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Insel der Kannibalen

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ATLAN 12 – Insel der Kannibalen

Nr. 311

Insel der Kannibalen von Clark Darlton

Sicherheitsvorkehrungen haben verhindert, daß die Erde des Jahres 2648 einem Oberfall aus fremder Dimension zum Opfer gefallen ist. Doch die Gefahr ist durch die energetische Schutzschirmglocke nur eingedämmt und nicht bereinigt worden. Der Invasor hat sich auf der Erde etabliert – als ein plötzlich wiederauf-getauchtes Stück des vor Jahrtausenden versunkenen Kontinents Atlantis. Atlan, Lordadmiral der USO, und Razamon, der Berserker – er wurde beim letzten Auftau-chen von Atlantis oder Pthor von den Herren der FESTUNG auf die Erde verbannt und durch einen »Zeitklumpen« relativ unsterblich gemacht – sind die einzigen, die den »Wölbmantel« unbeschadet durchdringen können, mit dem sich die geheimnisvollen Leiter der Invasion ihrerseits vor ungebetenen Gästen schützen. Allerdings verlieren die beiden Männer bei ihrem Durchbruch ihre gesamte Ausrüstung. Und so landen Atlan und Razamon – der eine kommt als Späher, der andere als Rächer – nackt und bloß an der Küste von Pthor, einer Welt der Wunder und der Schrecken. Ihre ersten Abenteuer bestehen sie am »Berg der Magier«. Ihr weiterer Weg führt sie über die »Straße der Mächtigen« zu den Seelenhändlern und der Stadt der Roboter. Nach dem Kampf in der Feste Grool ziehen der Arkonide und der Pthorer mit dem Wolf Fenrir, ihrem neuen Weggefährten, weiter. Ihr Ziel ist der Dämmersee, doch sie gelangen auf die INSEL DER KANNIBALEN ...

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ATLAN 12 – Insel der Kannibalen

Die Hauptpersonen des Romans: Atlan und Razamon – Die beiden Besu-cher Pthors am Dämmersee und unter Kannibalen. Fenrir – Atlans und Razamons treuer Be-gleiter. Gurl und Diamantenzahn Wargoon – Zwei hilfreiche »Rennfahrer«. Gorzohn – Das letzte Besatzungsmitglied der DEEHDRA.

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1.

Sie verbrachten die Nacht in einer flachen

Senke, die von Sanddünen umgeben war. Dürres und vertrocknetes Gras wuchs auf ih-nen und befestigte sie halbwegs. Razamon hatte ein Feuer angefacht, aber Holz war ge-nauso rar wie Wasser. Einige abgestorbene Büsche waren alles, was sie fanden.

Auf dem Kamm einer Düne hielt Fenrir Wache.

Der anderthalb Meter hohe Wolf hob sich kaum gegen den grauen Morgenhimmel ab, aber er war da. Ab und zu bewegte sich sein schattenhafter Umriß und wechselte die Stel-lung. Vielleicht hörte er etwas, das andere Ohren nicht hören konnten.

Geräusche aus dem Norden, aber vielleicht auch aus Südost, wo östlich vom Blutdschun-gel die Ebene Kalmlech lag, in der die »Hor-den der Nacht« ihr Unwesen trieben und dar-auf warteten, auf eine bedauernswerte Zivili-sation losgelassen zu werden.

Im Norden lag die Wüste Fylln, die Dünen hier waren ihre letzten Ausläufer. Der Wind brachte den feinen Sand bis an den nördlichen Rand des Blutdschungels.

Als Atlan erwachte, kam er sich halb erfro-ren vor. So heiß es tagsüber auch sein mochte, nachts wurde es empfindlich kalt. Das mußte mit den Nordwinden zusammenhängen, die Kälte von der Eisküste in die warmen Gebiete trugen.

Seine kombinierte Leder-Pelz-Bekleidung schützte ihn, trotzdem stand er auf und brach einige verdorrte Äste vom nächsten Busch ab, um sie in die Glut zu werfen. Die auflodern-den Flammen belebten ihn.

Razamon schlief noch. Zusammengerollt wie ein riesiger Igel lag er dicht neben dem Feuer im Sand, den rechten Arm als Kopfkis-sen benutzend. Die Abenteuer in der Feste Grool hatten seine und Atlans Kräfte aufge-zehrt. Ein paar Tage Ruhe würde ihnen bei-den guttun.

Ein paar Tage ... Es schien Atlan so, als wären sie schon jah-

relang auf dem Kontinent Pthor, nicht erst wenige Wochen. Die terranischen Energie-schirme trennten Pthor von seiner Umwelt, trotzdem begriff Atlan nicht, daß Perry Rho-

dan nicht ein einziges Mal versucht hatte, Kontakt mit ihm aufzunehmen. War nicht schon Zeit genug vergangen, um einen Freund in Unruhe zu versetzen?

Aber immer wieder mußte er an Razamons Andeutung denken, daß vielleicht doch ver-schiedene Zeitabläufe die Ursache sein könn-ten. Eine Woche auf Pthor waren vielleicht nur Stunden auf den Kontinenten der Erde ...

Verging die Zeit auf Pthor langsamer ...? Oder etwa schneller? Es war lediglich eine Frage der Relation,

wenn überhaupt. Sicher schien nur zu sein, daß Pthor in einer

anderen Zeitebene existierte. Razamon, der Verbannte von Pthor und seit

mehr als zehntausend Jahren auf der Erde lebend, rollte sich unruhig auf die andere Sei-te. Die Hitze des auflodernden Feuers schien ihn munter zu machen.

Atlan beobachtete ihn, wie schon so oft in den vergangenen Wochen. Er war sein Freund geworden, auf den er sich verlassen konnte. Ursprünglich war er einer der Berserker ge-wesen, die von Pthor aus die Erde überflute-ten, als der Kontinent das letzte Mal hier ma-terialisierte. Aber das Gute in ihm hatte ge-siegt, und darum wurde er dazu verurteilt, immer auf der Erde zu bleiben. Und nun war er mit Atlan nach Pthor zurückgekehrt, um Rache zu üben.

Rache an jenen, die er nicht kannte. An jenen, die man die »Herren der FES-

TUNG« nannte. Die FESTUNG lag im östlichsten Winkel

des Kontinents, und eines Tages würde man in sie eindringen können und das Geheimnis lösen. Doch bis dahin war es noch ein weiter Weg ...

Razamon schnupperte mit seiner großen Nase herum, dann erst schlug er die Augen auf. Er sah zuerst ins Feuer, dann auf Atlan.

»Ich dachte schon, wir brennen ab«, brummte er und stützte sich auf den rechten Ellenbogen. »Wo ist Fenrir?«

»Er hält getreulich Wache«, gab Atlan Auskunft und deutete hinauf zu den Dünen. »Es wird bald hell. Wir müssen weiter.«

Razamon winkte ab. »Nicht so hastig, alter Freund. Dreißig Ki-

lometer haben wir nun hinter uns. Noch ein-

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mal so weit dürfte es bis zum Dämmersee sein. Das schaffen wir noch leicht heute. Vom Dämmersee aus gelangen wir über den Re-genfluß weiter nach Osten – vielleicht bis zur FESTUNG.« Atlan war nicht ganz so optimis-tisch wie Razamon.

»Bisher haben wir nichts als Schwierigkei-ten gehabt, daran solltest du dich erinnern. Daß wir gestern dreißig Kilometer ohne Zwi-schenfälle schafften, ist reiner Zufall.«

»Es lebe der Zufall!« Razamon hielt die Hände über die kleiner werdenden Flammen des Feuers. »Bald geht die Sonne auf.« Er sah zu den Dünen hinüber. »Aha, man kann Fen-rir wieder sehen. Er hält tatsächlich Wache, der Gute. Wie schade, daß er nicht sprechen kann.«

»Seine Augen können sprechen«, machte ihn Atlan aufmerksam.

»Na, ja, nur muß man es auch verstehen können ...«

Es war so, als wüßte der riesige graue Wolf, daß von ihm gesprochen wurde. Seine Silhouette verschwand plötzlich von dem hel-ler werdenden Himmel, und Sekunden später tauchte er in der Senke auf, näherte sich vor-sichtig dem Feuer und streckte sich mit freundschaftlichem Knurren im warmen Sand aus.

»Brav!« sagte Atlan und streichelte über sein struppiges Fell. »Du hast ein wenig Ruhe verdient, alter Knabe. Schlaf ein wenig, wäh-rend wir das Frühstück bereiten.«

Gehorsam rollte Fenrir sich zusammen und steckte die Schnauze ins Fell. Es war, als ver-stünde er jedes Wort, gleich in welcher Spra-che.

Razamon kramte ein Stück Speck und eine Handvoll Bohnen aus einem Beutel, nahm eine kleine eiserne Pfanne und stellte sie auf zwei Steine, die er an das Feuer gerückt hatte. Wenig später verbreitete sich ein appetitanre-gender Geruch, der Fenrir zwar nicht weckte, ihn aber zu aufregenden Träumen veranlaßte. Der Wolf strampelte mit den Beinen, als jage er hinter einem Wild her. Dabei knurrte er böse und zuckte mehrmals zusammen, bis Atlan es nicht mehr länger mit ansehen konn-te.

Er legte seine Hand auf den warmen Kör-per.

»Ruhig, mein Freund, eine Traumbeute er-jagst du niemals. Hier, nimm ein Stück Speck, das ist realer.«

Fenrir nahm den Speck vorsichtig aus At-lans Hand und schluckte ihn herunter.

»Der hat überhaupt nichts davon«, kritisier-te Razamon, der genüßlich auf seinem Anteil herumkaute. »Schwapp! Und fertig!«

»Er hat es im Bauch, und das ist wohl die Hauptsache.« Atlan nahm sich noch Bohnen. »Ich bin gespannt, ob wir am Dämmersee ein Schiff finden, das uns den Regenfluß hinauf-bringt. Hast du eine Ahnung, welche Götter-söhne uns dort noch Ärger machen könnten?«

Razamon streichelte Fenrir. »Keine Göttersöhne, soweit ich das heraus-

gefunden habe. Aber dort leben die Sothkorer, an die ich mich natürlich nicht mehr erinnern kann. Die Händler in Orxeya sprachen davon. Sollen verkrüppelte Zwerge sein, bösartig und nicht gerade gastfreundlich.«

»Was tun sie am Dämmersee?« »Keine Ahnung, Atlan. Aber wir müssen

uns vor ihnen in acht nehmen. Vielleicht kommen wir aber auch unbemerkt an ihnen vorbei.«

»Wir brauchen ein Schiff«, erinnerte ihn Atlan.

»Das stehlen wir uns«, schlug Razamon vor.

Fenrir knurrte leise, als sei er damit nicht einverstanden.

»Nichts wird gestohlen«, lehnte Atlan den Vorschlag ab. »Wir werden verhandeln. Viel-leicht genügt auch Fenrirs Anblick, um sie zu überzeugen.«

*

Bevor sie aufbrachen, überprüften sie ihre

Ausrüstung. Außer den Lebensmitteln aus der Feste Grool waren es vor allen Dingen die beiden Skerzaals, die wichtig waren. Die an eine Armbrust erinnernden Waffen verschos-sen Stahlbolzen, die in einem Köcher aufbe-wahrt wurden. Auch die Messer waren nicht zu verachten, und wenn man halbwegs zivili-sierte Pthorer traf, konnten auch die Quorks von Nutzen sein, das einzige Zahlungsmittel des unheimlichen Kontinents.

Die Sonne war ein Stück höher gestiegen

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und schien warm vom wolkenlosen Himmel herab. Im Süden war am Horizont die dunkle Linie des Blutdschungels zu erkennen, dazwi-schen lag das versteppte Ödland. Der Wind aus dem Norden brachte jetzt kaum Erfri-schung, dafür aber den feinen Sand aus der Wüste Fylln, der sich überall festsetzte.

Sie kamen verhältnismäßig gut voran. Fen-rir lief die doppelte Strecke, denn immer wie-der bog er links oder rechts ab, um vom Kamm einer Düne aus das Gelände zu beo-bachten. Dann rannte er wieder ein Stück vor oder blieb ein paar Dutzend Meter zurück. Solange er keine Gefahr sah oder witterte, konnten Atlan und Razamon ihren Weg unbe-sorgt fortsetzen.

Viel wußten sie nicht über den Dämmersee, den sie heute noch zu erreichen hofften. Aber das, was sie über ihn gehört hatten, war alles andere als beruhigend. Sein Wasser sollte ungenießbar und voller. Zauberkräfte sein. Sogar eine Insel sollte es geben, die jedoch niemand betreten durfte. Auf der Ostseite war das Mündungsdelta des Regenflusses, ein Labyrinth von Kanälen und mit Urwald be-deckten Inseln. Durch sie erst hindurch ge-langte man in den eigentlichen Regenfluß, der dreihundert Kilometer weiter östlich beim Taamberg entsprang.

Ohne ein Schiff würde es also kaum gehen ...

Razamon stolperte über einen Grasbüschel, fluchte und blieb stehen.

»Jetzt fehlt uns Honirs Windrose«, knurrte er wütend und legte sich in den warmen Sand, um den Staub aus den Lederschuhen zu schüt-teln. »Oder noch besser ein Zugor der Tech-nos.«

»Damit würden wir ja doch nur wieder ab-stürzen, weil wir die Flugkorridore nicht ken-nen.« Atlan setzte sich und bemerkte, daß Fenrir wieder Posten bezog. »Nein, mein Lie-ber, wir müssen zu Fuß weiter, und das noch gut fünfundzwanzig Kilometer, wenn die Ent-fernungsangaben stimmen.«

»Der See selbst ist auch vierzig Kilometer breit, und über den müssen wir auch noch. Oder am Südufer vorbei.«

»Du willst zum Taamberg«, erinnerte ihn Atlan.

»Nochmal dreihundert!« stöhnte Razamon

und puffte Atlan gegen die Rippen. »Also weiter, mein Freund, sonst werden wir noch gebraten. Hoffentlich finden wir zum Mittag-essen ein schattiges Plätzchen.«

Sein Wunsch sollte sich erfüllen, aber in ganz anderer Weise, als er es sich erhofft hat-te.

Fenrir war wieder ein Stück zurückgeblie-ben und auf die nördlich gelegenen Dünen gestiegen, um Ausschau zu halten. Atlan und Razamon marschierten auf dem Kamm eines sandigen Hügels, der sich genau von West nach Ost dahinzog und einen guten Blick nach allen Seiten ermöglichte.

Trotzdem sahen sie die Falle nicht. Vielleicht war es auch keine absichtlich an-

gelegte Falle, sondern einfach nur eine dünne Stelle in der Decke der unterirdisch angeleg-ten Siedlung der Kenics.

Beide Männer brachen gleichzeitig ein und stürzten einige Meter in die Tiefe. Zentner-weise kam der Sand hinterher und begrub sie unter sich. Zum Glück war es nicht so viel, daß sie sich nicht hätten befreien können, aber es war eine Art Trichter entstanden, in dem sie wie Opfer eines Ameisenbärs gefangen waren.

Razamon war schnell wieder auf den Bei-nen.

Er sah nach oben. Am Rand des Trichters erschien Fenrirs Kopf.

»Bleib zurück, Fenrir! Wenn du abrutschst, sitzen wir alle drei hier unten fest!«

Der Kopf des Wolfes verschwand vom Rand des Trichters.

Atlan kam vorsichtig auf die Beine. Er spürte, daß der Boden unter seinen Füßen allmählich nachgab und der Trichter tiefer wurde, obwohl von oben immer neuer Sand nachrutschte. Es mußte Hohlräume geben, die sich nun füllten.

»Bei allen Halbgöttern von Pthor und ihren illegitimen Söhnen!« schimpfte Razamon und versuchte vergeblich, an dem sandigen Rand des Trichters hinaufzukrabbeln. Der einzige Erfolg war, daß er fast von einer neuen Lawi-ne begraben wurde. »Es geht nicht! Unmög-lich, hier allein herauszukommen!«

Das hatte Atlan längst eingesehen. Dicht neben ihm entstand im Sand ein sich immer mehr vertiefendes Loch, so als würde der

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Sand von unten her abgesaugt. Auch seitwärts versickerte er in den Wänden wie zähflüssiger Schlamm. Die Öffnungen von schräg in die Tiefe führenden Gängen wurden sichtbar.

Die Gänge hatten Durchmesser von mehr als einem Meter und waren rund wie Röhren.

Razamon kniff die Augen zusammen, als er sie sah. Langsam nahm er seine Skerzaal von der Schulter und reinigte die Spannfeder vom Sand. Dann öffnete er den Deckel des Kö-chers.

»Was soll denn das?« fragte Atlan verwun-dert. »Fürchtest du vielleicht einen Angriff?«

»Jemand hat diese unterirdischen Gänge gegraben, Atlan, das ist dir doch wohl klar. Jemand, der hier unten lebt und Beute machen will. Ich weiß nicht, wer dieser Jemand ist, aber er dürfte kaum freundlich zu uns sein.«

Der Rand des Trichters lag nun etwa acht bis neun Meter über ihnen. Die Wand war abgeschrägt, aber sie hätte genausogut senk-recht und aus Fels sein können. Sie bot nicht den geringsten Halt.

»Wo ist Fenrir geblieben?« Razamon zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Er ist verschwunden,

nachdem ich ihn gewarnt habe, nicht zu dicht an den Rand zu kommen. Er wäre klug genug, Hilfe herbeizuholen.«

»Von wo? Von der Feste oder vom Däm-mersee?«

»Egal woher. Allein jedenfalls sitzen wir hier fest.«

»Trotzdem müssen wir es versuchen ...« Die Gänge, so überlegte Atlan, mußten ir-

gendwohin führen, schließlich wohl auch hin-auf zur Oberfläche. Man mußte nur den rich-tigen finden.

Während sich Razamon vergeblich abmüh-te, am Trichterrand hinaufzuklettern, drang Atlan mit aller Vorsicht in den freiliegendsten Gang ein. Ein scharfer Geruch kam ihm ent-gegen, der ihm fast den Atem nahm. Es dauerte einige Minuten, bis er sich daran gewöhnte.

Weit kam er nicht, denn es wurde dunkel, außerdem bestand die akute Gefahr, von nachrutschenden Sandmassen eingeschlossen zu werden. Wenn sich der Trichter füllte, würde auch die Luftzufuhr ausfallen.

Die Wände des Ganges waren nicht völlig

glatt. Atlans tastende Finger spürten Rillen, die von oben nach unten parallel verliefen, so als habe man den runden Tunnel mit primiti-ven Werkzeugen in den weichen Boden ge-graben. Darüber lag der Sand.

Mit einem Ruck blieb er stehen, als er von vorn ein Geräusch vernahm. Zehn Meter hin-ter sich hörte er Razamon fluchen.

Es war wie ein Schaben, dann wieder mehr wie das Trappeln von ein paar Dutzend Fü-ßen. Aber was immer es auch war – es näher-te sich und wurde deutlicher.

Atlan drehte sich mühsam um und ging zu-rück. Er mußte sich tief bücken, um nicht mit dem Kopf gegen die bröckelige Decke zu stoßen.

»Hör auf damit!« rief er Razamon zu, der gerade wieder mit einer Ladung Sand vom Hang herabrutschte. Er deutete auf den Gang. »Da kommt etwas.«

»Etwas ...?« »Ich weiß nicht, was es ist. Viel leicht der

oder die Bewohner der Gänge. Wir sollten uns auf eine eventuelle Auseinandersetzung vorbereiten.«

Razamon legte wortlos einen Stahlbolzen in die Führungsrinne seiner Skerzaal. Auch At-lan machte seine Armbrust schußbereit.

Das Tappen und Schaben wurde immer lau-ter, und dann erschien am Gangende ein etwa ein Meter hohes Lebewesen, das Atlan sofort an einen riesenhaft vergrößerten Skorpion erinnerte. Der gefährlich wirkende Stachel diente dem aufrecht auf den Hinterbeinen gehenden Geschöpf als zusätzliche Stütze. Die beiden Enden der Zange waren wie Schaufeln ausgebildet. Die nebeneinander liegenden Krallen verrieten Atlan den Ur-sprung der parallel verlaufenden Streifen in den Gängen.

Das Wesen blieb stehen, als es die beiden Männer bemerkte.

Mit glänzenden Augen gab es deren er-staunte Blicke zurück, verhielt sich aber noch abwartend. Die Geräusche hinter ihm verrie-ten, daß es nicht allein gekommen war.

»Kannst du mich verstehen?« Razamon sprach Pthora, und er sagte es sehr langsam und mit Betonung. Es erfolgte keine Reakti-on.

»Du nimmst doch nicht an, daß sie spre-

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chen können?« fragte Atlan und fischte sich einen Bolzen aus seinem Köcher. »Sie sehen alles andere als friedlich aus.«

»Sie ...?« dehnte Razamon. »Die anderen werden gleich da sein, und

ich vermute, sie unterscheiden sich kaum von diesem Musterexemplar. Du kennst doch Skorpione? Selbst die fingerlangen können tödlich sein, und dieser hier ist ein Meter lang. Ich möchte nicht in Berührung mit dem Stachel kommen.«

Der Stachel war schwarz und armdick. Sei-ne nadelfeine Spitze vibrierte leicht. Etwa zwanzig Zentimeter vor dieser Spitze entstand eine Schwellung. Atlan vermutete, daß es sich dabei um die Giftblase handelte, die sich nun füllte.

Der zweite Skorpion erschien und drängte den ersten beiseite.

Dann tauchten gleich ein halbes Dutzend aus verschiedenen Gängen auf und verharrten.

Razamon biß sich auf die Unterlippe. »Was sollen wir tun? Was wollen sie von

uns?« »Erst schießen, wenn sie uns angreifen«,

riet Atlan, der seinen Bolzen inzwischen in die Leitrille seiner Skerzaal gelegt hatte. Die Feder war gespannt. »Es sieht nicht so aus, als wollten sie uns helfen.«

»Sie haben Hunger«, vermutete Razamon nicht ganz unlogisch.

Seine Worte wirkten wie ein Signal. Die Riesenskorpione griffen an.

* Fenrir wich zurück, als er Razamons War-

nung hörte. Diesen Ton in der Stimme des Atlanters kannte er bereits, und er war klug genug, zu wissen, daß sich die beiden Männer in Gefahr befanden.

Aber diesmal konnte er ihnen nicht helfen. Unschlüssig trottete er auf der Düne hin

und her und setzte sich dann. Er sah nach Westen, wo der Wind ihre Spuren bereits verweht hatte. Irgendwo dort lag die Feste Grool und die Küste der Stille. Weiter südlich davon Wolterhaven, die Stadt der Automaten. Dort war keine Hilfe zu erwarten.

Er witterte in Richtung Osten und Norden, aber der Wind war trocken und ohne Geruch.

Die nächste Ansiedlung lag an den Ufern des Dämmersees, das wußte er. Irgendwann war er schon einmal dort gewesen, aber seine Erinnerung war lückenhaft. Wenn er seinen beiden Freunden helfen wollte, mußte er Hilfe herbeiholen.

Er setzte sich in nordöstliche Richtung in Trab.

*

Atlans Bolzen durchschlug den Brustpanzer

des ersten Angreifers und brachte ihn zu Fall. Auch Razamons Geschoß fand sein Ziel. Bei-de Männer nahmen keine Rücksicht, denn sie wußten nur zu genau, daß es um ihr Leben ging.

Die Skorpione hielten ihre Stachel so ge-krümmt über den Kopf, daß die Spitzen auf die Angegriffenen deuteten. Die Giftblasen waren bis zum Platzen angeschwollen.

Atlan spannte die Feder und legte den nächsten Bolzen ein.

Jeder Schuß traf, aber immer mehr Skorpi-one quollen aus den Gängen, kletterten über ihre gefallenen Artgenossen hinweg, richteten sich wieder auf und griffen mit vorgeschnell-tem Stachel an, ohne an die eigene Sicherheit zu denken.

Die Anzahl der Stahlbolzen war be-schränkt. Etwa dreißig von ihnen paßten in einen Köcher. Atlan hatte die verrückte Visi-on, daß allein die Mauer der getöteten Tiere ausreichen würde, die restlichen Skorpione daran zu hindern, ihre Gänge zu verlassen.

Aber es blieb bei der Vision. Mit ihren Greifzangen räumten sie ihre to-

ten Artgenossen beiseite, um sich Platz zu schaffen. Ihre Opferbereitschaft war beispiel-los. Entweder waren sie halb verhungert, oder es gab einen anderen Grund für ihre Verbis-senheit.

Sie machten durchaus einen halbintelligen-ten Eindruck, aus diesem Grund fiel es Atlan auch schwer, seine Skrupel zu unterdrücken. Sicher, er und Razamon befanden sich in ei-ner Notlage, in einer Ausnahmesituation, aber vielleicht hätte es doch noch zu einer Ver-ständigung mit den Angreifern kommen kön-nen. Doch dazu hatten einfach die Zeit und die Gelegenheit gefehlt.

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Allmählich wurden er und Razamon in eine

Ecke des unregelmäßig geformten Trichter-grunds gedrängt. Wenigstens hatten sie nun den Rücken frei. Mit ihren Schultern lehnten sie an der sandigen Wand.

»Verdammt, ich habe nur noch drei Bol-zen!« keuchte Razamon entsetzt und schoß den nächsten Skorpion nieder. »Ihre Stachel gefallen mir nicht ...«

»Ich habe noch vier oder fünf Bolzen, dann nehmen wir die Messer.«

Razamon hatte seine restlichen Munition zuerst verschossen, warf seine Skerzaal fort und zog das Messer. Ein Schwert wäre jetzt die bessere Waffe gewesen, denn es war na-hezu unmöglich, an die Skorpione heranzu-kommen, ohne in die gefährliche Nähe des vorgestreckten Stachels zu geraten.

Atlan erkannte die Schwierigkeit sofort, als auch er die nutzlos gewordene Armbrust fal-len ließ und zum Messer griff. Aber auch die Angreifer waren vorsichtiger geworden und hielten sich zurück. Sie schienen darauf zu warten, daß ihre Opfer ermüdeten und unacht-sam wurden.

Atlan machte einen Ausfall und durchbohr-te mit der starken Klinge den Brustpanzer eines Skorpions. Er sprang schnell wieder zurück. Der vorzuckende Stachel kam zu spät. Das Tier brach zusammen.

