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Leseprobe Goethe, Johann Wolfgang West-östlicher Divan. Zwei Bände Neue, völlig revidierte Ausgabe © Insel Verlag 978-3-458-17470-7 Insel Verlag

Insel Verlag - Suhrkamp Insel · JOHANN WOLFGANG GOETHE WEST-ÖSTLICHER DIVAN Neue, völlig revidierte Ausgabe Teilband 2 Herausgegeben von Hendrik Birus INSEL VERLAG

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Leseprobe

Goethe, Johann Wolfgang

West-östlicher Divan. Zwei Bände

Neue, völlig revidierte Ausgabe

© Insel Verlag

978-3-458-17470-7

Insel Verlag

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JOHANN WOLFGANGGOETHE

WEST-ÖSTLICHERDIVAN

Neue, völlig revidierte AusgabeTeilband 2

Herausgegeben vonHendrik Birus

INSEL VERLAG

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Kassettenmotiv: Mir Kalan Khan, Lovers in a landscapeMughal, ca. 1775 © The David Collection, Kopenhagen

Inv. 50/1981, Foto: Pernille KlempEntwurf: Michael Hagemann

Gefördert durch dieFritz Thyssen Stiftung, Köln

Insel Verlag Berlin 2010

© Deutscher Klassiker Verlag Frankfurt am Main 1994

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Satz: pagina GmbH, Tübingen

Druck: CPI – Ebner & Spiegel, UlmBindung: Buchbinderei Lachenmaier, Reutlingen

Printed in GermanyErste Auflage dieser Ausgabe 2010

ISBN 978-3-458-17470-7

1 2 3 4 5 6 – 15 14 13 12 11 10

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WEST-ÖSTLICHER DIVANTEILBAND 2

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INHALT

Teilband 1

West-oestlicher Divan Erstdruck 1819! . . . . . 8West-oestlicher Divan ›Neuer Divan‹ 1819-1827! . 301Des deutschen Divans manigfaltige Glieder

Wiesbaden 1815! . . . . . . . . . . . . . 451Vorabdrucke . . . . . . . . . . . . . . . . 547Nachlaßstücke . . . . . . . . . . . . . . . 583

Kommentar I . . . . . . . . . . . . . . . . 723Überblickskommentare

Inhaltsverzeichnis

Teilband 2

Kommentar II . . . . . . . . . . . . . . . 873Einzelkommentare

Siglen und Abkürzungen . . . . . . . . . . . 1912Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . 1919Alphabetisches Verzeichnis der Gedichtanfänge und

-überschriften . . . . . . . . . . . . . . . 2011Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . 2025

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KOMMENTAR IIEINZELKOMMENTARE

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TEIL I

WEST-OESTLICHER DIVANAd-dıwan as-sarqı li’l-mu’allif al-garbı

ERSTDRUCK 1819!

(S. 8-299)

Die Formulierung dieses zweigliedrigen Titels war das Er-gebnis einer ganzen Kette von Variationen über die in derarabischen – dann auch in der persischen und türkischen –Poesie übliche Bezeichnung von Gedichtsammlungen: dıwan›Sammlung, Versammlung‹, wie sie unübersetzt im Titelvon Hammers Hafis-Übersetzung vorkam: Der Diwan vonMohammed Schemsed-din Hafis. Aus dem Persischen zum ersten-mal ganz übersetzt von Joseph v. Hammer (— Abb. 1).

