diesem Grund „sehen“ wir die Nähe von 19 und 20 und nutzen dies bei der Berechnung von 47+19, indem wir den Sprung von der 47 zur 67 machen, um anschließend, korrigierend, wieder einen Schritt zurück zu ge-hen.

Neben dieser Längenrepräsentation von Zahlen, die beim Rechnen genutzt wird, benöti-gen wir aber noch die sprachliche Erkennung und Verarbeitung und das Lesen von Ziffern und Zeichen als visuelle Komponente.

1.2 Das Triple-Code-Modell

Visuelle arabische Zahlform (Gleichheitsurteile, dekadisches Zahlsystem, Stellenwertrechnen)

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Die Zahlenverarbeitung verläuft je nach Aufgabenanforderung in drei verschiedenen Modulen bzw. kognitiven Bereichen, die entsprechend gestört sein können. Dehaene (1997) fasst dies in seinem „Triple-Code“-Modell numerischer Kognitionen zusammen. Der erste Mo-dul, der sog. „auditive verbale Wort-Rahmen“ (auditory verbal word frame), enthält Fertigkeiten wie das Zählen und das Aufsuchen arithmetischer Fakten (z.B. Kleine Einmaleins), die auf ge-nerellen sprachlichen Informationsprozessen beruhen. Jenseits der Sprachform ist für diese Fä-higkeiten keine andere spezifische Repräsentationsform notwendig. Die Zählsequenz wird wie jede andere Sprachsequenz gelernt, d.h. wie das Alphabet, die Wochentage und die Hauptstadt-namen.

Der zweite Modul, die sog. „visuelle arabische Zahlform“ (visual arabic number form) be-zieht sich auf numerische Operationen innerhalb der speziellen Syntax des arabischen Notati-onssystems. Diese Repräsentationsform ist notwendig bei der Durchführung der schriftlichen Verfahren bei mehrstelligen Zahlen. Diese Operationen werden visuell repräsentiert und räum-lich organisiert.

Der dritte Modul, die „analoge Größen-Repräsentation“ (analogue magnitude represen-tation), bezieht sich auf die Fähigkeit, numerische Quantitäten zu vergleichen und abzuschät-zen. Das analoge (semantische) Verständnis der individuellen Charakteristik einer Quantität, die durch eine Zahl repräsentiert wird, verlangt die schnelle Orientierung über die Lösungsrich-tigkeit eines arithmetischen Problems. Die Matrix für dieses Verständnis wird über die menta-len Vorstellungsbilder von Zahlenräumen bzw. Zahlenlinien konstruiert (Dehaene, 1997), die individuell extrem unterschiedlich ausfallen können (Lorenz, 1992).

2 Diagnostisches Vorgehen bei Verdacht auf Rechenschwäche

2.1 Test

Standardisierte Tests spielen in der Vor- und Grundschule nur eine untergeordnete Rolle, da die Fachkräfte (Grundschullehrer und -lehrerinnen und Erzieherinnen) psychologische Tests nicht durchführen dürfen. Eine Beschränkung auf Leistungstests ist aber wiederum wenig hilfreich, da die so ermittelten Daten hinreichend aus dem Unterricht und den Beobachtungen (s.u.) be-kannt sind. Aus diesem Grund kann dieser Punkt entfallen.

2.2 Beobachtung des Spiel- und Problemlöseverhaltens

Die Beobachtung, welche Spiele bevorzugt und insbesondere welche vermieden werden, sind eine wesentliche Informationsquelle. Kinder vermeiden jene Tätigkeiten, in denen sie glauben (oder erfahren haben), dass sie schlechter abschneiden als ihre Alterskameraden. Dies kann ein Hinweis auf nicht altersentsprechend ausgebildete kognitive Fähigkeiten sein.

Die Beobachtung der Problemlöseversuche liefert Hinweise über das Denken des Kindes und seiner Fehlstrategien. Das schlichte Produkt des Denkvorganges, d.h. die korrekte Lösung so wenig wie der Fehler, liefert hinreichenden Aufschluss über die zugrundeliegenden Denk-prozesse, die hierzu geführt haben. Was hat ein Kind gedacht und sich vorgestellt, das auf die Frage „Wie viel ist 10-7?“ mit „4“ antwortet? a) Die Antwort „4“ kann durch die bei Zählern häufig anzutreffende Vermischung zweier

richtiger Zählstrategien zustandekommen:

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Integrative Lerntherapie bei LRS und Dyskalkulie

Von Inge Kempf-Kurth

Was ist integrative Lerntherapie?