Razamon gelang es, auf die gleiche Art und Weise drei weitere Gegner zu erledigen, aber dann hatte er Pech. Atlan sah genau, was ge-schah, und mußte erkennen, daß die Skorpio-ne in der Tat einen gewissen Grad an Intelli-genz besaßen. Einer von ihnen griff Razamon an, obwohl er genau wissen mußte, daß er dem Messer zum Opfer fallen würde. Dann, als der Atlanter vorsprang und zustieß, bohrte sich von der Seite her ein Stachel in seinen Körper.

Atlans Warnung kam zu spät, außerdem hatte er es selbst mit zwei Feinden zu tun, die sich auf ihn stürzten. Noch einmal gelang es ihm, sie erfolgreich abzuwehren, aber die he-rumliegenden Kadaver behinderten seine Be-wegungsfreiheit. Seine Beine verhedderten sich, und er stürzte.

Sofort waren sie über ihm. Er spürte einen heftigen Schmerz, als eine Stachelspitze in seinen Oberschenkel drang. Das lähmende

Gift wirkte augenblicklich, aber er besaß noch die Geistesgegenwart, das wertvolle Messer zurück in die Scheide zu stoßen, damit es nicht verlorenging.

Das Gift tötete nicht, es lähmte nur. Atlan verlor auch nicht das Bewußtsein, aber er konnte sich bald nicht mehr bewegen. Hilflos mußte er zusehen, wie neben ihm zwei Skor-pione Razamon regelrecht mit selbstgespon-nenen Fäden fesselten, die aus einer Öffnung im Hinterleib gezogen wurden.

Dann erlitt er das gleiche Schicksal. Er wunderte sich, daß man sie nicht gleich

tötete. Er kam sich wie eine Fliege vor, die in das Netz einer Spinne geraten war. Wollte man ihn und Razamon als Notverpflegung aufbewahren ...?

Wie Pakete verschnürt lagen sie auf dem Grund des Trichters, während sich die Skor-pione daran machten, ihre toten und verwun-deteten Artgenossen in die Gänge zu zerren. Damit würden sie gut eine Stunde beschäftigt sein.

Atlan spürte, wie die Lähmung nachließ, aber das hatte weiter nichts zu bedeuten, so-weit es einen Fluchtversuch betraf. Die kleb-rigen Fäden waren viel zu stark, als daß er sie hätte zerreißen können.

Oben war der runde Ausschnitt des Him-mels zu sehen.

Es wurde Mittag und dann Nachmittag. Hunger und Durst machten sich bemerkbar, aber noch immer konnten Atlan und Razamon nicht ahnen, was die Skorpione mit ihnen vorhatten.

Zwei oder drei von ihnen waren ständig in der Nähe und ließen sie nicht aus den Augen. Eine unheimliche Drohung ging von ihnen aus.

Die Sonne stand hoch über dem Trichter, trotzdem fror Atlan plötzlich.

Er ahnte, was ihnen bevorstand ...

* Einige Meilen nördlich des Dämmersees

standen zwischen Sanddünen versteckt sieben kuppelförmige Gebäude. Rundum wirkte das Gelände kultiviert, so als habe man versucht, Gärten anzulegen, aber die gezogenen Pflan-zen ließen die Köpfe hängen und schienen ein

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trauriges Dasein zu fristen. Dabei gab es ei-nen Brunnen in der Nähe.

Vor vielen Jahrzehnten hatte sich die Fami-lie Wargoon entschlossen, die kalte Region der Eisküste im Norden für immer zu verlas-sen und im wärmeren Süden eine neue Hei-mat zu finden. Durch einen reinen Zufall war man auf die sieben Kuppelbauten gestoßen, die schon seit ewigen Zeiten unbewohnt sein mußten. Man hatte technische Geräte und Ausrüstungsgegenstände gefunden, die das harte Leben in dieser kargen Umgebung er-leichterten.

Die große Familie wünschte keinen Kon-takt mit anderen Bewohnern von Pthor, und der Dämmersee war den gelbhäutigen und schlitzäugigen Humanoiden von Anfang an unheimlich. Sie hielten sich von ihm fern.

Einmal nur hatten sie einen Boten zur FESTUNG ausgeschickt, um den Herren dort ihre Ergebenheit zu bekunden, aber der Bote war nie zurückgekehrt. Allerdings waren sie selbst in ihrer Einsamkeit auch niemals beläs-tigt worden. Niemand kümmerte sich um sie.

Infolge der unvermeidlichen Inzucht brach-te die Familie Wargoon keine Geistesgrößen hervor. Im Gegenteil: Alle Familienmitglieder konnten als degeneriert eingestuft werden.

Manchmal zog eine Gruppe von ihnen nach Süden zum Rand des Blutdschungels, um dort zu jagen. Das geschah aber auch nur dann, wenn eine Mißernte sie dazu zwang und eine Hungersnot bevorstand.

Die jungen Männer der Großfamilie, der immerhin sieben Häuser zur Verfügung stan-den, hielten nicht viel vom Ernst des Lebens. Wenn sie nicht gerade faul in der Sonne he-rumlagen oder ihren Mädchen nachstellten, rasten sie mit den in den Kuppeln gefundenen »Jukern« durch die Gegend oder veranstalte-ten Rennen.

Die Juker waren motorgetriebene Dreirä-der. Sie entwickelten eine beachtliche Ge-schwindigkeit, und die breiten Kettenräder verhinderten das Einsacken im Sand, auch wenn dieser recht locker war. Gelegentliche Streitigkeiten innerhalb der Wargoon-Familie konnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich bei den siebenundzwanzig Personen um eine eingeschworene Gemeinschaft handelte. Ohne jeden Kontakt mit der Außenwelt gab es

für sie keinen Fortschritt und keine Weiter-entwicklung, aber natürlich gab es auch keine Kriege und Gewalttätigkeiten. Man hielt zu-sammen und versuchte, gemeinsam am Leben zu bleiben.

Die beiden Brüder Gurl und Diamanten-zahn Wargoon hatten sich an diesem Tag et-was ganz Besonderes vorgenommen. Schon immer gab es Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen, und sie konnten sich nicht klar darüber werden, wer von ihnen beiden der bessere Jukerfahrer war. Bei den kleineren Rennen durch die Wüste gewann mal der ei-ne, dann wieder der andere.

Ein großes Stechen sollte nun den Aus-schlag geben.

Seit Tagen schon hatten sie ihre Dreiräder geputzt und aufgemöbelt. Die Ketten wurden eingefettet und jede Schraube nochmal ange-zogen. Der Sandschutz war abgedichtet und befestigt worden.

Die anderen Mitglieder des Clans hatten nur herumgestanden und sich das angesehen. Einige gaben mehr oder minder brauchbare Ratschläge oder lachten nur. Sie fuhren zwar auch mit ihren Jukern durch die Gegend, aber sie waren davon überzeugt, daß sie schmutzig genausogut von der Stelle kamen wie geputzt.

Gurl und Diamantenzahn ließen sich nicht entmutigen.

»Am Rand des Blutdschungels steht die halbversunkene Steinpyramide«, sagte Gurl an diesem Morgen zu den Versammelten, die den Start miterleben wollten. »Bis dort fahren wir, so schnell jeder kann. Bei der Pyramide wird gewendet und zurückgefahren. Wer zu-erst wieder hier im Dorf Kaarv ankommt, ist der Sieger.«

»Das ist ein langer Weg. Ihr werdet den ganzen Tag brauchen«, sagte jemand. »Wir erwarten euch am Abend zurück.«

»Nehmt Verpflegung und Wasser mit«, riet ein anderer. »Und Waffen!«

»Wir haben so etwas immer dabei«, beru-higte ihn Diamantenzahn, der seinen Namen einem schwarzsilbernen Backenzahn verdank-te, mit dem man ihn schon als Kind aufgezo-gen hatte. »Rauchbomben für die Kenics, Bolzen für die Sothkorer, wenn sie uns är-gern, und natürlich ein Stahlseil, wenn ich Gurl abschleppen muß.«

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»Ha!« machte Gurl verächtlich und warf

einen Fettlappen nach ihm. Die ganze Familie versammelte sich inzwi-

schen am Startplatz, als gäbe es nichts ande-res zu tun. Lediglich zwei Kleinkinder tum-melten sich vergnügt im Gemüsegarten und zertraten die letzten gesunden Pflanzen. Nie-mand kümmerte, sich darum. Es genügte, wenn die beiden Kleinen hinterher verprügelt wurden.

Einer der Juker sprang mit donnerndem Ge-töse an und schleuderte den Umstehenden eine Sandfontäne in die Gesichter. Diaman-tenzahn, der vergessen hatte, den Gang he-rauszunehmen, sah hinter seinem davonrol-lenden Gefährt her und setzte sich erst in Trab, als er von einem seiner Vettern gesto-ßen wurde. Zum Glück beschrieb der Juker eine weite Kurve und kehrte wieder zum Ausgangspunkt zurück, so daß Diamanten-zahn ihn abfangen konnte.

Gurl lachte, bis ihm die Tränen kamen, dann startete auch er seinen Juker, nachdem er im letzten Augenblick den Gang herausge-nommen hatte. Es war der Schnellgang gewe-sen.

Der Älteste der Familie ließ sich nicht da-von abbringen, das Startkommando zu geben. Es kostete die übrigen Familienmitglieder eine Menge Kraft und Überredungskunst, ihn hinter die beiden Fahrzeuge zu stellen. Er wollte unbedingt davor stehen.

Endlich war es soweit. Die beiden hoffnungsvollen Jünglinge ga-

ben Vollgas, und als die Sandwolke sich senkte und die Zurückgebliebenen wieder sehen konnten, erblickten sie nur noch zwei dunkle Punkte in der südlichen Wüste, die eine riesige Staubfahne hinter sich herzogen.

Dann verschwanden sie hinter einer Düne. Wenig später kehrte in Kaarv der Alltag

wieder ein. Die beiden Kinder wurden pro-grammgemäß verprügelt, die Frauen vertrie-ben das Ungeziefer aus den Kuppelbauten, und die Männer lagen in ihren Sandkuhlen in der Sonne und genossen ihre Freiheit.

Gurl und Diamantenzahn aber rasten dicht nebeneinander nach Süden und dachten nur an die Steinpyramide, die noch gut fünfzig Kilometer entfernt war und von der niemand wußte, wie sie dorthin gekommen war. Im-

merhin markierte sie an dieser Stelle den Be-ginn des Blutdschungels.

Als auf der linken Seite die Siedlung der zwergenhaften Sothkorer auftauchte, hatten sie die Hälfte der Strecke zurückgelegt.

Es hatte mehrmals Kontakt mit den »Wäch-tern des Dämmersees« gegeben, wie man die verkrüppelten Halbintelligenzen nannte. Aber da ihr Leben nur aus Arbeit zu bestehen schien, waren sie der Familie Wargoon von Anfang an unsympathisch gewesen. Womög-lich wäre diese Arbeitswut ansteckend gewe-sen ...

»Wenn so ein Zwerg auftaucht, fahren wir ihn um!« brüllte Gurl durch das Motorendon-nern.

»Klar!« brüllte Diamantenzahn zurück. In dieser Hinsicht also war man sich einig. Die Dünen zogen sich meist von West nach

Ost dahin, wobei die Nordhänge steiler und fester waren als jene nach Süden. Man mußte sie schräg anfahren, wollte man nicht ste-ckenbleiben. Auf der anderen Seite war es dann Glücksache, ob man heil hinunterkam oder nicht.

Bei allem Kampfeseifer blieben die Brüder fair. Einmal hatte Gurl zuviel Schwung, weil er nach dem Erreichen eines Dünenkamms nicht rechtzeitig abbremste und, vom eigenen Schwung getragen, gleich weiterflog. Der Kamm war nämlich nur zwei oder drei Meter breit.

Im hohen Bogen segelte er gut zwei Dut-zend Meter durch die Luft, ehe er im weichen Sand landete und darin verschwand. Diaman-tenzahn sah nur noch eine Staubwolke und dann nichts mehr. Er fuhr vorsichtig in das Dünental hinab, kletterte aus dem Sattel und suchte seinen Bruder, den er schließlich bei den Haaren erwischte und hervorzog. Ge-meinsam gruben sie dann seinen Juker aus.

Der Motor sprang erst nach einigen Versu-chen an, und kaum war das geschehen, wurde das mörderische Rennen ohne Dankesworte fortgesetzt.

Etwa gegen Mittag sahen die beiden Män-ner weit vor sich einen dunklen Punkt, der sich in ihrer Richtung bewegte.

Ein Sothkorer konnte das nicht sein, dazu war der Punkt zu groß. An die Tiere im Blut-dschungel erinnerte er auch nicht, und ein

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Juker war es schon gar nicht.

Diamantenzahn verringerte das Tempo. »Was ist das?« rief er seinem Bruder zu,

der ebenfalls das Tempo drosselte. »Keine Ahnung! Hat aber vier Beine...« Auf einer Düne angelangt, hielten sie an

und stellten die Motoren ab. Der große Vier-beiner näherte sich ihnen, blieb aber dann in einiger Entfernung stehen. Gurl, der seine Skerzaal aus dem Lederbeutel gezogen hatte, zögerte.

»Sieht ganz friedlich aus, findest du nicht?« »Der tut uns nichts. Aber er scheint etwas

von uns zu wollen.« »Wie kommst du denn auf die Idee?« Diamantenzahn deutete nach Süden. »Er kommt von dort und will auch jetzt

dorthin zurück. Das hätte er schon tun kön-nen, als er uns sah. Aber er hat gewartet, bis wir nahe genug herangekommen sind. So als wollte er uns irgendwohin führen.«

»Und unser Rennen?« »Können wir noch immer fortsetzen. Aber

das Tier hat mich neugierig gemacht. Es will uns etwas zeigen.«

»Na schön, fahren wir einfach hinterher.« Sie starteten wieder und fuhren langsam auf

Fenrir zu, der sie ruhig erwartete, sich dann umdrehte und nach Süden davontrabte. Immer wieder wandte er den Kopf, um sich zu über-zeugen, daß die beiden Männer ihm folgten. Nun konnte kein Zweifel mehr daran beste-hen, daß Diamantenzahn recht hatte: Der Wolf wollte sie führen.

*

Die auf dem Grund des Trichters als Wäch-

ter postierten Skorpione wichen respektvoll zur Seite, als ihre Königin erschien.

Atlan wußte sofort, daß es die Königin sein mußte, denn sie war etwas größer als die an-deren und wies Merkmale auf, über die ihre Untertanen nicht verfügten. Die Grabschau-feln waren feingliedriger und nicht zur Arbeit geeignet. Der ganze Körper war schmaler und zarter gebaut. Der größte Unterschied bestand jedoch im Stachel.

Er war nicht schwarz, sondern durchsichtig. Statt der Giftblase enthielt er weiße, faustgro-ße Eier, die wie aufgeschnürt wirkten. Der

Stachelspitze zu wurden sie etwas größer – und damit reifer.

Die Königin musterte die beiden Gefange-nen mit ihren starren und ausdruckslosen Au-gen, dabei zuckte ihr Stachel in nervöser Er-wartung. Atlan hatte die Parallele zum Tier-reich Terras erwartet, aber die endgültige Gewißheit des bevorstehenden Schicksals ließ ihn fast verzweifeln. Die Königin würde ihre Eier in seinem und Razamons Körper able-gen. Wenn die Brut ausschlüpfte, würde sie die Männer bei lebendigem Leib auffressen.

»Ich weiß, was du denkst«, ließ Razamon sich vernehmen. Seine Stimme klang heiser und gequält. »Kenics heißen sie, es ist mir wieder eingefallen. Es hat sie immer gegeben. Ich hätte es eher wissen müssen!«

»Gibt es keinen Ausweg?« »Ich sehe keinen.« Die Eiablage der Königin schien mit einem

zeitraubenden Zeremoniell verbunden zu sein. Die Skorpione schaufelten den losen Sand beiseite und richteten so eine ebene Fläche her, auf die sie ihre Gefangenen rollten. An-dere wiederum standen vor den Tunnelein-gängen und wiegten sich wie in einem rhyth-mischen Tanz. Vielleicht war er es, der die Königin anregen sollte.

»Wir sind nicht mehr gelähmt«, sagte At-lan. »Auch gefesselt sollten wir uns zumin-dest noch so bewegen können, daß wir das Biest mit den Füßen zurückschleudern, wenn es sich uns nähert.«

»Das funktioniert auch nur einmal, dann ja-gen sie uns wieder eine Giftspritze irgendwo-hin. Es ist vorbei, Atlan, endgültig vorbei!«

»Sei still! Hörst du nichts?« Razamon sah, daß Atlan nach oben blickte,

also konnte er nicht das schabende Geräusch der Grabschaufeln meinen, das von den Skor-pionen verursacht wurde. Immer noch rieselte Sand an der Trichterwand herab, aber nicht mehr soviel wie zu Anfang.

»Doch, ich höre es. Kann das ein Motor sein ...?«

Atlan nickte. »Genau das habe ich sofort vermutet. Aber

was für ein Motor könnte das sein? Der Dämmersee ist zu weit entfernt ...«

»Es kommt näher!« In Razamons Stimme war plötzlich wieder Hoffnung und Zuver-

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sicht. »Atlan, es kommt näher ...!«

Die Königin näherte sich Atlan und drehte sich dann um. Der Stachel mit der Eierkette war senkrecht nach oben gerichtet und senkte sich nun langsam. Die Spitze zeigte auf At-lans Bauch. Sie sah hart und widerstandsfähig aus. Wahrscheinlich konnte sie mühelos die Lederbekleidung durchdringen.

Vorsichtig zog Atlan die Beine an. Wenn die Königin ihren Stachel richtig anbringen wollte, mußte sie noch einen Meter zurück und geriet damit in den Bereich der Füße. Vielleicht traf man den Stachel selbst, wenn man kräftig zutrat und richtig zielte.

Aber die Königin zögerte plötzlich ... Unsichtbar für die Skorpione und ihre Ge-

fangenen mußte sich oben jemand dem Krater oder Sandtrichter nähern. Noch einmal war das Aufheulen eines Motors zu hören, dann Stimmen und Schritte.

Als Atlan nach oben sah, erkannte er Fen-rirs Wolfskopf am Rand des Trichters. Wenig später sah er in die Gesichter von zwei Män-nern, die sich vorsichtig vorbeugten und dann zurückwichen.

»Die Kenics haben wieder jemand er-wischt«, sagte der eine von ihnen in einem Dialekt, den Atlan nur schlecht verstand.

Razamon brüllte im gleichen Dialekt zu-rück:

»Ja, das haben sie, und wenn ihr euch nicht beeilt, sehe ich schwarz für uns. Holt uns hier 'raus!«

Die beiden Gesichter verschwanden, aber die Stimmen blieben.

»Wer sind die Burschen in dem Loch, Di-amantenzahn? Hast du solche schon mal ge-sehen?«

»Technos sind es nicht, auch keine Sothko-rer. Vielleicht welche aus dem Westen. Sollen wir ihnen helfen?«

»Das kostet Zeit.« »Aber der Wolf hat uns hierher gebracht.« »Was hat denn das damit zu tun?« Atlan und Razamon lauschten dem sinnlo-

sen Gespräch, während wertvolle Zeit ver-strich. Die Skorpione verharrten reglos, und auch die Königin unternahm nichts. Sie schien in ihrem Brutgeschäft gestört worden zu sein.

Fenrir heulte einmal laut und drohend auf,

war dann jedoch wieder still. »Hol mal das Seil«, sagte der mit Diaman-

tenzahn Angeredete endlich. Dann beugte er sich wieder über den Trichterrand und rief: »He, ihr beiden da unten, könnt ihr mal für ein paar Minuten die Luft anhalten?«

»Holt uns 'raus!« wiederholte Razamon seine Aufforderung.

»Sind ja dabei! Also, wie ist das mit dem Luftanhalten?«

»Warum?« »Weil wir ein paar Rauchbomben 'runter-

werfen, das mögen die Kenics nicht. Wir hat-ten schon oft genug mit ihnen zu tun. Sie ver-kriechen sich dann sofort in ihre Höhlen.«

»Und wie sollen wir herauskommen?« »Wir holen euch, keine Sorge. Aber: Luft

anhalten!« Gurl band inzwischen das Seil an seinen

Juker und ließ den Motor wieder an. Das an-dere Ende warf er einfach in den Trichter. Sekunden später folgten zwei fürchterlich stinkende Rauchbomben, die mitten zwischen die Kenics fielen und bei diesen eine regel-rechte Panik auslösten. Sie zogen sich sofort in die Gänge zurück, auch die Königin.

Diamantenzahn ließ sich an dem Seil herab. Mit zufriedenem Grinsen sah er hinter den

verschwindenden Kenics her, ehe er verse-hentlich tief Luft holte und dann fürchterlich zu husten begann. Zum Glück fing sich der Wüstenwind in dem Trichter und wirbelte den stinkenden Rauch heraus. Atlan konnte vor-sichtig atmen, ohne gleich zu ersticken.

Diamantenzahn bückte sich und untersuch-te die Fesseln. Dann zog er Atlans Messer aus der Scheide und begann, die klebrigen Fäden durchzuschneiden. Den Rest besorgte Atlan selbst, nachdem seine Hände frei waren.

»Hängt euch ans Seil«, riet Diamantenzahn. »Gurl wird uns 'rausziehen.«

In den Tunneleingängen erschienen wieder die ersten Kenics, aber die letzten Rauch-schleier hielten sie noch zurück. Oben hinter dem Trichterrand donnerte ein Motor auf, dann gab es einen gewaltigen Ruck. Razamon und Atlan ließen das Seil los, um sich nicht die Hände zu verbrennen, aber Diamanten-zahn hielt fest, als hinge sein Leben davon ab. Er raste regelrecht den schrägen Hang empor und flog in hohem Bogen über den Trichter-

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rand.

Wenig später erschien sein Gesicht. »Na, was habt ihr denn? Wollt ihr da unten

bleiben?« »Wir sind noch schwach«, sagte Atlan.

»Geht es nicht ein wenig langsamer mit dem Rausziehen?«

Das Seil kam herabgeflogen. Diesmal zog Gurl vorsichtiger an. Heil und

ohne Brandstriemen an den Handflächen ver-ließen Atlan und Razamon ihr Gefängnis und blieben einige Sekunden auf der Düne liegen. Fenrir kam herbei und leckte ihre Hände, da-bei jaulte er leise.

Gurl und Diamantenzahn betrachteten die Begrüßung sehr interessiert und verstauten ihr Seil in einer der Seitentaschen ihrer Fahrzeu-ge. Mit einem kleinen Kasten näherten sie sich dann den Befreiten.

»Der Klebstoff muß beseitigt werden, ehe er hart wird«, sagte Gurl und öffnete eine runde Dose, die er dem Kasten entnommen hatte. »Ist noch schlimmer als die Fäden. Kriegt man nie mehr weg sonst.«

Mit einem Lappen befeuchtete er die Kör-per der beiden Männer. Fast augenblicklich löste sich die bereits begonnene Starre auf Bekleidung und Haut. Der Klebstoff verflüs-sigte sich und konnte dann mühelos abge-wischt werden.

»Wir haben euch unser Leben zu verdan-ken«, machte Atlan den Versuch, ein Ge-spräch mit den beiden jungen Männern zu beginnen. »Wer seid ihr?«

»Ich bin Gurl, das ist Diamantenzahn.« »Ja, das wissen wir schon. Ich meine: Von

wo kommt ihr? Wie nennt sich euer Volk?« Gurl machte ein unschlüssiges Gesicht. Di-

amantenzahn sagte: »Wir gehören zur Familie Wargoon und

wohnen nördlich des Dämmersees. Und wer seid ihr?«

»Wir wollen zum Taamberg, da sind meine Leute«, erwiderte Razamon schnell. »Ob wir ein Schiff finden, das uns dorthin bringt?«

»Taamberg?« Diamantenzahn zuckte die Schultern. »Keine Ahnung, wo der ist. Fahren Schiffe jetzt durch die Wüste?«

Atlan hatte das unsichere Gefühl, daß sich die beiden jungen Männer dümmer stellten, als sie in Wirklichkeit waren. Aber das konnte

auch täuschen. Vielleicht hatten sie tatsäch-lich keine Ahnung, wo der Taamberg war. Jedenfalls schienen sie nicht sonderlich ge-sprächig zu sein.

Er vergewisserte sich: »Ihr wohnt also am Dämmersee? Ist es weit

bis zu eurem Haus?« »Wollt ihr dorthin?« stellte Gurl die Gegen-

frage. »Warum nicht? Vielleicht könnt ihr uns

weiterhelfen.« Diamantenzahn packte den Medizinkasten

wieder fort und blieb bei seinem Fahrzeug stehen. Er rief:

»Gurl, unser Rennen! Wenn wir noch lange warten, wird es Nacht.«

Nun stand auch Gurl auf. »Du hast recht, Bruder.« Er sah auf Atlan

herab. »Bleibt noch sitzen, die Ruhe wird euch gut tun. Und dann marschiert nach Os-ten, wenn ihr zum Dämmersee wollt. Dort hütet euch vor den Sothkorern, den elenden Zwergen. Sie sind falsch und hinterhältig. Ich glaube nicht, daß sie euch aus den Klauen der Kenics befreit hätten.«

Fenrir strich in großem Bogen um die Gruppe, ohne sich ihr zu nähern. Er schien wieder Ausschau zu halten.

»Warum wollt ihr nicht, daß wir zu eurem Dorf gehen?« fragte Atlan irritiert über den Versuch der beiden Brüder, sie abzulenken.

»Weil wir es nicht wollen«, sagte Gurl und schwang sich auf den Sitz seines Juker. Don-nernd heulte der Motor auf. »Denkt an unsere Warnung! Und fallt nicht wieder in eine Sandfalle der Kenics ...«

Er nickte Diamantenzahn zu, der seinen Motor ebenfalls gestartet hatte, und raste los. Sekunden später waren beide in einer aufwir-belnden Sandwolke verschwunden.

Razamon sah ihnen kopfschüttelnd nach. »Das scheinen ja merkwürdige Heilige zu

sein. Außerdem fahren sie nach Süden, ob-wohl sie angeblich nördlich des Dämmersees wohnen.«

»Sie sprachen von einem Rennen«, erinner-te ihn Atlan.

Ihre leicht ramponierte Bekleidung war fast getrocknet und klebte auch nicht mehr. Ra-zamon erhob sich und machte ein paar Probe-schritte. Er deutete hinauf in den Himmel.

