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INKLUSION Kinder mit und ohne Behinderungen gemeinsam zu unterrichten geht das überhaupt? Es muss, sagt der Gesetzgeber. Aber Lehrer, Schüler und Eltern ächzen unter dieser neuen Herausforderung. Und es wird gestritten: um Lehrpläne und Personalpläne, Förderquoten und Fördergeld. Die AbendblattReporter Thomas Andre und Christian Unger haben drei Schüler mehrere Monate begleitet, haben Anspruch und Wirklichkeit des Projekts abgeglichen, in dem es auch um die Frage geht, wie wir leben wollen. Eine Zwischenbilanz Nirgendwo hielt man so lange an Sonderschulen fest wie in Deutsch land Der Anreiz für die Schulen: Je des Förderkind bringt Fördergeld Triumph oder Tragik? Wenn die Inklusion vor einer Feuerprobe steht Es ist einer dieser Augenblicke, in denen Inklusion so gut funktio niert, dass sie gar nicht auffällt: Men ja trägt ein TShirt mit lilafarbenen Noten und hält zwei silberne Puschel aus Lametta in ihrer Hand. Aus ei nem Lautsprecher wummert der Pop Hit GangnamStyle: "Eeeeeyyyy, se xy Lady! Oppa GangnamStyle!" Und Menja schwingt ihre Hüfte. Gemeinsam mit acht anderen Mädchen aus ihrer Tanzgruppe führt die elf Jahre alte Menja ihre Choreo grafie auf dem Pausenhof ihrer Schu le vor. Eltern filmen mit ihren Han dys, Mitschüler klatschen im Takt. Und man sieht kaum, dass Menja anders ist als die anderen kleinen Tänzerinnen in der Reihe. Manch mal kommt ihr Schritt zur Seite et was später, manchmal zieht sie mit ten im Lied ihre Jeans hoch, weil die rutscht. Aber die Bewegungen der Show hat sie wie alle auswen dig gelernt, der Hüftschwung sitzt. Menja lebt mit dem Downsyndrom, besucht wie andere Kinder aus dem Viertel eine Grundschule in Barm bek. Und beim Tanz auf dem Pausen hof setzt Menja gerade ein Ausrufe zeichen hinter das Ja zur Inklusion. Bei Linus steht heute Schwimmen auf dem Stundenplan. Es ist wieder einer dieser Tage, an denen der Zehn jährige aus Rissen, der die Schule Iserbrook besucht, kaum zu bremsen ist. Linus muss rund um die Uhr be treut werden, und deshalb ist beim Unterricht immer Schulbegleiter Ste fan Roth dabei. Während seine Klas senkameraden im Wasser kraulen, paddelt Linus auf der anderen Sei te des Beckens. Er kann nicht rich tig schwimmen und spritzt lieber die Schwimmtrainerin nass. Er bleibt auf Abstand zu den Mitschülern. Wenn sich ihre Wege kreuzen, nervt er die anderen mit seinen kleinen Störma növern. Sie haben ihre Bemühungen längst aufgegeben, und Schulbeglei ter Roth hat Linus immer im Auge. "Zurzeit ist es sehr schwer, wir müs sen ihn sehr oft isolieren", sagt er über den Jungen, der im Unterricht zwar irgendwie dabei, aber nie mit tendrin ist. Als Linus drei Jahre alt war, wurde bei ihm ADHS diagnos tiziert, als er sechs war, das Asper gerSyndrom. Linus hat das Recht auf Unterricht an einer Regelschule. Jakob, 13, hat gerade Deutsch. Seine Lehrerin versteckt kleine gel be Zettel unter dem Tisch, hinter der Tafel und bei den Jacken auf dem Flur. Jakob holt einen Zettel nach dem anderen, er muss lesen und ver stehen, um den nächsten Zettel zu finden. Und er muss Aufgaben lösen: "Schreibe Deinen Namen an die Ta fel. Dann bekommst Du den nächs ten Zettel." Jakob tastet sich langsam durch die Sätze, er liest sich selbst laut vor. Manchmal sagt er "Tafel", obwohl dort "Zettel" steht. Wäre heute Freitag, dann hätten Jakob und seine Mitschüler auf der Förderschule Lokstedter Damm drei Stunden lang Hauswirtschaft. Sie schreiben dann ihr Lieblingsgericht auf, suchen nach den Zutaten und ge hen mit einem Einkaufszettel in den Supermarkt. Jede Woche kochen sie in der Küche neben dem Klassenzim mer ein Lieblingsessen: lernen für ein Leben ohne Betreuer. Seine El tern sagen, dass sie die Ruhe für Ja kob an der Förderschule schätzen. Zur Inklusion, meint Jakobs Vater Jasper Jensen, gehöre auch die Ent scheidung, sein Kind bei der Schu le anzumelden, zu der es am bes ten passt. Auch wenn das bedeutet, dass Jakob nun auf der Förderschule lernt. "Jakob soll kein Versuchskind für die Einführung der Inklusion in Hamburg werden", sagen die Eltern. Inklusion ist ein Menschenrecht Menja, Linus und Jakob drei Kinder in einem Land, das sich ge meinsam mit bisher 159 Staaten in einer UnoKonvention einem Satz verpflichtet hat: Inklusion ist ein Menschenrecht. Menja, Linus und Jakob drei Kinder in einer Stadt, die sich in ihr Schulgesetz hinein geschrieben hat, dass jeder junge Mensch das Recht auf Bildung hat. Egal, wecher Hautfarbe, welcher Re ligion oder Herkunft. Egal, ob behin dert oder nicht. Und egal, an welcher Schule, Menja, Linus und Jakob drei Kinder in Hamburg, einer Stadt, in der die Regierung von SPD und Grünen die Inklusion zu ihrer "ge meinsamen Priorität" erklärt hat. Die Politik hat entschieden, das al te System abgeschotteter Behinder tenschulen aufzuweichen. Sie will, dass in einem Klassenzimmer alle Kinder lernen, jeder in seinem Tem po, jeder mit seinen Stärken und Schwächen. Inklusion, dieses große Wort, dieser große Anspruch, ist seit 2009 die pädagogische Losung. Doch dieser schöne Anspruch trifft jetzt auf eine komplizierte Wirklichkeit. Es herrschen Freude und Stolz über das Erreichte, es herr schen Unwissen und Konfusion, oft auch Frust und Zweifel. Eltern sehen ihre Erwartungen enttäuscht. Erwar tungen, die Politiker mit ihren Be schlüssen wecken und die vielleicht viel zu hoch sind. Darum soll es in dieser Geschichte gehen. SPDSchulsenator Ties Rabe hat in Hamburg die Inklusion von SchwarzGrün geerbt. Vor allem von der grünen Senatorin Christa Goe tsch, die neben den Stadtteilschulen und den sechs Jahre langen Grund

INKLUSION - karin-prien.de · Noten und hält zwei silberne Puschel aus Lametta in ihrer Hand. Aus ei ... laut Behörde schon 12.356 Kinder, fünf Jahre zuvor noch 8559

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INKLUSIONKinder mit und ohne Behinderungen gemeinsam zu unterrichten ­ geht das überhaupt?Es muss, sagt der Gesetzgeber. Aber Lehrer, Schüler und Eltern ächzen unter dieserneuen Herausforderung. Und es wird gestritten: um Lehrpläne und Personalpläne,Förderquoten und Fördergeld. Die Abendblatt­Reporter Thomas Andre und ChristianUnger haben drei Schüler mehrere Monate begleitet, haben Anspruch und Wirklichkeitdes Projekts abgeglichen, in dem es auch um die Frage geht, wie wir leben wollen. EineZwischenbilanzNirgendwo hielt man so lange an

Sonderschulen fest wie in Deutsch­

land

Der Anreiz für die Schulen: Je­des Förderkind bringt FördergeldTriumph oder Tragik? Wenn

die Inklusion vor einer Feuerprobesteht

Es ist einer dieser Augenblicke,in denen Inklusion so gut funktio­niert, dass sie gar nicht auffällt: Men­ja trägt ein T­Shirt mit lilafarbenenNoten und hält zwei silberne Puschelaus Lametta in ihrer Hand. Aus ei­

nem Lautsprecher wummert der Pop­Hit Gangnam­Style: "Eeeeeyyyy, se­xy Lady! Oppa Gangnam­Style!"Und Menja schwingt ihre Hüfte.Gemeinsam mit acht anderen

Mädchen aus ihrer Tanzgruppe führtdie elf Jahre alte Menja ihre Choreo­grafie auf dem Pausenhof ihrer Schu­le vor. Eltern filmen mit ihren Han­

dys, Mitschüler klatschen im Takt.Und man sieht kaum, dass Menjaanders ist als die anderen kleinen

Tänzerinnen in der Reihe. Manch­

mal kommt ihr Schritt zur Seite et­

was später, manchmal zieht sie mit­ten im Lied ihre Jeans hoch, weildie rutscht. Aber die Bewegungender Show hat sie wie alle auswen­

dig gelernt, der Hüftschwung sitzt.Menja lebt mit dem Downsyndrom,besucht wie andere Kinder aus dem

Viertel eine Grundschule in Barm­bek. Und beim Tanz auf dem Pausen­

hof setzt Menja gerade ein Ausrufe­zeichen hinter das Ja zur Inklusion.

Bei Linus steht heute Schwimmen

auf dem Stundenplan. Es ist wiedereiner dieser Tage, an denen der Zehn­jährige aus Rissen, der die SchuleIserbrook besucht, kaum zu bremsenist. Linus muss rund um die Uhr be­

treut werden, und deshalb ist beimUnterricht immer Schulbegleiter Ste­fan Roth dabei. Während seine Klas­

senkameraden im Wasser kraulen,

paddelt Linus auf der anderen Sei­te des Beckens. Er kann nicht rich­

tig schwimmen und spritzt lieber dieSchwimmtrainerin nass. Er bleibt auf

Abstand zu den Mitschülern. Wenn

sich ihre Wege kreuzen, nervt er dieanderen mit seinen kleinen Störma­

növern. Sie haben ihre Bemühungenlängst aufgegeben, und Schulbeglei­ter Roth hat Linus immer im Auge."Zurzeit ist es sehr schwer, wir müs­sen ihn sehr oft isolieren", sagt erüber den Jungen, der im Unterrichtzwar irgendwie dabei, aber nie mit­tendrin ist. Als Linus drei Jahre alt

war, wurde bei ihm ADHS diagnos­tiziert, als er sechs war, das Asper­ger­Syndrom. Linus hat das Rechtauf Unterricht an einer Regelschule.Jakob, 13, hat gerade Deutsch.

Seine Lehrerin versteckt kleine gel­be Zettel unter dem Tisch, hinter derTafel und bei den Jacken auf dem

Flur. Jakob holt einen Zettel nach

dem anderen, er muss lesen und ver­stehen, um den nächsten Zettel zufinden. Und er muss Aufgaben lösen:"Schreibe Deinen Namen an die Ta­

fel. Dann bekommst Du den nächs­

ten Zettel." Jakob tastet sich langsamdurch die Sätze, er liest sich selbstlaut vor. Manchmal sagt er "Tafel",obwohl dort "Zettel" steht.

Wäre heute Freitag, dann hättenJakob und seine Mitschüler auf der

Förderschule Lokstedter Damm drei

Stunden lang Hauswirtschaft. Sieschreiben dann ihr Lieblingsgerichtauf, suchen nach den Zutaten und ge­hen mit einem Einkaufszettel in den

Supermarkt. Jede Woche kochen siein der Küche neben dem Klassenzim­

mer ein Lieblingsessen: lernen fürein Leben ohne Betreuer. Seine El­

tern sagen, dass sie die Ruhe für Ja­kob an der Förderschule schätzen.

Zur Inklusion, meint Jakobs VaterJasper Jensen, gehöre auch die Ent­scheidung, sein Kind bei der Schu­le anzumelden, zu der es am bes­

ten passt. Auch wenn das bedeutet,dass Jakob nun auf der Förderschulelernt. "Jakob soll kein Versuchskind

für die Einführung der Inklusion inHamburg werden", sagen die Eltern.Inklusion ist ein Menschenrecht

Menja, Linus und Jakob ­ dreiKinder in einem Land, das sich ge­meinsam mit bisher 159 Staaten ineiner Uno­Konvention einem Satz

verpflichtet hat: Inklusion ist einMenschenrecht. Menja, Linus undJakob ­ drei Kinder in einer Stadt,die sich in ihr Schulgesetz hinein­geschrieben hat, dass jeder jungeMensch das Recht auf Bildung hat.Egal, wecher Hautfarbe, welcher Re­ligion oder Herkunft. Egal, ob behin­dert oder nicht. Und egal, an welcherSchule, Menja, Linus und Jakob ­drei Kinder in Hamburg, einer Stadt,in der die Regierung von SPD undGrünen die Inklusion zu ihrer "ge­meinsamen Priorität" erklärt hat.

Die Politik hat entschieden, das al­te System abgeschotteter Behinder­tenschulen aufzuweichen. Sie will,dass in einem Klassenzimmer alle

Kinder lernen, jeder in seinem Tem­po, jeder mit seinen Stärken undSchwächen. Inklusion, dieses großeWort, dieser große Anspruch, ist seit2009 die pädagogische Losung.Doch dieser schöne Anspruch

trifft jetzt auf eine komplizierteWirklichkeit. Es herrschen Freude

und Stolz über das Erreichte, es herr­schen Unwissen und Konfusion, oftauch Frust und Zweifel. Eltern sehen

ihre Erwartungen enttäuscht. Erwar­tungen, die Politiker mit ihren Be­schlüssen wecken und die vielleicht

viel zu hoch sind. Darum soll es in

dieser Geschichte gehen.SPD­Schulsenator Ties Rabe hat

in Hamburg die Inklusion vonSchwarz­Grün geerbt. Vor allem vonder grünen Senatorin Christa Goe­tsch, die neben den Stadtteilschulenund den sechs Jahre langen Grund­

schulen auch noch die Inklusion ein­

führen wollte. Nur Bremen änder­

te das Schulgesetz so schnell wieHamburg. Doch heute sagen sie inder SPD, dass Goetsch damals die­ses große Projekt überstürzt durch­gedrückt habe. Zurück will Sozialde­mokrat Rabe nun aber nicht mehr.