Im Jahre 1989 wurde der Fachverband für integrative Lerntherapie unter der wissenschaftlichen Leitung von Frau Dr. Helga Breuninger gegründet. Die ersten Verbandsmitglieder kamen aus unterschiedlichen Herkunftsberufen der Bereiche Psychologie und Pädagogik und wollten für die in der Praxis entstandene und bereits in den Anfängen wissenschaftlich begleitete integrati-ve Lerntherapie Qualitätsstandards formulieren und sich gegenseitig fachlich und supervidie-rend unterstützen. Das Wirkungsgefüge als systemisches Modell der Betrachtung von Lern- und Leistungsstörungen, entwickelt von Helga Breuninger und Dieter Betz, bildete schon da-mals die Grundlage für Diagnose und Therapie und begleitet die lerntherapeutische Arbeit bis heute.

Was machen integrative Lerntherapeuten?

Sie behandeln Kinder, Jugendliche und in einzelnen Fällen auch Erwachsene, die im Erwerb der Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen besondere Schwierigkeiten haben. Diese kön-nen aus unterschiedlichen Gründen zu innerpsychischen Konflikten und Blockaden führen, so dass die Betroffenen selbst in ihrer Lernentwicklung stagnieren und Eltern sowie Lehrer über-fordert sind.

Blockaden, Ängste und Selbstwertzweifel lassen einen Sog entstehen, aus dem es häufig aus eigener Kraft keinen Ausweg gibt (vgl. Abbildung 1).

Hier ist professionelle Hilfe erforderlich, die sich u. a. dadurch auszeichnet, dass sie auf einseitige Schuldzuweisungen und monokausale Erklärungszusammenhänge verzichtet. Lernen wird nicht als isolierte Tätigkeit betrachtet, sondern in einem System, in dem die Betroffenen zu Beteiligten werden. Im Wirkungsgefüge des Lernens wird deutlich, wie die Bezugspersonen (El-tern und Lehrer) mit ihren Erwartungen, ihrem Verhalten und ihrem pädagogisch-didaktischen Stil mit den Lernvoraussetzungen des Schülers und seiner Lernmotivation zusammenwirken.

Wie geht die integrative Lerntherapie vor?

Wenn Klienten zu einer integrativen Lerntherapie angemeldet werden, steht am Anfang zu-nächst eine Bestandsaufnahme: Entwicklungsgeschichte, Eingangsdiagnostik, Erwartungen, Haltungen, Ressourcen und Aufträge werden gesammelt oder erarbeitet und münden in die Er-stellung eines Therapieplanes.

Im lerntherapeutischen Prozess gibt es, ausgehend von der anfänglichen Lernstandsana-lyse, eine strukturierte Umsetzung, in der die verschiedenen fachlichen Kompetenzen, d.h. fachdidaktische, methodische und psychotherapeutische, miteinander vernetzt eingesetzt wer-den. In einer fortlaufenden förderdiagnostischen Vorgehensweise wird der lerntherapeutische

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400 Inge Kempf-Kurth

Prozess angepasst und weiterentwickelt. Ständige Dokumentation und gegebenenfalls Supervi-sion ermöglichen das Reflektieren. Dazu gehören auch der regelmäßige Austausch mit allen Be-teiligten und die angepasste Zielformulierung. Das Ziel ist die Wiederherstellung einer positi-ven Lernstruktur (vgl. Abbildung 2).

Abbildung 1:

Im Teufelskreis der Lernstörungen

Der Abschluss wird möglichst einvernehmlich gestaltet. Die Dauer der Behandlung liegt zwi-schen einem und zwei Jahren, sie kann aber auch im lösungsorientierten Sinne kürzer sein. Lei-stungsüberprüfungen gehören ebenso dazu wie die Betrachtung der Selbstwertentwicklung und die Fähigkeit, eigene Ressourcen einzusetzen. Ziel ist die nachhaltige Etablierung einer positiven Lernstruktur.

Integrative Lerntherapeuten im FiL verstehen sich als Fachleute für das Lernen und für die im Zusammenhang mit Lernanforderungen entstehenden psychischen Belastungen und manifesten Störungen. Dabei sehen sie sich in ihrem Selbstverständnis in einem interdiszi-plinären Arbeitszusammenhang: Sie arbeiten mit Schulpsychologen, Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten, Kinderärzten, Kinder- und Jugendpsychiatern, Augenärzten, HNO-Ärzten, Logopäden, Ergotherapeuten, Motopäden und natürlich Lehrern eng zusammen. Sie verstehen sich als Moderatoren dieser interdisziplinären Zusammenarbeit und verweisen ihre Klienten gegebenenfalls an andere Fachleute.