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»Mittag vorbei, wir müssen weiter, Atlan.

Vor Anbruch der Dunkelheit können wir den See kaum noch erreichen, wir haben zuviel Zeit verloren.«

»Unsere Skerzaals sind auch verloren, wir haben nur noch unsere Messer.«

»Wir werden uns neue Waffen besorgen, keine Angst. Schließlich müssen wir ja auch ein Schiff finden, und das scheint mir wesent-lich schwieriger zu sein.« Er sah in Richtung des Wolfes, der witternd auf einem Sandhügel stand. »Fenrir, lauf vor! Und warne uns, wenn du lockeren Sand bemerkst oder einen Trich-ter!«

Er war, als hätte der Wolf seine Worte ver-standen. Er trabte langsam in östlicher Rich-tung davon, schnupperte am Boden und hielt alle zwanzig oder dreißig Meter an, um sich umzusehen. Er wartete, bis die beiden Männer ihm folgten.

»Jetzt kennt er die Gefahr«, behauptete Ra-zamon und überprüfte die Lebensmittelvorrä-te in seinem Beutel. »Er wird aufpassen. Aber ich nehme auch an, daß er Hunger hat. Wir werden heute nicht mehr weit kommen.«

»Wir suchen einen guten Rastplatz.« »Holz sollte auch in der Nähe sein«, knurr-

te Razamon und schritt weiter aus.

2. Ihrer Schätzung nach hatten sie zwanzig

Kilometer zurückgelegt, als die Dämmerung einsetzte. Das Gelände war flacher geworden, die gewohnten Dünen fehlten fast völlig. Nur einige Ausläufer waren bis hierher vorge-drungen und durch Gras und Büsche befestigt worden.

»Ich glaube, hier bleiben wir«, schlug Ra-zamon vor und untersuchte die flache Senke, die von Grünzeug umgeben war und guten Schutz gegen den nächtlich-kalten Wind bot. »Fenrir scheint auch damit einverstanden zu sein. Er wartet auf sein Futter.«

Der Wolf hatte den Platz mehrmals umrun-det und sich dann in den Sand gelegt. Erwar-tungsvoll sah er zu, wie Razamon Holz sam-melte und Atlan mit einem Zweig den Lager-platz von Steinen und Ästen säuberte. Er kam erst näher, als die Lebensmittel ausgepackt und Speck abgeschnitten wurde. Nachdem er

seine Ration erhalten hatte, zog er sich wieder zurück, rollte sich zusammen und war bald eingeschlafen.

»Eine Wache wird überflüssig sein, Raza-mon. Fenrir wird sofort aufwachen, wenn sich uns jemand nähert. Er hat bessere Ohren als wir.«

Nach dem frugalen Mahl holten sie noch mehr trockenes Holz und stapelten es neben dem Lagerplatz auf. Keiner von ihnen hatte Lust, während der Nacht in der Dunkelheit herumzustolpern und Äste für das Feuer zu suchen, das nicht erlöschen sollte.

Wie gut diese Maßnahme war, zeigte sich einige Stunden später.

Razamon schlief tief und fest, während At-lan durch ein Geräusch aufgeschreckt wurde. Gleichzeitig sah er neben sich einen Schatten, aber es war nur Fenrir, der herbeigeschlichen kam und leise knurrte.

»Was ist, Fenrir? Witterst du etwas?« Wieder das leise und drohende Knurren. Nun wurde auch Razamon wach, verhielt

sich aber ruhig. Stumm lauschte er in die Nacht hinaus.

Plötzlich wußte Atlan, woran ihn das Ge-räusch erinnerte. Das Schaben und Kratzen und das Tappen vieler Füße ...

»Kenics!« flüsterte er. »Sie kommen nä-her.«

Wenn sie auch hier Gänge gegraben hatten, dann bedeuteten sie keine Gefahr, da der Bo-den ziemlich fest war. Also hatten sie ihr un-terirdisches Reich verlassen und griffen auf der Oberfläche an. So schnell wollten sie die willkommene Beute nicht entfliehen lassen.

»Das Feuer!« Razamon warf einige Zweige in die glühende Asche und blies in die Glut, bis die Flammen aufloderten. Sofort legte er Holz nach, bis der flackernde Schein die gan-ze Mulde erleuchtete.

Die Kenics schienen die Männer und den Wolf eingekreist zu haben, denn sie waren überall. Aber sie zögerten, als die Hitze des Feuers ihnen entgegenschlug. Atlan wußte, daß sie verloren waren, sobald die Flammen niedriger wurden oder ganz erloschen. Zum Glück hatten sie einen Holzvorrat für mehr als zwei oder drei Stunden.

Fenrir machte keine Anstalten, die Skorpi-one anzugreifen. Mit einigen wenigen wäre er

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wahrscheinlich schnell fertig geworden, aber es waren ihrer zu viele. Atlan schätzte, daß es an die hundert waren.

Ihre Panzer reflektierten den Schein des Feuers und hätten ein gutes Ziel für die Bol-zen einer Skerzaal abgegeben. Aber die Arm-brüste lagen irgendwo zwanzig Kilometer entfernt unter Sand begraben.

Ob die nächtlichen Angreifer vom selben Stamm waren wie jene, die ihre Sandfalle angelegt hatten?

Dreißig Minuten lang veränderte sich die Lage nicht. Da wurde es Razamon zuviel. Als Atlan das unruhige Flackern in seinen Augen sah, wußte er Bescheid. Das Unbeherrschte und Böse gewann wieder die Oberhand, in dieser Situation vielleicht nicht einmal ein großer Nachteil.

»Ganz ruhig bleiben, Razamon, keine Un-überlegtheiten! Damit erreichen wir nichts. Das Holz reicht noch eine Weile ...«

»Aber nicht bis zum Morgen. Und wenn schon, was würde uns das helfen? Die Biester greifen auch bei Tageslicht an. Nein, wir müssen jetzt etwas unternehmen. Sie haben Angst vor dem Feuer.«

»Wie fast alle wilden Tiere ...« »Eben! Los, wir schieben einige Äste ins

Feuer und machen uns Fackeln. Damit sie besser brennen, müssen wir ein wenig Speck opfern. Vielleicht auch noch einige Kleider-fetzen.«

»Glaubst du, daß die Kenics davonlaufen werden, wenn wir mit brennenden Ästen nach ihnen werfen?«

»Das kaum, aber wir werden sie richtig ver-jagen, du wirst sehen. Und auch Fenrir wird dann angreifen, wenn er sieht, daß die Kenics in die Flucht zu schlagen sind.«

»Die Götter von Pthor erhalten dir deinen Optimismus«, wünschte Atlan.

Sie wickelten einige Lappen, die sie vorher mit Speck eingerieben hatten, um dickere Zweige und schoben sie dann in die Flam-men. Sie brannten sofort lichterloh und ver-breiteten eine Helligkeit, die die Kenics noch weiter zurückweichen ließ. Fenrir fürchtete das Feuer nicht, außerdem schien er zu erra-ten, was die beiden Männer planten, und be-gann freudig zu winseln.

»Na, dann los! Du nach Ost, Atlan, ich

nach West.« Sie stießen ein schreckerregendes Gebrüll

aus, als sie mit kreisenden Fackeln auf die Kenics zurannten und waren nicht überrascht, als diese zurückwichen und sich zur Flucht wandten. Die Skorpione konnten nicht schnell laufen und wurden ohne Schwierigkeit einge-holt. Razamon gebärdete sich wie ein Wahnsinniger und tobte sich aus, zu Dutzen-den schlug er die Kenics nieder, und die bren-nenden Äste hatten eine verheerende Wirkung auf die Panzer der Tiere.

Sie schmolzen. Atlan begnügte sich damit, den Gegner le-

diglich davonzujagen. Er wußte, daß sie auf Beute angewiesen waren und hungrig sein mußten. Doch dann dachte er an die Königin und ihre Eier. Und vor allen Dingen dachte er an das Schicksal, das sie ihnen zugedacht hat-ten, als sie hilflos im Sandtrichter gefangen waren.

Nun nahm auch er keine Rücksicht mehr. Fenrir sprang die in der Dunkelheit ver-

schwindenden Kenics an, konnte ihnen aber nicht viel anhaben, weil der Panzer sie schütz-te. Immerhin brach er einige Beine und Sta-chel ab, ehe er selbst gestochen wurde.

Er schleppte sich noch zurück bis zum Feu-er, ehe ihn das Gift lähmte. Reglos blieb er liegen.

Razamons Wutausbruch verebbte, als keine Gegner mehr vorhanden waren. Mit der noch schwelenden Fackel in der Hand näherte er sich dem Feuer und sah dort den Wolf liegen. Eine kurze Untersuchung ließ ihn erleichtert aufatmen.

»Nur gelähmt«, sagte er, als Atlan im Schein des Feuers auftauchte. »Dauert nicht lange.« Er deutete in die Dunkelheit ringsum. »Sind sie weg?«

»Ich denke schon, und sie werden sicher-lich nicht zurückkommen.«

»Wir haben ihnen eine Lehre erteilt, diesen Eierlegern ...«

Den Rest der Nacht hielten sie abwechselnd Wache, um nicht überrascht zu werden. Fen-rirs Lähmung ließ allmählich nach, aber er war so erschöpft, daß er sofort einschlief.

Bald würde es im Osten dämmern.

*

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Erst als es hell wurde, konnte sich Atlan die

seltsamen Geräusche erklären, die er nach dem nächtlichen Kampf vernommen hatte. Die Kenics hatten ihre Toten und Verwunde-ten weggeschleppt. Es war nicht mehr festzu-stellen, wieviele von ihnen bei dem Überfall ihr Leben eingebüßt hatten.

»Hoffentlich eine ganze Menge!« knurrte Razamon böse.

Atlan warf ihm einen forschenden Blick zu, sagte aber nichts.

Fenrir war wieder auf den Beinen und schien keine Nachwirkungen des Skorpionsti-ches mehr zu spüren. Mit Heißhunger ver-zehrte er seine Morgenration Speck und in-spizierte die Umgebung des Lagers.

Nach dem Frühstück setzte die Gruppe ih-ren Marsch fort.

»Mehr als zehn Kilometer können es nicht mehr sein«, versuchte Razamon erneut, ein Gespräch zu beginnen, als sie zehn Minuten gegangen waren. »Gegen Mittag können wir dort sein.«

»Was weißt du eigentlich noch vom Däm-mersee?«

»Nicht mehr viel. Das Wasser soll unge-nießbar sein, außer für die Horden der Nacht, sagte man. Warum soll sich das geändert ha-ben?«

»Schlimm, daß du den Großteil deiner Er-innerung verloren hast.«

»Nicht zu ändern. Jedenfalls ist es ein un-heimlicher See, der mit keinem See zu ver-gleichen sein dürfte, den wir von der Erde her kennen.« Er lachte heiser. »Auf der Erde! Als ob wir nicht mehr auf der Erde wären ...!«

»Wir sind es nur indirekt, Razamon. Atlan-tis-Pthor scheint so etwas wie eine andere Dimension zu sein.« Er kniff die Augen zu-sammen und sah in südöstliche Richtung. »Die Ausläufer des Blutdschungels dringen weit nach Norden vor. Sieht so aus, als er-reichten sie fast das Südufer des Sees.«

»Wenn wir kein Schiff auf dieser Seite fin-den, müssen wir auch am Südufer vorbei – keine erfreuliche Aussicht.«

Fenrir war vorgelaufen, blieb aber immer in Sichtweite. Nach links und rechts wich er vom Weg ab, lief ein Stück nach Nord oder Süd und sicherte. Wenn dort eine Gefahr lau-erte, würde er es den Freunden mitteilen.

Als die Sonne ihren höchsten Stand erreich-te, sahen sie zum ersten Mal die Fläche des Dämmersees.

Wie ein dunkler Fleck, der sich bis zum Horizont dehnte, lag er in einigen Kilometern Entfernung vor ihnen. Obwohl ein stetiger Wind wehte, kräuselte sich keine einzige Welle auf seiner Oberfläche. In seiner Mitte war die Insel Tschuuhrt zu erkennen, nicht sehr groß und scheinbar nur ein nackter Fel-sen, der aus den schwarzen Fluten ragte.

Das Gelände bis zum See hin war kahl und eben. In der Nähe des Ufers standen ein paar Hütten, dazwischen bewegten sich Gestalten hin und her.

»Das müssen die Sothkorer sein, von denen unsere beiden Retter sprachen.« Razamon schirmte seine Augen mit der Hand ab. »Klar, das sind Zwerge. Die Wächter des Sees. Ob wir Kontakt aufnehmen?«

Atlan dachte daran, daß sie nur ihre Messer als Waffen besaßen. Wenn die Zwerge wirk-lich so bösartig waren, wie Diamantenzahn und Gurl behauptet hatten ...

Auf der anderen Seite benötigten sie ein Schiff, zumindest aber doch ein Boot, mit dem sie den Regenfluß hinauffahren konnten. Weitere dreihundertfünfzig Kilometer zu Fuß – das war nicht nach seinem Geschmack. Und auch nicht nach dem Razamons.

»Wir müssen es versuchen. Sie werden uns nicht gleich auffressen.«

Razamon grinste und ging weiter. Nach einer Stunde näherten sie sich einer

kleinen Siedlung, von denen es mehrere gab. Einige der Sothkorer kamen ihnen entgegen.

Sie sahen tatsächlich wie verkrüppelte Zwerge aus, so wie die beiden Jukerfahrer sie geschildert hatten. In den Händen hielten sie Gegenstände, die weniger an Waffen als an Werkzeuge erinnerten. Es waren Spaten, Schaufeln, Hacken und dergleichen. Einer schob sogar eine einrädrige Karre vor sich her.

Razamon gab Atlan einen Wink und ging ihnen entgegen. Fenrir verhielt sich vorerst abwartend und trottete seitlich auf eine kleine Anhöhe, von wo aus er alles besser beobach-ten konnte.

Wenn Razamon auch viele aus seiner atlan-tischen Vergangenheit vergessen hatte, so

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nicht die Dialekte, die hier gesprochen wur-den. Zumindest erinnerte er sich an sie, sobald er sie hörte.

»Wir kommen als Freunde und erbitten eu-re Hilfe«, sagte er mit übertrieben sanftem Tonfall, da er merkte, welche Angst die Sothkorer vor dem Wolf hatten. »Das Tier wird euch nichts tun.«

Nun kam es darauf an, ob die Zwerge ihn verstanden und in welchem Dialekt sie ant-worteten. Atlan, der die Sprache Pthors von Razamon durch Hypnoschulung erlernt hatte, wartete gespannt.

»Geht weg!« Es war ein schwerverständli-cher Dialekt. »Geht weg von hier und stört unsere Arbeit nicht!«

Welcher Art diese Arbeit war, konnte Atlan nur zu deutlich sehen. Obwohl das Ufergelän-de sehr trocken zu sein schien, waren Gräben landeinwärts und parallel zum See gezogen worden. Dazwischen erhoben sich niedrige Dämme, auf die man zur Befestigung Bäume und Büsche angepflanzt hatte. Einige kleine künstliche Seen waren so entstanden.

»Wir stören euch nicht«, war Razamons Antwort. »Wir haben bei uns ein paar Quorks und benötigen ein Boot. Könnt ihr uns ein Boot verkaufen? Wir zahlen gut.«

»Niemand braucht ein Boot, dafür gibt es Velter.«

Weder Atlan noch Razamon wußten, was ein Velter war.

»Was ist ein Velter?« fragte Razamon da-her.

Der Sothkorer, der bisher gesprochen hatte, deutete stumm auf den Rücken eines anderen Zwerges.

Atlan bemerkte erst jetzt den halbtranspa-renten Umhang, den jeder Sothkorer auf dem Rücken trug. Wenn das ein Velter war, so blieb seine Bedeutung rätselhaft. Wie konnte so ein Umhang ein Boot ersetzen? Oder gar ein Schiff?

»Ihr habt also keine Boote?« vergewisserte sich Razamon.

»Doch, wir haben kleine Boote, aber wir können sie nicht verkaufen. Geht um den See herum, wenn ihr weiterwandern wollt, aber laßt uns in Ruhe. Geht fort!«

»Schon gut«, lenkte Razamon ein, um Streit zu vermeiden, was sonst gar nicht seine

Art war. Er hatte die scheuen Blicke beobach-tet, die man Atlan zuwarf. Vielleicht hielt man ihn auch hier für einen Sohn der Götter, so wie die Guurpel es getan hatten an jenem ersten Tag auf Pthor. »Wir lassen euch in Frieden und stören euch nicht. Aber gestattet, daß wir zum Ufer gehen.«

»Nach Süden!« befahl der Sothkorer, im-mer frecher werdend.

In Razamons Augen funkelte es wütend, aber er blieb ruhig.

»Wenn ich den Kerl kräftig ins Hinterteil treten könnte«, murmelte er englisch, das er außer der Sprache Pthora am besten be-herrschte, »gäbe ich meine ganzen Quorks dafür her ...«

»Vielleicht hast du bald umsonst das Ver-gnügen«, meinte Atlan.

An der Siedlung vorbei gelangten sie zum Seeufer.

Die Sothkorer folgten ihnen mißtrauisch in einem Sicherheitsabstand. Fenrir ignorierte die Zwerge völlig, womit er wahrscheinlich seine Verachtung für sie ausdrücken wollte.

Sie blieben auf einem der Dämme stehen. Dahinter war der schlammige Strand, auf

dem nichts wuchs. Das Wasser war schwarz wie Tinte, und keine Welle regte sich, obwohl der Wind auffrischte. Der düstere Eindruck konnte auch durch den blauen Himmel nicht verdrängt werden, der sich über den See spannte. Die Insel in seiner Mitte wirkte noch immer undeutlich und verschwommen.

Die Sothkorer wurden die Sache leid, dreh-ten sich um und gingen in Richtung ihrer An-siedlung fort. Weiter nördlich waren weitere Hütten zu erkennen. Der Süden schien unbe-wohnt zu sein.

Dort bog das Ufer des Sees in drei oder vier Kilometer Entfernung nach Osten ab. Da-durch entstand eine riesige Bucht mit spärli-chem Pflanzenwuchs. Einige Dämme und natürlich entstandene Hügel versprachen tro-ckenen Boden.

»Ich glaube«, sagte Razamon nach einer Weile des Schweigens, »wir vermeiden es, ins Dorf zu gehen. Sollen sie doch ihre blödsin-nigen Velter behalten. Wir finden vielleicht weiter östlich ein Schiff, das uns weiterbringt. Und wenn nicht, verdammt nochmal, dann gehen wir eben zu Fuß!«

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Es war bereits später Nachmittag. Weit

würden sie heute nicht mehr kommen, und für die Nacht brauchten sie wieder einen ge-schützten und trockenen Platz.

Das nahe Dorf war gut einzusehen. Atlan und Razamon konnten beobachten, daß einige der Zwerge sich dem Ufer näherten und dabei ihre merkwürdigen Umhänge mit Luft füllten. Das Material legte sich dabei um sie herum und schloß sie völlig ein.

Es war Atlan völlig unverständlich, wozu die Sothkorer überhaupt Boote benötigten, wenn das Wasser ungenießbar war und auch keine eßbaren Fische enthielt, wie man in Wolterhaven behauptet hatte. Vielleicht aber konnten sie gewisse Uferstellen, an denen sie arbeiten mußten, besser über das Wasser er-reichen.

Er widmete seine Aufmerksamkeit wieder den Veltern.

Die transparente Hülle erinnerte ein wenig an einen energetischen Schutzschirm, wenigs-tens aus einiger Entfernung. Die Zwerge wo-gen nicht viel, die etwa anderthalb Meter durchmessende Luftblase sank kaum im Was-ser ein. Der Wind trieb sie nach Süden, dicht am Ufer entlang.

»Möchte wissen, wie sie damit steuern«, ließ Razamon sich vernehmen. »Erstaunlich, wirklich erstaunlich.«

»Sie überlassen sich dem Wind und den Strömungen, oder aber sie kennen eine Mög-lichkeit, die Velter am Abtreiben zu hindern. Ich jedenfalls würde mich nicht in so ein Ding setzen.«

Sieben oder acht Velter entfernten sich ziemlich weit vom Ufer, aber wie auf Kom-mando änderten sie plötzlich die Richtung und segelten wieder nach Südosten, schräg vor dem Wind. Das war ein Beweis, daß die Sothkorer es tatsächlich verstanden, die Luft-blasen, in denen sie saßen, von innen her zu steuern.

Razamon drängte zum Aufbruch. »Dort, etwa zwei Kilometer von hier, sehe

ich eine Baumgruppe. Das Ufer liegt höher als hier, es wird trocken sein. Geh vor und sammle Holz. Mach ein Feuer.«

Atlan blieb stehen und sah ihn verwundert an.

»Und du?«

»Ich werde mit Fenrir in das Dorf der Sothkorer gehen und Erkundigungen einzie-hen. Keine Sorge, ich werde schon mit ihnen fertig. Ich finde dich, wenn ich zurückkomme, auch wenn es dann schon dunkel ist. Der Schein deines Feuers wird mir den Weg zei-gen.«

»Was willst du von denen? Du hast doch selbst gesehen, wie unfreundlich sie sind.«

»Mit Fenrir als Begleiter wird man freund-licher zu mir sein, verlaß dich darauf! Die Brüder wohnen doch hier am See, also wissen sie auch eine Menge über ihn. Es hat wenig Sinn, wenn wir weitermarschieren, ohne um-fangreiche Informationen zu haben.«

Atlan nickte. »Vielleicht hast du recht. Wir treffen uns

also am Feuer. Wenn du bis Mitternacht nicht zurück bist, komme ich dich holen.«

»Das wird nicht nötig sein«, grinste Raza-mon, rief Fenrir und ging auf der Dammkrone nach Norden.

Atlan tastete nach seinem Messer und prüf-te, ob es fest in der Scheide saß. Er nahm den zweiten Vorratsbeutel auf, den Razamon hin-gestellt hatte, hängte ihn sich um und wandte sich nach Süden.

Allein ohne Razamon und Fenrir kam er sich verlassen vor. Der aufgeschüttete Damm machte nicht gerade einen verläßlichen Ein-druck, aber erste Grasspuren deuteten die künftige Befestigung bereits an. Nach links zu war das schlammige Ufer des schwarzen Sees, rechts lagen die kleinen Tümpel, die Gräben und dahinter die Ausläufer der Wüste.

Der Damm endete jäh vor der Baumgruppe, die festen Boden verriet. Atlan verließ den Damm und überquerte etwas sumpfiges Ge-lände, bis er trockenen Boden erreichte. Die Bäume wuchsen auf einem natürlichen Hügel, der sich etwa zwei Meter über dem normalen Niveau erhob. Der Boden war sandig, fest und mit dürrem Gras bedeckt. Die Bäume schie-nen ein beachtliches Alter zu besitzen. Wahr-scheinlich waren sie nicht von den Wächtern des Sees gepflanzt worden, sondern ein Süd-wind hatte ihren Samen vom Blutdschungel herbeigebracht.

Atlan fand eine sandige Nische in der Baumgruppe, nach Nordosten zum See hin gelegen. Trockene Äste lagen in Griffnähe, so

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daß er sich das mühselige Einsammeln sparen konnte. Damit die Flammen nicht so weit sichtbar wurden, trug er ein paar Steine zu-sammen und errichtete einen kleinen Kamin.

Die Sonne näherte sich dem Horizont, und es wurde kühler. Er setzte sich auf einen um-gestürzten Stamm und wartete auf Razamons Rückkehr.

*

Als die Dämmerung einsetzte, zündete At-

lan das Feuer an, um Razamon den Weg zu weisen. Er konnte nicht verhindern, daß er unruhig wurde. Sein Freund hätte längst zu-rück sein müssen. Hatte er sich von den Zwergen überrumpeln lassen?

Er aß etwas von dem getrockneten Brot und trank einen Schluck Wasser. Die Flasche mußte bald neu gefüllt werden, aber bis jetzt hatte er in dieser Gegend keinen Zufluß zum Dämmersee entdecken können. Weiter östlich würde es sicher Quellen geben.

Dann hörte er ein Geräusch. Er stand auf und stellte sich zwischen die

Bäume, wo ihn der Schein des Feuers nicht erreichen konnte, und zog das Messer. Raza-mon konnte es nicht sein, denn der hätte sich durch einen Zuruf zu erkennen gegeben.

Nur flüchtig sah er den dunklen Schatten drüben auf dem Damm. Er hob sich gegen den grauen Horizont ab, blieb aber unkennt-lich. Dann verschwand er, als er das Sumpfgelände zwischen Damm und Baumgruppe betrat.

Atemlos lauschte Atlan, den Griff des Mes-sers fest umklammert.

Der Schatten überquerte das schmale Sumpfgelände und geriet dann in den Licht-schein des Feuers ....

»Fenrir!« Atlans Erleichterung mischte sich mit Sorge. Der Wolf war allein. »Komm her!«

Das Tier winselte leise und kam herbeige-laufen. Kaum bei Atlan angelangt, gab er At-lan durch sein Verhalten zu verstehen, daß er in die Richtung zurückwollte, aus der er ge-kommen war.

»Razamon! Was ist mit Razamon, Fenrir?« Wieder winselte der Wolf, packte mit sei-

nem mächtigen Gebiß vorsichtig Atlans Hand und zog ihn in Richtung des Dammes fort.

Das war so eindeutig, daß der Arkonide keine Sekunde mehr zögerte. Er schob sein Messer in die Scheide zurück und folgte dem Wolf, nachdem er noch zwei dicke Äste ins Feuer geworfen hatte.

Razamon mußte etwas passiert sein, sonst wäre Fenrir nicht allein zurückgekommen. Vielleicht hatten die Sothkorer ihn überlisten können und hielten ihn gefangen, wenn sie es nicht vorgezogen hatten, ihn gleich umzu-bringen.

Im Eiltempo legten Atlan und der Wolf die Strecke auf dem Damm zurück, bis sie die ersten Lagerfeuer zwischen den Hütten sahen. Dazwischen bewegten sich Gestalten hin und her – die Zwerge.

Von nun an waren Atlan und sein Begleiter vorsichtiger, um nicht frühzeitig bemerkt zu werden. Jede Deckung ausnutzend, schlichen sie sich an das kleine Dorf heran und blieben in einem feuchten Graben liegen, der nur we-nige Meter von der ersten Hütte entfernt war.