Er sagt sogar, dass Hamburgbei der Inklusion schon sehr weit

gekommen sei. Eine Studie derBertelsmann­Stiftung stellte AnfangSeptember fest, die Stadt sei im Ver­gleich mit anderen Bundesländernauf einem guten Weg. 2014 besuch­ten fast 60 Prozent aller Kinder mit

Förderbedarf eine Regelschule, bun­desweit Platz drei. Fünf Jahre zuvor

lag der Anteil noch bei 15 Prozent.Doch in den vergangenen Jahrenstieg auch insgesamt die Zahl derKinder mit der Diagnose "Förder­bedarf" stark an. 2014/15 waren es

laut Behörde schon 12.356 Kinder,fünf Jahre zuvor noch 8559. Hinter

den Zahlen verbirgt sich die Wuchtder Inklusion. Der Druck auf Poli­

tik, Lehrer, Eltern und Schüler steigt.Auch davon handelt diese Geschich­

te.

Wie geht es diesen Schülern, Leh­rern und Eltern, was versteckt sichhinter den Zahlen? Ein Grummein,

ein flaues Bauchgefühl, das manch­mal in ernste Sorge oder laute Wutübergeht: darüber, dass Inklusionzwar eine gute Idee ist, jedoch anHamburgs Schulen schlecht umge­setzt wird.

Die Opposition spricht bereits voneinem kompletten Scheitern der In­klusion. "Fast täglich erreichen michHilferufe frustrierter Schüler, allein­gelassener Lehrkräfte und verzwei­felter Eltern", sagt CDU­Bildungs­politikerin Karin Prien. Anfang desJahres demonstrierten in der Stadt

Lehrer, Eltern und Schüler für einebessere Inklusion: zu viel Frontalun­

terricht, zu wenig Betreuung, und,wie so oft, zu wenig Geld.Hamburg ist eine Stadt, in der El­

tern sagen, dass der Weg der richtigesei, den meisten Schulen die Inklu­sion aber aufgezwungen werde undsie nun wenig vorbereitet seien. Inder manche Mütter sagen, dass Inklu­sion nur für Taube und Blinde gutfunktioniere, dass sich Lehrer vor al­

lem als Wissensvermittler verstün­

den und nicht als Sonderpädagogen,dass Beamte vor allem nach Aktenla­

ge entschieden und nicht auf das je­weilige Kind schauten.Hamburg ist eine Stadt, in der

manche Väter das Gefühl haben, dassKinder mit Behinderungen im Klas­senzimmer zu wenig betreut werden.Simone Geercken, die Mutter vonLinus aus Rissen, sagt: "Inklusionfunktioniert in Hamburg so schlecht,dass die Behörden am liebsten sä­

hen, dass eine alleinerziehende Mut­ter wie ich ihren Job aufgibt, umFeuerwehr zu spielen, wenn es inder Schule nicht läuft." Auch um

solch geradezu existenzielle Fragen,ob die Mutter eines verhaltensauffäl­

ligen Kindes das Recht daraufhat, ei­nen Beruf auszuüben, soll es in die­ser Geschichte gehen.Ein Junge mit rastloser, sensi­

bler Seele

Linus kommt um zehn Minutenvor acht in der Schule an. Es ist En­

de Mai 2015, am Schuleingang sam­meln sich bereits seine Klassenka­

meraden. Stefan Roth ist auch schon

da. Ein studierter Behindertenpäd­agoge, er ist seit anderthalb JahrenLinus' Schulbegleiter. Ein groß ge­wachsener, in sich ruhender und anden Schläfen bereits sanft ergrauen­der Mann, auf den Linus sofort zu­stürzt. Er wird das im Laufe des

Tages immer wieder tun: Roth an­springen, seine Nähe suchen, an ihmseine überschüssige Energie loswer­den.Für den Autisten Linus sind Re­

gelmäßigkeit und das Vertrauen ineine Person sehr wichtig; er, dersich den Strukturen im Unterricht

so schwer unterordnen kann, brauchtStruktur in seinem persönlichen All­tag ­ eine sensible Seele, die dieWirklichkeit anders wahrnimmt als

die meisten von uns anderen.

Jetzt gehen die beiden erst ein­mal in einen großen, leeren Raum;sie unterhalten sich kurz über den

vorherigen Tag. Es war kein guterTag. Später wird Schulleiterin Ka­tharina Beeth­Heitsch erzählen, dassLinus Gegenstände herumwarf, sichverbarrikadierte ­ eine kleine Eskala­tion.

Auch heute ist der Junge kaum

zu bremsen. Sie machen das immer

so, warten, bis die anderen losgegan­gen sind. Linus kann das nicht, bravin der Gruppe laufen. Fast eine hal­be Stunde später geht es dann los,20 Minuten dauert es bis zum Hal­

lenbad Blankenese, und unterwegssagt Roth oft in ermahnendem Ton:"Linus." So wird das den gesam­ten Tag sein, "Linus"­Rufe in End­losschleife, mal mit Ausrufezeichen,mal ohne. Lehrer, Mitschüler, derSchulbegleiter: Sie alle versuchen,den hyperaktiven Jungen, der in ei­nem Moment seine Klassenkamera­

den haut und ihnen im nächsten sein

Pausenbrot anbietet, zur Ordnung zurufen.

An guten Tagen macht er Übun­gen mit und sitzt an seinem Pult ­er ist gut in Mathe und schwächerin Englisch ­ , an schlechten hört ernicht zu, ist in seiner eigenen Welt.Dann ist es so, erzählt Stefan Roth,"dass nur noch hilft, ihn aus derGruppe zu holen".

Es gab mal einen Elternabend, aufdem die Sozialpädagogin des Lehrer­kollegiums das Verhalten von Kin­dern wie Linus erklärte. Es sind

danach einige auf Frau Geercken zu­gekommen, "es gab dann mehr Ver­ständnis, fast keiner weiß ja etwasüber die Diagnose Asperger/ AD­HS", erzählt sie.Nur jedes vierte Kind mit För­

derbedarf in Hamburg ist körperlichoder geistig behindert. Drei Vier­tel lernen zu langsam, sie könnennicht schreiben, sprechen schlech­tes Deutsch. Oder sie sind, wieLinus, verhaltensauffällig. Die Be­hörde nennt sie Kinder mit "kom­

plexen psychosozialen Beeinträchti­gungen". Streng genommen gehörtLinus mit seiner Diagnose Asper­ger/ ADHS zur Gruppe der behin­derten Inklusionskinder. Er hat ei­nen Schwerbehindertenausweis und

Pflegestufe eins.Pädagogisch passt Linus jedoch in

die Kategorie LSE­Schüler. Das sindKinder mit "Förderbedarf im Bereich

Lernen, Sprache und emotional­so­zialer Entwicklung". Die LSE­Fäl­le sind die wirklich harten, die, andenen Lehrer verzweifeln. Es sind

die Schüler, die emotional und so­zial auffallen. Kinder, die das "E"

von 'LSE mit sich tragen. Die,die sich im Unterricht nur schwer

dem Kollektiv unterordnen. Bei de­

nen das Verhalten oft zum Störfallwird. Schüler wie Linus.

Und die Zahl der LSE­Schüler ist

stark gestiegen. Noch 2010 waren esgut 6000, von denen nur 356 einenormale Schule besuchten. Fünf Jah­

re später fallen schon fast 8800 Kin­der in diese Kategorie. Und 5732 ge­hen auf eine normale Schule. Das

zeigt auch: Mehr LSE­Kinder an Re­gelschulen ließen die Schülerzahlenan Sonderschulen nicht im gleichenMaße fallen. Mehr Inklusion führte

nicht automatisch zu weniger Exklu­sion.

Im Sommer steht auch für Linusder Wechsel auf die Stadtteilschu­

le Blankenese an. Eine Regelschu­le, etwas anderes kommt für Simo­ne Geercken nicht infrage. Sie hatein mulmiges Gefühl. Linus jüngs­te Entwicklung ist besorgniserre­gend. Es gibt viele Gespräche mitder Schulleitung an der Grundschu­le, runde Tische mit der Sonder­pädagogin und den Lehrern. Zuletztkommen auch Abgesandte der neuenSchule dazu. Linus ist ein Inklusions­

politikum.Er ist einer von den Schülern,

an denen sich das große Bildungs­projekt "Inklusion" beweisen muss ­und an denen es gerade zu scheiterndroht.

Wie kommt es, dass die Zahl derAutisten, der Lernschwachen, derHyperaktiven, Aggressiven und De­pressiven so stark gestiegen ist?Dafür gibt es verschiedene Grün­

de: Schulen sind sensibler geworden,achten mehr auf das Verhalten derSchüler. Auch die Hemmschwellen

der Lehrer sinken, bei Kindern ei­ne Behinderung zu diagnostizieren,weil diese trotzdem auf ihrer Schu­le bleiben dürfen. Auch bei den El­

tern sinkt die Angst vor einer Dia­gnose wie etwa Autismus. Denn siewissen: Trotz Autismus oder ADHS

wird ihr Kind nicht zwangsläufig aneine Sonderschule abgeschoben.Die Diagnostik ist zudem besser

geworden, Grauzonen von Krankhei­ten werden ausgeleuchtet, Fälle tau­chen auf, die vorher unbeachtet blie­ben. Manche sagen, es gibt nicht

mehr Kinder mit Problemen, es wird

nur genauer hingeschaut.Doch es gibt auch Gründe für

die steigende Zahl der verhaltens­auffälligen Kinder, die abseits derSchule zu finden sind: Die Gewerk­

schaften beklagen, dass jeder fünfteMensch in Hamburg in Armut auf­wächst. Das hat Folgen für die In­klusion, denn Statistiken zeigen, wieArmut Schwächen beim Lesen undSchreiben befördern kann. Wie Ar­

mut krank macht. Kinder verbrin­

gen mehr Zeit vor dem PC, Elternleben getrennt, ziehen ihr Kind al­lein groß. Die Zeit für die Extra­schicht Hausaufgabenhilfe oder all­gemein für Zuwendung fehlt. VieleKinder stammen aus Einwandererfa­

milien und sprechen zu Hause Tür­kisch oder Russisch. In einigen Fa­milien gehört Gewalt zum Alltag.Nicht "normal" ­ ist das schon

krank?

Die Brüche in der Gesellschaftmachen vor dem Klassenzimmer

nicht halt. Im Gegenteil: Sie be­schleunigen die Herausforderungen.Bei der Inklusion geht es um Gerech­tigkeit und Gleichheit. Um eine Hal­tung.Und um unsere Sprache. Sa­

gen wir "verhaltensauffällig" und"normal", sagen wir "behindert"oder "Mensch mit besonderer Bega­bung"? Wie viel muss die Gesell­schaft für ihn leisten? Was kann erfür die Gesellschaft leisten? Und was

ist überhaupt die größere Leistung:Wenn der Sohn eines Matheprofes­sors den Dreisatz am schnellstenlöst oder erst einmal dem Mädchen

mit Förderbedarf bei der Lösung derAufgabe hilft? Und welche Note solles dafür geben? Ist jemand krank, nurweil er nicht wie die Norm ist?

Am Anfang, sagt Simone Ge­ercken, "habe ich gedacht, ich binschuld, dass Linus so ist". Mit derSchuldfrage quälen sich die Elternvon Kindern wie Linus oft, undbei Geercken kommt hinzu, dasssie alleinerziehend ist. Nicht ein­

mal die fruchtlosen Selbstbezichti­

gungen, die meist keine Grundlagehaben, verteilen sich auf zwei PaarSchultern. Geercken hat lange dieTrennung von Linus' Vater als eineder Ursachen für Linus' Verhaltens­

auffälligkeit gesehen, 'dabei ist As­perger ein Gendefekt", sagt sie.Geercken arbeitet 20 Stunden die

Woche im Wasser­ und Schifffahrts­

amt Hamburg. Die Kulanz ihres Ar­beitgebers ist wichtig, wenn sie malwieder früher losmuss. Anderswo,sagt sie, "wäre ich schon hundertmalgefeuert worden".So, wie sie es erzählt, haben ih­

re Kollegen mehr Verständnis für ih­re Nöte als die Sachbearbeiter auf

dem Amt, mit denen sie sich tag­täglich kabbeln muss. Simone Ge­ercken sagt: "Die wissen nicht, wiees an der Basis ist." Die Basis, das istein Heranwachsender, der im Super­markt oder in der Apotheke ausflippt,der viel Beschäftigung braucht, Auf­sicht, Geduld. Der immer wieder ab­haut und durch die Gegend stromert.Ein Außenseiter. Linus hat eigentlichkeine Freunde, weil er das Wesen derFreundschaft nicht versteht. Er hat

keine Frustrationstoleranz.

Er ist hochintelligent, sagen sei­ne Lehrerinnen. Und doch sind sie

mit ihren Idealen und ihrem Kön­

nen schon lange an ihrem Ende.Das geben Katharina Beeth­Heitsch,die Schulleiterin an der Schule Iser­

brook, und die Lehrerin StephanieDudek zu, die beide sehr offen überLinus sprechen.Vorhin noch, nach dem Schwim­

men, hat Linus Frau Dudek ein paarunterwegs aufgelesene Blumen über­reicht. Eine irgendwie rührende Ges­te, weil Linus doch aus der Phase,in der er bei seinen Lehrern anhäng­lich war, schon lange heraus ist. Esist gerade Lesewoche in der vierten,die Klasse nimmt "Emil und die De­

tektive" durch, und gemeinsames Le­sen geht in Iserbrook auch mal so,dass man über die Fensterbank nach

draußen klettert und sich in kleinen

Gruppen auf den Rasen setzt mit demBuch in der Hand. Die legere Unter­richtsform kommt Linus entgegen, erhockt jetzt mit Vivien zusammen ­die erste Person heute, mit der er sichabgesehen vom Schulbegleiter ein­lässt.

Rektorin Beeth­Heitsch sagt, siehabe Linus' Mitschüler gebeten, ihnzu ignorieren, wenn er etwas anstellt,"die Kinder haben sich lange um ihnbemüht, vergebens".

Im Juni 2015 trifft man auf einen

Zustand der Erschöpfung, wenn mansich mit Linus' schulischem Umfeld

befasst. Beeth­Heitsch, selbst Muttervon sechs Töchtern, hat Integrationund Inklusion auch auf ihrer ersten

Schule in Bahrenfeld kennengelernt,"ich bin eine klare Befürworterin."