Die systemische Sicht ermöglicht es, Lernstörungen in ihrer Entstehung auch frühzeitig zu er-kennen und zu überwinden. Hier könnte ein Ansatzpunkt für eine im Sinne der integrativen Lerntherapie qualifizierte Fort- und Weiterbildung derjenigen Lehrerinnen und Lehrer liegen,

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Rechenschwächen – Möglichkeiten und Grenzen der Förderung im Schulalltag

Von Marianne Nolte

1 Zur Einführung

Im Rahmen eines vierwöchigen Schulpraktikums an Grundschulen in Hamburg, das unter dem Schwerpunkt „Kindern mit Rechenschwächen im schulischen Alltag“ stand, arbeiteten die Stu-dierenden mit 25 Kindern, unter denen 9 zweisprachig erzogen wurden, in diesen Fällen war ihre Muttersprache nicht deutsch. Vier Kinder wurden von ihren Lehrerinnen als allgemein lei-stungsschwach beschrieben, ein Kind als allgemein leistungsstark, außer im Mathematikunter-richt. Die Studierenden betreuten jeweils ein Kind. Sie beobachteten es im Klassenunterricht und führten in Einzelinterviews zunächst eine Diagnostik durch. Daraus sollte ein Förder-schwerpunkt erwachsen, an dem sich die Förderung in der begrenzten Zeit orientieren sollte. Diese Beschränkung ist wichtig, um es sowohl den Kindern als auch den Studierenden zu er-leichtern, Erfolgserlebnisse zu haben.

Anzahl der Kinder 25 zweisprachig 9 leistungsschwach 4 leistungsstark 1

Von den 25 in diesem Praktikum betreuten Kindern besuchte(n) ein Kind die erste Klasse, fünfzehn die zweite, vier die dritte und fünf die vierte Klasse.

Das Praktikum hat zum Ziel, Studierende für die Probleme von Kindern mit Lern-schwierigkeiten zu sensibilisieren und sie mit den Wechselwirkungen von individuellen Lern-voraussetzungen bezogen auf kognitive Aspekte, auf die Entwicklung des Kindes und mit me-thodischen und didaktischen Maßnahmen vertraut zu machen. Deshalb haben wir die Frage, ob bei einem der betreuten Kinder eine Rechenschwäche vorliegt, nicht gestellt, sondern statt dessen gefragt:

Welche Interventionen sind für dieses Kind sinnvoll? Welche weiteren Schritte sollen unternommen werden?

Typisch für unsere Vorgehensweise im Praktikum ist es Probleme im Lernprozess der Kinder bezogen auf mathematische Inhalte zu erheben und gleichzeitig danach zu fragen, ob Zusamm-enhänge zur Entwicklung des Kindes bzw. seiner individuellen Situation, seiner Lernbiographie bestehen könnten. Aus den Beobachtungen der Studierenden lassen sich folgende Hinweise auf Probleme in den Lernvoraussetzungen der Kinder entnehmen:

Anzahl der Kinder 25 Hinweis auf Probleme die Aufmerksamkeit zu steuern 5 Hinweis auf Probleme in der Verständigung u.a. auditive Wahrnehmungsprobleme 6 Hinweis auf visuell-räumliche Orientierungsprobleme 2

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404 Marianne Nolte

Diese Beobachtungen müssen sehr vorsichtig bewertet werden, sie beziehen sich auf Be-sonderheiten, die den Studierenden aufgefallen sind. Sie sind deshalb nicht verallgemeinerbar und umfassen auch nicht alle Probleme, die bei den Kindern zu beobachten waren.

Entsprechendes gilt auch für Schwierigkeiten in den mathematischen Lernprozessen der Kinder.

Anzahl der Kinder 25 Zählende Rechner 15 Probleme mit dem Mengenbegriff 1 Probleme mit dem Stellenwertbegriff 10

Probleme mit dem Mengenbegriff traten bei dem Kind der ersten Klasse auf. Daneben wurden bei Kindern unzureichende Vorstellungen zu Operationen, unzureichende rechnerische Fähig-keiten und vor allem oft mechanisches Vorgehen beobachtet.

2 Zu Ursachen von Rechenstörungen

Für das Auftreten von Rechenstörungen können eine Vielzahl von Ursachen vorliegen. Auf der phänomenologischen Ebene sind diese oft nicht voneinander zu trennen und beeinflussen sich gegenseitig. Zu Ursachen, die allgemein bekannt sind, gehören – Probleme in der häuslichen Umgebung des Kindes, die ihm langfristig eine Konzentration

auf Unterrichtsinhalte erschweren; dazu können z. B. Arbeitslosigkeit, Erkrankungen der El-tern o. ä. zählen.

– Psychische Probleme des Kindes; hier ist es in der Regel schwer zu unterscheiden, ob solche Probleme ursächlich oder als Folge von Lernstörungen auftreten.

– Eine problematische Zusammensetzung der Klasse: jede Klasse kann nur eine bestimmte Anzahl von Kindern mit besonderen Schwierigkeiten auffangen. Dies ist zudem nicht unter allen Umständen möglich.