Am Anfang stand im Juli 1814 der Arbeitstitel Gedichte anHafis (so zuerst im Brief an Christiane vom 28. 7. [FA II 7,355] und im Tagebuch am 30. 7. 1814). Freilich verwendeteGoethe für ihn sogleich auch das Kürzel Divan, wie in derTagebuchnotiz vom 31. 7. 1814: »Divan geordnet« – zu die-sem Zeitpunkt war er schon bei Nummer 29 angekommen.Daß er aber prinzipiell an jenem Titel festhielt, zeigt einenMonat später die Mitteilung an Riemer (29. 8. 1814 [FA II 7,363]): »Die Gedichte an Hafis sind auf 30 angewachsen undmachen ein kleines Ganze, das sich wohl ausdehnen kann,wenn der Humor wieder rege wird.« (In dieser Zeit dürfteauch – wie Maier, Bd. 2, S. 22f., minuziös gezeigt hat – diefür die Rekonstruktion der frühen Divan-Stufen wichtigeschwarze Tintennumerierung auf den Reinschriftblättern[R] begonnen haben, die dann Ende Mai 1815 durch die ro-ten Ziffern des ›Wiesbadener Registers‹ ersetzt worden ist.)

Jener erste Titel wurde im Dezember 1814 durch die Be-zeichnung Deutscher Divan ersetzt (Tagebuch, 14. 12. 1814).

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876 i . west-östlicher divan 1819

Als dessen Umfang zum Jahresende bereits auf 53 Gedichteangewachsen war, versah Goethe dieses erweiterte Corpusmit dem so präzisen wie umständlichen Titel: Versammlungdeutscher Gedichte mit stetem Bezug auf den Divan des persischenSaengers Mahomed Schemseddin Hafis (— S. 457 u. Abb. 8). Ob-wohl dieser noch in Goethes Briefentwurf an Cotta vom 16.5. 1815 (— S. 1697) und im ›Wiesbadener Register‹ vom 30.5. 1815 (— S. 457) als ›offizieller‹ Titel fungierte, hat Goethegleichwohl in beiden Fällen auch den Titel Deutscher Divanals Kürzel weiterverwendet – so in der Überschrift des »fri-sche n! Adreßcalender s! der ganzen Versammlung . . .!,die sich nunmehr auf hundert beläuft, die Beigänger undkleine Dienerschaft nicht gerechnet« (an seinen Sohn, Wies-baden 31. 5. – 8. 6. 1815 [FA II 7, 461]): Des deutschen Divansmanigfaltige Glieder (— S. 453).

Beide Titel wurden schließlich in der ›Ankündigung‹ inCottas ›Morgenblatt für gebildete Stände‹ Nr. 48 vom 24. 2.1816 (— S. 549) abgelöst durch den allgemeineren Titel:West-Oestlicher Divan oder Versammlung deutscher Gedichte instetem Bezug auf den Orient. Der letzte Zwischenschritt zumdeutschen Titel der Erstausgabe war dann die Überschriftdes Vorabdrucks einer Anzahl von Divan-Gedichten in Cot-tas ›Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1817‹ (— S. 555):West-Oestlicher Divan. Versammelt von Goethe. In den Jahren1814 und 1815.

Die Erstausgabe von 1819 (E) hat den lapidaren deut-schen – in Fraktur gesetzten und von Ranken geradezuüberwucherten – Titel: West-oestlicher Divan. von Goethe, da-neben den – osmanisierend verzierten und von Ermer ge-stochenen – arabischen Nebentitel: Ad-dıwan as-sarqı li’l-mu’allif al-garbı ›Der östliche Dıwan des westlichenVerfassers‹ (— Abb. 12f.). Diese durch die arabische Gram-matik erzwungene Vereindeutigung der Adjektivverbin-dung »west-östlich« läßt zugleich die Hauptbedeutung desdeutschen Titels wie auch seine weit darüber hinausgehendeVielbezüglichkeit erkennen.

Wird mit dieser deutsch-arabischen Doppelung die Zwei-

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877kommentar zu s . 11-25

poligkeit der persisch-deutschen – allerdings wie der ganzeText in Antiqua gesetzten – Titel der einzelnen Divan-Bü-cher antizipiert und typographisch noch übertroffen, so lau-tet der Titel in der Ausgabe letzter Hand (C1) nur noch:West-östlicher Divan. Das an die Stelle des arabischen Neben-titels getretene Titelkupfer mit einem sich auf einem Diwanräkelnden und von einer verschleierten Schönen und zweiKindern betrachteten Orientalen, sowie einer Inschrift ausentfernt ans Arabische erinnernden Phantasieschriftzeichen(— Abb. 14), ist freilich eine Versammlung eben jener Ori-ent-Klischees, die der nunmehr in einem eigenen Band alsNoten und Abhandlungen zu besserem Verständniß des West-östli-chen Divans präsentierte Prosa-Teil zu überwinden trachtete.