Unumwunden sagt sie jedoch, dassLinus ein Extremfall sei, und sie lässtdie Frage im Raum stehen, ob in sei­nem Falle Inklusion vielleicht ein­fach nicht funktionieren kann. Ande­

rerseits, schiebt sie hinterher, "heißtInklusion ernst zu nehmen und eben

auch, Linus nicht auszuschließen".Sie habe keine Zweifel, dass derWeg, der mit dem Inklusionsgesetzeingeschlagen wurde, der richtige ist."Seit es in Kraft ist, kann keiner mehrsagen, dass das Thema niemanden et­was angeht."Was Linus' schulischen Wer­

degang auf einer weiterführendenSchule angeht, ist sie allerdings skep­tisch. Und angesichts des Stresstests,dem Linus gerade in den letzten Mo­naten seine Schule unterzog, kannman sich des Eindrucks nicht erweh­

ren, dass man dort froh ist, ihn amEnde des Schuljahres los zu sein. Sohart das auch klingen mag.Bis zum Sommer 2015 geht Men­

ja ­ das Mädchen mit Downsyn­drom, das so gern tanzt ­ auf dieGrundschule Humboldtstraße. In ih­

rer Klasse hat sie ein eigenes Fachfür ihre Schulhefte, neben dem vonLeonard und Sena. Menja hat Freun­de gefunden im Klassenzimmer, dieihr helfen und mit ihr spielen. Finbringt ihr das Klavierspielen bei, undSteffi hilft ihr beim Umziehen in der

Sporthalle. Als Menja in die ersteKlasse kam, waren ihre Sätze kaumzu verstehen. Sie sprach mit Lauten.Also entschied ihre Klassenlehrerin

Astrid Bürenheide, dass alle Schülerein bisschen von Menjas Sprache ler­nen sollten. Jeder suchte sich einenBuchstaben aus. Das "M" zum Bei­

spiel, für das man drei Finger auf dieLippen legt und "Mmmmm" mur­melt. Dann machten sie Fotos von

jedem Schüler in seiner Pose. Biszum Ende der Grundschule hingendie Bilder im Klassenzimmer, jederkonnte ein bisschen Gebärdenspra­che. "Auch Menja ist ein Helfer",

sagt Bürenheide.Menja habe ein gutes räumliches

Verständnis, erzählt die Lehrerin.Wenn es darum gehe, Figuren mitBausteinen nachzubauen, erkläre siedas ihrer Mitschülerin im Rollstuhl.

Mit Zahlen hat sie es dagegen nichtso, und auch das Schreiben ist müh­sam. Was andere in ein paar Mona­ten lernen, dafür braucht Menja Jah­re. 'Aber im Tanzen ist sie spitze ,

sagt Bürenheide.Die Mitschüler sind Menjas bes­

te Lehrer

Menja ist ein sehr anschmiegsa­mes Kind, manchmal kann es auchein bisschen bockig sein. Ihre MutterBabette Radke, die vor Menjas Ge­burt in der Tourismusbranche arbei­

tete und jetzt noch minijobmäßig vonzu Hause aus Geld verdient, ermahntsie oft, es damit in der Schule nichtzu übertreiben. Aber die Mitschüler

sagen einfach, wenn es ihnen zu vielwird. Die anderen Kinder, sagt sie,seien Menjas beste Lehrer; geduldigund hilfsbereit. Ihre Tochter brauche

Vorbilder, um zu lernen. Deshalb dieRegelschule.Mit ihrer Klasse hat Menja ei­

nen "Reiseführer Hamburg" gebas­telt. Die Schüler besuchten dafür ihre

Lieblingsorte der Stadt, machten Fo­tos und schrieben ein paar Zeilen da­zu. Gleich am Anfang stehen MenjasFotos: vom Spielplatz, vom Blumen­laden, von der Wiese, auf der sie mitihrer Mutter gern Fußball spielt, vomSupermarkt. "Hier kann ich einkau­fen", hat Menja in krakeligen Druck­buchstaben notiert. Den Text hat ihr

die Lehrerin vorgegeben, aber Men­ja hat ihn selbst aufgeschrieben. Aufden anderen Seiten schrieben die an­

deren Schüler den Reiseführer wei­ter. "Das ist Inklusion: Alle machen

Projekte gemeinsam, jeder auf sei­nem Niveau", sagt Lehrerin Büren­heide.

Doch auch in der Grundschule

ist nicht immer alles glattgelaufen.Vor Kurzem, erzählt Babette Radke,stand Menja mittags vor der Tür, siewar einfach nach Hause gegangen.Keiner hatte es bemerkt. Im besten

Fall hätte sich Menja verlaufen, imschlechtesten wäre sie auf die Straße

gerannt.Die Radkes leben in Barmbek.

Modernes Mietshaus, erster Stock ­über eine FC­St.­Pauli ­ Fußmatte

geht es in ein Wohnzimmer von ge­mütlicher Halbaufgeräumtheit. Beat­les­Figuren, ein paar Schallplatten,der Fernseher ­ der Wohlfühlraum ei­

ner vierköpfigen Familie, in dem esaber auch viel um Menja und ihreBesonderheit geht. Hier stehen Ord­ner mit Inklusionsbroschüren und ein

Foto von der "Aktion Mensch", Men­ja war mal im Fernsehen. Die Elf­jährige hat Trisomie 21. Die meistenMenschen haben Zellen mit 23 Chro­

mosomen. Bei Menja ist eines davonnicht doppelt in der Zelle vorhanden,sondern dreimal. Der ganze Körperfunktioniert etwas langsamer.Menja ist ein fröhliches Mädchen,

das während des Gesprächs mit sei­nem Vater spielt. Ein Gespräch, indem es zuerst gar nicht so sehr umden Hader mit der Inklusion geht,sondern um die Schwangerschaftenvon Babette Radke. Bei ihrem Sohn

Moritz, heute 18 Jahre alt, spieltenwährend der Schwangerschaft kurz­zeitig die Werte verrückt. Bei derFruchtwasseruntersuchung war aberalles in Ordnung. Acht Jahre späterwurde bei der Schwangerschaft mitMenja die Nackenfalte untersucht ­weil da nichts weiter auffällig war,gab es keine weiteren Untersuchun­gen. Doch kurz nach der Geburt teil­ten die Ärzte den Radkes die Diagno­se mit.

Und wenn ein Kind behindert zurWelt kommt: Geht es dann nicht dar­

um, dass es dieselbe Chance auf einerfülltes Leben hat wie jedes ande­re? Mit Eltern, deren Lebensumstän­de sich durch die Geburt nicht radikalverändern müssen? Will unsere auf­

geklärte Gesellschaft das nicht genauso? Babette Radke sagt: "So denkenIdealisten. Die Wirklichkeit sieht an­

ders aus. Bei dem, was wir manch­mal erleben, wenn wir uns um diebestmöglichen Voraussetzungen fürMenjas Ausbildung bemühen, den­ken wir oft: Ihr Leben ist eben doch

weniger wert."Was ist Hamburg die Inklusion

wert? Viel zu wenig, finden die Rad­kes. Oliver Radke, der Sozialpäd­agoge ist und in einer Grundschu­le in Öjendorf unterrichtet, kenntden Ärger über die vollmundigen

und gut klingenden Formulierungenin den politischen Willensbekundun­gen und Verlautbarungen: "Da heißtes dann,multiprofessionelles Team',aber die Wirklichkeit sieht ganz an­ders aus ­ Personalmangel überall."Die Radkes finden, dass sich ih­

re Tochter an der Grundschule sehr

gut entwickelt hat; aber sie spottenoft über die schulische und personel­le Ausstattung. Dann bekommt ihrAuftreten einen Zug ins Kompro­misslose. Wenn Babette Radke über

die Arbeit von Senator Rabe spricht,klingt sie manchmal selbst wie ei­ne Politikerin im Wahlkampf. Sie en­gagiert sich wie auch andere Elternschon länger in der Interessengruppe"Hamburger Bündnis für schulischeInklusion". Einmal sei sie mit Ties

Rabe am Rand einer Veranstaltungsogar aneinandergeraten. Ihrer Mei­nung nach werden die Förderschulenkünstlich am Leben gehalten ­ das seipolitisch gewollt. Die weiterführen­den Schulen böten oft nicht eine aus­

reichende Betreuung, weshalb vieleEltern ihre Kinder doch wieder zur

Förderschule schickten.

Ein Tag in Jakobs FörderschuleMorgens geht es los mit Rufen,

Rennen, Wachwerden. Und da ist Ja­kob erst mal schnell raus. Der 13

Jahre alte Junge mit Downsyndromsitzt an der Holzwand, schaut in dieHalle und streicht mit seiner Hand

über sein Gesicht. Auch Janosch liegtgerade mitten in der Halle auf demBoden, will nicht mehr aufstehen.Manchmal lächelt er ins Leere. Dann

hilft ihm einer der jungen Betreuerhoch.

Die anderen Kinder rennen noch

durch die kleine Sporthalle. Aber Ja­kob ist schon getickt worden. "Wergetickt ist, setzt sich hin!", ruft derSportlehrer. Er muss laut sein, damitseine Stimme durch das Gejohle derSchüler dringt.Es ist kurz nach halb acht Uhr

in der Schule am Lokstedter Damm,eine von sieben staatlichen Schulen

mit dem Förderschwerpunkt "geisti­ge Entwicklung" in Hamburg. Wiealle Sonderschulen gehört sie un­ter das Dach der 13 regionalen Bil­dungs­ und Beratungszentren derStadt. Morgens toben die Jungen undMädchen aus Jakobs Stufe eine hal­

be Stunde, bevor der Unterricht be­

ginnt. Müdigkeit abschütteln, Kraftsammeln für den Tag.Susanne und Jasper Jensen fiel

die Entscheidung nicht leicht, ihrenSohn auf einer Förderschule anzu­melden. Sie diskutierten viel. Er tat

sich schwer damit, wollte es mit derInklusion an einer Regelschule ver­suchen. Förderschule, das klang fürJasper Jensen zu sehr nach Aufge­ben, nach Abstempeln.Bevor Jakob auf die Schule am

Lokstedter Damm wechselte, be­suchte er eine normale Grundschule

in Niendorf. Zwei Jahre ging das sehrgut. Die Lehrer waren motiviert, Ja­kob hatte Freunde, spielte mit ihnenauf dem Pausenhof.

Doch je älter die Kinder wur­den, desto mehr fiel Jakobs An­derssein ihnen auf. Und die ge­meinsamen Verabredungen wurdenweniger. Dann ging auch noch dieKlassenlehrerin, die Jakob stark ge­fördert hatte. Die neue, so berichtenes die Jensens, "fühlte sich für dasIntegrationskind Jakob nicht zustän­dig".In der Grundschule gab es beim

Kicken in der Sporthalle irgendwannimmer eine "Jakob­Zeit", in der erden Ball bekam und von seinen Ge­

genspielern nicht angegriffen wurde."Nur leider funktioniert Fußball so

nicht", sagt Jasper Jensen. Und In­klusion auch nicht. Sie entschiedensich für die Förderschule.

Nach dem Sport frühstückt Jakobin der Schule am Lokstedter Damm

gemeinsam mit seinen Klassenkame­raden. Jeder bringt sich selbst et­was mit, Matthias isst Nutella­Toast,Max zwei Bananen. Jakob hat einBrot mit Tomate. Nicht alle Schü­ler reden beim Essen. Jakob sitzt still

da, er schiebt die Brotdose über denTisch.

Zehn Schüler sitzen an dem gro­ßen Tisch in der Klasse, mehr nicht.Jakob und Maria mit dem Downsyn­drom, der Schwerbehinderte Tim miteiner Spastik, auch Leonie und Max,die nur langsam rechnen und schrei­ben können. Auch Stefan, ein Autist,gehört zur Klasse.Zehn Kinder, zehn Behinderun­

gen, und alle sprechen, lesen, schrei­ben und lernen auf einem unter­

schiedlichen Niveau.

An der Fensterscheibe im Klas­

senzimmer kleben bunte Blumen aus

Pappe, an der Wand hängt eine Uhrmit den Jahreszeiten und den Mona­

ten, und an die Decke ist ein Beamergeschraubt. Im Regal stehen Puzzles,Gesellschaftsspiele und ein Kastenmit Zahnbürsten für jeden Schüler.Lehrerin Paula Neuber sitzt am

Kopf des Tisches. Sie ist geradefertig mit ihrem Studium, Sonder­pädagogik, und übernahm in diesemSchuljahr ihre erste eigene Klasse.Auch die Schulbegleiter Sophie undKenny sind dabei, die beiden kom­men gerade selbst frisch von derSchule, machen ein freiwilliges so­ziales Jahr. "Wir sind immer zu dritt

in der Klasse, manchmal zu viert,wenn eine Erzieherin noch mit dabei

ist", sagt Neuber.Der Matheunterricht fällt an die­

sem Tag aus, weil einige Schüler aufeinem Ausflug sind. "Also machenwir Mathe mit Spielen", sagt Lehre­rin Neuber. "Ja! Spiele!", ruft Jakob.Matthias sitzt nur heute mit in der

Klasse, weil er nicht mit zum Aus­flug ist. Er kann schon ziemlich viel,er hat einen Zettel mit Rechenaufga­ben vor sich. 34+22. 69+21. 82+14.Er wird in der nächsten halben Stun­

de oft stöhnen oder müde den Kopfauf den Tisch legen. Am Ende aberhat er alle Aufgaben richtig.Jakob sitzt mit Anton und Betreu­

er Kenny am Tisch in der Küche ne­ben dem Klassenraum. Sie spielenDomino. Auf jeder Karte sind Bil­der mit Muscheln, Schrauben, See­sternen oder Blumen. Vier Blumen

passen zu vier Schrauben, sechs Mu­scheln zu sechs Seesternen. Also

zählt Jakob mit den Fingern die Mu­scheln. Eins, zwei, drei, vier, fünf,sechs. Karte für Karte. Kenny hat denKopf auf seine Hand gestützt. DieZeit vergeht nur zäh.Susanne Jensen, 54, und Jasper

Jensen, 59, heben ihr Kind, aber siegehören nicht zu der Sorte Eltern, dieihre Kinder zum Idol erheben. "Ma­

the kann er gar nicht", sagt JasperJensen, "dafür geht er auf Menschenzu, ist emotional zugewandt." Siehätten auch Eltern kennengelernt, diesagen, dass ihr eigenes Kind gar nichtbehindert sei, obwohl es mit dem

Downsyndrom lebt. "Das ist welt­fremd", sagt Jasper Jensen.