– Didaktogene Probleme: Sind die Unterrichtsmethoden sowie die verwendeten Materialien für die Erarbeitung des Inhalts und für das betreffende Kind angemessen? Insbesondere Kinder mit Entwicklungsbeeinträchtigungen können nicht immer und in gleicher Weise von Materialien profitieren, die für viele Kinder angemessen sind.

– Entwicklungsverzögerungen und/oder Entwicklungsbeeinträchtigungen, durch die es für ein Kind anspruchsvoller als für andere wird den Anforderungen in Gruppenprozessen wie Unterricht nachzukommen. So muss man sich im Unterricht an allgemeinen Regeln und Verhaltensweisen orientieren, z. B. eine bestimmte Zeit lang still sitzen können, an die Gruppe gerichtete Hinweise auf sich beziehen können usw.

– Störungen der Wahrnehmungstätigkeit, motorische Schwierigkeiten, die dem Kind den Umgang mit Informationen oder Tätigkeiten erschweren. Kinder müssen mit bildlichen Darstellungen umgehen können, an Gesprächen teilnehmen können usw.

Die Vielfalt möglicher Ursachen für Rechenschwächen führte dazu, diese als multikausales Pro-blem zu bezeichnen (siehe z.B. Grissemann 1992; Grissemann und Weber 1993; Lorenz und Radatz 1993; Schmassmann 1990). Die Wechselwirkung der verschiedenen Faktoren macht es besonders in einem Gruppenprozess wie Unterricht sehr anspruchsvoll, diese voneinander ab-zugrenzen bzw. genauer zu erfassen.

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Finger, Bilder, Rechnen Ein Programm zur Förderung des Zahl- und Rechenverständnisses

im Zahlraum bis 10

Von Jochen Peter

I Einleitung

Kinder mit besonderen Schwierigkeiten im Erwerb des mathematischen Verständnisses treten verstärkt in die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit (Gaidoschik 2003). Dabei wird auch zuneh-mend nach Möglichkeiten der Prävention in der sensiblen Phase des Vorschul- und des Erstre-chenunterrichtes gefragt. Im Folgenden wird ein Förderprogramm – der Hamburger Zahlbe-griffs- und Rechenaufbau, kurz HamZaRa (Claus & Peter 2005) – vorgestellt.

Seine primäre Zielgruppe sind Kinder im Altersbereich des Erstrechenunterrichtes. Die praktische Erfahrung zeigt allerdings, dass sowohl Kinder im späten Vorschulalter, als auch älte-re Kinder und Jugendliche – sofern sie Schwierigkeiten in diesem Leistungsbereich haben – durch das Programm wirkungsvoll unterstützt werden können. Es kann im Rahmen des För-derunterrichtes oder als Teilmodul einer Dyskalkulietherapie eingesetzt werden. Es enthält dar-über hinaus wichtige Anregungen für die Gestaltung des Regelunterrichtes. Da der Lerndialog ein wesentliches Fördermedium ist, ergeben sich allerdings Grenzen für die Verwendung in größeren Gruppen.

HamZaRa ist das Ergebnis eines mehrjährigen Entwicklungsprozesses in unserem Ham-burger Institut: Dabei orientierte sich die Förderarbeit zu Beginn sehr stark an dem Konzept von Kutzer & Probst (1990/1992). In der Folgezeit kam es jedoch in engem Wechselspiel zwi-schen mathematisch-lerntherapeutischer Praxis und reflektierender Forschung zu einer grund-legenden Überarbeitung des Vorgehens, die zu einem völlig neuen, eigenen Förderprogramm führte. Dieser Entwicklungsprozess hat zugleich wichtige Impulse durch die Berücksichtigung neuerer Forschungsergebnisse aus der Entwicklungspsychologie und der Mathematikdidaktik erhalten. Als besonders hilfreich erwies sich hierbei die Arbeit von Gerster & Schulz (2000) im Rahmen des DFG-Projektes „Rechenschwäche – Erkennen, Beheben, Vorbeugen“.

II Die Bedeutung des Zahlraumes bis 10

Ausgangspunkt unseres Förderprogramms ist die alltägliche Beobachtung, dass das Verständnis und die sichere Beherrschung des Zahlraumes bis 10 von entscheidender Bedeutung für die weitere mathematische Entwicklung ist. In der Erarbeitung dieses Zahlraums werden wesent-liche Zahleigenschaften und Grundoperationen erworben. Misslingt dieser Aneignungsprozess, so haben die betroffenen Kinder große Schwierigkeiten, aufbauende Lernschritte zu vollziehen.

Exkurs: Das zählende Rechnen

Einen klaren Beleg für diese Behauptung finden wir bei Schülern, denen es nicht gelungen ist, sich rechtzeitig vom zählenden Rechnen zu lösen. Ich möchte daher in einem Exkurs das zäh-

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lende Rechnen etwas genauer betrachten, um die Bedeutung des Zahlraums bis 10 herauszuar-beiten.