moganni nameh . buch des sängers (s . 11-25)

Der Titel dieses wie der folgenden Divan-Bücher ist vonGoethe in Anlehnung an Hammers Hafis-Übersetzung ge-bildet worden. In dieser findet sich im Anschluß an die Gha-selen neben anderen Formen auch ein »Moganniname, dasBuch des Sängers« und ein »Sakiname, das Buch der Schen-ken« (Hafis II, 484-488 u. 489-504; RS III, 494-502 u. QG356ff./RS III, 464-492). Allerdings handelt es sich dabeinicht etwa um ›Bücher‹ im europäischen Sinne, sondern umzwei Langgedichte (masnavis); bedeutet doch pers. namehnicht nur ›Buch, Werk‹, sondern auch ›Brief, Schreiben, Ur-kunde‹, hier: ›(Einzel-)Gedicht‹.

Während Hafis’ Moganni-nameh an einen Moganni ›Sänger,Musikant‹ – wie das Saqi-nameh an einen ›Schenken‹ – adres-siert ist, bezieht sich Goethes Buchtitel Moganni Nameh. Buchdes Sängers – den er sogar auf Persisch übte (Bl. 109— S. 710)– auf den Dichter selbst. Dies erklärt auch die Titel-Variantein Goethes ›Divan-Ankündigung‹ im ›Morgenblatt‹ 1816:»Moganiname, Buch des Dichters« (— S. 549,21; entsprechendauch im Kapitel Künftiger Divan — S. 215,10), die um so nä-her lag, als der ›Dichter‹ im West-östlichen Divan umgekehrtoft als ›Sänger‹ bezeichnet wird.

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878 i . west-östlicher divan 1819

Das Buch des Sängers thematisiert die Zugangsweise desDichters zur Welt des Orients. Wie dann ausführlicher in derEinleitung zum Prosateil (— S. 138f.) heißt es hierzu – undspeziell zum großen Eröffnungsgedicht Hegire (— S. 12f.) –in Goethes ›Ankündigung‹ im ›Morgenblatt‹ (— S. 549,15-21):

Der Dichter betrachtet sich als einen Reisenden. Schon ister im Orient angelangt. Er freut sich an Sitten, Gebräu-chen, an Gegenständen, religiösen Gesinnungen undMeinungen, ja er lehnt den Verdacht nicht ab, daß erselbst ein Muselmann sey. In solchen allgemeinen Ver-hältnissen ist sein eignes Poetisches verwebt, und Ge-dichte dieser Art bilden das erste Buch unter der RubrikMoganiname, Buch des Dichters.

Goethe hat diese imaginative Reise, wenn nicht gar Emigra-tion (higra) in den Orient freilich noch eigens durch das hi-storisch um Jahrzehnte zurückgreifende Motto (— S. 11)motiviert, das in schneidendem Kontrast zum Anfang derHegire steht und zugleich mit ihr die orientalische Ver-gleichsebene teilt. Die unmittelbar anschließenden Gedichtespielen dann tatsächlich auf eine solche Fülle von orientali-schen Sachgehalten an wie kaum ein anderer Teil des West-östlichen Divans. Die zweite Hälfte des Buchs des Sängers aber,die mit dem Gros des Buchs Hafis zu den frühesten Teilen desWest-östlichen Divans gehört, hat es vor allem mit der imagi-nativen ›Verwebung‹ von Goethes ›eignem Poetischen‹ (undnicht minder seiner Autobiographie und seinem naturwis-senschaftlichen Denken) mit den ›allgemeinen Verhältnis-sen‹ des Orients zu tun; oder wie es im Kapitel Künftiger Di-van (— S. 215,10-13) zutreffend zu diesem Buch heißt:

Hierin, wie es vorliegt, werden lebhafte Eindrücke man-cher Gegenstände und Erscheinungen auf Sinnlichkeitund Gemüth enthusiastisch ausgedrückt und die näherenBezüge des Dichters zum Orient angedeutet.