Auch Fenrir verhielt sich ruhig, und Atlan bedauerte, daß er nicht sprechen konnte. Aber zumindest verstand er, was gesprochen und von ihm verlangt wurde.

»Wo ist Razamon, Fenrir? Zeige es mir!« Der Wolf begriff, was man von ihm wollte.

Fast auf dem Bauch liegend, kroch er weiter, auf die Hütten zu. Atlan sah ihm nach und hoffte, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Die Feuer warfen zuckende Schatten, die jede genaue Beobachtung unmöglich machten. Sothkorer schleppten schwere Kessel herbei, die sie an Dreifußgestellen über die Feuer hingen. Mit Ästen rührten sie den Inhalt um. Sie schienen ein Festmahl vorzubereiten.

Fenrir hielt sich im Schatten, als er an den Rückwänden der Hütten vorbeischlich und schließlich vor einer anhielt, die gut fünfzig Meter von der Stelle entfernt war, an der At-lan kauerte. Dort wartete er.

Nun war Atlan sicher, daß Razamon in die-ser Hütte gefangen gehalten wurde. Warum und weshalb, blieb vorerst ein Rätsel. Viel-leicht sollte er der Mittelpunkt des festlichen Mahls werden ...

Atlan lief ein Schauder den Rücken hinab, aber dann riß er sich zusammen. Vorsichtig schob er sich aus dem schützenden Graben und kroch auf allen vieren über die ebene Flä-

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che auf die Hütte zu.

Durch die Zwischenräume fiel der Schein der Feuer, und es gab keine Deckungsmög-lichkeit. Einmal erschien sogar ein Sothkorer und ging dicht an Atlan vorbei, der regungs-los auf dem feuchten Boden lag und die Luft anhielt. Der Zwerg verschwand im Dunkel der Nacht.

Atlan kroch weiter, bis er Fenrir erreichte. Der Wolf scharrte mit den Vorderpfoten den Boden an der Rückwand der Hütte auf, ein absolut sicheres Anzeichen dafür, daß sich Razamon hinter dieser Wand aufhielt.

Atlan tastete die Holzbretter ab und stellte fest, daß sie sehr dünn und zum Teil schon verfault waren. Die Ritzen zwischen ihnen waren so breit, daß sich die ganze Hand durchschieben ließ. Er versuchte, in das Inne-re der Hütte zu schauen, aber drinnen war es stockdunkel.

»Razamon!« flüsterte er kaum hörbar. Dann, als keine Reaktion erfolgte, etwas lau-ter: »Razamon, bist du dort?«

Einige Sekunden war Stille, dann raschelte trockenes Laub.

»Atlan ...?« »Fenrir brachte mich her. Wie geht es dir?« »Die Halunken haben mich überlistet und

gefesselt. Ich sehe aus wie ein Paket. Fenrir ist verschwunden.«

»Das war gut so, sonst wäre ich nicht hier. Warte, ich versuche, zu dir zu gelangen.«

»Mach leise, vor der Hütte lungern ein paar Zwerge herum.«

Atlan verbreiterte eine der Ritzen mit dem Messer und löste zwei Bretter, die nur lose herabhingen. Er gab Fenrir ein Zeichen, zu warten, und kroch dann in das Innere der Hüt-te. Seine suchenden Hände fanden Razamon. Er zerschnitt dessen Fesseln und kroch wieder ins Freie. Der Atlanter folgte ihm lautlos.

Fenrir unterdrückte ein freudiges Winseln, wedelte aber mit dem Schwanz wie ein Hund, der seinen Herrn begrüßt.

»Schnell weg hier«, warnte Razamon. »Al-le paar Minuten sieht in der Hütte jemand nach, ob ich noch da bin. Das wird eine schö-ne Hetzjagd werden, wenn sie die Flucht be-merken.«

»Wie ist es überhaupt passiert ...?« »Das hat Zeit bis später, wir müssen weg

von hier! Die Zwerge sind nicht zu unter-schätzen. Sie haben Pfeil und Bogen schon erfunden ...«

Durch den Graben gelangten sie zum Damm und liefen dann nach Süden. Als sie etwa tausend Meter zurückgelegt hatten, hör-ten sie hinter sich ein infernalisches Wutge-heul. Die Sothkorer hatten die Flucht ihres Gefangenen bemerkt. Fackeln wurden ange-zündet, dann begann die Suche nach den Spu-ren des Entflohenen.

Aber sie gaben bald auf, denn in der Dun-kelheit war trotz der Fackeln nicht viel zu sehen. Außerdem schienen sich die Zwerge vor der Nacht zu fürchten, denn sie entfernten sich nicht sehr weit von ihren Hütten.

»Bis morgen sind wir sicher vor ihnen«, hoffte Razamon. Sie verlangsamten ihr Tem-po, als sie den Schein des Feuers vor der Baumgruppe sehen konnten. »Du hast es uns schon gemütlich gemacht?«

»Das Feuer brennt, wir können gleich es-sen. Und dabei wirst du mir endlich erzählen, wie es passiert ist.«

*

Als sie den letzten Bissen herunterge-

schluckt und auch Fenrir seinen Teil abge-kriegt hatte, erzählte Razamon:

»Ich rechnete mit keiner Gefahr, als ich zu den Sothkorern ging. Sicher, sie hatten sich uns gegenüber recht rüde benommen, aber einen gewalttätigen Eindruck schienen sie mir nicht zu machen. Also ging ich ziemlich un-besorgt in ihr Dorf.

Es geschah zuerst auch nichts. Nach einigem Hin und Her führten sie mich

zu ihrem Dorfältesten, der die Arbeiten am See beaufsichtigt und für Ruhe und Ordnung im Dorf zu sorgen hat. Es kam ein Gespräch zustande, bei dem ich einiges in Erfahrung bringen konnte, was vielleicht nützlich für uns ist.

Wir hatten richtig vermutet. Die Sothkorer benutzen den Weg über das Wasser, um sumpfige Stellen am Ufer zu erreichen. Dort sollen Gräben und Dämme angelegt werden. Über den Dämmersee selbst berichten sie un-heimliche Dinge. Ein paar Einzelheiten ken-nen wir ja schon.

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Das Wasser ist durchaus nicht ungenießbar,

aber niemand trinkt es. Denn wer es trinkt, wird von einem regelrechten Blutrausch be-fallen und tötet alles, was ihm begegnet. Die Sothkorer holen ihr Wasser aus Brunnen und Bächen, aber niemals aus dem See.

Ich schätze die Fläche des Sees auf mehr als tausend Quadratkilometer. Seine Tiefe ist unbekannt. Angeblich soll es überhaupt kei-nen Grund geben, aber das ist natürlich Un-sinn. Die Insel in der Seemitte heißt, wie wir schon wissen, Tschuuhrt. Ihr Betreten ist bei Todesstrafe verboten. Immer wieder kommt es vor, daß Sothkorer in Booten oder Vel-terblasen abtreiben, auf die Insel zu. Man hat nie wieder von ihnen gehört.

Weiter berichtete mir der Dorfälteste, in den Tiefen des Sees gäbe es gräßliche Unge-heuer, die jedoch nur selten zur Oberfläche emporstiegen. Manchmal aber könne man sie unter den Booten sehen, wenn das Sonnen-licht richtig einfällt. Auch entstehen oft Ne-belbänke, so daß man nicht mehr zum Ufer zurückfindet. Das Wasser ist immer eiskalt, auch am Tag, wenn die Luft warm ist.

Ich sehe deinem ungläubigen Gesicht an, daß du zweifelst. Ich tue es auch und glaube nicht alles, was man mir erzählt, aber viel-leicht erhalten wir Gelegenheit, selbst bald herauszufinden, was Wahrheit und was Mär-chen ist.

Nun gut, ich wollte aufbrechen, als unser Gespräch beendet war. Ich rief Fenrir, aber er war verschwunden. Und dann fiel mir noch auf, daß sich das halbe Dorf um uns versam-melt hatte. Da standen diese Giftzwerge, in den Händen ihre Bogen und auf den Rücken die Köcher mit den Pfeilen. Sie sahen alles andere als friedlich aus.

Als ich mich erhob und gehen wollte, zeig-ten mindestens drei Dutzend Pfeilspitzen auf mich. Der Dorfälteste grinste hämisch und meinte, nun wisse ich ja alles, was ich hatte wissen wollen, und sie hätten vor, heute ein großes Fest zu feiern. Ich solle der Ehrengast sein.

Zu jener Stunde ahnte ich noch nicht, was sie unter einem Ehrengast verstanden, aber als sie dann die Kochtöpfe heranschleppten, wur-de mir ganz anders zumute. Hinzu kam, daß Fenrir verschwunden war. Der Wolf mußte

eingesehen haben, daß er gegen ihre Pfeile nicht kämpfen konnte. Er hielt es für klüger, dich zu alarmieren.

Ja, das ist im Grunde alles, was es zu be-richten gibt. Diese Nacht noch werden wir Ruhe haben, aber ich fürchte, daß sie morgen die Verfolgung aufnehmen. Sie wissen ja un-gefähr, wohin wir wollen. Sie haben uns den Weg am Südufer entlang sogar empfohlen. Dort können sie uns einholen, besonders dann, wenn sie den Wasserweg nehmen.

Ich schlage vor, daß wir morgen sehr früh aufbrechen und eine möglichst große Entfer-nung zwischen uns und die Verfolger bringen. Es sind immerhin vierzig Kilometer bis zur Mündung des Regenflusses, unwegsames Gelände mit Sumpfwald und Schlammtei-chen, in denen Ungeheuer hausen sollen. Also kein reines Vergnügen, aber wir haben keine andere Wahl. Natürlich bliebe uns noch ein Umweg mehr nach Süden, aber da geraten wir zu sehr in die Nähe des Blutdschungels und außerdem an den Rand der Ebene Kalmlech, wo die Horden der Nacht sind. Denen möchte ich erst recht nicht in die Hände fallen.«

*

Atlan legte Holz nach. In einer Sandkuhle,

noch im Bereich des Feuerscheins, lag Fenrir und schlief.

»Glaubst du, daß die Sothkorer Kannibalen sind?«

Razamon hob die Hände und ließ sie wie-der sinken.

»Ich weiß nicht. Zumindest keine gewohn-heitsmäßigen. Sie haben mich eben als eine Art willkommene Zwischenmahlzeit betrach-tet, als ein fremdes Tier, auf dessen Knochen Fleisch sitzt, und mit Fleisch scheinen sie nicht gerade gesegnet zu sein. Es gibt Fische in dem See, aber die fangen sie nicht. Nur die in den Flüssen.«

»Kannibalismus aus Gelegenheit ...« Atlan rollte sich seinen Baumstamm zurecht. »Schlaf du zuerst, während ich wache, denn du wirst erschöpft sein. Es ist nicht gerade ein Vergnügen, sich schon im Kochtopf schmo-ren zu sehen.«

»Du sagst es«, knurrte Razamon müde und streckte sich neben dem Feuer aus.

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3.

Atlan weckte den Freund erst, als es im Os-

ten schon zu dämmern begann. Dann legte er sich selbst hin, um noch ein paar Stunden zu schlafen. Fenrir kam zu Razamon und setzte sich neben ihn. Stumm und mit klugen Augen blickte er nach Norden, wo die Zwerge wohn-ten.

Dort rührte sich nichts. Alles blieb ruhig. Nur das Prasseln der trockenen Äste in den Flammen war zu hören. Ein trügerischer Frie-de.

Die Sonne ging auf, aber der Wasserspiegel des Dämmersees veränderte sich nicht; er blieb dunkel, so als würden die Strahlen nicht reflektiert, sondern gänzlich verschluckt. Ra-zamon bereitete das Frühstück vor und weck-te Atlan.

»Wir werden heute nicht sehr weit kom-men, weil es doch später geworden ist, als wir wollten. Aber mindestens die Hälfte der Ge-samtstrecke sollten wir schaffen. Notfalls ü-bernachten wir auf den Bäumen, wenn es un-ten zu unsicher ist.«

Eine halbe Stunde später brachen sie auf. Die Sothkorer hatten sich nicht mehr blicken lassen, aber Atlan konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß sie ganz in der Nähe wa-ren und sie beobachteten.

Sie hielten sich in einiger Entfernung vom sumpfigen Ufer, was das Vorankommen er-schwerte. Bäume waren nur vereinzelt vor-handen, aber in Marschrichtung standen sie dichter. Trotzdem kamen die beiden Männer und der Wolf relativ schnell voran. Dann kreuzte ein Fluß ihren Weg.

Razamon wartete, bis Fenrir trank, dann probierte er selbst.

»Etwas unklar, aber in Ordnung. Wir kön-nen die Flaschen auffüllen.«

Der Fluß war nicht tief. Das Wasser reichte gerade bis zu den Knien. Ohne Schwierigkei-ten überquerten sie ihn und gelangten ans andere Ufer. Bevor sie den eigentlichen Sumpfwald erreichten, mußten sie über eine halb ausgetrocknete Sumpfebene. Der hart gewordene Schlamm bildete unregelmäßige Rillen und hatte alle alten Spuren konserviert.

Razamon war stehengeblieben, während Fenrir winselte und die verewigten Eindrücke,

die deutlich zu sehen war, beschnüffelte. Auch Atlan sah sie, und es lief ihm kalt den Rücken herunter.

Klauenabdrücke, größer als ein Männer-kopf, wechselten mit breiten Schleifspuren ab, die alle hinab zum See führten. Dazwischen gab es riesige Tatzen und Hufe von Tieren, die ihres Gewichts wegen tief in den ver-trockneten Schlamm eingesunken waren.

»Die Horden der Nacht«, murmelte Raza-mon und sah hinauf zum Himmel. »Wir müs-sen weiter, denn hier können wir nicht blei-ben. In der Nacht ist hier die Hölle los.«

»Es ist erst Mittag«, machte Atlan ihn auf-merksam.

»Sie werden überall sein ...« Die Spuren kamen aus Südost. Dort lag die

Ebene Kalmlech. Fenrir hörte nicht auf zu winseln, bis sie

den Marsch fortsetzten. Sie erreichten endlich den Waldrand und drangen in das dichte Un-terholz ein. Einen ausgetretenen Pfad entdeckten sie erst ein wenig später, als sie schon nach Süden abbiegen wollten, weil sie nicht mehr weiterkamen. Die kleinen Fußspuren konnten nur von den Sothkorern stammen. »Sieh mal einer an!« wunderte sich Raza-mon. »Soviel Mut hätte ich ihnen gar nicht zugetraut. Sie wagen sich tatsächlich bis hier-her vor.«

»Schlecht für uns.« »Wieso? Ohne sie gäbe es diesen Pfad

nicht, der uns ganz schön weiterbringt.« »Richtig, aber nun wissen wir auch, daß sie

uns verfolgen können.« Razamons betroffenes Gesicht verriet, daß

er an diese Möglichkeit nicht gedacht hatte. Dann klopfte er Fenrir aufs Hinterteil und ging weiter.

Atlan folgte mit gemischten Gefühlen.

* Sie legten an diesem Tag kaum mehr als

zwanzig Kilometer zurück, immerhin die Hälfte der Strecke bis zum Regenfluß. Mehr-mals kreuzten sie die Spuren der Ungeheuer aus der Ebene, die nur nachts zur Tränke ka-men. Sie schienen die einzigen Lebewesen zu sein, die am Dämmersee ihren Durst stillten.

Als es zu dämmern begann, suchten sie

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nach einem geeigneten Lagerplatz. Fenrir benahm sich anders als sonst. Immer wieder lief er ein Stück vor oder zurück, sicherte nach allen Seiten und machte einen unschlüs-sigen Eindruck.

»Es muß die Witterung der Monstren sein«, vermutete Razamon. »Ist doch klar, daß sie ihn beunruhigt.«

Atlan war nicht so sehr davon überzeugt, daß es nur die Witterung der nächtlichen Un-geheuer war. Mehrmals während des Mar-sches hatte er geglaubt, hinter sich Geräusche zu hören, weit entfernt und nicht sehr laut. Aber er war sich seiner Sache nicht sicher und schwieg.

»Wo übernachten wir?« fragte er statt des-sen.

»Feuer werden wir keins machen können.« Razamon blickte an den Bäumen hinauf, de-ren zahlreiche Äste gute Aufstiegsmöglichkeiten boten. »In einer der dichten Kronen wären wir am sichersten.«

»Und Fenrir?« »Wir müssen einen schräg gewachsenen

Stamm finden, dann kann er mit uns kommen. Er ist klug und sehr geschickt.«

Sie fanden einen solchen Baum. Sein Stamm war gut einen Meter dick und in ei-nem Winkel von fünfundvierzig Grad nach oben geneigt. Razamon kletterte voran und lockte Fenrir, der ihm ohne Zögern folgte. Atlan bildete den Abschluß.

Zehn Meter über dem Boden gabelte sich der Stamm und bildete eine richtige kleine Plattform, auf der sie alle Platz fanden. Es war etwas eng und unbequem, aber wenigs-tens trocken. Weit über ihnen bot das dichte Blätterdach Schutz gegen eventuellen Regen.

Sie kramten ihre Vorräte aus den Beuteln und aßen kalt. Dann wurde es schnell dunkel. Zum Glück wuchsen genügend kleinere Äste an allen Seiten, die jede Gefahr eines verse-hentlichen Absturzes während des Schlafens verhinderten. Sie wirkten wie ein Geländer. Sicher gab es in der ganzen Umgebung keinen geschützteren Platz als diesen.

Fenrir rollte sich nach einigen Knurrlauten zusammen und schlief ein. Auch Razamon streckte die Beine aus und schob seinen Beu-tel unter den Kopf.

»Ich glaube, wir brauchen diesmal keine

Wache zu schieben, Atlan. Der Geruchssinn der Monstren ist nur sehr schlecht ausgebil-det, wenigstens in den meisten Fällen. Sehen können sie auch nicht besonders gut. Und ich habe noch nicht gehört, daß sie auf Bäume klettern.«

»Morgen erreichen wir die Mündung des Regenflusses«, sagte Atlan nur und schloß die Augen.

*

Mitten in der Nacht schreckte sie der Lärm

aus tiefstem Schlaf. Zuerst war es nur ein fernes Donnern gewe-

sen, dem sie keine Beachtung geschenkt hat-ten, aber dann war das Donnern näher ge-kommen und hatte sich zu einem ohrenbetäu-benden Krach entwickelt. Dazwischen ertön-ten schrille Töne wie aus Trompeten, heulte es wie aus tausend Wolfsmäulern und kreischte es so grausig, als würden hundert Hexen auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Die Plattform, die bisher Sicherheit und Gebor-genheit gegeben hatte, begann zu schwanken und zu zittern, als bebe die Erde.

Und sie bebte wirklich unter den Hufen und Pranken der Horden der Nacht, die zur Tränke eilten, um ihren Durst zu stillen. Sie benutzten dazu eine breite Schneise, die den Dämmersee mit der Ebene verband, nur wenige hundert Meter von dem Schlafplatz der drei Wanderer entfernt.

Fenrir war schon lange wach geworden. Immer noch lag er zusammengerollt auf sei-nem Lager, aber er knurrte und winselte leise vor sich hin. Nun war er nicht mehr der tapfe-re und unerschrockene Kämpfer, sondern nur noch ein Tier, das von instinktiver Furcht halb gelähmt war.

Atlan erging es nicht viel anders, und auch Razamon schien von dem Auftauchen des apokalyptischen Heeres nicht gerade begeis-tert zu sein. Beide Männer konnten sich vor-stellen, was auf der Erde geschehen würde, wenn es diesen Ungeheuern gelang, die Ener-giebarriere zu durchbrechen. Es war, als hätte die Unterwelt ihre Pforten geöffnet und alle in ihr versammelten Bestien freigelassen.

»Manchmal«, murmelte Razamon, als wol-le er sich ablenken, »dringen die Ungeheuer

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am Seeufer entlang mehr nach Norden vor, so berichtete mir der Dorfälteste der Zwerge. Dann lassen sich die Sothkorer in ihren Vel-tern hinaus auf den See treiben, um der Ver-nichtung zu entgehen. Das Wasser des Däm-mersees macht die Horden der Nacht noch blutrünstiger, als sie es schon sind. Sie ver-schonen nichts, was sich ihnen in den Weg stellt.«

»Tröstlicher Gedanke«, meinte Atlan und streichelte Fenrir, der immer unruhiger wurde.

Stunde um Stunde verging. Immer neue Ungeheuer kamen, während jene, die getrun-ken hatten, wieder in die Ebene zurückkehr-ten. Das Donnern hörte niemals auf, man mußte es selbst am gegenüberliegenden See-ufer noch wahrnehmen können.

Noch bevor die Dämmerung über den östli-chen Horizont kroch, sah Atlan durch die Zweige hindurch auf der schwarzen Oberflä-che des Dämmersees einige Dutzend helle Punkte, die sich langsam näherten. Er machte Razamon darauf aufmerksam, der nach inten-siver Beobachtung sagte:

»Sothkorer! Sie treiben in ihren Veltern auf dem See. Aber ich frage mich, warum sie in unsere Richtung treiben. Als ob sie wüßten, daß wir hier sind. Vielleicht haben sie es vor-her auskundschaften können.«

»Aber was wollen sie dann hier? Angreifen können sie uns nicht, weil die Horden aus der Ebene noch hier sind. Und gerade vor denen flüchten sie ja auf den See.«

Die hellen Blasen hoben sich deutlich von ihrem dunklen Hintergrund ab. In ihrem In-nern waren die Zwerge nur verschwommen erkennbar. Der Nordwind trieb sie immer näher an die Südküste heran.

»Die Tränke liegt weiter links, im Westen«, stellte Razamon fest. »Die Velter werden wei-ter rechts landen – wenn sie landen.«

Die Uferböschung, über die man nicht mehr hinwegsehen konnte, ließ die Sothkorer ver-schwinden, als sie das Ufer erreichten.

»Sie werden doch nicht so verrückt sein ...«, begann Atlan, ohne den Satz zu vollen-den.

Links war noch immer das Donnern, Schnaufen und Schmatzen der Monstren zu hören, die erst jetzt zur Tränke kamen. Bre-chende Zweige und andere Geräusche ließen

vermuten, daß sich einige der Ungeheuer auch in den Wald hineinwagten, vielleicht dicht an dem Baum vorbei, auf dem Atlan und Raza-mon Schutz gefunden hatten.

Die beiden Männer hielten entsetzt den A-tem an. Wenn der Gigant sie entdeckte, waren sie rettungslos verloren.

Und dann – es dämmerte bereits – erfuhren sie von einer Sekunde zur anderen, warum die Sothkorer gekommen waren.

Damit bestätigte sich Razamons Vermu-tung: Sie wußten, wo die Fremden steckten, die ihnen einen Streich gespielt hatten. Und sie planten eine furchtbare Rache.

So feucht der Waldboden und das Ufer auch sein mochten, das Laub der Bäume und die kleineren Zweige waren trocken. Es hatte lange nicht mehr geregnet in dieser Region.

Der erste Brandpfeil kam vom Ufer her ge-flogen und verfing sich in einiger Entfernung im Wipfel eines Baumes. Das Laub begann sofort zu brennen, und bald stand die Krone in hellen Flammen.

Es wurde in der näheren Umgebung taghell.

* Immer mehr Pfeile kamen herbeigezischt

und fanden ihr Ziel. Manche fielen auch wir-kungslos auf den feuchten Waldboden, wo sie einfach ausbrannten. Aber immer wieder lo-derte die trockene Krone eines Baumes auf und gab dem sich immer mehr ausbreitenden Feuer neue Nahrung.

Atlans Hoffnung, daß ihr Baum verschont bliebe, erfüllte sich nicht. Hoch über der Ast-gabelung entzündete sich das schützende Blätterdach. Funken und glühende Äste fielen herab. Fenrir sprang auf, fletschte wütend die Zähne und begann, den Stamm hinabzukrie-chen.

Die an der Tränke versammelten Ungeheu-er wurden ebenfalls unruhig. Das wieder lau-ter werdende Donnern der Hufe und Stampfen der Säulenbeine verriet den beginnenden Rückzug in die Ebene Kalmlech.

Einige der Tiere aber drangen in den Wald ein und rannten genau auf das Feuer zu, als würden sie von der plötzlichen Helligkeit an-gezogen.

»Wir müssen hier weg!« rief Razamon wü-

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tend. »Sofort!«

»Und wohin? Unten werden wir zertram-pelt.«

»Zum See! Vielleicht sind einige Zwerge mit einem Boot gekommen.«

Razamon folgte Fenrir mit den Beinen vor-an.

»Was willst du gegen ihre Pfeile unterneh-men?«

»Abwarten!« riet Razamon. Kaum hatten sie wieder festen Boden unter

den Füßen, da zersplitterten nicht weit von ihnen entfernt junge und noch dünne Baum-stämme unter dem Anprall eines mächtigen Körpers. Der Boden zitterte, als das wütende Stampfen sich näherte. Im Schein der bren-nenden Baumkronen erkannte Atlan einen riesigen Schatten, der sich einen Weg durch das dichte Unterholz bahnte.

»Zum See!« wiederholte Razamon und rannte hinter Fenrir her.

Atlan zögerte nicht mehr länger. Außerdem fielen immer mehr brennende Zweige und ganze Laubbüschel von oben herab. Nicht mehr lange, und der ganze Wald würde ein einziges Flammenmeer sein.

Der riesige Schatten wechselte die Rich-tung und kam nun genau auf Atlan zu, der verzweifelt sein Tempo erhöhte und gegen Razamon aufzuholen begann. Die Bäume standen nicht mehr so dicht, so daß sie schnel-ler vorankamen. Dann lag der breite Uferstrei-fen vor ihnen.

Immer noch flogen Brandpfeile über sie hinweg und verrieten die Stellung der Schüt-zen. Es wurde klar, daß die Sothkorer ihre Velter verlassen und an Land gehen mußten, um ihre Bögen zu benutzen. Im Innern der Blasen waren sie hilflos.

Auch von links mußten sich Ungeheuer nä-hern, denn das dumpfe Stampfen gewaltiger Füße kam näher. Die Sothkorer wandten sich zur Flucht. Dicht am Ufer schaukelten ihre Velter im Wind.

Es war dämmerig geworden, hinzu kam der Feuerschein des Waldbrands. Als Atlan sich umdrehte, sah er, daß der große Schatten noch immer hinter ihm war, aber schon wieder wei-ter entfernt als vorher.