Die überwiegende Mehrzahl der Kinder löst ihre ersten Rechenaufgaben mit Hilfe von Zählalgorithmen. In der Regel gelingt es ihnen jedoch im Laufe der Zeit, sich von dieser Vorge-hensweise freizumachen und andere, sinnvollere Rechenstrategien zu entwickeln. Bei einigen Schülern findet diese Ablösung jedoch nicht statt – sie bleiben dem zählenden Rechnen verhaf-tet.

Damit geraten sie aber in aller Regel in eine Sackgasse ihrer mathematischen Entwick-lung – und zwar in zweierlei Hinsicht.

Denn das zählende Rechnen erschwert zum einen den Rechenvorgang selbst: – Das Rechnen ist sehr zeitaufwendig. – Es verlangt ein hohes Maß an Konzentration. – Seine Ausführung bedarf besonderer Zählhilfen, meist der Finger. – Schließlich sind systematische Fehlertendenzen zu beobachten, insbesondere das Verzählen

um 1.

Aber nicht nur der Rechenvorgang selbst, auch das weitergehende Erlernen mathematischer Kenntnisse wird durch das zählende Rechnen erschwert, ja teilweise verunmöglicht: – So tun sich die betroffenen Kinder mit dem Erlernen der Ergebnisse der Grundaufgaben

sehr schwer, oft gelingt es ihnen gar nicht. – Der Stellenwertaufbau unserer Zahlen, also zunächst einmal die Zusammensetzung zwei-

stelliger Zahlen aus Einern und Zehnern, wird von diesen Kindern nur ganz unzureichend verstanden.

– In der Folge wird die Orientierung im erweiterten Zahlraum massiv erschwert. – Und auch das Rechnen mit zweistelligen Zahlen wird zur Qual, wenn es mit Hilfe von Zähl-

strategien bewältigt werden soll.

Kein Zweifel also, das Verharren im zählenden Rechnen wird für die betroffenen Kinder zu ei-ner Sackgasse in ihrer mathematischen Entwicklung.

Woran liegt es aber, dass sie sich von dieser Vorgehensweise nicht lösen können? Bei ge-nauerem Hinsehen zeigt sich: Im Hintergrund des zählenden Rechnens steht ein mangelhaftes Verständnis der Zahlen und ihrer Beziehungen – und zwar bereits im Zahlraum bis 10: – Die Zahlen werden nur als Zählzahl, also als Stationen oder Punkte in der Zahlenreihe auf-

gefasst. – Ein Verständnis der Zahl als Anzahl, die sich auf eine Menge von Elementen bezieht, ist

nicht vorhanden. Die Beziehungen der Zahlen untereinander werden einzig als ein Vor- o-der Nacheinander auf dem Zahlenstrahl aufgefasst. Die Klasseninklusion – also dass eine Zahl die jeweils kleineren Zahlen in sich enthält – und die Zahlzerlegungen werden ausge-blendet. Die Folge ist, dass Rechenoperationen ausschließlich als ein Vorwärts- oder Rück-wärtsgehen (Abb. 1) an der Zahlenreihe vorgestellt werden – mit all den fatalen Konsequen-zen, die bereits angesprochen worden sind.

Wie kann man Kindern helfen, sich vom zählenden Rechnen zu lösen? Die Antwort lautet: Wir müssen diesen Kindern eine Alternative zum zählenden Rechnen anbieten. Sie besteht darin, dass der Lernende sich die Rechenvorgänge als Operationen mit Mengen – genauer gesagt: mit Teilmengen und Gesamtmengen – erarbeitet. Das setzt aber voraus, dass die Kinder zunächst einmal ein mengenbezogenes Verständnis der Zahlen und ihrer Beziehungen entwickeln. Ge-nau das ist die Zielsetzung des Hamburger Zahlbegriffs- und Rechenaufbaus.

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Der Kampf mit den Zahlen. Hilfen für betroffene Eltern

Von Simone Wejda

Eltern rechenschwacher Kinder sind häufig überfordert oder hilflos. Sie möchten ihr Kind op-timal unterstützen, wissen aber nicht wie. Der Markt an Lern- und Übungsbüchern ist gesättigt, dennoch wissen Eltern nicht, wie und womit sie sinnvoll und erfolgreich Üben können. Oft-mals liegt der Misserfolg zusätzlichen Übens aber nicht an der Menge oder Auswahl der Übungsblätter, sondern am nicht gezielten und störungsspezifisch angepassten Lernen. Lernen ist dabei mehr als „du musst mehr üben“ – dieser Ansatz ist häufig bereits gescheitert. Gut funktionierendes Lernen berücksichtigt Lernumfang, Lernstrategie, Lernstil, Lernmaterialien und Lerninhalte. Der Erfolg häuslichen Übens ist also auch entscheidend abhängig von den Fragen: WIE VIEL, WIE, AUF WELCHE ART, WOMIT und WAS wird geübt?