Kulminiert dann die west-östliche Stereoskopie diesesBuchs – als Pendant zu Hegire – im ›enthusiastischen Aus-druck‹ von Allleben und Selige Sehnsucht (— S. 23-25), so hat

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879kommentar zu s . 11-25

der abschließende arabeskenhafte Vierzeiler Thut ein Schilfsich doch hervor . . . (— S. 25) eine dem Motto vergleichbare,dessen retrospektiver Sicht allerdings genau gegenläufigeFunktion: die Vorausdeutung auf den Schreibprozeß desWest-östlichen Divans als ganzem.

Damit ist auf dieses eröffnende Buch konzentriert, was inGoethes Briefkonzept an Cotta vom 16. 5. 1815 (— S. 1697)noch als die »Absicht« des gesamten Deutschen Divans be-zeichnet worden war:

auf heitere Weise den Westen und Osten, das Vergangeneund Gegenwärtige, das Persische und Deutsche zu ver-knüpfen, und beyderseitige Sitten und Denkarten übereinander greifen zu lassen.

Im Neuen Divan hat dann – abgesehen von dem jeweils auszwei Gedichten bestehenden Buch des Timur und Buch desParsen – einzig das Buch des Sängers keinerlei Ergänzung,sondern lediglich eine Umstellung des Gedichts Zwiespalt(— S. 18f. u. 312) erfahren.

Zwanzig Jahre ließ ich gehn . . . (S. 11)

Entstehung: Wohl 23.-25. 2., spätestens bis 6. 5. 1815.R: GSA 25/W 292; Abbildung: Mommsen 3a. – r: GSA

25/W 293.E: S. 1. – e: Bl. 2 (— S. 303).C1: S. 1. – WA I 6: S. 4. – Maier I, Titelblatt.Dieses Mottogedicht zum ersten Divan-Buch exponiert

als vierzeilige Strophe aus vierhebigen Trochäen die imWest-östlichen Divan bei weitem häufigste Strophenform. Al-lerdings zeigt es eine Umkehrung der weiblich-männlichenReimordnung der kanonischen ›Suleikastrophe‹, wobei derVersrhythmus häufig zwischen der Betonung aller vier (so v.1) und der von nur zwei – zumeist der geradzahligen – He-bungen (so v. 2) pendelt. Als Motto benennt es prägnant diebiographische wie historische Vorgeschichte des unmittel-bar folgenden Eröffnungsgedichts des Buchs des Sängers wie

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880 i . west-östlicher divan 1819

des West-östlichen Divans als Ganzem. (K. Mommsens weiter-reichende Deutung des Mottos als »panegyrisches Dankge-dicht an Carl August« [Goethe und 1001 Nacht, S. 117] kannsich zwar auf eine Formulierungsparallele mit »Des BarbiersErzählung von seinem sechsten Bruder« aus den Erzählungenaus den tausendundein Nächten [Bd. 1, S. 394-400] berufen: daßnämlich sein Held »zwanzig Jahre lang« bei einem »Sprossender Barmekiden« im Glück lebte. Doch wie jener am An-fang von dem Barmekiden düpiert worden war und schließ-lich nach dessen Tod seines Gelds, seiner Lippen und seinesGlieds beraubt wird, läßt es höchst fragwürdig erscheinen,daß Goethe darin »eine Art märchenhafter Parallele seineseigenen Schicksals« [Goethe und 1001 Nacht, S. 111] gesehenhaben sollte.)11,1 Zwanzig Jahre] Wohl die »glücklichen (jetzt möchte