Der Experte will Feedback stattNoten

Kein Land teilt seine Bildung inso viele verschiedene Schultypen aufwie Deutschland. Es gab lange nichtnur Hauptschulen, Realschulen undGymnasien, sondern auch etlicheSonderschulen. Für fast jede Behin­derung eine Schule mit eigenen Leh­rern und Lehrplänen: für gehörloseKinder, für blinde Kinder, körperlichbehinderte oder verhaltensauffällige.Und kein Land hielt so lange an die­sem differenzierten Schulsystem undder Pädagogik der Isolation fest wieDeutschland. Italien hat die Sonder­

schulen schon vor 30 Jahren abge­schafft, in fast allen EU ­ Staaten lagdie Inklusionsquote 2008 höher als inDeutschland. Und in Hamburg woll­ten manche CDU­Leute noch 2011

lieber gar nicht erst von Inklusionsprechen. Ein paar Jahre zuvor kann­ten nur wenige Bildungsexperten dasWort. Jetzt wird heftig über die In­klusion gestritten.Das Aufbrechen von jahrzehnte­

lang festgefahrener deutscher Bil­dungspolitik kostet Kraft. In denvergangenen zehn Jahren zerrten Po­litiker mit viel Elan am HamburgerSchulsystem. Die Hauptschule wur­de abgeschafft, die Stadtteilschuleeingeführt, die Grundschule sollte re­formiert werden, doch das scheiter­te an einem Volksentscheid, die Zeit

am Gymnasium wurde verkürzt, dasAbitur zentralisiert, fast alle Schu­len wurden ausgebaut zu Ganztags­einrichtungen.All das brachte Deutschland den

Bildungslandschaften in anderen eu­ropäischen Staaten wie Frankreichoder Schweden näher, aber es brach­te auch Unruhe in die Klassenzim­

mer. Das Schulsystem wurde müdevom Gezerre. Politiker, Lehrer undEltern einigten sich auf den Schul­

frieden. Keine Änderungen mehr aufBiegen und Brechen.Und trotzdem soll nun die Inklusi­

on an den Schulen durchgesetzt wer­den. Das Schöne an der Inklusion

sei, dass man nicht die Kinder ändernmüsse, sagt Professor Andre FrankZimpel. Sondern die Institution. Al­so wird jetzt doch wieder gezerrt.

Zimpel ist für viele eine Forscher­instanz, wenn über das Thema dis­kutiert wird. Er lehrt und forscht zur

Behindertenpädagogik an der Uni­versität Hamburg. Und Zimpel hatein Buch geschrieben, auf das wäh­rend der Recherche gleich mehrereFamilien hinweisen. "Einander hel­fen" heißt es. Es ist nichts anderes

als ein Manifest für einen gemeinsa­men Schulalltag. Zimpel ist Wissen­schaftler. Und ein Kämpfer für dieInklusion.

Also fragen wir ihn, wie dasKlassenzimmer einer gelungenen In­klusion aussieht. Er wirft ein paarGedanken in den Raum: Klassen sol­

len keine "Zwangskollektive" mehrsein, sondern Gruppen, die gemein­same Projekte erarbeiten. Die Kin­der sind in seiner Idealvorstellungunterschiedlich alt; eine Mathelehre­rin unterrichtet gemeinsam mit demSonderpädagogen, ihre Ziele ver­einbaren sie gemeinsam mit jedemSchüler einzeln in Lernbüros. Zen­

suren fallen weg, es gibt stattdessenFeedback. Was im Unterricht zählt,sind weniger Formeln und Vokabeln,weniger das Chemie­Experiment mitdem Bunsenbrenner oder die De­

batte über Max Frischs "Homo Fa­

ber", sondern mehr das Entwickeln"exekutiver Funktionen", wie Zim­pel sagt. Fantasie, Selbstbewusst­sein, Frustrationstoleranz, Kreativi­tät und Solidarität.

Muss Linus so viele Tablettenschlucken?

Geerckens Sohn Linus gehörtnicht zu den Autisten, die eine Sachegenial beherrschen, Mathe oder Mu­sik, und trotzdem ist er überdurch­schnittlich intelligent. Er interessiertsich für alles, was mit Technik zutun hat. Für Autos. Für Kopierer. FürComputer, für die ganz besonders. Erhat Fantasie und ist geschickt. Neu­lich hat er aus Klopapierrollen undKlebeband Gewehre gebastelt. Wennihn etwas wirklich interessiert, dannist er konzentriert. Alles, was darüberhinausgeht, überfordert und stresstihn oft, mag seine Aufmerksamkeitnicht zu fesseln.Linus lebt mit seiner Schwester

und seiner Mutter Simone Geercken

in Rissen, in einem lang gestreck­ten Mietshaus. Die Wohnung ist eng,

dafür haben sie eine Terrasse, imWohnzimmer ein gemütliches Sofa,und der wichtigste Ort ist die PC­Ecke, in der sich Linus oft die Clipsmit den Game­Tests anschaut. Simo­

ne Geercken, 46, ist streng, es gibtfeste PC­Zeiten ­ nur dass die in

der letzten Zeit immer weiter ausge­dehnt werden. Denn wenn Linus den

Bildschirm fokussiert, hat GeerckenRuhe für die Hausarbeit. Während

sie die Geschichte von Linus erzählt,dem Jungen mit den überwachen Au­gen, der großen Neugierde, funkt Li­nus mal lauter und mal weniger lautdazwischen. Und als die Wirkung derMedikamente nachlässt ­ so erklärt

Geercken es ­ , fängt Linus an aus­zuflippen. Er bekommt einen Tob­suchtsanfall, rennt schreiend durchdie Wohnung, als seine Mutter nichtso will wie er, und das ist: noch mehrSpiele am PC herunterladen.Linus bekommt Medikamente.

Nur so ist er in der Lage, sichzu konzentrieren. In Behandlung ister seit Jahren im Werner­Otto­In­

stitut, einer medizinisch­ psycholo­gischen Einrichtung für Kinder mitEntwicklungsstörungen und Behin­derungen in Alsterdorf. Aufgrundseines Aspergers kann Linus die Ge­fühlsregungen anderer nicht lesen; ererkennt nicht, ob jemand ihm zu­geneigt oder abgeneigt ist. Er weißnicht sofort, wie Ärger aussieht oderFreude. Und trotzdem oder geradedeswegen reichen oft Blicke einesanderen, um ihn aus der Fassung zubringen.Zu Kinderarzt Klaus Brennecke

muss Linus mindestens alle sechs

Monate zur Untersuchung. Bei ei­nem Besuch Anfang des Sommersberichtet Geercken dem Arzt, dasssie eines der Medikamente am Wo­

chenende abgesetzt habe. Elvanse,Wirkstoff Lisdexamfetamindimesi­

lat, ein Amphetamin. Geercken sagt,dass Linus viel ruhiger gewesen sei,weniger aggressiv, ein bisschen wei­nerlich, sonst nichts. "Ich habe ihnins Bett gebracht, das Licht ausge­macht, und zehn Minuten später warer eingeschlafen. Das war unglaub­lich."

Der Arzt reagiert verärgert. Siekönne keine Experimente auf eige­ne Faust starten, ohne Absprache mit

Ärzten. Dann aber will er Geerck­

ens Idee eine Chance geben. Ab mor­gen solle Linus nur noch Risperdalund Concerta einnehmen, ein Anti­psychotikum und ein Psychoanalep­tikum. Kein Elvanse mehr. Beide

hoffen, dass Linus so besser zur Ru­he kommt.

Kann man der Mutter verübeln,dass sie ihrem Sohn so wenig Ta­bletten wie möglich geben will? Undüberhaupt: Ist Linus' beinahe grund­sätzlich destruktivem, dickköpfigemVerhalten nur mit Pharmaka beizu­

kommen? Arztbesuche und Medika­

mente gehören seit langer Zeit zuseinem Leben. Sie sind Teil seiner

Inklusion. Um zur Gesellschaft zu

passen, so wie die große Mehrheit siesich vorstellt, muss er ruhiggestelltwerden.

Simone Geercken verliert selten

die Fassung, wenn Linus mal wiederseine fixen fünf Minuten hat. Im Ge­

genteil, sie lobt ihn für Kleinigkeiten,wie nur eine Mutter ihr Kind loben

kann, die sein Anderssein akzeptiert.Leicht ist das nicht.Wer die Geschichte von Linus er­

zählt, erzählt automatisch auch dieseiner Mutter.

Je öfter man sich mit ihr unter­

hält, desto offensichtlicher wird, wiesehr Linus manchmal auch über ihre

Kräfte geht. 2014 litt sie unter einemBurn­out und ging zur Kur.Paragraf 12 des Hamburgischen

Schulgesetzes spricht vom "Rechtaller mit sonderpädagogischem Be­darf, allgemeine Schulen zu besu­chen". Und nichts weniger verlangtSimone Geercken. Sie sagt, ihr SohnLinus solle an all dem teilhaben, wasdie anderen Kinder für sich in An­

spruch nehmen.Sie wirkt meist sehr pragmatisch

und zupackend, gestählt vom Kampffür Linus' Rechte. Sie ist die Chef­

lobbyistin ihres Sohnes.Nicht nur für Schulen, sondern

auch für Eltern bedeutet Inklusion

an vielen Tagen: viel Stress mit denBehörden. Dort müssen immer wie­

der Anträge gestellt und Gutach­ten vorgelegt werden. Der Staat hatnichts zu verschenken. Den Förder­

antrag für Menja mit dem Downsyn­drom stellen die Eltern jedes Jahr,für Linus macht das die Mutter al­

le drei Monate. Menjas Mutter fin­det: "Behörden lassen sich Zeit, fastimmer." Eltern würden als Bittsteller

behandelt, "kostenneutral und ver­waltungsneutral zu arbeiten, darumging es den Behörden in erster Li­nie", sagt Radke. Jasper Jensen, derVater von Jakob, sagt: "Viele sindda verloren." Als Sachbearbeiter ist

er mit den Usancen in Behörden ver­

traut, er spricht deren Sprache. "Dashilft."Das ist bei Simone Geercken ähn­

lich. Sie ist gestresst von dem, wassie "das nervende Hin und Her mit

den Behörden" nennt. Ihr Arbeitge­ber geht gut mit ihr um, gibt ihr Frei­heiten. Frau Geercken sagt: "Das Ju­gendamt hätte am liebsten, ich würdegar nicht arbeiten ­ damit ich nochflexibler bin, was Linus' Betreuungangeht."Dürfen Eltern von Kindern mit

Sonderbedarf kein Recht auf Selbst­

verwirklichung haben? Oder darf dieGesellschaft, darf der Staat von ihnenVerzicht einfordern? Rechtlich nicht,aber moralisch?

Sicher kann der Staat manchmalauf das schlechte Gewissen der El­

tern zählen, die ihr eigenes Berufs­leben einschränken, um für ihr Kindda zu sein. Simone Geercken aber

muss schon deswegen arbeiten, weilsie Alleinverdienerin ist, "ich lassemich nicht in Hartz IV drängen."Was man lernt, wenn man sich

mit dem Thema Inklusion beschäf­

tigt: Jedes Kind ist anders, jedesKind braucht individuelle Förde­

rung. Aber die Behörden arbeiten mitSchablonen, Pflegestufen und pau­schalen Gesetzen. Sie können keinen

Blankoschein für Betreuung ausstel­len. Sozialleistungen kosten Geld,das der Staat nicht mit vollen Händen

verteilen kann. Die, die wie Simo­ne Geercken Hilfe brauchen, müssenAntrag um Antrag stellen und fühlensich dabei dem Prüfzwang der Be­hörden ausgesetzt.Geercken hat mit dem Jugendamt

zu tun und mit der Schulbehörde, esgibt verschiedene Zuständigkeiten.Normalität im Sozialstaat Deutsch­

land. Geercken kennt das Sozialge­setzbuch, vor allem das achte Buchzur Kinderund Jugendhilfe, inzwi­schen fast auswendig, sagt sie, sie

fuchst sich in den Paragrafenwustein.

Und Geercken spricht immer wie­der von Artikel 13 des Hamburgi­schen Schulgesetzes: "Schülerinnenund Schüler von der Vorschulklasse

bis zur Vollendung des 14. Lebens­jahres haben Anspruch auf eine um­fassende Bildung und Betreuung inder Zeit von 8.00 Uhr bis 16.00 Uhr

an jedem Schultag."Artikel 13 ist Geerckens schärfs­

te Waffe im Kampf für ihren Sohn ­und das Argument dafür, dass sie indieser Zeit nicht zuständig ist für dieBetreuung, also selbst arbeiten kann.Der Abschied vom Integrations­

model]

Mehr als 30 Jahre gab es in Ham­burg ein Vorgängermodell zur Inklu­sion: die Integration. Auch damalskämpften zuerst Eltern für eine nochgemeinsame Beschulung, in Ham­burg so stark wie in wenigen anderenBundesländern. Doch schon damals

debattierten Politiker und Wissen­

schaftler laut. Wie immer, wenn esdarum geht, wie eine Revolution ge­nau aussehen soll.

Man kann sich den Unterschiedmit einem Bild klarmachen: Bei der

Integration liegt in einer Kiste vol­ler grauer Bälle irgendwo in einerEcke ein Haufen bunter Bälle. Sie

sind keineswegs draußen, vor derKiste. Aber die bunten Bälle haben

ihren ganz speziellen Platz in derKiste. Im Hamburger Schulsystemhieß das: Eltern konnten ihre Kinder

mit Behinderungen an ganz normaleSchulen schicken, sie wurden nichtmehr zwangsläufig in Sonderschu­len abgeschoben. Allerdings durftenEltern ihre Kinder nur an bestimm­

te Schulen anmelden, Integrations­schulen, mit I­Klassen, die wie heu­te ordentlich mit Sonderpädagogen,Erziehern und Rollstuhlrampen aus­gestattet waren.Astrid Bürenheide, Menjas Klas­

senlehrerin an der Grundschule, sagt,dass die Integration in den vergange­nen Jahren eigentlich die beste Formder Inklusion war: "Wir waren im­

mer Fortsetzung von Seite 19 zuzweit in der Klasse, eine Erzieherinund ich." Für zwölf Stunden in der

Woche kam auch noch ein Sonder­

pädagoge dazu. 24 Schüler, vier von

ihnen wurden besonders gefördert.Ein Autist, ein Kind, das sich von ei­nem Gehirntumor erholen musste, ei­ne Rollstuhlfahrerin, die körperlichund geistig behindert war. Und Men­ja. Aber eigentlich, sagt die Lehre­rin, waren alle 24 Kinder Inklusions­schüler. "Wenn Kinder eingeschultwerden, ist der Unterschied sowiesoriesig. Manche können schon gut le­sen, schreiben und rechnen. Anderebringen keine klare Silbe raus." Al­le sind verschieden, nicht nur Menja,sagt Astrid Bürenheide.Die Schulbehörde entschied, nach

Beginn der Inklusion 2010 die al­ten Integrationsklassen noch bis zumEnde der Schulzeit oder bis zum

Wechsel in eine neue Klasse weiter­

laufen zu lassen. Für Menja lief esgut im alten System der Integrati­on, findet ihre Mutter. Weshalb Ba­bette Radke im Juli 2015, kurz vorSchulende, eine Todesanzeige for­muliert, einen Nachruf auf die In­tegration, die "im Alter von knapp32 Jahren von uns gegangen ist". Soschreibt Radke es an ihrem Compu­ter auf: "Die schulische Integrationin Hamburg ist tot. Die Tochter einerElterninitiative bot vielen Schülerin­

nen und Schülern über Jahrzehnte ei­

nen Rahmen für zieldifferenziertes

Lernen an einer Regelschule." Zeileneiner Mutter, die dem GroßprojektInklusion bang entgegenblickt. IhreTochter Menja wird nach dem Som­mer auf eine Stadtteilschule wech­

seln.