Lernumfang: Wie viel wird geübt?

Rechenschwache Kinder üben meist viel mehr als ihre Klassenkameraden. Der erwünschte Er-folg zeigt sich jedoch nicht. Trotz vermehrten Übens versagen sie und Mathematik wird zur Qual. Leistungsschwache Schüler müssen meist mehr üben – das gilt auch für Kinder mit Re-chenschwächen. Sie benötigen mehr Lernanregungen, mehr Zeit zum Festigen neu gelernter Inhalte und müssen Gelerntes immer wieder Wiederholen um es nicht gleich wieder zu verges-sen. Aber gerade die negativen Erfahrungen im Umgang mit Mathematik oder zusätzlichem er-folglosen Lernen lässt die Motivation sinken. Rechenschwache haben weniger Lust, sie haben die Lernmotivation verloren. Sie haben gelernt, ständiges Üben bringt keinen oder nur wenig Erfolg.

Dennoch ist es wichtig, dass die Kinder regelmäßig in routinierter Form üben und wie-derholen. Täglich 5-10 Minuten sind sinnvoller als einmal wöchentlich 60 Minuten. Die klassi-sche Nachhilfestunde oder die Therapiestunde sollte für Lerninhalte genutzt werden, die noch nicht verstanden sind. Üben heißt, Verstandenes zu sichern, nicht Neues zu lernen. Innerhalb der kurzen Lernzeiten muss darauf geachtet werden, dass effektiv und zielgerichtet gearbeitet wird. Eine genaue Auswahl der Lerninhalte ist ebenso wichtig, wie das konzentrierte Arbeiten innerhalb der kurzen Zeitspanne. Manche Kinder versuchen sich vor dem zusätzlichen Lernen „zu drücken“. Sie suchen nach Ausreden, wenden Verzögerungstaktiken an, lassen sich gerne ablenken oder sind gar froh, wenn die Eltern keine Zeit haben oder die geplanten Lernzeiten immer wieder verschieben. Genaue Absprachen über Lernzeiten und Lernhäufigkeiten müssen von beiden Seiten (Eltern, Kind) eingehalten werden. Misserfolgsgeprägte Schüler zu motivie-ren ist sehr schwierig. Mit Belohnungen lassen sich die Kinder meist jedoch anlocken. „Das hast du toll gemacht“ oder „Jetzt hast du aber wirklich viel geübt“ als Reaktionen auf die zusätz-lich investierte Zeit reichen bei vielen Kindern nicht mehr aus. Bei der Auswahl der Art und des Verfahrens der Belohnung ist einiges zu beachten. Arbeitspensen, wie Umfang der Aufgaben oder der Zeitrahmen müssen vorher festgelegt sein. Der Lernende muss sich darauf verlassen können, wie viel oder wie lange er arbeiten muss. Die Belohnung dient als Rückmeldung zum

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geleisteten Arbeitsaufwand. Dabei geht es in erster Linie noch nicht um die Anzahl der korrek-ten Antworten, sondern um die Bereitschaft zur zusätzlichen Leistungserbringung. Also um das Belohnen in Form von „Ich finde es toll, dass du dich bemühst!“.

Mit Lernverträgen lassen sich die getroffenen Absprachen einhalten. Auf den Lernver-trägen sollten folgende Regelungen getroffen werden: – An welchem Wochentag / welchen Wochentagen wird geübt? – Uhrzeit: von wann bis wann? – Wo wird geübt? – Nach welcher Zeitspanne dürfen die Vertragsvereinbarungen eingelöst werden? – Was ist die Konsequenz, wenn der Lernvertrag nicht eingehalten wird? – Unterschrift beider Vertragspartner

Kinder, die noch keine Erfahrung mit Lernverträgen haben, brauchen zunächst kurzfristige Er-folge. Daher sollte der Vertrag zu Beginn nicht länger als für eine Woche, dann für zwei Wo-chen und erst später für längere Zeitabschnitte gültig sein. Nach jedem eingehaltenen Vertrag steht eine Belohnung. Diese Belohnung sollte beim Ausfüllen des Vertrages bereits schriftlich festgehalten werden. Zum Beispiel: „Wenn ich den Vertrag eine Woche eingehalten habe, wün-sche ich mir einen Schwimmbadbesuch.“

Nicht eingehaltene Verträge sollten Konsequenzen haben. Zum Beispiel: „Wenn ich den Vertrag nicht einhalte, dann werde ich das Auto putzen.“. Wichtig ist, dass aber auch Eltern ge-nau festlegen, was sie tun werden, wenn sie ihrerseits den Vertrag nicht einhalten und abge-sprochene Lernzeiten verschieben oder ausfallen lassen (Beispiel: eine zusätzliche Geschichte vorlesen, Zimmer aufräumen ...). Kinder sind sehr einfallsreich, was die „Bestrafung“ der Eltern anbetrifft.