»Los, wir schnappen uns einen Velter!« rief Razamon und rannte mit schwingenden Ar-

men und furchterregendem Gebrüll auf die letzten Zwerge zu, die hastig ihre Waffen in den Blasen verstauen und fliehen wollten.

Diesmal aber griff Fenrir erbarmungslos an, ohne auf die wenigen Pfeile zu achten, die ihm um die Ohren flogen.

Atlan hatte keine Zeit, sich um Razamon und Fenrir zu kümmern. Der Atlanter hatte recht: Die einzige Fluchtmöglichkeit war der Dämmersee.

Genau vor ihm war ein Sothkorer gerade dabei, in seinen Velter zu steigen. Pfeile und Bogen hatte er schon darin verstaut. Atlan erreichte ihn, packte ihn an den Armen und schleuderte ihn dann ein paar Meter weit fort. Der Zwerg war so verdutzt, daß er lie-genblieb, aber dann sah er den riesigen Schat-ten des Ungeheuers auf sich zustürmen.

Atlan kümmerte sich nicht darum. Er spürte die eisige Kälte des Wassers, als er den Velter in den See schob und dann versuchte, sich durch die kleine Öffnung in sein Inneres zu zwängen. Noch während es ihm gelang, be-gann die Blase – gegen den Wind – abzutrei-ben.

Der Blick durch das halbwegs transparente Material wurde stark getrübt. Einzelheiten waren nicht mehr zu erkennen, nur grobe Um-risse. Atlan sah immerhin, daß sein Verfolger, der riesige Schatten, den Zwerg niedertram-pelte und sich dann ins Wasser stürzte, um die Verfolgung aufzunehmen.

Ein Stück entfernt trieb ein anderer Velter. Razamon hatte es ebenfalls geschafft. Aber wo war Fenrir geblieben?

* Der Wolf verharrte, als er das Wasser er-

reichte. Razamon und Atlan trieben mit ihren seltsamen Fahrzeugen vom Ufer weg in den See hinaus. Er begriff, daß sie ihm nicht hel-fen konnten und daß sie sich nicht weit ent-fernen würden.

Er würde warten, bis sie zurückkehrten. Hinter ihm loderte der Waldbrand. Eines

der riesigen Ungeheuer raste dicht an ihm vorbei, ohne ihn zu bemerken, stampfte einen der Zwerge nieder, dann einen zweiten, um sich dann in den See zu stürzen.

Es schwamm hinter Atlan und Razamon

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her.

Fenrirs Beschützerinstinkt erwachte. Er hat-te unsagbare Scheu vor dem Ungeheuer, aber auch vor dem unheimlichen Gewässer, doch der innere Drang, seinen beiden Herren zu helfen, war größer.

Trotzdem zögerte er noch. Das Wasser war eisig kalt und schwarz.

Aber drüben am brennenden Waldrand tauch-ten weitere Schatten auf, überdimensional große und furchtbare Schatten, die in wildem Galopp auf den Strand zustürmten. Fenrir wußte, daß sie ihn glatt zertrampeln würden.

Mit einem Satz war er im tiefen Wasser und spürte, daß es ihn trug. So schnell er konnte, schwamm er vom Ufer weg.

Er konnte die beiden Velter gut erkennen, weiter draußen waren noch mehr, die aber schnell nach Westen abgetrieben wurden. Fenrir beschleunigte sein Tempo, um Atlan und Razamon einzuholen. Links von sich sah er zum ersten Mal so etwas wie Wellen. Das Wasser bildete Wirbel und Schaumkronen, hervorgerufen durch die ungeschickten Schwimmbewegungen des Monstrums, das sich in diesem Element nicht auszukennen schien.

Fenrir überholte es in einiger Entfernung und erreichte Atlan, der ihm durch die Haut des Velters Handzeichen gab. Fenrir schwamm weiter heran und blieb in der Nähe.

Die Velter der Sothkorer verschwanden allmählich in westlicher Richtung, während es im Osten ständig heller wurde. Das Feuer im Wald griff immer weiter um sich. Im Norden zogen Wolken auf. Wenn sie Regen brachten, würden sie den Waldbrand löschen.

Fenrir schwamm nun ohne jene Panik zwi-schen den beiden Veltern, die sich immer mehr vom Ufer entfernten und offensichtlich von einer starken Strömung nach Norden ge-trieben wurden – trotz des Windes, der aus dieser Richtung wehte.

Die ersten Sonnenstrahlen waren nicht von langer Dauer. Die Wolkenwand aus dem Nor-den erreichte sie und zog weiter nach Süden. Die schwarze Oberfläche des Dämmersees schien noch dunkler geworden zu sein. Dann fielen die ersten Regentropfen.

*

Atlan konnte Razamons verzerrtes Grinsen

gut erkennen. Sie waren sowohl den Unge-heuern als auch den heimtückischen Sothko-rern glücklich entkommen, dafür saßen sie nun allerdings in ihren Veltern, die sie immer weiter hinaus auf den See trugen. Immerhin befanden sie sich in relativer Sicherheit.

Fenrir, so konnte Atlan beobachten, schien das kalte Wasser nichts mehr auszumachen. Mit ruhigen Bewegungen schwamm er mit ihnen einem unbekannten Ziel entgegen. Das Ungeheuer war weit zurückgeblieben und schien die Verfolgung aufgegeben zu haben.

Razamon, der wie ein reichlich ausgewach-sener Embryo in seiner Blase hockte, begann mit den Händen zu fuchteln, bis Atlan begriff, daß es eine Art Zeichensprache sein sollte. Eine andere Möglichkeit der Verständigung gab es nicht, denn die Haut der Velter schloß sie von der Außenwelt ab. Trotzdem blieb die Luft frisch und atembar.

Es kostete Atlan keine große Mühe, die Handzeichen zu deuten.

Razamon legte die eine Hand auf den Mund, schüttelte bedauernd den Kopf, deutete auf seine Ohren und dann mit ausgestreckten Zeigefinger nach Norden, wobei er ein über-trieben besorgtes Gesicht machte.

Der Sinn war völlig klar: Auch wenn ich brülle, könntest du kein

Wort verstehen, leider. Und ich kann auch nichts hören. Aber was viel schlimmer ist: wir treiben genau nach Norden! Das macht mir verdammte Sorgen.

Es muß eine Strömung sein, gab Atlan zu-rück. Wir treiben gegen den Wind.

Genau auf die verbotene Insel Tschuuhrt zu!

Unwillkürlich blickte Atlan nach Norden. Über der dunklen Fläche des Sees lag eine

feine und dünne Schicht Nebel, die die Sicht arg behinderte, trotzdem glaubte er, in weiter Ferne eine verschwommene Erhebung erken-nen zu können. Sie wirkte grau und regelmä-ßig, fast wie ein Würfel, der im Wasser schwamm.

Fenrir klammerte sich mit den Vorderpfo-ten an Razamons Velter und ließ sich mittrei-ben. Er schien nun doch ziemlich erschöpft zu sein.

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Der Regen hatte nachgelassen, ebenso der

Feuerschein im Süden, wo die Küste zu einem dunklen Strich über dem Horizont geworden war. Nun war der ganze Himmel von Wolken bedeckt, die keine Lücke ließen.

Unwillkürlich sah Atlan wieder nach Nor-den.

Die Insel Tschuuhrt ...! Ihr Betreten war bei Todesstrafe verboten

... Er lächelte grimmig. Todesstrafe oder nicht, ihnen blieb keine

Wahl. Wenn die Strömung sie zu der Insel trug, dann würden sie dort landen, ob sie nun wollten oder nicht.

4.

Zwei Stunden später sahen sie die Insel

deutlich vor sich. Ihre Gesamtform konnte nur erraten wer-

den, rechts und links jedenfalls fiel das Ufer senkrecht in den See ab. Das ganze Gebilde erinnerte an einen quadratischen Klotz, der nicht natürlichen Ursprungs sein konnte.

Die Oberfläche der Insel war nicht eben. Gegen den wolkenbehangenen Himmel hoben sich flache Rechtecke ab – wahrscheinlich Gebäude. Dazwischen wuchsen einige Bäu-me, ein sicheres Zeichen dafür, daß auf der Insel nicht nur Fels sein konnte. Vielleicht hatte der Wind Erde und Humus herange-bracht.

Trotzdem wirkte sie düster und unheimlich, nicht der rechte Ort für jemand, der Schutz und Sicherheit suchte. Und schon gar nicht ein Zufluchtsort für Schiffbrüchige, denn et-was anderes waren Atlan, Razamon und Fen-rir ja nicht.

Während sie näher an Tschuuhrt herantrie-ben, wurden mehr Einzelheiten der Küsten-formation erkennbar. Die ihnen zugewandte Seite der Insel war steil wie die Seiten rechts und links, aber es gab kleine Buchten mit winzigen Stränden. Das bewies eindeutig, daß die Strömung, die auch die beiden Velter mit sich nahm, gegen die Felsen spülte und sie auswusch. Es bestand also eine gute Aussicht, ebenfalls an Land getrieben zu werden. Vor-her war es unmöglich, die Velter zu verlassen, falls man den Rest der Strecke nicht schwim-

mend zurücklegen wollte. Fenrir witterte das nahe Land, löste sich

von Razamons Velter und paddelte voran. Er steuerte auf eine kleine Bucht zu, fand aber erst einen knappen Meter vorher Grund. Er schüttelte das Wasser aus seinem Fell, ging ein paar Schritte und drehte sich dann um.

Die Strömung trieb auch die beiden Velter in die Bucht hinein, bis das transparente Ma-terial über den groben Kies schrammte und schaukelnd anhielt. Atlan öffnete sofort die Blase und kletterte hinaus. Er vergaß nicht, den Bogen und den Köcher mit den Pfeilen mitzunehmen. Der ehemalige Besitzer des Velters hatte noch vor seinem Ende beides dort unterbringen können.

Auch Razamon landete, von Fenrir freudig begrüßt. Er atmete sichtlich erleichtert auf, als er wieder festen Boden unter den Füßen spür-te. Auch er nahm die Waffen, die sich in sei-nem Velter befanden, an sich und sah an den steilen Felsen empor.

»Gelandet wären wir ja glücklich, die Frage ist nur: wie kommen wir ohne Hilfsmittel da hoch?«

»Sieht schwieriger aus, als es ist, Razamon. Und wenn es wirklich nicht geht, schwimmen wir dicht am Ufer entlang, bis wir eine güns-tigere Aufstiegsstelle finden. Die Velter müs-sen wir dann allerdings hier zurücklassen, denn sie sind, was die Richtung angeht, abso-lut unzuverlässig.«

»Na schön, fangen wir mit der Suche an.« Die Witterung hatte in den Felsen ihre Spu-

ren hinterlassen. Atlan begann ernsthaft daran zu zweifeln, daß die Insel völlig künstlichen Ursprungs war, wie er zuerst angenommen hatte, aber er konnte sich auch täuschen. Wenn sie alt war, sehr alt, mußte sie natürli-chen Witterungseinflüssen unterworfen sein, und das Material war ja schließlich einwand-frei Naturfelsen.

Wenigstens an der Oberfläche. »Einen richtigen Pfad gibt es nicht«, rief

Razamon vom anderen Ende der etwa zwan-zig Meter breiten Bucht. »Es gibt nur verein-zelte Vorsprünge, an denen wir es vielleicht schaffen würden, aber Fenrir nicht. Und wir können ihn nicht zurücklassen.«

Der Wolf lief unruhig am Strand hin und her und sah immer wieder hinaus auf die un-

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ATLAN 12 – Insel der Kannibalen

bewegte Wasserfläche, die sich nun bis zum Horizont erstreckte. Das Südufer war nur noch ein hauchdünner dunkler Strich, der sich kaum vom Wasser und vom Himmel abhob.

Rechts und links wurde die Bucht von vor-springenden Felsen begrenzt, die senkrecht in den See abfielen. Man kam nicht an ihnen vorbei, ohne ins Wasser zu müssen.

»Wenn wenigstens die Sonne schiene«, sagte Atlan und schauderte bei dem Gedan-ken, jetzt noch schwimmen zu müssen. Wenn die kombinierte Pelz-Lederbekleidung naß war, würde es Tage dauern, bis sie wieder trocknete, es sei denn, man konnte Feuer ma-chen. Unwillkürlich tastete er nach dem win-zigen Feuerzeug in dem wasserdichten Brust-beutel, das er von einem Techno der Feste Grool bekommen hatte. »Fenrir friert noch immer.«

Razamon sah an den Felsen empor. »Hier unten gibt es nicht einmal Treibholz. Und ein Feuer ist das erste, was wir brauchen.«

»Oben auf dem Inselplateau stehen Gebäu-de«, erinnerte ihn Atlan.

Razamon stieß ein verächtliches Schnauben aus.

»Ich gehe jede Wette mit dir ein, daß sie unbewohnt sind. Und geheizt sind sie auch nicht, verlaß dich darauf!«

»Auf Pthor habe ich mir das Wetten abge-wöhnt, Razamon.«

Der Atlanter nickte. »Man verliert immer«, meinte er grimmig. Das Inselplateau lag fünfzig Meter über

dem Spiegel des Dämmersees, eine beachtli-che Höhe bei der relativ geringen Größe der Insel von nur fünf Quadratkilometern. Atlan sah an der Steilwand hoch und wußte, daß sie es auch ohne Fenrir hier an dieser Stelle nicht schaffen würden.

»Beim Schwimmen kein Wasser schlu-cken«, riet er und drehte der Wand den Rü-cken zu. »Nun komm schon ...«

Die eisige Kälte drang sofort bis auf die Knochen, aber zum Glück hatten sie das Kap nach einer Minute umschwommen und fanden sofort wieder Grund unter den Füßen: Und diesmal schienen sie erfolgreicher zu sein.

»Ein schöner Weg ist es ja gerade nicht«, urteilte Razamon und sprang zur Seite, als Fenrir sich schüttelte. »Aber den schaffen wir

alle drei. Sieht ganz so aus, als habe man ihn angelegt – gewollt oder ungewollt. Sicher sind schon vor uns welche hier gewesen.«

»Sothkorer, die hier strandeten und nie zu-rückkehrten.«

Der Wolf schnupperte am Pfad entlang, seine Haare im Nacken sträubten sich. Er knurrte.

»Er hat etwas gewittert, Atlan. Vielleicht sind wir nicht die einzigen lebenden Wesen auf dieser Insel.« Unwillkürlich rüttelte er die Pfeile im Köcher locker. »Na ja, wir werden ja sehen ...«

Fenrir kam zum Ufer zurück. Seine Haare standen ihm noch immer zu Berge. Aus dem Knurren war ein leises Winseln geworden.

»Wir können nicht hier unten bleiben, sonst erfrieren wir«, sagte Atlan endlich. »Außer-dem wird es in wenigen Stunden wieder dun-kel. Bis zum Anbruch der Nacht müssen wir einen Unterschlupf gefunden haben. Sehen wir uns die Gebäude auf der Insel an. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie unbewacht sind.«

»Und wer sollte sie bewachen?« »Wer ...?« Atlan zuckte die Schultern.

»Was weiß denn ein Fremder ...?« Der Pfad war schmal und steil. Im Zickzack

führte er nach oben. Spuren gab es keine. Er war einfach da, das war alles.

Fenrir ging voran und sicherte. Atlan, der den Abschluß bildete, sah immer wieder hin-auf zum Rand des Plateaus, als erwarte er jeden Augenblick, dort ein Gesicht am Fels-rand auftauchen zu sehen.

Je höher sie kamen, desto näher schien der Horizont zu rücken. Deutlich war nun im Sü-den wieder der Waldstreifen zu erkennen, aus dem keine Flammen mehr emporloderten. Das Feuer war längst erloschen. Im Südosten, etwa dort, wo die Mündung des Regenflusses sein mußte, hob sich ein dunkler Fleck gegen den ohnehin schon finsteren Himmel ab. Das konnte nur das Dschungelgebiet am Delta sein. Im Osten war die kahle Wüstenküste, sonst nichts. Nach allen Richtungen mochte die Entfernung zwischen fünfzehn und zwan-zig Kilometer betragen.

Wie mag es nun im Norden aussehen? dachte Atlan, als sie die Hälfte der Steigstre-cke zurückgelegt hatten.

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ATLAN 12 – Insel der Kannibalen

*

Ziemlich außer Atem schafften sie die letz-

ten Meter. Atlan hätte später nicht mehr zu sagen ver-

mocht, was er eigentlich zu sehen erwartete, aber der Anblick, der sich ihm nun bot, über-raschte ihn doch einigermaßen. Unwillkürlich duckte er sich hinter die natürlich wirkende Steinmauer, die sich fünf Meter vom Rand des Inselplateaus entfernt um das ganze Ei-land zu ziehen schien.

Auch Razamon blieb geduckt stehen und drückte Fenrir nach unten.

Die Insel mochte einen Durchmesser von gut zwei Kilometern haben, wobei sich das Plateau landeinwärts leicht senkte, insgesamt vielleicht um zehn Meter. Also genau umge-kehrt wie bei einer natürlich entstandenen Insel. In ihrer Form und in ihrem Aufbau er-innerte sie an eine Schüssel.

Gras, Büsche und sogar Bäume wuchsen dort. Dazwischen gab es ausgetretene Pfade, die in das Innere der Insel führten. Einer, auf dem sie nun hockten, um über die Mauer bli-cken zu können, ohne selbst gesehen zu wer-den, schien um das Eiland herumzuführen.

Nichts rührte sich, kein lebendes Wesen war zu entdecken. Nicht einmal Vögel oder Insekten. Selbst für Tiere schien die geheim-nisvolle Insel tabu zu sein.

Doch das war es nicht, was Atlan und Ra-zamon zur Vorsicht veranlaßte.

Es waren die Gebäude, die sie schon vom See aus bemerkt hatten.

Gleich rechts von ihrem Standort aus ragte ein zweistöckiger rechteckiger Bau mit einem kleineren Anbau auf. Während das Hauptge-bäude über zwei Fensterreihen verfügte, zeig-te das andere nur kahle, glatte Wände.

Genau im Norden, durch einige Bäume verdeckt, stand ziemlich im Zentrum der Insel eine matt schimmernde Kuppel. Sie mochte an die zehn Meter hoch sein und war trotz der Entfernung gut auszumachen. Weitere Ge-bäude, ähnlich dem ersten, waren auf der gan-zen Insel verstreut und durch Pfade miteinan-der verbunden.

»Muß sich um technische Anlagen han-deln.« Razamon flüsterte unwillkürlich. Seine rechte Hand hielt Fenrir noch immer fest.

»Kannst du irgendeine Bewegung sehen?« Atlan schüttelte den Kopf. »Nichts. Aber wenn es sich um technische

Anlagen handelt, muß auch jemand da sein, der sie wartet. Es sei denn, alles läuft automa-tisch ab. Ob es etwas mit dem See zu tun hat?«

»Wir finden es heraus, denn es beginnt mich zu interessieren.«

»Und der Taamberg?« Razamon lachte glucksend. »Willst du vielleicht zwanzig Kilometer

schwimmen? Ich nicht. Also haben wir auch Zeit, uns hier umzusehen.«

»Vielleicht finden wir ein Boot«, gab Atlan ihm recht.

Vor dem nächsten Gebäude, es war das rechts liegende mit dem kleineren Anbau, stand eine dichte Baumgruppe. Wenn man dem Außenpfad etwa fünfzig Meter in östli-cher Richtung folgte, würde sich diese Baum-gruppe genau zwischen Gebäude und Küste schieben, so daß sie eine gute Deckung abgab.

Als Atlan Razamon darauf aufmerksam machte, nickte dieser und meinte:

»Guter Gedanke, mein Freund. Bevor wir die Insel erforschen, sollten wir zumindest wissen, was mit dem Ding los ist und wer es gebaut hat. Auch die Kuppel scheint interes-sant zu sein.« Er lächelte wieder. »Ich sehe schon, daß uns die Zeit hier nicht zu lang werden wird.«

»Einmal müssen wir schon weiter ...« Fenrir schien keinerlei Gefahr zu wittern,

denn er verhielt sich ruhig und blieb bei den Männern, die nun geduckt an der niedrigen Mauer entlang schlichen, bis die Baumgruppe das Gebäude fast völlig verdeckte. Nach ei-nem letzten Rundblick kletterten sie über den Steinwall und standen dann innerhalb der primitiven Einfriedung.

Von dieser Stelle aus führte kein Pfad zu dem Gebäude, aber der nackte Felsen und die flachen mit Gras bewachsenen Mulden bilde-ten kein Hindernis. Sie hielten sich stets im Schutz der Bäume. Wenn jemand in dem Bau war, hätte er kaum ihre Annäherung bemer-ken können.

Im Unterholz hielten sie an. Die beiden Fensterreihen wirkten wie rechteckige starre Augen, die sie beobachteten. Hinter ihnen

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bewegte sich nichts. Es brannte auch kein Licht, obwohl sich die Sonne noch immer hinter den Wolken verbarg und kaum Hellig-keit verbreitete.

»Wir müssen näher heran«, drängte Raza-mon, den das Fieber des Entdeckers gepackt hatte. »Ich erinnere mich langsam wieder. Es muß den Dämmersee schon damals gegeben haben, und man erzählte sich schaurige Dinge über Tschuuhrt. Aber Einzelheiten ...«

»Nichts?« »Nein, nichts. Ich weiß nur, was wir schon

hörten: Niemand durfte die Insel betreten. Und ich glaube, es war auch niemand so ver-rückt, den Befehlen der FESTUNG zu trot-zen. Es wäre sein sicherer Tod gewesen.«

Sie blieben fast eine halbe Stunde in ihrem Versteck, ehe sie sich weiter vorwagten. Den Rest der deckungslosen Strecke legten sie in aller Eile zurück und fühlten sich erst wieder sicher, als sie das Gebäude erreichten und an der senkrechten Hauswand emporblickten.

Das Material war kein Fels oder Stein, son-dern ein jeder Witterung standhaltender Kunststoff. Weder Wind noch Regen hatten Spuren auf der glatten, fugenlosen Oberfläche hinterlassen.

Der Rand der unteren Fensterreihe lag in fünf Meter Höhe. Es war ohne Hilfsmittel unmöglich, ihn zu erreichen und in das Innere des Gebäudes zu blicken. Ein Eingang fehlte.

»Er kann auf der anderen Seite liegen«, vermutete Atlan, der Razamons Gedanken erriet. »Komm weiter, hier erreichen wir ja doch nichts.«

Dicht an die Hauswand gedrängt, gingen sie weiter bis zur Seitenfront. Vorsichtig spähte Atlan um die Ecke, konnte aber nichts Verdächtiges bemerken. Links lag die Ebene mit der Kuppel in ihrer Mitte. Weiter im Hin-tergrund standen weitere Gebäude und Baum-gruppen.

Atlan zog den Kopf wieder zurück. »Rechts ist eine Tür, wie wir vermuteten.

Sie hat keine Füllung, ist also offen. Ich glau-be, uns bleibt nichts anderes übrig ...«

»Natürlich nicht«, erwiderte Razamon und legte das eine Ohr wieder an die Hauswand. »Ich kann Geräusche hören, ein gleichmäßi-ges Stampfen, so als ob eine Maschine liefe. Etwa wie eine Pumpe.«

Atlan folgte seinem Beispiel, dann nickte er.

»Und ein Brummen, das sich nicht verän-dert. Du hattest recht: eine technische Anlage. Aber wozu eine Pumpe? Wohin pumpen sie das Wasser eines Sees, das niemand trinken kann? Scheint doch sinnlos.«

»Hier ist vielleicht alles sinnlos, wenigstens von uns aus betrachtet. Aber ich weiß, daß die Herren der FESTUNG niemals etwas ohne Grund tun.«

»Sehen wir nach.« Bis zu der Tür waren es nur ein paar Dut-

zend Schritte. Fenrir folgte ihnen, wurde aber unschlüssig, als sie die drei Stufen erreichten, die nach oben zur Tür führten. Atlan und Ra-zamon zögerten, dann sagte Atlan:

»Er soll hier bleiben und aufpassen, wäh-rend wir den Bau untersuchen.« Er wandte sich an den Wolf: »Hast du verstanden, Fen-rir? Bleib hier und halte Wache! Wir sind bald zurück.«

Fenrir setzte sich vor die unterste Stufe und sah hinüber zu dem Kuppelbau. Damit hatte er den Befehl auf seine Art bestätigt.

Hinter der Tür lag ein breiter Korridor, von dem aus nach beiden Seiten Gänge abzweig-ten. Das Maschinengeräusch war nun deutli-cher zu hören. Es kam von unten, denn der Boden vibrierte leicht. Sie blieben im Haupt-korridor und folgten ihm, bis er jäh in halber Höhe einer riesigen Halle endete. Ein metal-lenes Gitter bildete den Abschluß.

Die Decke der Halle lag fünfzehn Meter über dem Gangende, der Boden zwanzig Me-ter darunter. Atlan und Razamon standen auf einer Art Plattform, die sich nach rechts und links in einem ebenfalls abgesicherten Lauf-steg fortsetzte, der rund um die Halle herum-führte. Ein Abstieg nach unten war nirgendwo zu sehen.

Unten in der Halle standen mächtige Ma-schinen, durch schmale und regelmäßig ver-laufende Gänge dazwischen getrennt. Laufgit-ter sicherten die schmalen Stege ab, die von Maschinenblock zu Maschinenblock führten und sie verbanden. Gewaltige Rohre, bis zu einem Meter dick, kamen aus einem kesselar-tigen Gebilde an der Südseite der Halle und verschwanden im Abwärtswinkel von fünf-undvierzig Grad im Boden.

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Auch ein Laie hätte sich an den fünf Fin-

gern abzählen können, daß sie unter der Was-seroberfläche des Sees endeten.

Allmählich gewöhnten sich die Ohren der beiden Männer an das rhythmische Stampfen der Maschinen.

»Was soll das?« brüllte Atlan, um sich ver-ständlich zu machen.

Aber Razamon gab keine Antwort. Wahr-scheinlich konnte er sich auch keinen Reim machen auf das, was er sah. Auch dann, wenn er seine vollständige Erinnerung an seine Vergangenheit noch besessen hätte, wäre er es höchst unwahrscheinlich gewesen, daß er et-was über Tschuuhrt gewußt hätte. Das Ge-heimnis der Insel hatte schon damals bestan-den.