man beynahe sagen . . .! Schlaraffen-)Zeiten« (Goethe anHerzog Carl August, Mitte Dezember 1806) vor dem in derHegire thematisierten europäischen Umsturz ab 1806 – imgroßen: dem Ende des Heiligen Römischen Reichs Deut-scher Nation, im kleinen: der Plünderung Weimars nach derSchlacht bei Jena und Auerstedt; also die zwei Jahrzehntevom Beginn der Italienischen Reise 1786 bis zum Jahr nachSchillers Tod und dem Abschluß des Faust I. Goethe nenntsie mit Blick auf die 1806 erfolgte »Invasion der Franzosen«in einem Brief an Knebel vom 24. 12. 1824 (also auf den Taggenau 10 Jahre nach der Niederschrift der Hegire – FA II 10,231):

eine Epoche . . .!, die vorüber ist, nicht wieder kommtund dennoch bis auf den heutigen Tag fortwirkt . . .!.Jene Weise sich zu bilden, die sich aus der langen Frie-dens-Epoche des Nordens entwickelte und immerfortsteigerte, ward gewaltsam unterbrochen, alles von Jugendund Kindheit auf ward genötigt sich anders zu bilden, daes denn auch in einer tumultuarischen Zeit an Verbildungnicht fehlte.

Gegen diese seit langem in der Divan-Forschung vertreteneDeutung der ›zwanzig Jahre‹ im Sinne des Zeitraums von

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1786-1806 hat K. Mommsen (unter Verzeichnung weitereralternativer Deutungsvorschläge) 1775-1795 vorgeschlagen;Jungbluth: 1794-1814, Wertheim: 1797-1817.11,4 Wie die Zeit der Barmekiden] Ursprünglich in frz.

Schreibweise: Barmeciden, wie in Oelsners Mohamed-Biogra-phie: »Die Araber sagen im Sprichworte: Schön wie das Zeital-ter der Barmeciden« (S. 161; vgl. Goethes Exzerpt — S.675,17f.); dagegen Kosegartens Revisionszettel: »Für Bar-meciden ist dem arabischen nach richtiger: Barmekiden«(AA III, S. 265). – Die Barmakiden waren das Geschlecht,aus dem die ersten persischen Minister unter den abbasidi-schen Kalifen hervorgegangen sind; mit der traditionellenBe

¯zeichnung ›Regierungszeit der Barmakiden‹ (arab. sult

˙an

Al Barmak) ist die von 786-803 dauernde Regierung des Ve-sirs Yah

˙ya und seiner Söhne Fad

˙l und Ga‘far gemeint, die

mit der Hinrichtung des letzteren durch den abbasidischenKalifen Harun ar-Rasıd ein jähes Ende fand. (Vgl. die Arti-kel »Barmakiden« [W. Barthold] u. »al-Baramika« [ders./D. Sourdel], in: Enzyklopaedie des Islam, Bd. 1, S. 691-693, u.The Encyclopaedia of Islam. New. Ed., Bd. 1, S. 1033-1036.)Herbelots Bibliotheque Orientale zitiert unter dem Stichwortbarmekia’n (S. 190) die Verse: »Ne te vante pas trop du bon-heur de cet etat, pendant que tu es encore dans le berceaususpendu & branlant de la vie: Souviens-toy seulement dutems auquel tu as vu la grandeur des Barmecides.« (Dt. Übs.,Bd. 1, S. 590: »Sey nicht zu stolz auf das Glük dieses Zustan-des, während daß du noch in der Wiege hängst und geschüt-telt wirst: Erinnere dich nur an die Zeiten, da du die Größeder Barmeciden gesehen hast!«) – Von den dichterischen Ge-staltungen dieser »glänzendste n! Epoche« des Kalifats vonBagdad (vgl. das Kapitel Kaliphen — S. 161,24-35, sowie Äl-tere Perser — S. 152,20-24) kannte Goethe Friedrich Maximi-lian Klingers Roman Geschichte Giafers des Barmeciden (2Bde., St. Petersburg 1792-1794), für deren Verfasser man zuGoethes »Demütigung« ihn selbst gehalten hatte (an Schil-ler, 8. 7. 1795), und Hammers Tragödie Dschafer oder derSturz der Barmeciden (Wien 1813).