Für alle Belohnungs- und Bestrafungssysteme gilt, dass sie zeitnah erfolgen müssen. Häufig wünschen sich die Kinder größere Geschenke, die einem Einwochen-Vertrag unange-messen erscheinen. Es ist dann zu empfehlen die Vertragslänge für ein oder zwei Wochen zu ge-stalten und dafür Zwischen-Erfolgspunkte zu verteilen. Mehrere Punkte können gesammelt werden und ab einem bestimmten Punktekonto wird die größere Belohnung eingelöst.

Lernstrategien: Wie wird geübt?

Gerade rechenschwache Schüler verfügen über keine angemessenen Lernstrategien. Sie wissen nicht, wie sie die Lerninhalte festigen können. Sie können auf keine Verhaltensweisen zurück-greifen, die ihnen eine Bewältigung der Lernaufgaben oder -anforderungen ermöglichen. Lern-strategien lassen sich in drei Kategorien einteilen: kognitive, metakognitive und ressourcenbe-zogene Lernstrategien.

Kognitive Lernstrategien hinterfragen die Art der Vorgehensweise und das Herangehen an Aufgabenstellungen, also das WIE. Mögliche Fragestellungen können daher sein: – Wird die Aufgabenstellung nochmals gelesen / mit eigenen Worten wiederholt? – Wird auf bereits bekannte ähnliche Aufgaben zurückgegriffen? – Wie könnte die Aufgabe mit konkretem Material aussehen? – Werden die wesentlichen Aspekte der Aufgabe identifiziert (Markierungen)? – Wird die Aufgabe strukturiert (unterstreichen, gegeben/gesucht)? – Werden Skizzen / Notizen erstellt?

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Armin Born, Dr., KJP-Praxis, Dr. Onymusstr. 43, D-97080 Würzburg Christof Bott, Dr., Universität Konstanz, Klinische Psychologie/Elbert, Fach D25, D-78457 Kon-

stanz A. Breuer-Schaumann, Heckscher-Klinik, Entwicklungsstörungen, Deisenhofener Straße 28,

D-81539 München Monika Brunner, Dr., Uni Klinik Heidelberg, Stimm- u. Sprachstörungen/Pädaudio., INF 400,

D-69120 Heidelberg Kurt Czerwenka, Professor Dr., Universität Lüneburg, Institut für Schul- und Hochschulfor-

schung, Postfach 2440, D-21314 Lüneburg Gisela Dorst, Studienseminar Fachleiterin Deutsch, Steinweg 3, D-34311 Naumburg Lisa Dummer-Smoch, Dr., Wohnstift Augustinum App. 97, Sterleyer Str. 44, D-23879 Mölln Thomas Elbert, Professor Dr., Universität Konstanz, Klinische Psychologie/Elbert, Fach D25, D-

78457 Konstanz Burkhart Fischer, Professor Dr., Zentrum für Neurowissenschaften, Blicklabor, Albert-Ludwigs-

Universität Freiburg, Hansastr. 9, D-79104 Freiburg Barbara Gasteiger-Klicpera, Professorin Dr., Pädagogische Hochschule Weingarten, Kirchplatz

2, D-88250 Weingarten Christine Gebhardt, Dipl.-Psych., Universität Freiburg, Zentrum für Neurowissenschaf-

ten/Optomotorik, Hansastr. 9, D-79104 Freiburg Nicole Gelautz, Abteilung für Integrationspädagogik und Heilpädagogische Psychologie, Insti-

tut für Erziehungs- und Bildungswissenschaften der Universität Graz, Merangasse 50, A-8010 Graz, Österreich

Sabine Heim, Dr., Universität Konstanz, Klinische Psychologie/Elbert, Fach D25, 78457 D-Konstanz

Inge Kempf-Kurth, Geschäftsstelle des FiL, Magdalenenstr. 36, D-49080 Osnabrück Christian Klicpera, Professor Dr., Universität Wien, Abteilung für angewandte und klinische

Psychologie, Universitätsstr. 7, A-1010 Wien, Österreich Kristin Krajewski, Dr., Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Lehrst. Psychologie IV, Rönt-

genring 10, D-97070 Würzburg Ulrike Lehmkuhl, Professorin Dr., Charité-Universitätsmedizin Berlin, Campus Virchow-

Klinikum, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik u. Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Augustenburger Platz 1, D-13353 Berlin

Thomas Lischeid, Dr., Germanistische Sprach- und Literatutdidaktik, Germanistisches Institut der Ruhr-Universität Bochum, Universitätsstr. 150, D-44801 Bochum

Carolin Ligges, Dr., Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Universitätsklinikum Jena, Philo-sophenweg 5, D-07740 Jena