Sie gingen einmal auf dem Laufsteg um die Halle herum, um sich die Maschinenanlage von allen Seiten anzusehen. Nichts deutete darauf hin, daß sie jemals gewartet wurde. Sie arbeitete ohne jede Aufsicht und vollautoma-tisch.

Die Frage blieb nur, was sie arbeitete und warum.

Razamon griff den gemeinsamen Gedanken auf.

»Wenn ich nur wüßte, ob es uns und unse-ren Zielen etwas nützen würde, wenn wir die Aufgabe dieser Anlage herausfänden. Jetzt einmal ganz abgesehen von unserer natürli-chen Neugier ...«

»In ein oder zwei Tagen wissen wir mehr.« Razamon machte ein erstauntes Gesicht. »Hast du die Absicht, so lange hier zu blei-

ben?« Atlan mußte gequält lächeln. »Nicht dann, wenn du mir verrätst, wie wir

schneller hier wegkommen können.« Sie hatten wieder den Ausgangspunkt ihres

Rundgangs erreicht und standen auf der Platt-form.

»Man müßte hinunter, in die Halle, Raza-mon. Von hier oben aus ist nichts festzustel-len. Die Energieanlage interessiert mich. Sie liegt wahrscheinlich noch tiefer unter der O-berfläche.«

»Die ganze Insel scheint ein einziger Ma-schinenblock zu sein, den man im See ver-senkte. In einen See, der in fernster Vergan-genheit vielleicht ein ganz gewöhnlicher See

war, dann aber erst zu dem wurde, was er heute ist: der Dämmersee. Den Namen hat er wahrhaftig nicht ohne Grund.«

»Die Tränke der Horden der Nacht«, erin-nerte Atlan, wobei ihm gleichzeitig ein unge-heuerlicher Gedanke kam, den er aber noch für sich behielt. Er benötigte Gewißheit. »Versuchen wir, einen Weg nach unten zu finden.«

Sie gingen den Hauptkorridor zurück und überzeugten sich davon, daß Fenrir noch im-mer Wache hielt. Der Wolf saß am alten Platz, er schien sich nicht von der Stelle ge-rührt zu haben. Die Wolkendecke hatte sich aufgelockert. Manchmal schien sogar die Sonne durch. Sie stand im Südwesten.

»In ein paar Stunden wird es dunkel, und wir wissen noch nicht, wo wir die Nacht verbringen. Außerdem ist mir verdammt kalt in den nassen Kleidern.«

Atlan mußte Razamon recht geben, schon zum dritten Mal heute. Auch er fror, aber die Entdeckung der Maschinenanlage hatte ihn die Kälte für kurze Zeit vergessen lassen.

»Vielleicht ist es besser, wir verschieben die weitere Untersuchung bis morgen und sehen uns erst einmal nach einem geschützten Platz um. Wir brauchen ein Feuer, denn im Innern des Gebäudes ist es genauso kalt wie draußen. Wie wäre es mit der Baumgruppe? Wenn es auf der Insel wirklich außer uns noch ein lebendes Wesen gibt, kann es uns dort nicht bemerken, weil uns das Gebäude Deckung gibt.«

»Gute Idee, ich bin völlig einverstanden. Außerdem bin ich müde.«

»Und ich habe Hunger.« Das Wort »Hunger« wirkte elektrisierend

auch auf Fenrir. Der Wolf stand auf und we-delte freudig mit dem Schwanz. Das erinnerte Atlan an ein weiteres Problem.

»Unsere Vorräte reichen nicht ewig, und die Insel sieht mir nicht so aus, als hätte sie uns etwas zu bieten. In zwei oder drei Tagen müssen wir rationieren.«

»Fangen wir schon heute damit an«, riet Razamon. »Wir werden aber sicher eine Lö-sung finden. Wo Bäume wachsen, da kann es auch eßbare Beeren oder Kräuter geben. Nur mit Wasser sieht es schlecht aus, obwohl wir uns mitten in einem See befinden.«

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»Ja, aber was für ein See ist das?« Raza-

mon ging nicht darauf ein, sondern steuerte auf die Baumgruppe zu, gefolgt von Atlan und Fenrir. Unterwegs bückte er sich, um trockene Zweige von den Büschen abzubre-chen, die in den Mulden wuchsen, wo es ein wenig Erde und sicher auch Feuchtigkeit gab.

Sie wählten einen geschützten Platz mitten in der Baumgruppe, praktisch einer kleinen Lichtung, die von keiner Seite aus eingesehen werden konnte. Razamon warf die Zweige auf einen Haufen und brach dann stärkere Äste von den Bäumen ab, nachdem er seinen Vor-ratsbeutel, den Bogen und den Köcher mit den Pfeilen abgelegt hatte.

Eine Skerzaal mit Stahlbolzen wäre Atlan als Waffe lieber gewesen, denn die dünnen und zerbrechlichen Pfeile der Sothkorer sahen nicht gerade vertrauenerweckend aus. Zum Teil handelte es sich auch noch um Brandpfeile, die keine wirksame Spitze besaßen. Während Razamon Holz sammelte, fütterte er Fenrir, der sich daraufhin entfernte, wahrscheinlich um einen Erkundungsgang zu machen.

Sie aßen wieder einmal warm und trockne-ten ihre Kleider, die von der Kälte klamm geworden waren. Fast nackt hockten sie am Feuer und sahen zu, wie die Sonne unter den Horizont sank.

Fenrir kam zurück, als die Dämmerung voll einsetzte. Er rollte sich zusammen, um zu schlafen. Ein sicheres Zeichen, daß er nichts Verdächtiges gewittert hatte.

Sie sprachen nicht mehr viel, weil es kaum etwas zu sagen gab. Vermutungen allein hal-fen nicht weiter.

Morgen würden sie vielleicht mehr wissen.

5. Auf der Rückseite des niedrigen Nebenge-

bäudes fanden sie einen Eingang. Dahinter führte eine Treppe nach unten. Wieder blieb Fenrir als Wache zurück, während die beiden Männer die Treppe hinabgingen. Sie führte, wie erwartet, in die Maschinenhalle.

Hier unten war der Lärm noch größer als oben auf der Plattform. Wenn sie sich ver-ständigen wollten, mußten sie laut schreien, sonst wäre kein Wort zu hören gewesen. Sie

blieben zusammen, um jede Gefahr einer Ü-berraschung auszuschließen.

Mit den Maschinen konnten sie nicht viel anfangen, ebensowenig war ihr Zweck zu erraten. Atlan glaubte immer weniger daran, daß man Wasser aus dem See pumpte und es irgendwohin weiterleitete. Vielmehr veranlaß-ten ihn die parallel verlaufenden Doppelrohre zu dem Schluß, daß zwar dem Dämmersee Wasser entnommen wurde, um es aber schließlich wieder in ihn zurückzuleiten.

Warum? »Es wird aufbereitet!« brüllte Razamon

dicht an Atlans Ohr. Aufbereitet! Das mußte des Rätsels Lösung

sein! »Und wo? Eine Etage tiefer?« Razamon nickte und gab durch Handzei-

chen zu verstehen, daß sie den Weg nach un-ten suchen müßten. Es dauerte auch nicht lan-ge, bis sie die Falltür entdeckten.

Es war eine vier Quadratmeter große Me-tallplatte im Boden, die unmöglich anzuheben war. Weder Ringe noch Griffe ließen vermu-ten, daß sie überhaupt manuell zu öffnen war. Also mechanisch!

Seitlich war eine Kontrolltafel mit Instru-menten und Schaltern. Razamon verriet freu-dige Erregung, als er die pthorischen Schrift-zeichen sah. Aufmerksam studierte er sie, dann leuchtete sein Gesicht auf.

»Haben wir gleich!« brüllte er zuversicht-lich. »Geh zur Seite!«

Atlan zog sich einige Schritte zurück. Ra-zamon legte zwei der kleinen Kipphebel um und sah erwartungsvoll auf die Metallplatten, die langsam begann, sich zu teilen. Es ent-stand ein schmaler Spalt, der immer breiter wurde, bis die beiden Hälften der Tür im Bo-den verschwunden waren. Die vier Quadrat-meter große Öffnung war frei. Eine Treppe führte in die Tiefe, aus der den beiden Män-nern eine eisige Kälte entgegenschlug. Der Grund für diese Kälte war ein riesiges Becken mit dem schwarzen Wasser des Dämmersees.

Es mußte den gesamten Grundriß der bei-den Gebäude füllen. Nur ein schmaler, durch ein Gitter abgesicherter Steg führte rundher-um. Von der Seeseite her waren trotz der dunklen Wasseroberfläche zwei Rohröffnun-gen zu sehen, die sich in Form einer Trenn-

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wand durch das ganze Becken hindurch fort-setzten und es so in zwei Hälften teilten.

Eine dieser Hälften war angefüllt mit di-cken Spiralen, die vom Wasser umspült wur-den. Im ersten Augenblick erinnerten sie At-lan an ganz gewöhnliche Heizspiralen, nur gaben sie keine Temperatur ab.

Sie mußten etwas ganz anderes abgeben, sonst wäre es in der riesigen Wasserhalle nicht so eisig kalt gewesen.

Atlan sah Razamon fragend an. Da hier un-ten der Maschinenlärm nicht so laut war wie oben in der Halle, war Schreien überflüssig geworden.

»Wie ich sagte, Atlan: das Wasser des Sees wird hier aufbereitet und dann in den See zu-rückgeleitet. Ich glaube, wir sind dem Ge-heimnis des Dämmersees ein gutes Stück nä-hergekommen.«

Atlan sah hinab auf den dunklen Wasser-spiegel.

»Aufbereitet ... den Gedanken hatte ich auch schon. Aber was ist darunter zu verste-hen?« Atlan ahnte es, aber er wollte seine Vermutung bestätigt wissen. »Aufbereiten – für wen?«

»Für die Horden der Nacht. Erinnere dich, was man über den Dämmersee erzählt. Wer sein Wasser trinkt, verwandelt sich in ein blutrünstiges Ungeheuer, das seine eigene Mutter erschlagen würde. Die Herren der FESTUNG haben die Horde der Nacht heran-gezüchtet, und sie haben ein besonderes Inte-resse daran, daß diese Monstren wild und grausam bleiben. Ganz besonders dann, wenn wieder einmal eine Zivilisation vernichtet werden soll.«

Atlan nickte mehrmals und sah Razamon dabei an.

»Das ist es, Razamon! Aber ich frage mich, was sie dem Wasser zusetzen, damit es diese Wirkung erhält. Wäre es einfach ein chemi-sches Mittel, würde es doch genügen, das Zeug einfach in den See laufen zu lassen. Diese ganzen Anlagen hier wären überflüs-sig.«

Razamon grinste. »Du hast vielleicht eine Art, einen Men-

schen auszufragen. Du willst doch nur deine eigenen Vermutungen durch mich bestätigt sehen, nicht wahr? Klarer Fall, daß eine ande-

re Technik verwendet wird. Das Wasser des Sees wird in dieses Becken gepumpt, strömt in jene Hälfte mit den Spiralen und kehrt dann in den See zurück – allerdings ein wenig ver-wandelt ...«

»Richtig, verwandelt! Man könnte viel-leicht sagen, es wurde aufgeladen. Aber ich glaube nicht, daß es mit gewöhnlicher Elekt-rizität aufgeladen wird.«

»Natürlich nicht, die hat ja keine Langzeit-wirkung in gewünschtem Sinn. Doch ich fürchte, so schnell kommen wir nicht dahin-ter. Wir können froh sein, Sinn und Zweck von Tschuuhrt gefunden zu haben. Darum also ist diese Insel für alle tabu.«

Atlan warf einen letzten Blick auf das riesi-ge unterirdische Becken, das den quadrati-schen Lichtschein, der aus der Falltür von oben kam, nicht reflektierte. Bald darauf standen sie wieder in der Maschinenhalle. Razamon schloß die Metalltür. Beide Männer waren froh, als sie wieder im Freien waren. Die Sonne schien, und die Wärme tat nach der eisigen Kälte gut.

Sie beschlossen, heute noch dem Kuppel-bau im Zentrum der Insel einen Besuch abzu-statten. Beide Männer vermuteten überein-stimmend, daß es sich dabei um die Energie-station handelte, die sämtliche Anlagen von Tschuuhrt versorgte. Welcher Art diese Ener-gie war, konnten sie nicht einmal erraten.

Die Entfernung zur Kuppel betrug knapp tausend Meter. Von jeder Pumpstation aus führte ein Pfad zu ihr, ungepflegt und teilwei-se mit Unkraut bewachsen. Sie schienen schon lange nicht mehr benutzt worden zu sein. Die Frage blieb, wer sie überhaupt schon mal benutzt hatte.

Fenrir lief voran, wie er es gewohnt war. Ohne die empfindliche Nase des Wolfes, die jede verdächtige Spur sofort witterte, wäre Atlan besorgter gewesen, so aber verließ er sich voll und ganz auf den Instinkt des klugen Tieres.

Auch Razamon gab sich unbeschwert, ob-wohl er fast pausenlos daran denken mußte, wie sie die Insel wieder verlassen sollten. In einigen Tagen schon würden die Lebensmittel knapp. Vom Trinkwasser gar nicht erst zu reden ...

Im Innern der Insel wurde die Vegetation

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etwas üppiger, was wohl auf die Tellerform zurückzuführen war. In der riesigen Senke sammelte sich das Regenwasser dicht unter der Oberfläche und hielt die Erde stets feucht, aber leider gab es keine Quellen. Vielleicht würde man auf Wasser stoßen, wenn man ein Loch aushob.

»Wir brauchen nur zu warten, bis es wieder regnet«, meinte Razamon optimistisch. »Ich wundere mich, daß wir noch keine Pfützen gefunden haben, gestern war es doch naß ge-nug.«

»Wasser versickert sofort, und wahrschein-lich ist auch die ganze Insel mit Felsspalten durchsetzt, so daß nur Feuchtigkeit bleibt, aber keine Reserven an Wasser. Wir müßten schon Glück haben und ein richtiges Felsen-becken finden, wo kein Abfluß vorhanden ist.«

»Morgen durchsuchen wir die Insel«, schlug Razamon vor.

Atlan deutete nach vorn. »Aber zuerst die Kuppel ...« Sie hatten sich nicht verschätzt. Sie war

wirklich gut zehn Meter hoch und erinnerte an ein Observatorium. Auf halber Höhe lief eine Fensterreihe rings um den Bau. Zu ebener Erde gab es eine Tür, aber sie bestand aus massivem Metall und war verschlossen.

Fenrir setzte sich ein Stück von der Kuppel entfernt auf einen flachen Stein und gab zu verstehen, daß er nun wieder den Aufpasser spielen wollte. Den beiden Männern war das nur recht. Sie standen vor der Tür und be-trachteten das primitiv anmutende Schloß, das allerdings einen recht stabilen Eindruck machte.

»Ein Anachronismus?« stellte Atlan unsi-cher fest. »Oder Absicht?«

»Absicht!« Razamon schien sich seiner Sa-che sicher zu sein. »Ich nehme an, die FES-TUNG betraute einst Unwissende mit der Pflege der Insel, die technischen Anlagen selbst bedurften einer Wartung nicht. Diesen Wärtern wurden keine elektronischen Schlüs-sel in die Hände gegeben. Um aber die Anla-gen betreten zu können, gab es entweder kei-ne Türen oder eben nur primitive Schlösser, die mit einem ebenso primitiven Schlüssel geöffnet werden konnten.« Er grinste. »Das wäre doch immerhin eine Erklärung für das

da ....« Er deutete auf das Vorhängeschloß. »Das kriegen wir mit einem Stein auf.«

Atlan fand Razamons Erklärung nicht be-sonders einleuchtend, aber ihm fiel auch keine bessere ein. Eine so hochtechnisierte Anlage – und dann ein Vorhängeschloß!

Aber auf Pthor war so ziemlich alles mög-lich, das hatte er bereits erfahren müssen. Produkte einer ausgereiften Zivilisation neben grausamer Barbarei, lautlos dahinfliegende Fluggleiter und verrostete Schwerter ...

Warum nicht auch ein Vorhängeschloß? Razamon kehrte mit einem Stein zurück,

halb so groß wie ein Männerkopf. Er wog ihn prüfend in den Händen und suchte die scharfe Kante aus, um diese mehrmals gegen das Schloß zu schlagen. So einfach konstruiert es auch sein mußte, es zeigte eine erstaunliche Widerstandskraft.

Fenrir wurde unruhig, erhob sich und um-rundete die Kuppel mehrmals, ehe er wieder an seinen alten Platz zurückkehrte. Razamon wurde hingegen immer wütender und verdop-pelte seine Anstrengungen. Die Schläge muß-ten auf der ganzen Insel zu hören sein, und aus dem Innern der Kuppel klangen sie hohl zurück.

Dann, mit einem schnappenden Geräusch, zersprang das Schloß, der Stein allerdings auch. Razamon steckte den Daumen in den Mund und lutschte daran.

»Finger gequetscht«, gab er Auskunft, als er Atlans besorgte Miene sah. »Halb so schlimm.«

Er zog die Tür nach außen auf. Ein kühler Luftstrom kam ihm entgegen.

Ähnlich wie bei der Maschinenanlage im ersten Bauwerk gab es auch hier einen Lauf-steg, der in Höhe des Inselniveaus rund um das Innere der Kuppel angelegt worden war. Es gab keinen Abstieg nach unten, und ein zweiter Eingang war nicht zu sehen.

Die Maschinen jedoch unterschieden sich gewaltig von jenen der Pumpstation. Die run-den Säulen, die tief im Gestein verankert wa-ren, mußten Reaktoren sein, vielleicht Kon-verter für Fusionsenergie. Unverkennbar wuchteten daneben die gigantischen Spei-cheranlagen, die sämtliche auf der Insel be-findlichen Stromabnehmer mit Energie ver-sorgten. Ein riesiges Schaltrelais garantierte

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eine gleichmäßige Verteilung und deutete abermals auf eine überflüssige Wartung hin.

Ein gleichmäßiges Summen erfüllte die runde und hohe Halle.

Razamon stützte sich auf das niedrige Ge-länder.

»Stell dir vor, wir hätten die entsprechen-den Bomben jetzt mit, dann könnten wir mit einem Schlag Tschuuhrt lahmlegen. Das Wasser würde sich selbst entgiften, und die Horden der Nacht könnten soviel saufen, wie sie wollten, sie würden sich allmählich in zahme Haustiere verwandeln – falls unsere Theorie stimmt.«

»Wir haben aber keine Bomben.« In Atlans Stimme schwang echtes Bedauern mit. »Und mit Steinen richten wir hier nichts aus.«

»Ich fürchte, man wäre dann auch schnell hier, um die Ursache des Defekts herauszu-finden. Vielleicht hat das gewaltsame Öffnen der Tür schon bald Folgen, die unangenehm für uns sein könnten.«

»Mit anderen Worten: Wir können nichts unternehmen, um die Anlage zu sabotieren?«

»Nichts«, bestätigte Razamon. »Selbst mit einem Strahler dürfte es schwer sein, die mas-siven Metallblöcke abzuschmelzen.«

Sie verließen die Kuppel, die sie von nun an »Energiestation« nannten, und waren froh, die wärmenden Strahlen der Sonne zu spüren.

Aber etwas war anders als vorher. Der Stein, auf dem Fenrir Wache gehalten hatte, war leer.

Der Wolf war verschwunden.

* Zuerst nahmen sie an, er absolvierte gerade

seinen Rundgang um die Station, aber als er nach fünf Minuten noch nicht erschien, wur-den sie unruhig.

»So lange kann er doch nicht fort sein«, murmelte Razamon, dem das Tier bereits ans Herz gewachsen war. »Fenrir! Wo steckst du?«

Keine Reaktion, nicht einmal ein leises Winseln.

»Er ist nicht ohne Grund davongelaufen, Atlan.«

»Vielleicht hat ihm der Wind eine Witte-rung zugetragen, und nun überzeugt er sich,

daß sie keine Gefahr bedeutet.« Razamon streckte den angefeuchteten Fin-

ger in die Luft. »Der Wind kommt von Norden, wie üblich.

Den Norden der Insel kennen wir noch nicht.« »Den sehen wir uns auch noch an. Jede Sta-

tion werden wir untersuchen. Am besten war-ten wir hier auf Fenrir. Er wird zurückkom-men.«

»Wenn wir fortgehen, kann er unserer Spur folgen.«

Sie blieben trotzdem. Im Schutz der Kup-pel, die den Wind abhielt, ließen sie sich auf den angewärmten Steinen nieder. Atlan ver-spürte Appetit, sagte aber nichts. Sie mußten sparsam mit ihren Vorräten umgehen. Nur der Durst begann ihn zu quälen. Allein schon der Gedanke, daß Wasser knapp war, machte ihn durstig.

Nach einer Stunde hielt Razamon es nicht mehr aus.

Mit einem Fluch sprang er auf die Füße. »Du kannst hier warten, ich jedenfalls ma-

che mich auf die Suche nach Fenrir. Ihm muß etwas passiert sein.«

»Du findest keine Spuren, Razamon. Es hat keinen Sinn.«

»Wer sagt das?« Auf der Stirn des Atlanters entstand die Zornesfalte, die Atlan zur Genü-ge kannte. Außerdem funkelten seine Augen und verkündeten den beginnenden Wutanfall. In einem solchen Fall war es besser, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. »Du et-wa?«

Atlan stand langsam auf. »Es ist besser, du tobst dich in der Kuppel

aus«, sagte er ruhig. »Aber fall nicht über das Geländer ...«

Razamon wußte um seine Anfälle, aber er konnte sie nicht verhindern. Er behielt immer seinen klaren Verstand und versuchte, seine überschüssigen Kräfte in Bahnen zu lenken, die seinen Freunden nicht schaden konnten.

Nur selten gab es dann Augenblicke, in de-nen er nicht mehr wußte, was er tat, und das ließ sich nicht kontrollieren.

»Na gut«, gab er widerwillig nach. »Die Kuppel! Aber laß mich allein gehen ...«

Atlan nickte und sah sich suchend um. In einiger Entfernung wuchs ein kräftiger Baum mit niedrigen Ästen. Er wartete, bis Razamon

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hinter der Tür verschwunden war und sie hin-ter sich zuzog. Er hörte ihn seine Wut unbe-herrscht hinausbrüllen und dann das dumpfe Dröhnen von Schlägen. Der Atlanter hatte einen Stein mitgenommen.

Schnell suchte Atlan einen kräftig erschei-nenden Ast und säbelte ihn mit seinem Mes-ser vom Stamm. Eiligst kehrte er zur Kuppel zurück und verbarrikadierte die Tür. Der Stamm preßte sich mit seinem unteren Ende gegen ein Stück gewachsenen Felsen, das obere wurde von der Metallfläche der Tür fest eingeklemmt.

Sie war von innen nicht mehr zu öffnen. Atlan wußte aus Erfahrung, daß Razamon

noch wütender wurde, wenn er bemerkte, daß man ihn eingesperrt hatte, aber auf der ande-ren Seite konnte er sich so richtig austoben, ohne jemanden zu gefährden.

Immer noch hämmerte er mit dem Stein gegen das Metallgeländer des Laufgangs, dann schien er die verschlossene Tür entdeckt zu haben. Dumpfe Schläge dagegen verrieten es nur zu gut. Aber die Tür gab nicht nach, auch dann nicht, als er sich mit aller Kraft dagegen stemmte.

»Du wirst nachher ziemlich schwach und hungrig sein«, rief Atlan durch den schmalen verbliebenen Spalt.

»Ich bringe dich um, wenn ich 'rauskom-me!« drohte Razamon außer sich vor Zorn. »Glaube nur nicht, daß ich es diesmal nicht ernst meine! Laß mich hinaus, aber schnell!«

»Du bleibst drinnen, mein Freund. Bis du dich beruhigt hast.«

Die Antwort waren erneute Flüche und ver-zweifeltes Hämmern, bis plötzlich Stille ein-trat. Der Übergang geschah so unvermittelt, daß Atlan schon befürchtete, Razamon sei über das Geländer gestürzt und habe sich ver-letzt. Doch dann hörte er seine Stimme nahe beim Spalt.

»Ist schon gut, Atlan, du kannst aufmachen. Es ist vorbei.«

»Bist du sicher?« »Ganz sicher. Du brauchst dir nur das Ge-

länder anzusehen, dann weißt du Bescheid.« Mit einiger Mühe gelang es Atlan, den

Stamm aus seiner Verankerung zu lösen. Ra-zamon drückte die Tür auf und erschien in ziemlich ramponiertem Aufzug. Der linke

Ärmel seiner Pelzjacke war zerrissen. Im Le-der gab es ein paar neue Löcher.

Atlan sah an ihm vorbei und stellte fest, daß der Tobende das halbe Geländer abgerissen hatte. Er mußte übermenschliche Kräfte ent-wickelt haben, eben die Kräfte eines Berser-kers.

»Du blutest ja, Razamon.« »Ach, das ist nichts. In meiner Wut habe

ich mir auf die Finger geschlagen, das geht vorüber. Wo ist Fenrir?«

»Noch nicht zurück. Wir werden uns auf die Suche begeben müssen. Vielleicht braucht er unsere Hilfe.«

Razamon sah hinauf zum Himmel. »Es ist schon Nachmittag, in drei Stunden

geht die Sonne unter. Ob wir noch einen Spa-ziergang um die Insel machen können?«

»Wir können unsere Vorratsbeutel nicht am Lagerplatz lassen.«

»Wer sollte sie denn stehlen?« Atlan zuckte die Schultern und gab keine Antwort.

Schließlich einigten sie sich. Razamon soll-te bei der Kuppel zurückbleiben und warten, während Atlan zu der Baumgruppe bei der ersten Pumpstation ging, um die Vorräte zu holen. Bogen und Köcher trugen sie immer bei sich, auch die Messer.

Atlan ging nicht auf dem Pfad, sondern wich von ihm ab, um vielleicht doch noch Wasser zu finden. Sein Durst war größer ge-worden. Das einzige, was er fand, war eine feuchte Mulde mit Moos und Gras, aber kei-nen Tropfen Wasser. Er stocherte mit einem Ast in der lockeren Erde herum, bis er auf Felsen stieß. Hastig löste er die Moosplacken und grub mit den Händen einen kleinen Schacht, aber zu seinem Kummer sammelte sich kein sauberes Wasser darin, sondern nur ein dunkle, schlammige Brühe. Vielleicht wurde sie trinkbar, wenn man sie siebte. Sie-ben ... womit?