Im alten System der Integrati­on lagen alle bunten Bälle in einerEcke, an Sonderschulen, an Ortenwie Menjas Grundschulklasse. Beider Inklusion wuseln die bunten Bäl­

le nun kreuz und quer durch die Kiste­ gemeinsam mit den grauen. Elternkönnen ihre behinderten Kinder jetztan jeder Schule anmelden, sie wer­den in einer Klasse mit den nicht be­

hinderten unterrichtet.

Zumindest in der Theorie. Doch

in der Praxis, ohne bunte und graueBälle, landete Hamburg schnell beieinem Kompromiss. Die Politik be­kennt sich zur Inklusion und hält

doch das alte System aufrecht. Wei­terhin gibt es mehrere Schultypen:Jakob besucht eine Förderschule,Menja eine Stadtteilschule. Es gibt

spezielle Schulen für Blinde oderTaube. Und Linus' neue Klasse ist

in einer sogenannten Schwerpunkt­schule. Die Chiffre "Schwerpunkt­schule" wurde für Kritiker zum Inbe­

griff einer Inklusion, die auf halbemWeg stecken blieb ­ wegen des Kos­tendrucks, wegen der vielen Kindermit Förderbedarf und der begrenztenZahl von Sonderpädagogen in einerStadt wie Hamburg.In Zeiten der Integration waren

einzelne Schulen gut ausgestattet.Mit den Schwerpunktschulen willdie Behörde nun auch verhindern,dass sich die vorhandenen Sonder­

pädagogen quer durch die Stadt ver­streuen. Lieber eine Schule mit fünf

Sonderpädagogen etwa für Autistenoder geistig Behinderte aufbauen ­als fünf Schulen mit nur einem Be­

treuer. Das ist die Rechnung hinterden Schwerpunktschulen, eine Inklu­sion "light".39 Schulen bieten derzeit Schwer­

punkte an. Die Behörde entschei­det, welche Schule welchen Schwer­punkt hat. Nicht die Schulleitungund die Lehrer selbst. Oft ha­

ben die Schulen Erfahrungen mitden Integrationsklassen gesammelt,aber nicht immer. Schulleiter Ma­

thias Morgenroth­Marwedel von derStadtteilschule Blankenese, Linus'neuer Schule mit Schwerpunkt Au­tismus, sagt etwa: "Wir erfüllennicht eine der Voraussetzungen,die im Zusammenhang mit demBegriff,Schwerpunktschule' behörd­lich genannt wurden."Bei der Auswahl zählt, wie gut die

Gebäude der Schule für Kinder mit

Förderbedarf ausgebaut sind und wiegut die Lehrer pädagogisch ausgebil­det sind für Schüler wie Linus, Jakoboder Menja.Rollstuhlfahrer, Sehbehinderte,

Gehörlose, Menschen mit psychi­schen Problemen werden weiterhin

kanalisiert. Die bunten Bälle wuseln

doch wieder vor allem in abgesteck­ten Ecken des Hamburger Schulsys­tems. Weil Lehrpersonal so gezieltereingesetzt wird. Aber auch, weil dasgünstiger ist.Lehrer wurden krank oder kün­

digten

So ist diese Inklusion längst zueinem Kampf um Geld geworden.

Manche Schulleiter beklagen, dasssie selbst für diesen Kampf dannauch noch viel Zeit und Personal

brauchen: Förderregularien durch­wälzen, Berichte schreiben, Anträgestellen.

Denn Diagnosen bringen Geld.Wer Schüler mit Förderbedarf un­

terrichtet, erhält dafür Ressourcenvom Staat. Das ist ein heikler Punkt,weil er Lehrern unterstellt, sie mach­ten ein Geschäft für ihre Schule.

Sie diagnostizierten, um an Geld zukommen. Es entsteht ein System,das von kategorisierten Defiziten derKinder lebt. "Manche Lehrer haben

gar keinen Anreiz, ein Kind voran­zubringen. Denn dann verlieren sieRessourcen im Unterricht wie etwa

Stunden für Sonderpädagogen", sagtBildungsexperte Zimpel. Schulsena­tor Ties Rabe sagt dazu: "Es gibt Ein­zelfälle des Missbrauchs."

Klar ist: Mit der Inklusion hat

das große Rechnen an den Schulenbegonnen. Wer das verstehen will,muss kurz eintauchen in die Welt der

Diagnosen, Fördertöpfe und Anträ­ge.Die Krankheitsbilder der Kinder

wurden in den vergangenen Jah­ren immer vielschichtiger. Alleindie Begriffe, die ihren Weg indie Klassenzimmer gefunden haben,zeigen das. Lehrer an Grundschu­len oder Stadtteilschulen unterrich­

ten nicht mehr nur den Gehörlosen

oder den Rollstuhlfahrer, sondernauch den Aggressiven, den Frustrier­ten, Depressiven, den Autisten, denLernschwachen, den Hyperaktiven.Manchmal kommen mehrere Dia­

gnosen zusammen.

Seit 2012 hat die Schulpolitik mitdem Begriff "LSE­Kinder" ein Eti­kett für diese jungen Menschen ge­funden, Menschen wie Linus. Sie ha­ben Schulbegleiter an ihrer Seite, dieoft frisch von der Schule kommenund den Kindern im Unterricht hel­fen. Oder sie manchmal einfach nur

festhalten, wenn sie wieder über dieTische steigen wollen.Früher gab es auch schon LSE­

Kinder, nur hießen sie noch nichtso. Oder ihr Platz war damals fast

ausschließlich die Förderschule. Siewuchs über Jahrzehnte zu einer Insel

im Hamburger Bildungsmeer, sie lag

fernab der Gymnasien und Realschu­len. Förderschulen haben Narrenfrei­

heit. Und jede Menge Betreuer, Leh­rer, Therapeuten, Sozialpädagogen,auch Fahrstühle und andere Extras

wie die Rollischaukel.In Jakobs Schule in Groß Borstel

befinden sich nicht nur Klassenräu­

me, sondern auch Therapieräume, indenen Kinder mit Pflegern und The­rapeuten gemeinsam arbeiten. "Wirbieten den Kindern auch einen soge­nannten Snoezelen­Raum", sagt Vol­ker Eikermann, Jakobs Schulleiter.Snoezelen, das Wort ist eine Mi­schung aus schnuppern und dösen­ Sinne schärfen mit Ruhe, Musikund Lichtern. Die Klassen an Ja­kobs Schule sind klein. Förderschu­

len sind teure Inseln im Schulsystem.Mit der Inklusion steht die Schul­

behörde vor einer kniffligen Aufga­be. Sie muss die Schulen fit machen

für Menschen mit Behinderungenund Lernschwächen aller Art. Es

muss ein Fördersystem aufgebautwerden, das der komplexen Dia­gnostik gerecht wird, irgendwie aufdie Besonderheiten von Stadtteilen,Schulen und Kindern eingeht. Unddas dennoch gut zu verwalten ist,praktikabel und trotzdem nicht für al­le gleich.Also erfand die Behörde im Som­

mer 2012 für Förderstunden die

"systemische Zuweisung". Nicht fürdie Rollstuhlfahrer und die Blinden.Sondern für die LSE­Kinder. Die Be­

hörde nahm an, es mit vier ProzentKindern in einem Jahrgang an derGrundschule zu tun zu haben, dieverhaltensauffällig sind und in ihrerSchulzeit gefördert werden müssen.Für die Stadtteilschulen ging die

Behörde von einem doppelt so ho­hen Wert aus, acht Prozent. Die "In­klusionskinder" waren jetzt gezählt,Pi mal Daumen jedenfalls. Und siebekamen eine Landkarte. In Stadt­

teilen wie Billstedt mit geringemEinkommen und schlechterem Bil­

dungsstand der Eltern berechnete dieBehörde einen hohen Sozialindex. Je

heißer der soziale Brennpunkt, destohöher der Faktor der Förderstunden.

Das war die Rechnung, eine Quo­ten­Inklusion von oben. Doch die

Zahlen, die der Schulsenator und sei­ne Verwalter vor allem für die Stadt­

teilschulen angesetzt hatten, warenzu niedrig. Die ersten Meldungen ka­men schon im April 2013: Inner­halb eines Jahres habe sich allein die

Zahl der Kinder mit "Defiziten in der

emotionalen und sozialen Entwick­

lung" von 478 auf 1078 mehr als ver­doppelt, heißt es. Mittlerweile fallen5732 Kinder in die Gruppe der Schü­ler, die Probleme mit dem Lernen,der Sprache oder ihren Emotionenhaben und nicht an einer Förderschu­

le lernen.

Die Folge war, dass manche Leh­rer krank wurden. Sie waren mit den

Anforderungen der Inklusion über­fordert ­ selbst Lehrer, die bereitsIntegrationsklassen im alten Systemunterrichtet hatten. In einem Berichtvon Professor Karl Dieter Schuck

von der Hamburger Universität heißtes, dass es an einer besonders belas­teten Stadtteilschule trotz aller Zu­sammenarbeit mit dem Landesin­

stitut zahlreiche Kündigungen und"emotionale Einbrüche" nach Be­

ginn der Inklusion gegeben habe.Der Druck auf die Behörde nahm

zu, sie musste handeln. Zum Be­ginn des vergangenen Schuljahresließ der Senator den Sozialindex für

158 Schulen neu berechnen. In die­

sem Sommer reagierte die Behördeerneut: Sie will auf Druck der Grü­nen Geld für eine "Feuerwehr­Reser­

ve" ausgeben mit vorerst 20 Pädago­gen, die schnell und für kurze Zeitan überforderten Schulen eingesetztwerden können. Derzeit arbeiten fünf

Lehrkräfte jeweils ein paar Stundenals Feuerwehrleute für die Inklusion

an 26 Stadtteilschulen.

Die Klassenzimmer von Schulen

in sozialen Brennpunkten sind be­sonders voll mit Kindern, die bei derSprache gefördert oder psychisch be­treut werden mussten. Um die Schu­

len zu entlasten, verteilt die Schulbe­hörde mittlerweile Schüler um.

Das heißt, dass Schulen man­che Schüler wegberaten ­ in andereStadtteile, an andere Schulen, in de­ren Klassenzimmer deutlich wenigerInklusionskinder sitzen.

Und nun entscheiden nicht mehrSozialfaktoren über die Ressourcen.

Stattdessen testen Schulen gemein­sam mit Fachleuten der Behörde

im Jahr vor dem Wechsel von der

Grundschule an die weiterführende

Schule den Bedarf eines Kindes. Je

nach Diagnose erhält eine Schule füreinen Schüler Geld. Das große Rech­nen ist geblieben.Und deshalb laufen Kinder wie

Menja seit der Inklusion an Ham­burgs Schulen mit zwei Rucksä­cken über den Pausenhof. In einem

Rucksack tragen sie ihre Schulbü­cher und die Federtasche, Der an­

dere Rucksack ist unsichtbar, aberer ist mindestens genauso wichtig.Vom "Rucksack" sprechen mancheLehrer und Bildungspolitiker auch,wenn sie das staatliche Fördergeldmeinen, das ein Kind mit an eineSchule bringt.In Menjas Rucksack an ihrer neu­

en Schule in Winterhude hegen13,41 Stunden Betreuung in der Wo­che. Das hat ihre Diagnose derSchule gebracht. Zeit, die Sozial­pädagogen nicht nur mit Menja imKlassenzimmer verbringen, sie müs­sen auch den Unterricht vorbereiten

und Förderpläne schreiben. In Men­jas Stufe sitzen noch andere Kinder,die einen Rucksack mit Ressourcen

tragen. Manchmal profitiert Menjavon den Stunden für Sozialpädago­gen der anderen Kinder. Und umge­kehrt. Ein Pool aus Helfern. Schullei­

terin Birgit Xylander sagt aber auch,dass die Ressourcen für eine durch­

gängige Doppelbesetzung nicht aus­reichen.

Von der Förderschule nach Hause,das ist für Jakob, der wie Menja mitdem Downsyndrom lebt, kein weiterWeg. Die Jensens wohnen in Lok­stedt, und dass Susanne Jensen sehrgeerdet wirkt, liegt vielleicht an den25 Jahren, die sie bereits hier lebt.Vor knapp anderthalb Jahrzehntenließen sie und ihr Mann das alte Ge­bäude abreißen und stellten ein neu­

es, schönes, bescheidenes Haus hin­ mit großer Fensterfront im Wohn­zimmer und grünem Garten. Susan­ne Jensen ist eine aufmerksame Zu­

hörerin, die ihre Sätze durchdenkt.Sie sagt: "Bei vielen Behinderungenkann ich mir Inklusion schlicht nicht

vorstellen. Es ist wichtig, dass esweiter Förderschulen gibt."Jakobs Mutter fühlt sich unter

Druck

Als Jakob, ihr Zweitgeborener,2001 auf die Welt kommt, ist Susan­

ne Jensen bereits 40. Em Wunsch­

kind, genau wie die sieben Jahreältere Tochter Harriet. Die Jen­sens verzichten auf eine riskante

Fruchtwasseruntersuchung, obwohlder Arzt feststellt, dass die Nacken­falte größer als normal ist ­ sie wollendas Leben des Kindes nicht gefähr­den. Es kommt, wie es kommt, sagensich die Eltern.