kommentar zu s . 11

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882 i . west-östlicher divan 1819

K. Mommsen, Die Barmekiden im West-östlichen Divan, S.279-301, bes. S. 295-301. – Jungbluth, Zu einem Motto im»West-östlichen Divan«, S. 228-231. – Staiger, Goethe, Bd. 3, S.30-32. – K. Mommsen, Goethe und 1001 Nacht, S. 109-118. –Wertheim, Von Tasso zu Hafis, S. 196-230. – Ileri, Goethes»West-östlicher Divan« als imaginäre Orient-Reise, S. 292-301. –Eickhölter, Die Lehre vom Dichter in Goethes Divan, S. 11-14u. 17-20. – S. Heine, Zur Gestalt des Dichters in Goethes »West-östlichem Divan«, S. 206f. – K. Mommsen, Spiel mit demKlang, S. 36-39.

Hegire (S. 12f.)

Entstehung: W"eimar# d"en# 24 Dec ember! 1814.R: GSA 25/W 794 (— S. 459f.); Abbildung: SchrdGG 26,

Bl. III, u. Mommsen 4— Abb. 8-9.Deutscher Divan: 1. – Wiesbadener Register: 3. Hegire.Vorabdruck der 1. Strophe: ›Ankündigung‹ des West-öst-

lichen Divans im ›Morgenblatt für gebildete Stände‹, Nr. 48,24. 2. 1816 (— S. 549); vollständig: ›Taschenbuch für Damenauf das Jahr 1817‹, S. III-IV (— S. 555f.).

E: S. 3-5. – e: Bl. 3-4 (— S. 304f.).C1: S. 3f. – WA I 6: S. 5f. – Maier I 1.Als eines der letzten Gedichte des ersten Schaffensjahrs

entstanden, wurde es von Goethe an die Spitze des DeutschenDivans wie des ›Wiesbadener Registers‹ gestellt. Ihm wareine erste intensive Beschäftigung mit orientalischer Poesieüber Hafis hinaus und mit orientalistischer Fachliteratur un-mittelbar vorausgegangen, doch schwerlich wird man (wieSolms, Goethes ›Deutscher Divan‹ von 1814, S. 64 Anm. 43)schematisch festlegen können: »Die Strophen 1 und 6 beru-hen auf Hafis, 3 und 4 auf den Moallakat, 5 auf Waring und 7auf Ferdusi.« Vor allem ist dieses Eröffnungsgedicht desWest-östlichen Divans – wie die ersten Gedichte des Sommers1814 – durch eine Anzahl von Motiven aus der »Vorrede«und dem Motto zu Hammers Übersetzung von Hafis’ Diwan

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angeregt worden, um nun seinerseits »uns von Sinn und Ab-sicht des Ganzen sogleich genugsame Kenntniß« zu geben(so die ›Ankündigung‹ im ›Morgenblatt‹ — S. 549,6f.).

Metrisch an die schweren vierhebigen, durchgängig weib-lich schließenden Trochäen der Hammerschen Übersetzungvon Hafis’ Moganniname, das Buch des Sängers (Hafis II, 484-488; RS III, 494-502) anknüpfend, hat dieses siebenstrophigeGedicht aus jeweils 3 Paarreimen sein einziges formales Pen-dant in dem einstrophigen Widmungsgedicht des West-östli-chen Divans an den Orientalisten Eichhorn (Vor den Wissendensich stellen . . . — S. 346; vgl. auch Frank, Handbuch der deut-schen Strophenformen, Nr. 6.32, u. Aurnhammer, UnzeitgemäßeZeitdichtung, S. 431). Es entwirft ausgehend von der heillo-sen Zersplitterung des gegenwärtigen Europa eine imagi-näre Flucht (Hegire) in den »reinen Osten«: zunächst derWelt des Alten Testaments, dann der muslimischen Bedui-nen und Karawanen und schließlich der persischen Stadt-kultur – um endlich in der (wie die meisten Korrekturen inetwas kleinerem Duktus hinzugefügten) Schlußstrophe mitden »Dichterworten« an des »Paradieses Pforte« anzulan-gen.12,Titel Hegire] Grumach zufolge – in Aufnahme der