Enttäuscht erreichte er den alten Lager-platz, buddelte die beiden Beutel mit den Vor-räten aus dem Laub und machte sich auf den Rückweg, nachdem er Fenrir mehrmals ver-geblich gerufen hatte.

Schon von weitem sah er dann Razamon mit beiden Armen winken.

Er beschleunigte seine Schritte, denn gleichzeitig fast erkannte er auch den Wolf

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neben Razamon, der sich an ihm zu schaffen machte. Er schien etwas in dem dichten Na-ckenfell zu suchen – so wenigstens sah es aus.

Schon von weitem rief Atlan: »Er ist zurück, Gott sei Dank! Ist er ver-

wundet?« Razamon winkte nur, dann hielt er etwas

hoch, das er aus Fenrirs Fell geholt hatte. Es war ein Pfeil. Den Rest der Strecke

rannte Atlan und blieb dann atemlos stehen. »Ein Pfeil ...?« »Er steckte nur im Nackenspeck und hat

keinen Widerhaken. Ein einfacher Ast, der vorn angespitzt wurde. Immerhin ...«

Atlan streichelte Fenrir, der die kleine Wunde schon wieder vergessen zu haben schien. Er schnupperte an den Vorratsbeuteln.

»Jemand muß den Pfeil abgeschossen ha-ben«, stellte Razamon fest.

»Fenrir hat Glück gehabt, er hätte tot sein können. Warum ist er auch fortgelaufen?«

»Ganz einfach«, erklärte Razamon überle-gen. »Er muß diesen Jemand gewittert haben und hat ihn verfolgt. Der schoß einen Pfeil auf ihn ab. Die Frage ist nur: Wer ist dieser Je-mand? Ein Schiffbrüchiger wie wir? Warum macht er sich dann nicht bemerkbar?«

»Dafür kann es tausend Antworten geben. Vielleicht hat er auch nur Angst.«

Natürlich bestand auch die Möglichkeit, daß es sich bei dem Schützen nicht nur um ein einzelnes Lebewesen handelt. Vielleicht leben noch mehr Schiffbrüchige auf der Insel. Atlan mußte daran denken, daß der Dorfälteste der Sothkorer Razamon gegenüber erwähnt hatte, daß manche seiner Leute zur Insel abgetrie-ben worden und nicht mehr zurückgekehrt waren.

Sothkorer also ...? Der primitive Pfeil deutete darauf hin. »Wir müssen den oder die Bogenschützen

finden, sonst haben wir keine ruhige Minute mehr.« Atlan warf den Pfeil weg, nachdem er ihn zerbrochen hatte. »Vielleicht können wir uns mit ihnen verständigen. Wenn sie schon länger hier leben, kennen sie auch eine Nah-rungsquelle und wissen, wo Wasser zu finden ist.«

»Diese Giftzwerge sind mir unsympa-thisch«, knurrte Razamon mit einem Seiten-blick auf Fenrir. »Und jetzt erst recht!«

»Sie haben nichts mit dem Angriff auf uns und dem Waldbrand zu tun«, erinnerte ihn Atlan. »Vielleicht sind sie anders als jene, die wir kennenlernten.«

Aber wie immer ihre Einstellung den Sothkorern gegenüber auch war, sie mußten Kontakt mit ihnen aufnehmen, ob sie wollten oder nicht. Atlan verteilte eine kleine Ration für jeden und machte sich aufbruchbereit. Im Köcher waren noch genügend Pfeile, einen ersten eventuellen Angriff abzuwehren.

Fenrir setzte sich knurrend an die Spitze und führte sie in westliche Richtung.

*

Sie bewegten sich sehr vorsichtig und ver-

suchten, ständig in Deckung zu bleiben. Das war nicht immer ganz einfach, denn Bäume wie Büsche wuchsen nur in Gruppen und nur dort, wo der Boden Feuchtigkeit enthielt. Bei der pausenlosen Sicherung vernachlässigten sie jedoch die Richtung, aus der sie keine Ge-fahr vermuteten.

Auch Fenrir versagte diesmal, denn der Wind kam von Norden, aber nicht direkt von oben.

Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte Atlan plötzlich den dunklen Schatten, der dicht an der sinkenden Sonne vorbeihuschte und sich auf sie herabsenkte. Er schrie auf und gab Razamon einen Stoß, der diesen straucheln und in ein Gebüsch stürzen ließ.

Atlan selbst rief Fenrir eine Warnung zu und landete mit einem Hechtsprung zwischen den Wurzeln zweier Bäume. Noch während er fiel, zog er einen Pfeil aus dem Köcher und riß den Bogen von der Schulter.

Ein riesiger Flugsaurier stieß schräg von oben auf sie herab.

Atlan wußte, daß er zwischen den Baum-stämmen für kurze Zeit in Sicherheit war, denn die Flügelspanne der Echse war zu groß, als daß sie sich hätte dazwischenzwängen können. Ruhig legte er den Bogen auf die Sehne und zielte auf die ihm zugewandte Brust des Tieres, das mit Sicherheit zu den Horden der Nacht gehörte und einen Ausflug unternommen hatte, um nach Beute zu jagen.

Der Pfeil schnellte von der Sehne und drang tief in die ungepanzerte Brust des An-

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greifers ein. Eine Sekunde später durchschlug Razamons Geschoß einen Flügel.

Die Flugechse stieß einen schrillen Schrei aus und landete dann ziemlich hart auf dem Boden. Fenrir heulte wütend auf und stürzte sich dann auf den Gegner, der vergeblich wieder zu starten versuchte. Wahrscheinlich fehlte ihm dazu der nötige Anlauf.

Atlan ließ den Bogen sinken. Fenrir war ins Schußfeld geraten, als er unter den heftig schlagenden Flügeln hindurchtauchte und den Saurier direkt angriff. Auch Razamon ver-zichtete vorerst auf einen zweiten Pfeilschuß.

Fenrir schlug seine Zähne in die bereits blu-tende Brust des Gegners und verbiß sich dar-in. Vergeblich versuchte dieser nun wieder, aufzusteigen und zu fliehen, vor allen Dingen wohl auch deshalb, um die scharf bekrallten Füße freizukriegen. So hatte er keine Mög-lichkeit, sich des Wolfes zu erwehren.

Die beiden bildeten ein regelrechtes Knäu-el, und der eine war kaum noch von dem an-deren zu unterscheiden, so schnell ging das alles. Atlan sah, daß Razamon Pfeil und Bo-gen fallen ließ, aufsprang und dabei das Mes-ser zog. Geduckt lief er zu den Kämpfenden und suchte nach einer freien Stelle am Körper des Flugsauriers, um zustoßen zu können.

Ein Flügelschlag traf ihn an der Schulter und warf ihn fast zu Boden. Wütend stach er mit dem Messer zurück und ritzte den Haut-flügel fast in der Mitte auseinander.

Der Saurier kämpfte mit dem Mut der Ver-zweiflung. Wahrscheinlich war er zum ersten Mal auf einen Gegner gestoßen, der sich ernsthaft zu wehren verstand. Wild schlug er mit den Flügeln um sich, um Fenrir loszuwer-den, der wie eine riesige Klette an ihm klebte.

Razamon hatte sich wieder aufgerappelt und gab Atlan einen Wink, im Hintergrund zu bleiben. Er selbst kroch zur Seite und griff das Untier von hinten an. Mit einem Satz sprang er auf dessen Rücken und stach mehrmals zu.

Der Saurier achtete nicht mehr auf Fenrir, sondern wandte sich dem zweibeinigen An-greifer zu, der ihm der gefährlichere zu sein schien. Aber um ihn abzuwerfen, hätte er sich auf den Rücken wälzen müssen, und das hätte das sichere Ende bedeutet. Also versuchte er es erneut mit den Flügeln, was nicht gelang.

Razamon krallte sich in dem Rückengefie-

der fest und zog sich weiter nach vorn, bis er fast den Kopf erreichte. Der spitze Schnabel fuhr mehrmals herum und hackte nach ihm, aber der Atlanter konnte immer im letzten Moment ausweichen. Dabei ruhte die Hand mit dem Messer nicht. Mit der linken Hand hielt er sich fest, während die rechte mit dem Messer den tödlichen Fleck suchte.

Razamon fand ihn, als der Saurier wieder einmal den Kopf drehte und mit dem Schna-bel nach ihm hackte. Dabei wurde der Hals frei.

Tief bohrte sich die scharfe Klinge in das weiche Fleisch. Der Saurier stieß einen kräch-zenden Schrei aus, unheimlich und geisterhaft in der Stille der Insel. Dann fiel er zusammen und begrub den heulenden Fenrir unter sich. Razamon ließ sich herabfallen und stemmte sich gegen die zuckende Fleischmasse des getöteten Gegners, bis der Wolf endlich ins Freie kriechen konnte.

Atlan kam herbei und untersuchte ihn, wäh-rend Razamon sein Messer reinigte und sich um den Kadaver kümmerte. Dabei konnte man ihm ansehen, was er dachte. Atlan erriet es sofort.

»Gibt einen guten Braten ab, was meinst du? Sauriersteak! Aber erst morgen, nicht mehr heute.«

»Fenrir könnte eine Stärkung gebrauchen, Atlan ...«

»Dann schneide ihm ein Stück heraus, er kann es ja roh fressen.«

»Ist er verletzt?« »Nein, auch innerlich nicht. Ein paar Quet-

schungen, das ist alles.« »Er hat sich tapfer geschlagen. Guter

Kerl!« Fenrir bekam eine ordentliche Portion, die

er gierig verschlang. Das Fleisch schien zwar zäh zu sein, aber es war genießbar. Wenn sie zurückkehrten, würde es ein Festmahl geben.

Sie holten ihre verschossenen Pfeile und ta-ten sie in den Köcher zurück. Jeder einzelne war jetzt wertvoll und konnte über Leben und Tod entscheiden. Dann setzten sie den auf so unerwartete Art und Weise unterbrochenen Weg zur Westküste fort.

Fenrir zog den rechten Hinterlauf nach, blieb aber weiter in Führung. Atlan hatte den Eindruck, daß er seinen Fehler wiedergutma-

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chen wollte. Schließlich hatte er nichts von der Annäherung des Flugsauriers bemerkt.

Atlans Aufmerksamkeit wuchs, je näher sie der westlichen Pumpstation kamen. Insgesamt schien es nur vier davon auf der Insel zu ge-ben, in jeder Himmelsrichtung eine. Die Bauweise war identisch. Er bemerkte, daß der Wolf sich immer öfter duckte und verharrte. Die Ohren waren nach vorn gerichtet.

»Hier in der Nähe muß ihn der Pfeil er-wischt haben«, vermutete Razamon und griff nach dem Köcher. »Der Schütze könnte in der Pumpstation sitzen.«

Atlan stellte besorgt fest, daß die Sonne in einer Viertelstunde unterging. Danach würde es schnell dämmern und dann dunkel werden.

»Wir müssen uns beeilen«, drängte er. »Die Nacht ...«

»Weiter, Fenrir!« kam Razamon der Auf-forderung nach.

Der Wolf schien den Rat wohl zu wörtlich genommen zu haben, denn ohne einen Laut preschte er los und rannte auf den Bau zu, ohne sich noch einmal umzusehen. Ehe Ra-zamon ihn rufen konnte, verschwand er hinter der Seitenfront.

»Hinterher!« rief Atlan erschrocken. »Sie bringen ihn sonst um.«

»Sie ...?« machte Razamon erstaunt, ehe er sich in Trab setzte.

Das Gebäude war leer. Sie fanden nichts. Als sie wieder herauskamen, begann es dun-kel zu werden. Fenrir suchte in der näheren Umgebung nach Spuren und winselte.

»Aber jemand ist hier gewesen«, sagte At-lan überzeugt. »Er muß fortgelaufen sein, als er uns bemerkte. Mit dem Wolf allein hat er es aufgenommen, aber vor uns muß er Angst haben.«

»Oder auch nicht!« knurrte Razamon. »Je-denfalls müssen wir bis morgen warten. Blei-ben wir hier?« Er leckte sich die Lippen. »O-der gehen wir zurück zu unserem Braten?«

»Damit das Feuer den Unbekannten an-lockt?« Atlan schüttelte den Kopf. »Ich glau-be, wir bleiben besser hier. Hol Holz, dann machen wir im Nebengang Feuer. Es wird schön warm werden, und der Schein kann uns nicht verraten, da dort keine Fenster sind.«

Razamon nickte zustimmend und mar-schierte los. Fenrir blieb.

Atlan nahm den Vorratsbeutel des Atlan-ters, den dieser zurückgelassen hatte, und suchte einen bequemen Platz. Ein leichter Windzug ließ eine gute Entlüftung erhoffen. Der Gang war nicht breit, aber eine Nische ließ die Illusion eines geschlossenen Raumes aufkommen.

Fenrir rollte sich zusammen, schlief aber nicht. Er leckte sich die rechte Hinterpfote. Er schien erschöpft zu sein.

Nach einer Weile begann Atlan unruhig zu werden. So lange konnte Razamon doch nicht brauchen, um ein paar Äste einzusammeln. Ganz in der Nähe des Pumpwerkes standen Bäume genug, und darunter lagen mehr tro-ckene Äste, als sie für zehn Nächte brauchen würden.

Er ließ die beiden Vorratsbeutel zurück und bedeutete Fenrir, hier zu bleiben und sie zu bewachen. Der Wolf verstand und blieb, wäh-rend Atlan zum Ausgang schlich und vorsich-tig nach draußen spähte.

Zuerst glaubte er, sich zu täuschen, aber dann identifizierte er den schwachen Licht-schein, der von Norden kam, doch als die Re-flexion eines unter freien Himmel abbrennen-den Feuers. Allerdings schien es sich in einer Senke zu befinden, denn von den eigentlichen Flammen war nichts zu sehen.

Ein Feuer ...? Er zog einen Pfeil aus dem Köcher und

hielt den Bogen bereit. Dann erst verließ er die Station und suchte sofort Deckung in den nächsten Büschen. Razamon mußte das Feuer auch bemerkt haben, wenn er nicht gerade blind war. Also hatte er ähnlich gehandelt wie Atlan.

Immerhin hätte er Bescheid sagen können, dachte Atlan wütend.

Es war dunkel und nicht immer einfach, den Weg zu finden. Aber der Feuerschein wurde heller. Er flackerte unregelmäßig. Dann hörte Atlan die ersten Geräusche.

Zehn Minuten später erreichte Atlan den Rand der Senke und duckte sich hinter die Wurzeln eines Baumes. Was er sah, ließ ihn das Blut in den Adern gefrieren, aber eigent-lich hätte er etwas Ähnliches erwarten kön-nen. Schon einmal war er bei den Sothkorern gewesen.

In der Mitte des Lagerplatzes brannte ein

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nicht zu großes Feuer. Etwa ein Dutzend Sothkorer tanzten darum herum und sangen. In den Händen schwangen sie Messer, Lanzen und andere primitive Waffen. Weitere Zwerge hockten etwas vom Feuer entfernt auf Steinen und Stämmen und sahen dem Tanz zu, der immer wilder wurde.

Das aber war es nicht allein, was Atlan ent-setzte.

Dicht neben dem Feuer lag Razamon, an Händen und Füßen gefesselt.

Er war zum zweiten Mal ein Gefangener der Sothkorer-Kannibalen.

*

Damit war mit einem Schlag alles klar: die

schiffbrüchigen Sothkorer hielten sich durch Kannibalismus am Leben. Wahrscheinlich töteten sie jeden Neuankömmling auf der In-sel und auch ihre eigenen Kranken und Schwachen. Sicherlich hätte auch Fenrir einen guten Braten abgegeben.

Die zweite Voraussetzung für ihr überleben war Wasser. Aus dem See würden sie es kaum beziehen, also kannten sie auf der Insel eine Quelle.

Eine dritte Frage konnte sich Atlan selbst beantworten: Warum verließen sie die Insel nicht wieder, wenn sie noch ihre Velter hat-ten? Er hatte es gestern selbst ausprobiert. Er war hinab zur Bucht gegangen und hatte sich in seinen dort noch liegenden Velter gesetzt. Die Blase bewegte sich keinen Zentimeter vom Ufer weg. Eine wahrscheinlich überall vorhandene Strömung drückte gegen die In-sel, von allen Seiten. Kein Velter konnte sich je wieder von ihr entfernen.

Alle diese Dinge gingen ihm durch den Kopf, während er das Lager der Kannibalen beobachtete und überlegte, wie er Razamon befreien sollte. Es waren gut zwei Dutzend Sothkorer, und er selbst hatte dreißig Pfeile, höchstens fünfunddreißig.

Immerhin lag er in einem günstigen Ver-steck und konnte alles gut überblicken. Pfeile waren fast lautlos und verrieten die Richtung nicht, aus der sie kamen. Trotzdem gab es ein großes und gefährliches Risiko: Während seines Überfalls durfte sich kein Sothkorer in die Nähe des Gefangenen begeben und versu-

chen, diesen zu töten. Atlan nahm sämtliche Pfeile aus dem Kö-

cher und legte sie vor sich hin. Griffbereit garantierten sie die schnellstmögliche Schuß-folge. Er konnte sie bequem zusammenraffen, wenn er den Standort wechseln mußte.

Die Tanzzeremonie schien ihren Höhe-punkt erreicht zu haben. Ein alter Sothkorer, nur mit einem Lendenschurz bekleidet und einem Messer bewaffnet, löste sich aus der Formation und näherte sich Razamon, das Messer erhoben und zum Todesstoß bereit.

Atlan nahm ruhig Ziel und schoß. Der Pfeil durchbohrte den Hals des Kannibalen, der lautlos zu Boden sank und sich nicht mehr rührte. Noch ehe die anderen überhaupt be-merkten, was geschehen war, wurden zwei weitere von Atlans Pfeilen getroffen und star-ben.

Eine andere Lösung wäre dem Arkoniden lieber gewesen, aber er sah keine. Verhand-lungen wären zwecklos gewesen, sie hätten den Sothkorern höchstens eine Gelegenheit gegeben, ihn mit Razamon als Geisel zu er-pressen.

Erst als der vierte Zwerg mit einem Schrei in das Feuer stürzte, im Rücken einen Pfeil, verstummten die Trommeln jäh, und die Tan-zenden standen wie erstarrt. Ein fünfter stürz-te tot zu Boden.

Atlan konnte sehen, daß Razamon die Situ-ation auszunutzen verstand. Trotz seiner Fes-seln rollte er sich seitwärts aus dem Licht-schein des Feuers heraus und verschwand unter den schützenden Zweigen eines Bu-sches.

Die Sothkorer erholten sich von ihrer Über-raschung. Mit schrillen Wutschreien rannten sie in verschiedene Richtungen davon, um aus der gefährlichen Nähe des unsichtbaren To-desschützen zu gelangen. Im Lager zurück blieben nur eine alte Frau und ein paar Kin-der.

Und die meisten Waffen. Atlan verzichtete darauf, noch mehr seiner

wertvollen Pfeile zu verschwenden. Hastig schob er sie in den Köcher und umrundete dann die Senke, um auf der anderen Seite zu dem Busch zu laufen, in den sich Razamon gerollt hatte. Er fand ihn nach einem leisen Zuruf und durchschnitt die aus Gras gefloch-

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tenen Stricke.

»Sie werden zurückkommen«, flüsterte der Befreite und rieb sich die Handgelenke. »Sie scheinen Geschmack an mir gefunden zu ha-ben.«

»Im wahrsten Sinne des Wortes«, gab Atlan ebenso leise zurück. »Komm, wir müssen hier fort.«

Auf dem Rückweg zum Pumpwerk hörten sie überall im Dunkel der Nacht Geräusche. Die Sothkorer waren dabei, sich wieder zu sammeln, aber sie konnten nicht wissen, wo sich ihr Gegner verborgen hielt.

Fenrir erwartete sie am Eingang des Ge-bäudes.

»Pfeile und Bogen bin ich nun los«, bedau-erte Razamon. »Aber die hole ich mir mor-gen. Jetzt wissen wir wenigstens, mit wem wir es zu tun haben. Es wird besser sein, wenn einer von uns die ganze Nacht über Wache hält. Es gibt ja nur diesen einen Ein-gang.«

»Da bin ich nicht mehr so sicher«, meinte Atlan.

Sie verzichteten auf ein Feuer, und es wur-de eine lange, kalte Nacht.

*

Als die Sonne aufging und Atlan, der die

letzte Wache hatte, vorsichtig das Gelände vor der Pumpstation ausspähte, konnte er nichts Verdächtiges bemerken. In einiger Ent-fernung lag die dunkle Masse des getöteten Flugsauriers. In Richtung der Senke, in der die Sothkorer gestern ihr grausiges Mahl vor-bereitet hatten, rührte sich nichts.

Es war still auf der Insel, nichts war zu hö-ren. Nur das rhythmische Stampfen der Pumpanlage war geblieben. Schritte näherten sich.

»Ein idealer Ort für Ferien.« Es war Raza-mon, der sich von seinem nächtlichen Aben-teuer erholt hatte. »Und nun kann mich nichts davon abhalten, ein richtiges Männerfrüh-stück zu mir zu nehmen.« Er deutete in Rich-tung des Sauriers. »Gleich dort an Ort und Stelle.«

Fenrir trottete an ihnen vorbei. Er zog den Hinterlauf nicht mehr nach. Die beiden Män-ner folgten ihm, sammelten Holz und zünde-

ten das Feuer an. Razamon schnitt aus den Stellen, die er für die besten hielt, einige Fleischstücke aus dem Kadaver und spießte sie auf einen Ast. Der Wolf bekam seine Mahlzeit.

»Wir müssen heute die Insel absuchen«, sagte Atlan und sog den Duft des gebratenen Fleisches ein. »Wasser ist jetzt wichtiger als alles andere. Wahrscheinlich werden wir uns dann erneut mit den Kannibalen auseinander-setzen müssen.«

»Das wird kaum ausbleiben, die Insel ist zu klein. Doch vielleicht sind sie verhandlungs-bereit, wenn wir ihnen die Reste unseres Bra-tens überlassen.«

Das Fleisch war recht schmackhaft, wenn auch hart und zäh. Der Rest des Wassers bil-dete den krönenden Abschluß des Mahles. Razamon löschte das Feuer, nahm seinen Vorratsbeutel mit den letzten Bohnen und noch etwas Speck, erhob sich und nickte At-lan zu.

Fenrir übernahm die Führung, wie ge-wohnt. Atlan ging hinter Razamon, den Bo-gen in der linken und einen Pfeil in der rech-ten Hand. Sie folgten dem Pfad, der zur Ener-giekuppel führte, bogen dann aber vor Errei-chen derselben links ab und gingen in nord-östlicher Richtung weiter.

Einige dunkle Wolken trieben nach Süden, aber meist schien die Sonne aus blauem Himmel. Die Temperatur stieg an. Eine Stun-de später wurde es sogar richtig heiß.

Sie kamen nur langsam voran, da sie immer noch darauf bedacht waren, jede Deckung auszunutzen. Außerdem hielten sie immer wieder an, um rechts und links des Pfades nach Wasserstellen zu suchen. Es gab genug feuchte Senken, in denen Gras und Moos wuchs, aber mehr als eine dunkle schlammige Brühe gaben sie nicht her.

Sie genügte, die trockenen Lippen nicht aufspringen zu lassen, aber der Durst wurde dadurch nur noch größer.

Einmal entdeckten sie die Spuren der Sothkorer.

Fenrir, gut hundert Meter vor ihnen und si-chernd, war stehengeblieben. Er sah zurück und winselte warnend. Atlan legte den Pfeil auf die Bogensehne, Razamon griff nach dem Messer und sprang hinter den nächsten

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ATLAN 12 – Insel der Kannibalen

Baumstamm.

Aber Fenrir kam nicht zu ihnen, sondern blieb dort, wo er war. Sein Winseln schien mehr ein Rufen zu sein. »Kommt her, ich ha-be etwas gefunden ...«

Vorsichtig näherten sie sich dem Wolf, und dann sahen auch sie die längst verlassene und erkaltete Feuerstelle. Die zahlreichen Fußspu-ren, von kleinen und nackten Füßen, waren alt und zertreten.

Aber das war es nicht, was sie zusammen-schaudern ließ.

Neben der Feuerstelle lagen im trockenen Gras verstreut die abgenagten Knochen des letzten Festmahls der Kannibalen. Atlan verstand genug von Anatomie, um sicher zu sein, daß es die Überreste eines Sothkorers waren. Hier hatte ihn seine Bestimmung er-reicht, seinen Stammesgenossen das Überle-ben zu sichern.

Voller Ekel wandte Atlan sich ab. »Wei-ter!« sagte er nur.

*

Im Nordosten der Insel Tschuuhrt wurde

die Vegetation merklich üppiger. Bäume und Büsche wuchsen dicht zusammen und boten eine ausgezeichnete Deckung. Überall konnte der Feind lauern und brauchte nur zu warten, bis die Opfer in die Falle gingen.

Fenrir schien die Gefahr mal wieder recht-zeitig zu ahnen oder zu wittern. Er ging im-mer nur wenige Schritte, um dann wieder an-zuhalten und zu sichern. Sein ganzes Verhal-ten bedeutete jedoch nicht ausschließlich Warnung, es beinhaltete auch eine gewisse freudige Erregung und Erwartung. Das nervö-se Zucken seiner Schwanzspitze verriet es nur zu deutlich.

Das Gras war gut einen halben Meter hoch und verriet feuchten Boden zwischen den Fel-sen. Als Atlan zehn Meter neben dem Pfad eine Senke untersuchte, sank sein Fuß mehre-re Zentimeter ein. Aber noch immer sammelte sich kein trinkbares Wasser in dem Abdruck.

»Fenrir witterte Wasser«, vermutete Raza-mon.

»Aber auch die Sothkorer«, gab Atlan zu bedenken.

Sie mußten in der Nähe sein, daran konnte

kein Zweifel bestehen. Verstecke gab es ge-nug. Vielleicht lagen sie schon hinter den nächsten Büschen und warteten auf die beste Gelegenheit, über ihre Opfer herzufallen.

»Weiter! Hier können wir nicht bleiben!« Razamon deutete nach Südosten. »Da drüben ist ein Zwergwald. In ihm finden wir Schutz.«

»Die Sothkorer aber auch ...« Bei einer so geringen Fläche wie etwa fünf

Quadratkilometer konnte eine Begegnung mit den Kannibalen früher oder später nicht aus-bleiben, sie war unvermeidlich. Eine Gruppe würde die andere belauern und auf ihre Chan-ce warten.