Heute sind die Jensens selbstbe­

wusste Eltern eines Sohnes, der an­ders ist als die meisten anderen ­ und

dessen Besonderheit sie in mancher­

lei Hinsicht immer herausgeforderthat. Zum Beispiel, wenn es darumgeht, herauszufinden, welche Schu­le die richtige für ihn ist. Jasper Jen­sen ist ein sachlicher Typ, der eben­so wenig wie seine Frau eindeutigeWorte scheut. Wenn er über das gro­ße, ambitionierte Projekt Inklusionspricht, hört man viel Wohlwollen ­aber auch Skepsis. Schulen brauch­ten andere Strukturen, als sie jetzt ha­ben. "Es gibt auch Lehrer, die viel­leicht gar keine Lust auf Inklusionhaben ­ und sich dementsprechendwenig Mühe geben." Inklusion, sagtJensen, sei ein langer Prozess, der In­vestitionen in Personal, Fortbildungund Lernkonzepte verlange.Wenn man mit den Eltern darüber

spricht, warum sie Jakob auf der För­derschule anmeldeten, wird vor al­lem deutlich, wie kompliziert einesolche Entscheidung auch im Nach­hinein noch ist ­ auch wenn sie sich

noch so sehr als die richtige heraus­gestellt hat. Susanne Jensen erzählt,dass es auch Eltern gegeben habe, diesie anklagend gefragt hätten, warumsie Jakob nicht in eine Regelschuleschickten. "So etwas finde ich nicht

gut."In der Grundschule gab es ein

enormes Bemühen seitens der Mit­

schüler um Jakob; aber den Jensenswar klar, dass das in der weiterfüh­renden Schule, in der Pubertät, auf­hört. Vielleicht hätten sich die Schü­ler nur noch aus Mitleid mit ihm

abgegeben ­ "hätten wir das wirklichgewollt?""Uns war wichtig", erklärt Jasper

Jensen, "dass er eine lebensprakti­sche Unterstützung erhält, dass erzum Beispiel Kochen lernt oder einGefühl für den Kalender bekommt

und weiß, welcher Tag heute ist."Jakobs Schulleiter Volker Eiker­

mann sagt, dass es im Unterrichtviel ums Riechen, Hören, Fühlen undSchmecken gehe. "Die Kinder ler­nen, wie ein Baum aussieht, und sielernen zu unterscheiden: zwischen

Stamm, Rinde, Blättern. Wie aber ei­ne Photosynthese oder Osmose funk­tioniert, können sie oft nicht ver­stehen und ist nicht Kern unseres

Unterrichts."Gelebte Inklusion ist für die Jen­

sens auch, dass das Thema nicht im­mer nur Jakobs Behinderung ist ­man merkt, dass sie bewusst dar­auf achten, auch als Eltern genü­gend Freiräume zu bekommen. FrauJensen lacht leise, wenn die Re­de auf Menschen mit Behinderungkommt, die fast "normal" leben undfest im Arbeitsleben stehen ­ solche

Geschichten sind manchmal viel­

leicht sogar zweifelhaft. Auf jedenFall fühlt sie sich von ihnen unter

Druck gesetzt. Sie fragt sich dann, obsie vielleicht nicht genug getan hat,ob Jakob vielleicht nicht doch noch

mehr Zeit, Förderung und Unterstüt­zung hätte bekommen müssen ­ woes doch oft heißt, dass man geradeKinder mit Downsyndrom so gut för­dern könne.

Was muss eine Mutter geben, da­mit es ihr Kind gut hat? Auf wasmuss die Mutter eines behinderten

Kindes verzichten, um Nachteile ih­res Sprösslings wettzumachen? "Ichbin auch nur ein Mensch mit eigenenBedürfnissen", sagt Jensen, "es gibtandere, die sich völlig aufopfern. Ichbekomme manchmal ein schlechtes

Gewissen." Seit einiger Zeit fährt ihrMann eine Woche im Jahr allein mitdem Sohn in Urlaub. Das ist dann ein

Männerding, vor allem aber hat siedann eine Woche für sich.

Im Hausflur der Jensens hängenFamilienfotos. Jakob als Kleinkind,Frau Jensen als junge Frau, ein Hoch­zeitsfoto. Und eines aus der Ah­

nengalerie der Jensens: UrgroßvaterWilhelm Jensen war Autor und stritt

sich auch mal mit Sigmund Freud,erzählt Jasper Jensen. Freud schriebeine Abhandlung über Jensens No­velle "Gradiva" und nahm Kontakt

zum Autor auf ­ der hatte aber, sagtJasper Jensen und lacht, "keine Lust,

sich ödipale Konflikte einreden zulassen". An Unis ist der KomplexFreud/Jensen noch heute Lernstoff.Ein Schulleiter wie Volker Eiker­

mann sagt: "Inklusion ist jung. Dasbraucht zwei Generationen, bis dieGesellschaft das Leben mit Men­

schen mit Behinderungen als normalempfindet." Für die Politik ist Inklu­sion jedoch nicht die Zukunft, sieist die Gegenwart. Schulsenator TiesRabe sagt: "Die Abstimmung läuftim Sinne der Inklusion." Was heißt,dass immer mehr Kinder mit För­

derbedarf an Regel schulen statt anFörderschulen unterrichtet werden.

Auf Rabes Geheiß begann im Julidas, was er selbst eine "Inklusionsof­fensive" nennt. Derzeit sind es 850

zusätzliche Lehrer, die für die son­derpädagogische Förderung zustän­dig sind, in zwei Jahren sollen es1130 sein, der größte Teil von ih­nen für die LSE­Schüler. Doch den

Schulen ist das viel zu wenig: DieLeiter der Stadtteilschulen forderten

nach Rabes Ankündigung in einemBrief an den Schulsenator noch be­deutend mehr Personal für Unter­

richt und Betreuung der Kinder mitsonderpädagogischem Förderbedarf.Weil im Januar herauskam, dass esdeutlich mehr Kinder wie Linus gibtals bislang von der Schulbehörde an­genommen: Statt bei gut vier Prozentliegt die Quote bei 6,6 Prozent. Des­halb wollen die Schulleiter bis 2020

jedes Jahr 100 zusätzliche Lehrer.SPD­Politiker Ties Rabe ist seit

2011 Chef der Schulbehörde, Und er

verfolgt nach eigener Aussage klardas Modell der Wahlmöglichkeiten:Eltern sollen selbst entscheiden, obsie ihr Kind auf eine Regel­ oder ineine Förderschule geben. In Ties Ra­bes Logik schafft sich das Wahlrechtim Laufe der Zeit von selbst ab ­

wenn die Haltung der Gesellschafteine andere geworden ist und In­klusion eine Selbstverständlichkeit;so selbstverständlich, dass der Be­griff Inklusion sogar selbst überflüs­sig werde.Ties Rabe will vor allem behutsam

sein, das merkt man bei dem, was erzu dem großen Bildungsprojekt sagtund als Handelnder beiträgt. Es isteine Lehre aus der Schulpolitik dervergangenen Jahre. Wer zu schnell

ein System umwirft, landet auf derNase. Ties Rabes Vorgängerin ver­rannte sich im Thema Primarschule

und holte sich beim Volksentscheid

eine legendäre Niederlage ab. Seit­dem ist gerade in Hamburg die Angstgroß, dass erneut ein Mann wie Pri­marschulgegner Walter Scheuerl aufden Plan tritt.

Rabe hat auch schon seine Sträu­

ße ausgefochten: Vor den Wahlenpiesackte ihn die Bildungsexpertinder Grünen, Stefanie von Berg, mitPlänen, die über das hinausgingen,was der SPD­Mann in Aussicht stell­te. Von 550 zusätzlichen Stellen für

Sonderschulpädagogen in den Schu­len war bei den Grünen die Rede. Bei

den Koalitionsverhandlungen war esdann so, sagt Rabe, dass die Grü­nen lieber für größere Ausgaben inihren eigenen Ressorts argumentierthaben. Stefanie von Berg stimmteübrigens gegen den Koalitionsver­trag ­ wegen der Schulpolitik vonRot­Grün.

Rabe findet, dass sich die Zah­len an den Hamburger Schulen sehenlassen können: So sei die Zahl der

Schulbegleitungen bei LSE­Kindernin den vergangenen fünf Jahren von300 auf 1300 gestiegen. Was Rabezu der Aussage veranlasst, dass "keinanderes Bundesland derart gewaltigeRessourcen" für die Inklusion einset­

ze. Rabe sagt jedoch auch, dass ernicht abstreiten könne, dass mancheLehrer mit den neuen Herausforde­

rungen am Anfang überfordert seien,"aber Inklusion kann man lernen".

Schulsenator Ties Rabe: läuftdoch!

In der Bildungsoffensive sollenbis 2017 zusätzliche Fortbildungenangeboten werden. Innerhalb der30 Stunden, die sich jeder Leh­rer im Jahr fortbildet, sind inklusi­onsbezogene Angebote freilich nichtverpflichtend. Grünen­Expertin Ste­fanie von Berg sagt, dass die "Fort­bildung der Lehrer bei der Unter­richtsgestaltung, der Diagnostik undder Teamfähigkeit" ganz entschei­dend sei. Sie sieht Hamburg aufkeinem sonderlich guten Weg undempfiehlt den Blick nach Nord­rhein­Westfalen, wo ihrer Meinungnach die Fortbildungsangebote bes­ser sind ­ "dort werden Lehrer block­

weise drei Jahre in Folge intensivmit den Anforderungen der Inklusi­on vertraut gemacht". Da falle dannwegen der Fortbildungsmodule auchmal Unterricht aus, "aber die Qualitätdes Unterrichts verbessert sich". Ra­

be sei aber strikt gegen Unterrichts­ausfall, "damit wird es schwierigermit der Lehrerfortbildung und damitauch der Inklusion',

Für von Berg ist klar, dass gu­te Inklusion vor allem etwas mit

"einzelnen, herausragenden Akteu­ren, mit gut ausgebildeten und moti­vierten Schulleitern, Pädagogen undauch verständigen Eltern zu tun hat".Und sie glaubt, dass Inklusion erst in30, 40 Jahren in idealer Weise funk­tionieren wird, "das werde ich nichtmehr erleben."

Rabe weiß durchaus, wie es inden Klassenzimmern aussieht. Vor

zwei Jahren gab er bei der Ham­burger Uni eine Studie in Auftrag,die den Stand der Inklusion und vor

allem auch die Akzeptanz bei denLehrern abbilden sollte. Die Wis­

senschaftler gingen in Grund­ undStadtteilschulen ­ und brachten eini­

ge Erkenntnisse mit. Einerseits seiein neues Verständnis für behinder­

te und beeinträchtigte Kinder ent­standen, heißt es; zudem werde dieAnwesenheit von Sonderpädagogenbegrüßt. Andererseits würden aberdie andauernden Defizitgefühle we­gen des Know­how­Mangels und ei­ne Veränderung der Wahrnehmungdurch die "Etikettierungspflicht" derKinder mit Förderbedarf beklagt ­denn widerspricht nicht gerade jedesEtikett der Idee der Inklusion?

Und manche Lehrer äußern laut

Studie gar die Befürchtung, dass dasSystem der Stadtteilschulen kippenkönne, "hin zu einer neuen Förder­schule, weil immer weniger gute unddas Klassensystem stärkende Kinderund immer mehr Kinder aus belas­

teten Elternhäusern in die Stadtteil­

schulen kommen".

Dabei kann sich die Leistung derStadtteilschulen in Hamburg durch­aus sehen lassen: 2015 machten

fast 3000 junge Menschen dort dasAbitur. Manche fürchten dennoch,

dass Stadtteilschulen gerade durchdie Last der Inklusion die "Rester­

ampen" des Bildungssystems wer­

den. Auch, weil das Gymnasium fastnichts von dieser Last trägt.Noch vor wenigen Wochen stell­

ten Forscher in einer Studie der

Bertelsmann­Stiftung fest, dass inDeutschland unverändert gelte: Jehöher die Bildungsstufe, desto gerin­ger die Chancen auf Inklusion.Nur 2,9 Prozent aller Inklusions­

kinder in Hamburg besuchten 2014nach der Grundschule ein Gymnasi­um, 94,7 Prozent eine Stadtteilschu­le,

Schon 2012 schrieb die Ham­

burger Lehrerkammer in einer öf­fentlichen Stellungnahme, dass nichtnachzuvollziehen sei, warum anGymnasien nur sukzessive an ein­zelnen Standorten "konzeptionell gutvorbereitete integrative Lerngruppenentstehen" sollen, während Stadtteil­schulen prinzipiell ohne vergleich­bar gute Vorbereitung zur Inklusionin einer Klasse jederzeit in der Lagesein sollen.

Birgit Xylander, Leiterin an Men­jas neuer Schule, hebt hervor, dassdas Gymnasium eine privilegier­te Bildungseinrichtung bleibe unddie Stadtteilschulen die Aufgabeder Inklusion alleine tragen würden."Bleibt es so, kommen wir nie zueiner echten Inklusion." Astrid Bü­

renheide, Menjas Grundschullehre­rin, sagt, dass es Mut brauche, dasgymnasiale Denken in Noten, vor­gegebenen Lehrplänen und zentralenPrüfungen aufzuweichen.Das Bildungsmonopol Gymnasi­

um bleibt unangetastet. Auch wennsich das Gymnasium neuen Lehrfor­men geöffnet hat, geht es im Kernum Zensuren, Leistung und die Vor­bereitung auf die Hochschule.CDU­Politikerin Karin Prien hebt

hervor, dass ein Unterricht mit ganzverschiedenen Zielen für jeden Schü­ler einer Klasse mit dem Bildungs­auftrag des Gymnasiums nicht ver­einbar sei. "Das Abitur­Niveau wärenicht haltbar." Zudem fehlten den

Gymnasien Sozialpädagogen wie anStadtteilschulen, die Lehrer seien

nicht inklusiv ausgebildet, die Schul­etats knapp.Und so heißt es nun zwar in Pa­

ragraf 12 des Schulgesetzes, dass je­der Schüler das Recht hat, eine all­gemeine Schule zu besuchen, also

auch ein Gymnasium. Doch der Para­graf 42, Absatz 5, bietet Gymnasieneinen exklusiven Schutz vor schwa­

chen Schülern. Dort ist festgeschrie­ben, dass die Lehrerkonferenz vomÜbergang von Klasse 6 zu Klasse 7entscheidet, ob ein Schüler den "An­forderungen des achtjährigen gym­nasialen Bildungsgangs gewachsensein wird". Ob er bleibt oder geht.So ist es die Stadtteilschule, die

unter den Erfordernissen der Inklu­sion ächzt ­ und von deren Personal

Rabe die Bewältigung aller Heraus­forderungen verlangt.Auf den Ruf nach immer mehr

Lehrern reagiert Ties Rabe zwar ge­legentlich mit Neueinstellungen, vorallem aber verweist er stoisch auf

die positiven Beispiele für Inklusion­ und nimmt gleichzeitig die Lehrerin die Pflicht. Mehr Personal für ei­

ne bessere Inklusion, sagt Ties Ra­be, sei oft gar nicht nötig ­ "es gehtum den gut ausgebildeten Lehrer, derauch mal allein in der Klasse stehen

und einen individualisierten Unter­

richtorganisieren kann, das ist Inklu­sion". Wer sage, in jeder Inklusi­onsklasse müssten zwei Lehrer sein,habe Inklusion völlig missverstan­den.