Änderung von v. 3 – wohl erst bei Erstellung des ›Wiesba-dener Registers‹ (Ende Mai 1815) in R eingefügt. »DieserTitel . . .! verschiebt . . .! ein wenig das Bild der ursprüng-lichen Konzeption und setzt an die Stelle der Reise dieFlucht« (Burdach, ›Erläuterungen‹ zu SchrdGG 26, S. 24). –Hegire: Frz. Schreibung von arab. higra ›Emigration‹; vgl.Kosegartens Revisionszettel: »Statt Hegire heißt es im ara-bischen, persischen und türkischen eigentlich: Hedschre,doch möchte dies Wort wohl zu fremd und barbarisch klin-gen, Hegire ist auch durch französische Schreibart in Eu-ropa gebräuchlich geworden« (AA III, S. 265; vgl. das Kapi-tel Revision — S. 293,15-21). Gemeint ist MohammedsAuswanderung von Mekka nach Medina im Jahr 622, demBeginn der islamischen Zeitrechnung. Schon den heimli-chen Aufbruch zu der für ihn epochemachenden Italieni-

kommentar zu s . 12

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884 i . west-östlicher divan 1819

schen Reise bezeichnet Goethe als »meine Hegire von Carls-bad« (Zweiter Römischer Aufenthalt – FA I 15/1, 429f.); er er-läutert v. Voigt Mitte Januar 1815 den Ausdruck »Hegire«:»man flüchtet aus der Zeit in ferne Jahrhunderte und Gegen-den, wo man sich etwa Paradiesähnliches erwartet«, und fügtam 8. 2. 1815 gegenüber Knebel hinzu: »Ich segne meinenEntschluß zu dieser Hegire, denn ich bin dadurch der Zeitund dem lieben Mittel-Europa entrückt, welches für einegroße Gunst des Himmels anzusehen ist, die nicht einem je-den widerfährt«. »So steht hier die Ueberschrift in doppel-tem Sinne: als Flucht des Dichters in den Orient und als An-fang einer neuen Zeitrechnung, einer glücklicherenEpoche.« (Hempel IV, S. 4.)12,1f. Nord und West und Süd zersplittern, Throne bersten,

Reiche zittern] So die politische Situation Europas in der»Epoche von 1806 u. s. w.« (an Zelter, 6. 11. 1830 – FA II 11,330), wobei die Napoleonischen Kriege zuvor mit dem Feld-zug nach Ägypten und Syrien 1798 auch den Nahen Ostenkeineswegs unberührt gelassen hatten. – Andererseits fandGoethe in der »Vorrede« zu Hammers Hafis-Übersetzung (I,XXXf.) die Bemerkung, daß schon dessen »Lebenstage . . .! in eines der stürmischsten Jahrhunderte, welches diemorgenländische Geschichte aufzuweisen hat, gefallen wa-ren«:

Dynastieen, die sich haßten und bekämpften, eine auf denTrümmern der andern sich erhoben, und dann wiederüber einander stürzten, unterhielten immerfort den Branddes Krieges, bis daß durch Timurs alles verheerenden Er-oberungsbrand ganz Asien aufflammte, eine weiteschreckliche Feuersbrunst. . . .! Die Gräuel politischerStürme, welch e! damals den Orient erschütterten, bil-den einen merkwürdigen Contrast mit der ungetrübtenHeiterkeit des Dichters, der, während rund um ihn herReiche zusammenstürzten, und Usurpatoren donnerndempor schoßen, mit ungestörtem Frohsinn von Nachti-gall und Rosen, von Wein und Liebe sang.12,3 Flüchte du] Ursprünglich in R: Eile du. – Durch die