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434 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Ilona Löffler, Dr., Institut zum Aufbau von Lese- und Schreibkompetenz, Ostwall 18, D-44135 Dortmund

Jens Holger Lorenz, Dr., Pädagogische Hochschule Heidelberg, Abt. Mathematik, Im Neuen-heimer Feld 561, D-69120 Heidelberg

Gabriele Marwege, Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e. V., Taubertalstr. 2, D-81243 München

Peter May, Dr., Henriettenstr. 45, D-20259 Hamburg Gerhild Merdian, Dipl.-Psych. Dr., Lerntherapeutin, Jahnstr. 16a, D-96050 Bamberg Ursula Meyer-Schepers, Dr., Institut zum Aufbau von Lese- und Schreibkompetenz, Ostwall 18,

D-44135 Dortmund Johannes Mierau, Dr., Rechtsanwälte Dr. Vocke & Partner, Schönbornstr. 2, D-97070 Würzburg Marianne Nolte, Professorin Dr., Universität Hamburg, Fakultät für Erziehungswissenschaften,

Psychologie und Bewegungswissenschaften, Sektion 5: Didaktik der gesellschaftswis-senschaftlichen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer, Von-Melle-Park 8, D-20146 Hamburg

Michele Noterdaeme, Privatdozentin Dr., Heckscher-Klinik, Entwicklungsstörungen, Deisenho-fener Straße 28, D-81539 München

Claudia Oehler, KJP-Praxis, Dr. Onymusstr. 43, D-97080 Würzburg Isabella Paul, Dr., University of York, Department of Psychology, Heslington YO10 5DD, Groß-

britannien / Universität Konstanz, Klinische Psychologie, D 25, D-78457 Konstanz Jochen Peter, Dr., Institut für Mathematisches Lernen, Praxis für Dyskalkulietherapie, Grindel-

berg 45, D-20144 Hamburg Simone Rainer, Abteilung für Integrationspädagogik und Heilpädagogische Psychologie, Insti-

tut für Erziehungs- und Bildungswissenschaften der Universität Graz, Merangasse 50, A-8010 Graz, Österreich

Carola Reuter-Liehr, Dipl.-Päd., Lerntherapeutische Praxis, Stiftsplatz 1, D-37176 Nörten-Hardenberg

Alfred Schabmann, Professor Dr., Universität Wien, Fakultät für Psychologie, Institut für Wirt-schaftspsychologie, Bildungspsychologie und Evaluation, Universitätsstr. 7, A-1010 Wien, Österreich

Ingrid Schmidt, Lehrerin an Sonderschulen, Förderbereich Sprache, Schilling-Schule Berlin, Cranachstr. 11, D-12157 Berlin

Gerd Schneider, Dr., Humboldt-Universität zu Berlin, Philosophische Fakultät IV, Institut Rehabilitationswissenschaften, Arbeitsgebiet Rehabilitationstechnik/Neue Medien, Georgenstr. 36, D-10117 Berlin

Hermann Schöler, Professor Dr., Pädagogische Hochschule Heidelberg, Institut für Sonderpäd-agogik, Abt. Psychologie, Keplerstr. 87, D-69120 Heidelberg

Andrea Schulz, Dr., DUDEN PAETEC, Institut für Lerntherapie, Bouchéstr. 12 / Haus 11, D-12435 Berlin

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 435

Ulrich Strehlow, Professor Dr., Klinik an der Lindenhöhe, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters, Bertha-von-Suttner-Str. 1, D-77654 Offenburg

Waldemar von Suchodoletz, Professor Dr., Klinikum der Universität München, Klinik für Kin-der- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität München, Abteilung für Entwicklungsfragen, Waltherstr. 23, D-80337 München

Gero Tacke, Dr., Main-Tauber-Kreis Schulamt, Schulpsycholgische Beratungsstelle, Flurstr. 2, D-97941 Tauberbischofsheim

Michael Wehrmann, Dr., Institut für Mathematisches Lernen (IML) Braunschweig, Beratungs- und Forschungseinrichtung zur Diagnose, Therapie und Prävention der Rechenschwä-che, Wissenschaftliche Leitung, Steinweg 4, D-38100 Braunschweig

Simone Wejda, Bundesverband für Legasthenie und Dyskalkulie e. V., Am Pfad 1d, D-97297 Waldbüttelbrunn

Silvia Wessolowski, Professorin Dr., Pädagogische Hochschule Ludwigsburg, Fakultät II, Institut für Mathematik und Informatik, Postfach 220, D-71602 Ludwigsburg

Christian Wienbruch, Universität Konstanz, Klinische Psychologie/Elbert, Fach D25, D-78457 Konstanz

Barbara Wölms, Landesinstitut für Schule und Ausbildung, Bahnhofstr. 33/34, D-17489 Greifs-wald