Rabe ist auch der Meinung, dassheute manchmal Fälle mit dem Si­

gnalwort "Inklusion" etikettiert wür­den, die früher einfach nur unter demSignum "disziplinarische Probleme"liefen: "Ich lese immer wieder Hor­

rorgeschichten von aggressiven, zap­peligen und unaufmerksamen Schü­lern. In den meisten Schulen wären

diese Schüler auch ohne Inklusion

gewesen."

Menja wird Teil eines Experi­ments

Menjas Teddybär hat jetzt ei­ne neue Funktion. Er ist ein Ball.

Und Menja wirft ihn Luna zu, Lu­na schmeißt ihn weiter zu Joycelyn.Dann landet der Teddy wieder beiMenja. Ihre Klasse hat gerade Pause,gleich geht für Menja der Englisch­unterricht los. Seit fünf Tagen ist siein ihrer neuen Schule, der Winterhu­der Reformschule. Und sie hat auch

schon neue Freunde. Menja lacht,manchmal grunzt sie, wenn ihr etwasSpaß macht. Und das Spiel mit demTeddy und mit Luna und Joycelyn

macht ihr gerade sehr viel Spaß. Ver­misst du deine alte Schule, Menja?Nein!

Menjas neue Schule ist ein Ex­periment. In Menjas Jahrgang sindnicht nur Fünftklässler, sondern auchSechstklässler und Siebtklässler. Äl­tere Schüler lernen gemeinsam mitjüngeren, helfen bei Fragen und Auf­gaben. Anstelle eines festen Stun­denplans haben die Kinder Stundenfür Projektarbeit, es gibt das Atelierund Werkstätten. Eigenverantwort­lichkeit ist der Schule wichtig. Menjakann wählen, ob sie Theater spielenmöchte oder lieber im Stadtpark, obsie mit Holz basteln will oder lieber

mit Texten. "Die Mutter hat gesagt,Menja soll etwas machen, wo sie sichbewegt", sagt Menjas Schulbegleite­rin Nicola Schulz. Also wählt sie für

Menja Volleyball und Musik aus.Die Schule in Winterhude setzt auf

Freiwilligkeit und nicht auf Pflicht.Jeder Schüler trägt in sein Logbuchein, was er diese Woche vorhat undwas er am Ende der Woche davon er­

reicht hat. Alle zwei Wochen sollen

Lehrer und Schüler in Gesprächenden Unterricht miteinander planen.Wo gibt es Schwierigkeiten? Wassoll vertieft werden? Deutsch, Ma­the, Englisch und Gesellschaft sindfest im Stundenplan, die "kulturelleBasis", wie sie hier die Fächer nen­nen. Auch Tests sind nicht vorgege­ben. Aber Schüler sagten von sichaus, dass sie testen wollen, wo siestehen, sagen Lehrer.Menja sitzt im Stuhlkreis, links

Schulbegleiterin Schulz, rechts FrauZuse, die Sozialpädagogin. Eng­lischunterricht. Die Schüler stellen

sich Fragen: What is your name?Where are you from? "My name isMenja!" Dann stockt sie, fasst mitihren Händen an den Rock, schaut

nach unten, fasst sich m die Haare.Ihre Finger sind immer in Bewegung."Where are you from?", fragt die So­zialpädagogin noch einmal langsa­mer. Menja schaut hoch. "Are youfrom Hamburg?", fragt die Lehrerin."Hamburg", sagt Menja.Katharina und Arwen sitzen auch

im Stuhlkreis, sie sind Schülerinnender siebten Klasse. "Das sind eu­

re Experten", sagt Lehrerin Zimmer­mann zu den neuen Schülern wie

Menja, "die könnt ihr genauso fra­gen wie mich." Bis zur neunten Klas­se vergeben die Lehrer an der Win­terhuder Reformschule keine Noten,aber Zertifikate.

Die Radkes sind sich nach den

ersten Wochen im neuen Schuljahrnoch nicht sicher, ob dieses Experi­ment, das Schülern viel Verantwor­tung überlässt, für Menja funktio­nieren wird. "Eigentlich braucht sieklare Ansagen, klare Struktur", sagendie Eltern. Mit einem Logbuch kannsie wenig anfangen. Bisher trägt dieSchulbegleiterin Nicola Schulz fastalles ein.

In zehn Minuten ist Menjas ersteEnglischstunde an der neuen Schu­le vorbei. Und die Sozialpädagoginschickt sie mit Nicola Schulz und ei­

nem CD­Player raus aus der Klas­se auf den Flur. Nicola ist jetzt mitMenja allein. "This is big. And thisis small", singt ein Mann zur Mu­sik. Und Nicola denkt sich für Men­

ja Tanzbewegungen aus. Bei "small"bücken sie sich, bei "big" strecken siedie Arme weit nach oben. Schulz ist

jetzt Menjas Englischlehrerin. Dabeiist sie selbst noch gar nicht so langefertig mit der Schule.Ungelernte Kräfte als Schulbe­

gleiterWo die Politik nicht mehr Res­

sourcen freigibt, müssen ungelernteHilfskräfte günstig einspringen, auchbei der Inklusion. Noch 2013 standdie Behörde vor einem Haufen un­

bearbeiteter Anträge. Bei fast gleich­bleibender Kinderzahl hatte sich die

Menge der Anträge für die Beglei­ter innerhalb von zwei Jahren nahezu

verachtfacht. Statt wie bislang zweiSachbearbeiter kümmerten sich fünf

Mitarbeiter um die Bewilligungen.Die Behörde reagierte auf die Nach­frage und sorgte für mehr Schulbe­gleiter, alleine 2014 stieg die Zahlvon 860 auf 1569. Vieles sind Son­

derpädagogen, etliche aber auch un­ausgebildete Freiwillige, von denensich manche schnell überfordert füh­

len.

Und noch immer fehlt Personal,können selbst bewilligte Stellen füreinen Betreuer nicht besetzt werden.

Mehrere soziale Dienste wie die Dia­

konie haben ihre Sonderpädagogenaus dem Schulbetrieb abgezogen.Mit dem Stundenlohn der Behörde

können sie ihre Leute nicht bezah­

len. 30,41 Euro Stundensatz zahlt derStaat den Diensten, damit sie eineFachkraft zu den Inklusionskindernin die Klasse schicken. Bei Erziehern

nur knapp 27 Euro. Zu wenig, umdas Personal angemessen zu bezah­len, sagen einige Träger. SozialundSonderpädagogen fehlen an den Re­gelschulen auch, "weil der Markt wieleergefegt ist", wie die Schulbehör­de sagt ­ viele würden nun auch beider Betreuung der Flüchtlinge ge­braucht.

Also müssen unausgebildete Men­schen Aufgaben der Fachkräfte über­nehmen. Das bestätigen auch sozialeDienste und Pädagogen an Schu­len. Eine spricht von "Notbesetzung"heute, wo früher "Doppelbesetzung"galt. Wie aus einer Anfrage der FDPan den Senat hervorgeht, hat etwader Elternrat der Schule Alter Teich­

weg Alarm geschlagen: In diesemSchuljahr würden überwiegend un­geschulte Bundesfreiwillige einge­setzt ­ auch in Fällen, in denen einsonderpädagogisches Gutachten ex­plizit den Einsatz von Fachkräftenfordert.

CDU­Bildungsexpertin KarinPrien ist der Meinung, dass derEinsatz "junger, nicht ausgebildeterMenschen" als Schulbegleiter die In­klusion gefährde. Auch sie höre vonSchulleitungen, dass "diese Men­schen häufig sogar Aufgaben derSonderpädagogen übernehmen müs­sen, weil zu wenige Fachkräfte imKlassenzimmer sind". Statt auf über­

forderte Begleiter sollte im Regelun­terricht vermehrt auf Erzieher gesetztwerden: "So können wir eine Dop­pelbesetzung in der Inklusion bessererreichen, ohne dabei auf Laien zuvertrauen." Doch das kostet. Manche

sagen zudem, dass nicht jedes Kindmit Förderbedarf jederzeit einen Er­zieher neben sich brauche. Wer nur

über den Mangel an Schulbegleiternklage, schiebe die Inklusion schnellab, weg von der Verantwortung derLehrer und Eltern.

Auch Menjas frühere Schulbeglei­terin Feline kam selbst gerade erstvon der Schule und sagt, dass sie sicham Anfang mit dieser Aufgabe über­fordert gefühlt habe. Sie sei kaum aufdie Arbeit mit Kindern mit Down­

syndrom oder Autismus vorbereitetworden, und die Lehrer hatten wenigZeit, sie anzulernen. Im Laufe desJahres habe sie Menja aber sehr liebgewonnen, Sicherheit gefunden undMenjas Vertrauen.Nun ist Feline weg. Neben Men­

ja sitzt Nicola Schulz. 400 Eu­ro verdient sie im Monat für den32­Stunden­Job in ihrem freiwilli­

gen sozialen Jahr mit Menja. Nico­la Schulz fühlt sich auf die Arbeit

durch Seminare gut vorbereitet. Spä­ter möchte sie Lehramt studieren.

In der letzten Stunde an diesem

Tag sitzt Menja mit den anderenSchülern und ihren Klassenlehrern

Frau Grand und Herrn Emde in ei­

nem Stuhlkreis. Jeden Freitag, nachihrer Zeit in Werkstätten und Lern­

gruppen, sich Menjas Klasse zumKlassenrat.

Es gibt einen Präsidenten, einenSchriftführer und einen Regelwäch­ter. Wer etwas sagen will, muss sichmelden. Auch die Lehrer. Jetzt be­

sprechen die Schüler gerade, welcheSpiele sie mitnehmen wollen auf dieKlassenreise nach Juist. "Monopo­ly", sagt einer, "Kniffel" eine andere.Zum Ende der Stunde schlägt die

Lehrerin noch eine Lobrunde vor. Je­

der sagt ein paar Worte. "Ich habe einLob an die ganze Klasse, weil wir al­le immer sehr nett zueinander sind",sagt Lara. Einer dankt seinem bestenFreund, dass der immer so lustig sei.Und Menja spricht von der Klassen­reise und davon, dass sie sich sehrdarauf freue und auch ihr Teddy mit­komme. Schulbegleiterin Schulz lobtdie Klasse. Und dann sagt sie noch:"Ich möchte Luna und Joycelyn dan­ken, dass sie sich so gut um Menjakümmern und mir ein bisschen Ar­

beit abnehmen."

Ein Irrtum bei Linus Schulstart

Als hätten die Spannungen, diees im letzten Schuljahr an deralten Schule gab, nicht gereicht,ist auch der Start an der neuen

erst einmal problematisch. SimoneGeercken geht mit Linus fälsch­licherweise zur offiziellen Vorein­

schulung, ein Tag, an dem 100 Neu­ankömmlinge aufgeregt in der Aulaihrer neuen Schule stehen. Ein Miss­

verständnis, sagt Geercken.Richtig gut kommt das bei der

Stadtteilschule Blankenese nicht an,sie hatte sich das anders gedacht: Li­nus, das Inklusionskind, sollte einenexklusiven Einführungstag erhalten.So kam es dann auch. "Wir halten das

für einen verantwortlichen Schritt",sagt Mathias Morgenroth­Marwedel,der Schulleiter in Blankenese, "wirwollten auch ihm nicht zu viel zumu­

ten."

Es gibt auf seiner Schule derzeitunter den 1100 Schülern etwa 70

Kinder, die zur Kategorie "Inklusi­on" gehören. Morgenroth­Marwedelist sich nicht sicher, ob seine Schu­le die richtige für Linus ist. WeilLinus ihm als besondere Herausfor­

derung bekannt ist, er kommt nichtals unbeschriebenes Blatt, sonderndurch den engen Austausch mit sei­ner alten Schule und der Schulbe­

hörde als hell ausgeleuchteter "Fall".Und zwar so hell ausgeleuchtet, dassman sich aufseiten der Schule da­

gegen entschied, einen Zeitungsre­porter mit ins Klassenzimmer zulassen. Inklusion bedeute, sagt Mor­genroth­Marwedel, "dass keiner ei­nen Sonderstatus hat und ein Journa­

list ihn begleitet".Den Sonderstatus hat Linus als

Inklusionskind, an dessen Seite im­mer ein Schulbegleiter ist, aber so­wieso; und man muss wohl ir­

gendwie verstehen, wie vorsichtigMorgenroth­Marwedel ist ­ und wienervös. Vielleicht ist die Stadtteil­

schule Blankenese mit Linus über­

fordert. Morgenroth­Marwedel bautwie Sven Volpert, der als Abtei­lungsleiter verantwortlich für dieKlassen fünf bis sieben ist, schoneinmal vor. Volpert sagt, dass sei­ne Schule nur offiziell Schwerpunkt­schule für Autismus sei, "das heißt,dass keiner unserer Lehrer auf je­de Situation vorbereitet ist". Volperthofft, dass jeder neue Lehrer genaudafür die richtige Ausbildung mit­bringt.Dreieinhalb Stellen sind in der

Stadtteilschule Blankenese mit Son­

derpädagogen besetzt. Das ist nichtviel. Deshalb meint Volpert auch die­se schmale Expertenfraktion, wenner von der ewigen und "grundsätz­lichen Mangelwirtschaft" in Schulenspricht, "es gibt von allem zu we­nig, angefangen bei den PC". Kein

Wunder, dass sie große Erwartun­gen an die Schulbegleiter haben. WerKinder unterrichten muss, die schwerzu unterrichten sind, der delegiertTeilverantwortung zwangsläufig anjemand anderen. Simone Geerckenweiß jedenfalls genau, woran sie ist:Von der Schule gab es einen unmiss­verständlichen Brief, in dem stand,dass Linus das Schulgelände nur mitBegleiter betreten dürfe. Wenn derkrank ist, fällt die Schule für Li­nus aus. "Und ich muss einspringen",sagt Geercken. Sie sieht ihre beruf­liche Existenz gefährdet, wieder ein­mal. Sie findet, dass die Schule sichaus der Verantwortung zieht, wennsie alles vom Schulbegleiter abhän­gig macht.Der Lehrer Volpert ist übrigens

überzeugt, dass Lehrer auch Leh­rer geworden sind, um pädagogi­sche Herausforderungen zu meistern.Aber er ist der Meinung, dass In­klusion ("Eine Operation am offe­nen Herzen") scheitern kann. "Eswird sich in den nächsten Jahren

unter Umständen zeigen, dass ir­gendwann bei manchen Schülern dieMittel versagen", sagt auch Morgen­roth­Marwedel. Er spricht von klei­nen Arbeitsgruppen, in denen man­che Kinder eben besser aufgehobensein könnten.