In Richtung des Waldes gab es keinen Pfad, aber an manchen Stellen verriet das niederge-tretene Gras das Vorhandensein anderer Le-bewesen. Die Sothkorer schien sich oft in dieser Region der Insel aufgehalten zu haben.

Fenrir beschleunigte sein Tempo. Die bei-den Männer hatten Mühe, ihm zu folgen, ohne in ihrer Aufmerksamkeit nachzulassen. Jede Unachtsamkeit konnte den sicheren Tod be-deuten.

Das Gelände wurde hügelig und stieg dem Rand der Insel zu an. Fenrir gebärdete sich plötzlich recht seltsam, stieß ein kurzes Heu-len aus – und war verschwunden.

Razamon war stehengeblieben. »Was soll denn das nun wieder bedeuten?

Ob er in eine Fallgrube gestürzt ist?« »Das Bellen klang eigentlich mehr freu-

dig«, meinte Atlan. »Es war ein Heulen.« »Ein heulendes Bellen«, gab Atlan zurück.

»Jedenfalls klang es nicht nach einer War-nung. Vielleicht hat er Wasser gefunden.«

Razamon schüttelte den Kopf und ging weiter. Dann begann er zu laufen, hielt aber abrupt an, als er Fenrir sah. Atlan prallte ge-gen ihn und blieb ebenfalls stehen.

Der Wolf stand an einem kleinen See mit kaum fünf Metern Durchmesser und schlug sich den Bauch voll Wasser.

6.

Obwohl ihr Durst fast unerträglich gewor-

den war, blieben sie zwischen den Büschen stehen. Dies hier mußte die Wasserstelle der Kannibalen sein, die vielen Spuren im Gras

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bewiesen es. Sie konnten also jeden Augen-blick wieder auftauchen und sie überraschen.

Fenrir hatte seinen Durst gelöscht, umkreis-te den Teich, nahm einige Witterungen auf und kehrte schließlich zu den beiden warten-den Männern zurück. Es war hundertprozen-tig anzunehmen, daß sich keiner der kanniba-lischen Zwerge in unmittelbarer Nähe auf-hielt.

Nun erst tranken auch Atlan und Razamon, füllten ihre Flaschen und zogen sich in das dichte Gebüsch zurück, um die nächsten Schritte zu beraten.

»Hier ist es zu unsicher«, sagte Razamon überzeugt. »Außerdem haben wir wieder Wasser für drei oder vier Tage und können den Vorrat jederzeit ergänzen. Der Saurier gibt noch zwei Tage Fleisch, ehe es unge-nießbar wird. Aber ich glaube, solange wer-den wir gar nicht hier bleiben.«

»Was schlägst du vor?« fragte Atlan neu-gierig.

Razamon deutete auf den nahen Wald. »Wir werden ein Floß bauen und über den

See paddeln.« »Gegen die Strömung, in deren Zentrum

die Insel liegt?« »Gegen die Strömung! Es wird ein wenig

anstrengend sein, aber wir werden es schaf-fen. Die Frage ist nur, wie wir mit zwei Mes-sern entsprechende Bäume fällen sollen. Viel-leicht finden wir umgestürzte Stämme, die noch nicht verfault sind und schwimmen. Vor uns liegen zwanzig Kilometer Wasser ...«

Atlan wußte, daß sie früher oder später mit allen Mitteln versuchen mußten, die Insel zu verlassen und das Festland zu erreichen. Das Auftauchen der Sothkorer zwang sie dazu, diese Absicht bald in die Tat umzusetzen. Der Aufenthalt hier war nicht mehr sicher, und der Gedanke, ständig von den Kannibalen ver-folgt zu werden, wirkte nicht gerade beruhi-gend.

Fenrir winselte leise und voller Warnung. »Los, zum Wald!« flüsterte Razamon und

gab dem Wolf einen Klaps auf den Rücken. Es waren nur knapp zweihundert Meter

durch Gelände mit hohem Gras und niedrigen Büschen. Wieder zweihundert Meter weiter zog sich die Mauer dahin, hinter der das See-ufer lag.

Fenrir hatte sich wieder beruhigt und wit-terte keinen Gegner mehr. Atlan betrachtete die Bäume, deren Stämme nicht sehr dick waren, sich aber recht gut für ein Floß eigne-ten. Mit den Messern konnten pro Tag drei bis vier Bäume gefällt werden. Für das Floß wür-den etwa zwanzig Stämme genügen. Seile mußten aus Gras geflochten werden.

»In einer Woche haben wir es geschafft«, prophezeite Razamon voller Optimismus. »Wenn uns die Sothkorer nicht daran hin-dern.«

»Und wo bleiben wir über Nacht?« »In der nächsten Pumpstation, siebenhun-

dert Meter nach Norden.« »Hältst du das für sicher?« »Sicherer jedenfalls als den Wald.« Es war Mittag, sie hatten noch den halben

Tag vor sich. Der Durst war gelöscht, und Hunger verspürten sie noch nicht. Nichts also konnte sie daran hindern, sofort mit der Ar-beit zu beginnen.

Fenrir lagerte ein wenig abseits im Laub und sah ihnen interessiert zu.

*

Die Sothkorer dachten nicht daran, ihre ent-

flohenen Gefangenen zu verfolgen. Als sie am nächsten Morgen in ihr Lager zurückkehrten, fanden sie ihre Waffen und die fünf getöteten Artgenossen vor. Für mindestens eine Woche waren sie ihre Nahrungssorgen los.

Der neue Häuptling der Schiffbrüchigen schickte zwei der Männer los, um Wasser zu holen, den restlichen befahl er, ein großes Feuer zu entfachen und ein Fest vorzuberei-ten. Frischfleisch verdarb in der Tageswärme zu schnell.

Fenrir witterte am späten Nachmittag die beiden Wasserträger, schlich sich an sie heran und beobachtete sie aus einem sicheren Ver-steck. Er griff sie nicht an, denn sein Instinkt sagte ihm, daß sie keine Gefahr darstellten. Nachdem sie ihre Gefäße gefüllt hatten, gin-gen sie wieder.

Fenrir kehrte zu Atlan und Razamon zurück und kam gerade zurecht, den ersten Baum fallen zu sehen.

Atlan schliff das stumpf gewordene Messer an einem Stein wieder scharf. Wenig später

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fiel auch Razamons Baum. Das Holz war nicht sehr hart, aber dafür trocken. Es würde gut schwimmen.

»Fällen wir heute noch einen?« fragte Ra-zamon und sah hinauf in den Himmel. Die Wolken waren fast völlig verschwunden, und die Sonne stand schon tief. »Zwei Stunden haben wir noch Licht.«

»Ich mache es«, schlug Atlan vor. »Du gehst am besten zum Saurier und holst mit Fenrir das Abendessen. Morgen ist das Fleisch vielleicht schon schlecht.«

»Gut«, erklärte Razamon sich einverstan-den. »Ich bringe einen tüchtigen Vorrat mit, den wir anbraten können, dann hält es sich länger.«

»Sei vorsichtig! Beim dritten Befreiungs-versuch könnte es nicht klappen.«

Razamon grinste, rief Fenrir und machte sich auf den Weg. In einer halben Stunde konnte er zurück sein.

Er kam aber erst nach zwei Stunden und brachte Informationen mit.

Er war südlich an der Energiestation vorbei zum Saurier gegangen und hatte ihn restlos zerlegt. Fenrir hatte sich den Bauch vollge-schlagen und war nur schwer zu bewegen gewesen, noch einen Erkundungsgang zu un-ternehmen. Die verschwundenen Kannibalen ließen Razamon keine Ruhe. Er mußte wis-sen, was aus ihnen geworden war.

Obwohl er nicht damit rechnete, fand er sie am alten Lagerplatz versammelt. Sie trafen gerade ihre Vorbereitungen für das Festmahl, doch diesmal waren die eigenen Gefallenen die Ehrengäste. Razamon schauderte zusam-men, als er sie beobachtete, aber sein Gefühl sagte ihm, daß einige Tage nichts von ihnen zu befürchten war.

Dann kam ihm der Zufall zu Hilfe und brachte ihm einen Gefangenen.

Einer der Sothkorer entfernte sich von dem Lagerplatz und nahm Kurs auf die Steinmauer vor dem Küstenabhang. Dort blieb er stehen und sah nach Westen, wo sein Land lag. Die Küste war heute gut zu erkennen, aber das dunkle Wasser des Dämmersees trennte sie von der Insel.

Razamon gab dem Wolf ein Zeichen, sich ruhig zu verhalten, und schlich sich von hin-ten an den Sothkorer heran. Er legte ihm

blitzschnell den Arm um den Hals, nahm ihm das Messer ab, das locker im Gürtel steckte, und bedrohte ihn damit.

»Wenn du den Mund aufmachst, um zu schreien, töte ich dich«, sagte er in dem Dia-lekt, den er nun gut genug kannte. »Wenn du mir antwortest, kannst du zu deinen Freunden zurückkehren.«

Der Zwerg gab durch Zeichen zu verstehen, daß er gehorchen wollte. Razamon lockerte den Würgegriff und zog ihn in das nächste Gebüsch. Fenrir blieb in der Nähe und paßte auf, daß sie nicht überrascht wurden.

»Wie lange seid ihr auf Tschuuhrt?« »Viele Tage schon, die einen länger, die

anderen kürzer. Wir können nicht mehr weg von hier.«

»Dann baut euch Flöße, faule Bande«, riet Razamon wütend. »Ihr seid Kannibalen ge-worden?«

»Wir haben sonst nichts zu essen.« »Es ist mir egal, was ihr macht, aber laßt

mich künftig in Ruhe, oder ich werde euch alle töten. Wirst du das deinen Freunden be-richten? Und noch etwas: ich bin nicht allein, wie ihr gemerkt habt. Ich habe einen mächti-gen Krieger bei mir, einen Sohn der Götter. Er wird euch fürchterlich bestrafen, wenn ihr noch einmal angreift. Und der da ...«, er deu-tete auf Fenrir, »... kann euch alle zerreißen, wenn ich es ihm befehle.«

Der Sothkorer war sichtlich eingeschüch-tert. Razamon konnte mit seiner Mission zu-frieden sein. Um jedoch nicht verfolgt zu werden, riß er ein paar halbvertrocknete Schlingpflanzen von den Büschen und band seinem Gefangenen die Füße zusammen. Es würde einige Zeit dauern, bis er sich wieder befreit hatte.

Mit Fenrir verschwand er dann in den Bü-schen.

»Ich bin dann so schnell wie möglich zu-rückgekommen«, schloß er seinen Bericht. »Ich glaube, sie werden sich nun hüten, uns anzugreifen. Außerdem kennen sie unseren Aufenthaltsort nicht. Auch haben sie nun ge-nug Fleisch und werden uns in Ruhe lassen.«

Er half Atlan noch, den dritten Baum zu fällen, dann zogen sie sich in die Pumpstation Nord zurück. Zweimal holten sie Brennholz, um einen genügenden Vorrat zu haben. Der

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Rauch zog durch die Tür ab, aber es wurde schnell dunkel, und niemand konnte ihn se-hen.

Riechen konnte ihn nur derjenige, der von Süden kam.

Razamon übernahm die erste Wache, wäh-rend Atlan und Fenrir schliefen.

Gegen Mitternacht, gerade als er Atlan we-cken wollte, zerriß ein gellender Schrei die nächtliche Stille.

Er kam aus Südosten, vom See her.

* »Es hat wenig Sinn«, sagte Atlan und rieb

sich den Schlaf aus den Augen, »wenn wir jetzt in der Dunkelheit herumlaufen und nach der Ursache forschen. Ein Sothkorer jeden-falls kann es nicht gewesen sein, denen traue ich eine so kräftige Stimme nicht zu. Außer-dem kam sie vom See her. Vielleicht neue Schiffbrüchige, die beim Anblick von Tschuuhrt das Grauen gepackt hat.«

»Es war ein unheimlicher Schrei ...« »Hier ist alles unheimlich, Razamon. Und

nun leg dich hin und versuche zu schlafen. Beruhige Fenrir, damit er nicht fortläuft.«

Razamon legte noch ein paar Äste in die Glut und legte sich dicht neben den zusam-mengerollten Wolf. Atlan setzte sich draußen auf die Stufen vor der Tür und lauschte in die Nacht hinaus. Er glaubte, das Plätschern von Wasser zu hören, aber dann war alles wieder ruhig. Ein wenig später war ihm, als flatterten Segel im Wind, aber das konnte nur Einbil-dung sein.

Beim Morgengrauen weckte er Fenrir, der den Rest der Wache übernahm. Er selbst ver-zichtete auf weiteren Schlaf und entfachte das Feuer, weil ihm kalt geworden war.

Er hörte keine verdächtigen Geräusche mehr, aber die Unruhe blieb. Am liebsten wäre er ja zur Küste gegangen, um Ausschau zu halten, aber er wollte Razamon noch nicht wecken. Also bereitete er schon mal das Frühstück vor und war dann froh, als der At-lanter durch den Duft der Bohnen von selbst wach wurde.

Danach kehrten sie in den Wald zurück und nahmen ihr ganzes Besitztum mit. Doch kaum hatten sie mit ihrer Arbeit begonnen, schreck-

te sie ein Schrei auf. Razamon hielt den Kopf schief und lausch-

te. »Der gleiche Schrei wie in der Nacht! Vom

See her!« Nun hielt es Atlan nicht mehr länger aus. »Komm, sehen wir nach!« Sie legten die zweihundert Meter bis zur

abgrenzenden Steinmauer im Dauerlauf zu-rück, Fenrir folgte ihnen langsamer und nach allen Seiten sichernd.

An dieser Stelle bildeten zwei kahle und felsige Kaps eine große Bucht und gaben den Blick nur nach Osten frei. Da aber war nichts zu sehen. Nur das dunkle Wasser und am Ho-rizont die Küste. Es war heute besonders klar. Etwas südöstlich war der Dschungelwald an der Mündung des Regenflusses deutlich aus-zumachen. Von Ansiedlungen war nichts zu sehen.

»Von der Küste her kann kein Laut bis zu uns kommen«, murmelte Razamon verstört. »Also stammt er doch von der Insel.«

Atlan berichtete ihm jetzt erst von den an-deren Geräuschen, die er während seiner Nachtwache gehört hatte. Er schloß:

»Es muß ein größeres Schiff gewesen sein, davon bin ich überzeugt. Ein Segelschiff, das vor der Insel kreuzt. Zu dumm, daß es hier keinen Berg gibt, von dem aus sich alles bes-ser überblicken läßt.«

»Wer immer da geschrien hat, er sollte es noch einmal tun«, wünschte sich Razamon. »Dann haben wir wenigstens die Richtung.«

Er schien nicht so recht an Atlans Theorie mit dem Segelschiff zu glauben.

»Hei ... Ho!« Wieder der Schrei, aber diesmal war er mit

noch anderen Geräuschen verbunden. Metall schlug auf Metall, jemand brüllte etwas Un-verständliches, dann gab es Kampfeslärm und wieder Stille.

»Es ist rechts hinter dem Kap«, flüsterte Razamon. »Du hast recht. Es muß auf einem Schiff sein – und es kommt näher.«

Gespannt blickten sie zur Spitze des rech-ten Felsvorsprungs. Das Schiff, auf dem sich unheimliche Dinge abzuspielen schienen, mußte jeden Augenblick dort auftauchen. Es konnte die Rettung bedeuten, was immer auch auf ihm geschehen war oder noch geschah.

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»Da ist es!« Razamon beugte sich gefährlich weit nach

vorn, um besser sehen zu können. Zuerst wurde nur der Kopf eines riesigen

echsenartigen Ungeheuers sichtbar – die Ga-lionsfigur am Bug. Dann folgte der hohe ge-schwungene Holzrumpf, an die sechzehn Me-ter lang. Aus zwei tiefer gelegenen Luken ragten Ruder hervor, die jedoch nicht betätigt wurden.

Auf dem Deck stand eine große Hütte, da-hinter war ein Mast mit einem einfachen Se-gel, das im Wind flatterte und dem Schiff nur wenig Fahrt verlieh.

Auf dem Vorderdeck waren drei Gestalten zu erkennen, halbnackte Männer mit Schwer-tern in den Händen. Damit schlugen sie auf-einander ein. Jeder kämpfte gegen jeden. Da-bei stießen sie brüllende Schreie aus, als hät-ten sie den Verstand verloren. Razamon kniff die Augen zusammen und murmelte:

»Von denen ist keine Hilfe zu erwarten. Sie müssen das Wasser aus dem Dämmersee ge-trunken haben, und nun fallen sie gegenseitig über sich her. Sie sind wahnsinnig gewor-den...«

Atlan beobachtete den Kurs des Schiffes, das parallel zur Küste nach Norden trieb, al-lem Anschein nach steuerlos. Aber nicht die Segel verliehen ihm Fahrt, denn der Wind kam aus Norden. Es mußte die Strömung im See sein.

»Wie kommen wir an Bord?« fragte Atlan ruhig.

Razamon biß sich auf die Lippen. »Wie? Hinterher schwimmen, wie sonst?«

»Es ist zu schnell für uns, Razamon. Aber wenn das Schiff schon in der Nacht hier kreuzte, wird es vielleicht auch wiederkom-men. Wir müssen uns darauf vorbereiten. Kann auch sein, daß es noch näher an die In-sel heranfährt. Backbord schleppt es ein Tau hinter sich her, wenn wir das greifen könn-ten...«

»Und Fenrir?« »Mit vereinten Kräften hieven wir ihn

schon an Bord, wenn uns niemand stört.« »Die Kerle haben genug mit sich selbst zu

tun. Wir dürfen das Schiff nur nicht aus den Augen lassen. Gleich verschwindet es hinter dem linken Kap.«

Da sie ihren ganzen Besitz bei sich trugen und nichts außer den bereits gefällten Bäumen zurückließen, konnte ihnen auch nichts ge-stohlen werden. Fenrir begleitete sie und sorg-te für ihre Sicherheit.

Das seltsame Schiff trieb weiter nach Nor-den und folgte nicht der Küstenlinie, die nach Westen abbog. Somit entfernte es sich wieder von der Insel.

Razamon fluchte vor sich hin und ballte in hilflosem Zorn die Fäuste. »Nur nicht aufge-ben!« mahnte Atlan. »Wenn es sich richtig in den Wind dreht, kann es zurückkommen. Wir sehen das von weitem und schwimmen ihm entgegen. Das Wasser trug Fenrir, es wird auch uns tragen.«

Während des Tages kreuzte das Schiff mehrmals, näherte sich der Insel und entfernte sich dann wieder, aber erst kurz vor Einsetzen der Dämmerung sorgte der Zufall für den günstigsten Kurs. Genau vor dem Wind lief es gegen die hier vorherrschende Strömung auf die Ostseite der Insel zu.

»Los!« rief Atlan und hastete den schmalen Pfad in die Bucht hinab. »Wir dürfen keine Zeit verlieren. Fenrir! Komm!«

Das sonst tiefschwarze Wasser des Däm-mersees schäumte weiß vor dem Bug des Schiffes, als Atlan, Razamon und Fenrir sich in die Fluten stürzten und den Kälteschock zu überwinden versuchten. Sie mußten auf die Backbordseite gelangen, denn dort lag das Seil im Wasser.

Fenrir hielt tapfer mit und blieb in ihrer Nähe. Razamon mußte ihn mit einer Hand festhalten, wenn es soweit war, und sich mit der anderen an Atlan festklammern, der das Seil zu fassen versuchte. So war es abgespro-chen worden.

Sie hörten wieder das Aufeinanderschlagen der Schwerter und die Kampfschreie. Die drei Männer hieben noch immer aufeinander ein, ohne eine Entscheidung herbeiführen zu kön-nen.

Der Bug des Schiffes war nur noch hundert Meter entfernt, als sie seinen Kurs über-schwammen. In weniger als zwei Minuten würde es sie erreichen. Das Tau war noch immer da.

»Aufpassen jetzt!« sagte Atlan. Razamon verkrallte die rechte Hand in Fen-

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rirs Nackenfell und hakte die linke hinter At-lans Gürtel. Der sich schnell nahende Bug mit der schrecklich anzusehenden Galionsfigur war alles andere als vertrauenerweckend. Wenn das Schiff jetzt die Fahrtrichtung änderte, genau auf sie zu ...

Aber es blieb auf seinem bisherigen Kurs. Atlan wurde von der Bugwelle ein Stück

zur Seite geschoben, war aber mit wenigen Schwimmbewegungen wieder dicht an der Bordwand. Das Tauende schleifte auf ihn zu. Er packte es fest und sicher mit beiden Hän-den und spürte einen furchtbaren Ruck, als sich das Gewicht Razamons und Fenrirs an ihn hängte. Aber er ließ nicht los und begann, sich langsam hochzuziehen, bis sie aus dem Wasser waren und der Zug nachließ. Gleich-zeitig mit dem Ruck riß das dünne Kettchen, an dem der Brustbeutel hing. Er hatte keine Hand mehr frei, ihn festzuhalten. Zusammen mit dem wertvollen Feuerzeug fiel er in das schwarze Wasser des Sees, für immer verlo-ren.

Atlan hatte keine Zeit, den Verlust zu betrauern.

»Halt dich fest und warte, ich ziehe euch nach«, keuchte er und kletterte weiter, als er das Gewicht nicht mehr tragen mußte. Es wa-ren etwa fünf Meter bis zur Reling, und das Tau war nun gestrafft.

Vorsichtig spähte er über die massive Holzwandung und sah die drei kräftig ge-bauten Männer auf dem Vorderdeck. Die Hüt-te gab ein wenig Deckung. Er kletterte über die Reling und strengte dann alle seine Kraft-reserven an, um Razamon und Fenrir hochzu-ziehen.

Schließlich standen sie alle drei hinter der Hütte und atmeten erleichtert auf. An Bord waren sie nun, aber wenn die drei verrückten Kerle sie entdeckten und über sie herfielen ...

»Hei, Ho!« brüllte der eine wieder und ver-setzte einem seiner Gegner einen gewaltigen Hieb mit dem Schwert. »Geh über Bord!«

Der Getroffene taumelte zur Reling, um Halt zu finden. Aber die Bordwand war nur einen halben Meter hoch, der Mann unter-schätzte den eigenen Schwung, kippte über und fiel ins Wasser. Man hörte ihn noch ein-mal entsetzt aufschreien, dann versank er.

»Hei ... Ho!«

Der Kampf zwischen den beiden Überle-benden ging weiter.

»Wer sind sie?« fragte Atlan leise. In Kör-perbau und sonstigem Aussehen ähnelten sie Razamon, der die Männer fasziniert beobach-tete. »Versuche doch, sie zur Vernunft zu bringen.«

Razamon nickte wortlos und zog sein Mes-ser. Dann trat er auf das Vorderdeck und rief den Kämpfenden etwas zu, was Atlan nicht verstand.

Der eine, der den kräftigsten Eindruck machte und schon einmal gesiegt hatte, drehte sich um, starrte Razamon an und ließ das Schwert sinken. Der andere stieß einen Schrei aus, ließ seine Waffe fallen und stürzte sich dann über Bord.

Hatte Razamons Anblick ihn so erschreckt, daß er freiwillig den Tod suchte ...?

»Wer bist du?« fragte der Überlebende und umklammerte das Schwert mit beiden Hän-den. »Wer bist du?«

»Ich bin Razamon vom Taamberg. Und du?«

»Gorzohn!« Damit endete die Unterhaltung jäh, denn Gorzohn hatte kaum seinen Namen genannt, da stieß er seinen Kampfschrei aus und stürzte sich auf Razamon, der dicht an der Reling stand und schnell zur Seite sprang.

Es sah so aus, als würde das vorgestreckte Schwert seinen Besitzer regelrecht über die Bordwand ziehen. Mit einem fürchterlichen Aufschrei stürzte Gorzohn in den Dämmersee und versank sofort, um nicht wieder aufzutau-chen.

Atlan kam gleich aus seiner Deckung, ge-folgt von Fenrir.

»Sie hatten alle drei den Verstand verloren ...«

Razamon blickte noch immer in das dunkle Wasser hinab, das in kürzester Zeit drei Män-ner verschlungen hatte.

»Er muß aus meiner Gegend stammen, die-ser Gorzohn. Vielleicht kam das Schiff vom Regenfluß, aus dem Quellgebiet des Taam-bergs.«

»Er hätte dein Bruder sein können.« Razamon setzte sich auf das hölzerne Deck

und schüttelte den Kopf. »Nun haben wir ein Schiff, Atlan. Können

wir aber auch damit umgehen?«

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»Wir werden es lernen. Ich werde das Segel

befestigen, damit es auf Kurs bleibt. Über-nimm du das Ruder. Die Mündung des Re-genflusses ist nicht mehr weit, wir fahren fast genau darauf zu.«

»Hoffentlich sind Lebensmittel und Wasser an Bord.«

»Wasser sicher nicht, wenn deine Vermu-tung stimmt, daß die drei Männer aus dem See getrunken haben. Aber wir müssen das Schiff untersuchen. An der Bordwand steht ein Name. Kannst du ihn entziffern?«

»Es ist die DEEHDRA.« Atlan ging zum Heck und befestigte das

Segel. Bogen und Köcher hatte er im See ver-loren, aber sicher würden sie an Bord der DEEHDRA auch Waffen finden.

Die Insel Tschuuhrt blieb schnell zurück. Atlan glaubte, oben an der Steinmauer einige sich bewegende Punkte erkennen zu können.

Die Sothkorer ...? Dann aber sah er wieder geradeaus, aber

das Festland war nicht mehr zu erkennen. Es war fast dunkel geworden.

»Wir haben noch einen weiten Weg vor uns«, sagte Razamon, als Atlan wieder aufs Vorderdeck kam. »Aber jetzt schaffen wir ihn.«

Fenrir stand zwischen ihnen, als das Schiff in die erste aufsteigende Nebelbank hinein-glitt ...

ENDE

Weiter geht es in Band 13 von König von Atlantis mit:

Senke der verlorenen Seelen von Horst Hoffmann

Impressum: © Copyright der Originalausgabe by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt Chefredaktion: Klaus N. Frick © Copyright der eBook-Ausgabe by readersplanet GmbH, Passau, 2005, eine Lizenzaus-gabe mit Genehmigung der Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

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