Katharina Beeth­Heitsch, die Li­nus als Leiterin der Schule Iserbrook

vier Jahre erlebt hat, sagt: "Er musseigentlich in einer deutlich kleinerenLerngruppe als einer Klasse in einerRegelschule unterrichtet werden."Mathias Morgenroth­Marwedel

sagt: "Linus ist ein Grenzfall, derüber die Möglichkeiten von Inklusi­on hinausgeht."Hat die Stadtteilschule Blankene­

se Linus schon abgeschrieben, be­vor es richtig losgeht? Es sei, soVolpert, schon in der ersten Woche,die eigentlich nur dem Kennenlernendienen sollte, zu Situationen gekom­men, "die auf Dauer nicht tragbarsind ­ es wird gerade in der Anfangs­zeit darum gehen, ihn unterrichtsfä­hig zu machen". "Unterrichtsfähig"heißt, dass er seine Mitschüler inder Deutsch­ oder Mathestunde nicht

stört. Und dass er selbst etwas lernt.

Simone Geercken wirkt in den ers­

ten Tagen des neuen Schuljahres ein

bisschen resigniert. Linus tut sichschwer in der neuen Umgebung. Sei­ne Mutter weiß, dass er schon eini­ge Male den Klassenraum verlassenmusste.

Denkt sie nicht doch manchmal an

die im Falle ihres Sohnes oft ins Spielgebrachte "kleine Lerngruppe" ab­seits der Regelschule? "Inklusion umjeden Preis ist wahrscheinlich nichtmachbar, aber die Alternative ist mi­serabel ­ eine kleine Lerngruppe fürLinus würde nur bedeuten, dass erein paar Stunden pro Woche in dieFörderschule geht."Der Märchenheld mit Förderbe­

darf

Diese Lerngruppen sind auf einenZeitraum begrenzt und ausdrücklichim Schulgesetz vermerkt. Die Schu­len können im Fall einer Unbeschul­

barkeit Schüler an Förderschulen un­

terbringen. Die Gruppen heißen dann"Brückenklassen" ­ im optimalenFall werden die Schüler dort für die

Rückkehr in die Stammklasse fit ge­macht. Trotzdem kann diese Alterna­

tive nicht verdecken, dass jene Artvon Inklusion stark an die alte Segre­gation erinnert.Eine auf Linus' Bedürfnisse als

ADH S ­Asperger­ Patient zugeschnit­tene Lerneinheit gibt es in Hamburgnicht. Und so ist der Zehnjährige,so sieht es derzeit aus, auf beidenSchultypen verloren: der Regel undder Förderschule. Überdies ist Linuslängst in einer kleinen Lerngruppe:Er ist derzeit nur von acht bis zehn

in der Schule, dann wird er abgeholtund in die Tagesgruppe des Heilpäd­agogischen Heilzentrums Friedrichs­hulde gebracht, wo er mit maximalsieben Kindern gleichzeitig betreutwird. Später soll er bis zwölf in derSchule bleiben.

Für Linus, das Inklusionskind aneiner Regelschule, dessen Mutter er­bittert für ihr Kind kämpft, gilt vonAnfang an ein ganz anderer Stunden­plan als für seine Mitschüler.Professor Andre Frank Zimpel er­

zählt gern ein Märchen. Schneewitt­chens Retter sei nicht der schöne und

starke Prinz, sagt er. Sondern derkleinste der sieben Zwerge, ein Heldmit Förderbedarf, zumindest, was dieGröße anlangt. Erst als er mit demSarg in der Hand stolpert, rutscht

Schneewittchen der vergiftete Apfelaus dem Hals. Sie erwacht.

Der Wert eines Menschen ent­

scheide sich nicht an seiner körperli­chen und geistigen Stärke, sagt An­dre Frank Zimpel. Das klingt banal.Aber am Ende geht es in der Debat­te über die Inklusion um nicht weni­

ger als um eine Haltung von Menschzu Mensch. Um die große Idee, wiewir leben wollen. Und gerade des­halb wird darum viel und laut gestrit­ten.

Kurz nach Ende der Ferien fuhr

Menja mit ihren Mitschülern für ei­ne Woche auf die Nordseeinsel Juist.

Sie wanderten im Watt, spielten amStrand im Sand, schauten sich Kreb­se und Wattwürmer unter dem Mi­

kroskop an. Menja habe vieles sehrgut mitgemacht, nahm sich selbst dasAbendbrot am Büfett. Schon auf der

Fähre zur Insel spielte sie Verste­cken mit den anderen. Für manches

brauchte sie mehr Zeit, und als die

anderen für ein paar Stunden um dieInsel wanderten, blieb sie mit ihrerSchulbegleiterin am Strand, zwei an­dere Schüler sagten, dass sie auchlieber mit Menja am Strand spielenwollen, erzählt der Lehrer.Manchmal hatte Menja auf der

Klassenfahrt auch wieder ihre Null­

Bock­Phase, weinte, wenn sie lie­ber malen und nicht mit den anderen

spielen wollte. Vieles war neu, vielesanstrengend für sie. "Aber nicht im­mer hat sie eine Extrawurst bekom­

men", sagt ihr Lehrer. An den Ta­gen nach der Reise ist sie morgenskaum aus dem Bett gekommen, woll­te nicht in die Schule, war müde. Ba­bette Radke drohte: kein Fernsehen,kein Nutella. Man merkte, dass dieReise Menja Kraft gekostet habe. Siesei aber, sagen ihre Klassenlehrer,auf der Fahrt auch angekommen inihrer neuen Klasse.

Auch für Jakob gab es auf seinerSchule in Groß Borstel viel Neues,als der Unterricht nach den großenFerien wieder losging. Neue Lehrer,zu Hause der Abschied von der regel­mäßig von seinen Eltern engagier­ten Betreuerin. Was sind die Her­

ausforderungen im neuen Schuljahr?"Jakob soll lernen, selbstständig zurSchule zu gehen", sagt Susanne Jen­sen, und dann fügt sie lächelnd hinzu:

"Wir hoffen, dass er langsam Lustdaraufbekommt zu arbeiten, also dieSchule zu verlassen."Bei Jakob ist es wohl so wie bei

allen Jugendlichen seines Alters. Erist nicht unbedingt der Fleißigste."Stinkfaul" ist das Wort, das den Jen­sens dafür einfällt, sie lachen und tundas nicht einmal gequält. Im Fallevon Jakob hat es mit der Entdeckungder Arbeitswelt jedoch eine besonde­re Bewandtnis, denn an ihr bemisstsich die Dauer der Schulzeit. Jakob

kann nach zehn, vielleicht auch erstnach elf oder zwölf Schuljahren dieFörderschule verlassen. "Wir rech­

nen eher mit einer etwas längerenSchulzeit", sagt Susanne Jensen. ImHerbst gehen Jakob und seine Muttererst einmal drei Wochen auf Kur imSchwarzwald.

Und Linus? Er ist dabei, sich andie neue Schule zu gewöhnen. In derTagesgruppe gefällt es ihm. Seinenalten Schulbegleiter vermisst er abermanchmal bitterlich, mit dem neuenläuft es noch nicht gut.Veränderungen sind für Linus

schwer zu ertragen, aber auch erist ein junger Mensch, der reift.Ob ihn seine neue Schule in

Blankenese"schulfähig" bekommt?Das kann noch niemand sagen. DieChancen sind da, wenn pädagogi­scher Ehrgeiz über alle Hindernis­se siegt. Es wäre das Resultat gro­ßer Anstrengungen. Es wäre dasWerk von Lehrern und Schulleitern,die vor den Anforderungen, mögensie manchmal auch Überforderungensein, nicht kapitulieren.Es wäre ein Triumph der Inklusi­

on.

Wichtige Links zur InklusionInformationen finden Sie beim

Hamburger Bildungsserver: http://bildungsserver.hamburg.de/inklusion/ Weitere Hintergründe zudem Thema auch unter: http://www.hamburg.de/inklusion­schuleEltern, Lehrer und Gewerkschaf­

ter haben sich in Hamburg als Inter­essenverband zusammengeschlos­sen: http://buendnis­inklusion.de/Fast täglich erreichen mich Hil­

ferufe frustrierter Schüler, allein­gelassener Lehrkräfte und ver­zweifelter Eltern. Karin Prien,CDU­Politikerin

Inklusion ist jung. Das brauchtzwei Generationen, bis die Gesell­schaft das Leben mit Menschen

mit Behinderungen als normalempfindet. Volker Eikermann,Schulleiter

ADHS, Autismus, Downsyndrom ­was ist das?

Autismus bei Kindern gehört zu dentief greifenden Beeinträchtigungenin der Entwicklung eines Menschen,deren Auswirkungen bis ins Erwach­senenalter bestehen bleiben können.Die Krankheitsbilder sind sehr viel­

fältig. Die Kinder fallen laut Autis­mus­Institut Hamburg dadurch auf,dass sie wenig Gestik und Mimikeinsetzen und Blicken ausweichen,sie meiden soziale Kontakte und zei­

gen selbst wenig Emotionen. Häufigreagiert das Kind gestresst auf lauteGeräusche. Mediziner gehen davonaus, dass autistische Störungen vorallem durch Veränderungen im Erb­gut bedingt sind. Das Kind lernt ofterst verspätet die Sprache und dannnur unvollständig. Oft interessierensich Autisten für spezielle Dinge, wiezum Beispiel Lichtschalter, Druckeroder Wasserhähne.

Die Merkmale des Asperger­Syn­droms entsprechen in großen Tei­len denen der autistischen Störungen,sind oft aber etwas abgeschwächt.Auch hier flüchten Kinder vor dem

Blickkontakt und nehmen die Ge­fühle anderer kaum wahr, stellt derBundesverband Autismus Deutsch­

land fest. Im Gegensatz zum Au­tismus ist die Sprache meist vollentwickelt, wirkt aber nach Anga­ben des Autismus­Instituts Hamburgmanchmal "etwas altklug oder pe­dantisch". Die meisten Menschen

mit Asperger­Syndrom besitzen ei­ne durchschnittliche, in Teilgebietenbesonders hohe Intelligenz. Sie fal­len durch ihre Spezialinteressen auf,wie etwa Computer, Autos oder Di­nosaurier. Zudem haben Menschen

mit dieser Diagnose neben einem gu­ten Gedächtnis für Spezielles häu­fig einen starken Sinn für Gerech­tigkeit. Oftmals verbirgt sich beiKindern das Asperger­Syndrom jah­relang hinter einer ADHS­Diagnose.ADHS liegt vor, wenn ein Kindein unaufmerksames und impulsivesVerhalten zeigt, bei dem laut Ar­

beitsgemeinschaft ADHS e. V. zu­sätzlich eine deutliche Hyperaktivi­tät ausgeprägt ist, die nicht dem Altereines Kindes entspricht. ADHS stehtdemnach für Aufmerksamkeitsdefi­

zit­Hyperaktivitätsstörung, die wieder Autismus auch aufgrund einerNervenstörung entsteht. Häufig kön­nen Medikamente helfen, die Sym­ptome deutlich zu verringern. Men­schen mit ADHS sind aber auch

neugierig, fantasiereich und könnensich schnell begeistern.Menschen mit Downsyndrom habenin jeder ihrer Körperzellen ein Chro­mosom mehr als andere, nämlich 47statt 46. Das Chromosom 21 ist drei­

fach vorhanden, weshalb die Krank­heit auch Trisomie 21 heißt. Über dieChromosomen geben Eltern Erbin­formationen an ihre Kinder weiter.

Die Gene bestimmen das Wachstum

und die Funktionen von Körper undGehirn. Laut dem Deutschen Down­

syndrom­Infocenter ist die Spanneder Symptome groß und reicht vonschwerer Behinderung bis zu durch­schnittlicher Intelligenz.Beschlüsse zur Inklusion

In Artikel 24 der Behindertenrechts­

konvention der Vereinten Nationen

heißt es, dass "die Vertragsstaatendas Recht von Menschen mit Be­

hinderungen auf Bildung anerken­nen. Um dieses Recht ohne Diskri­

minierung und auf der Grundlageder Chancengleichheit zu verwirk­lichen, gewährleisten die Vertrags­staaten ein integratives Bildungs­system." Weiter heißt es in derKonvention, die Deutschland 2009unterzeichnet hat, dass "Menschenmit Behinderungen nicht aufgrundvon Behinderung vom allgemei­nen Bildungssystem ausgeschlossenwerden" dürfen.

Paragraf 12 des Hamburger Schul­gesetzes bestimmt, dass "Kinderund Jugendliche mit sonderpädago­gischem Förderbedarf das Recht ha­ben, allgemeine Schulen zu besu­chen. Sie werden dort gemeinsammit Schülerinnen und Schülern ohne

sonderpädagogischen Förderbedarfunterrichtet und besonders gefördert.Die Förderung kann zeitweilig ingesonderten Lerngruppen erfolgen,wenn dieses im Einzelfall pädago­gisch geboten ist."

Vorträge an der Um

Am 13. Oktober beginnen ander Hamburger Universität mehrereRing Vorlesungen zum Thema Inklu­sion. Zum Beispiel: "Behinderungohne Behinderte!? Perspektiven derDisability Studies", jeweils diens­tags, 16.30 ­ 18.00 Uhr, Haupt­

gebäude Flügel Ost, Edmund­Sie­mers­Allee 1, Raum 221. Und:"Neurodiversität ­ AutistengerechtesStudium jenseits der Nachteilsaus­gleiche", jeweils dienstags, 16 ­ 18Uhr, Hauptgebäude, Edmund­Sie­mers­Allee 1, Hörsaal H.Die Autoren

Christian Unger und Thomas And­re haben selbst noch keine Kinder

­ und früher in Klassenzimmern ge­lernt, in denen Inklusion keine Rolle

spielte. Die lange Beschäftigung mitdem Thema verschaffte ihnen auch

einen Eindruck davon, wie lange Re­volutionen manchmal dauern kön­

nen, weil nichts von heute auf mor­gen geht.© 2015 PMG Presse­Monitor GmbH