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Leseprobe Lewis, Clive Staples Über die Trauer Der Begleiter für schwere Stunden Aus dem Englischen von Alfred Kuoni Mit einem Vorwort von Verena Kast © Insel Verlag insel taschenbuch 3465 978-3-458-35165-8 Insel Verlag

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Leseprobe

Lewis, Clive Staples

Über die Trauer

Der Begleiter für schwere Stunden

Aus dem Englischen von Alfred Kuoni Mit einem Vorwort von Verena Kast

© Insel Verlag

insel taschenbuch 3465

978-3-458-35165-8

Insel Verlag

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»Niemand hat mir je gesagt, daß das Gefühl der Trauer so sehr demGefühl der Angst gleicht. Das gleiche Flattern im Magen, die gleicheUnrast. Zwischen mir und der Welt steht eine unsichtbare Wand. . .«C.S. Lewis

Der Trauerprozeß ist für den Menschen, der ihn durchsteht, ein ein-samer Prozeß. Die vorliegende Schrift, die unter dem Eindruck desTodes von Lewis’ Frau entstand, zählt zu den literarischen Klassikernder Trauerarbeit. Offen schildert C.S. Lewis seine Erfahrungen mit fal-schen Vertröstungen und hilfreichem Trost. Seine aufmerksamen Re-flexionen bringen auf den Begriff, was Trauernde empfinden. Diebehutsamen Annäherungen an erlittenen Verlust schenken TrauerndenTrost.

Clive Staples Lewis (1898-1963) zählt zu den großen Schriftstellerndes Jahrhunderts. Er lehrte als Professor für Englische Literatur desMittelalters und der Renaissance in Oxford und Cambridge. Nebenseinen literarischen Werken verschafften ihm auch seine poetisch-reli-giösen Schriften Weltruhm.

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insel taschenbuch 3465C.S. Lewis

Über die Trauer

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C.S.LewisÜber die Trauer

Der Begleiter für schwere StundenAus dem Englischen von

Alfred KuoniMit einem Vorwort von

Verena Kast

Insel Verlag

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insel taschenbuch 3465Erste Auflage 2009

Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 2009Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung

der C.S. Lewis Company Ltd., C.S. Lewis Pte Ltd. 1961

Für die deutsche Übersetzung: , 1998 Patmos Verlag GmbH & Co.KG/Benziger Verlag, Düsseldorf/Zürich

Für das Vorwort: , Verena KastAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags

sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,

vervielfältigt oder verbreitet werden.Hinweise zu dieser Ausgabe am Schluß des BandesVertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Einband: Michael HagemannSatz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Druck: CPI – Ebner & Spiegel, UlmPrinted in Germany

ISBN 978-3-458-35165-8

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Vorwort

von Verena Kast

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»A Grief Observed«, so heißt der Originaltitel dieserkleinen Schrift zum Thema Trauern. »Eine beobachteteTrauer«. Kann das Beobachten einer Trauer, das Be-schreiben der Erlebnisse während des Trauerprozesses,einem trauernden Menschen helfen, mit seiner Trauerbesser umzugehen, mit dem Gefühl des Verlustes und mitdem Verlust besser zurechtzukommen? Und kann einesolche Schrift Anregung für Leser und Leserinnen sein,sich mit den Gefühlen der Trauer, die zu jedem Lebengehören, und mit Trauernden mehr zu beschäftigen?Kann sie Menschen, die selber in einem Trauerprozeß ste-hen, das Gefühl vermitteln, daß sie mit ihren Erfahrungennicht allein stehen?

Vielleicht ermutigt dieses Buch Trauernde sogar dazu,ihre Gefühle der Trauer zu beschreiben, auch wenn siekeine Schriftsteller und Schriftstellerinnen sind, damit siediese Gefühle besser ertragen und die damit verbundenenErfahrungen nicht verlorengehen.

Wir sind vom Gefühl der Trauer erfaßt, wenn wir einenMenschen verloren haben oder ein Lebensgut, das für un-ser Leben besonders wertvoll gewesen war. Mit diesemGefühl der Trauer verbunden sind Gefühle des Kummers,der Angst, des Zorns, der Schuld usw.

Das Erleben dieses Gefühls, das Zulassen dieses Ge-fühls, bewirkt, daß wir in einen Trauerprozeß eintreten,in einen Entwicklungsprozeß, durch den wir langsam –und sehr schmerzhaft – lernen, den Verlust zu akzeptierenund ohne den Menschen, den wir verloren haben, ohne

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das Gut, das wir verloren haben, uns wieder neu auf dasLeben einzulassen.

Diese Erfahrung drückt Lewis aus, wenn er schreibt:»Kummer hat sich indessen nicht als Zustand, sondernals ein Vorgang erwiesen« (S. 68). Diesen Vorgang, wie erihn ganz persönlich erlebt hat, beschreibt er, und alsSchriftsteller leistet er auch schreibend Trauerarbeit.

Der Trauerprozeß und die Trauerarbeit müssen imZusammenhang mit der Beziehung gesehen werden, ausder wir uns durch den eingetretenen Verlust herauslösenmüssen. Wenn wir zu einem Menschen eine intensive Be-ziehung aufbauen, dann wachsen wir mit ihm zusammen,mit ihm zusammen wachsen wir aber auch. Das ist derGrund, weshalb Trauernde sagen, sie würden sich jetztentzweigerissen fühlen, sich wie eine blutende Wunde an-fühlen, sich entwurzelt vorkommen. Der Prozeß diesesgemeinsamen Miteinander-Verwachsens wird durch denTod abrupt unterbrochen und verändert das ganze Le-ben. Im Laufe des Trauerprozesses müssen wir uns wie-der auf uns selbst als einzelne besinnen, neu auch wiedereinen Bezug zur Welt finden. Der Verlust betrifft unserganzes Leben, besonders wenn es sich um den Verlust ei-nes uns sehr nahestehenden Menschen handelt.

»Das ganze Leben ist durch und durch anders. Ihre Ab-wesenheit ist über alles gebreitet« (S. 31), schreibt Lewisin diesem Zusammenhang.

So ist denn der Trauerprozeß ein sehr schmerzhafterProzeß von einer eigentümlichen Lebendigkeit, der vielKraft und Zeit kostet und uns zwingt, uns mit uns selbstund mit der Beziehung, die abgebrochen worden ist, aus-einanderzusetzen.

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Der Trauerprozeß

Aus der Beobachtung von trauernden Menschen, beson-ders auch aus den Träumen, die Trauerprozesse regelmä-ßig begleiten, kann der typische Ablauf eines Trauerpro-zesses beschrieben werden.*

Die erste Phase des Trauerprozesses nenne ich diePhase des Nicht-wahrhaben-Wollens. Man weigert sichzu glauben, daß ein Mensch wirklich gestorben ist, mansteht unter Schock und versucht sich zunächst dadurchvor den Gefühlen des Verlustes zu retten, daß man sicheinredet, alles wäre nur ein böser Traum, aus dem manerwachen werde. Diese erste Phase, die Stunden oderTage dauern kann, geht in die Phase der »aufbrechendenchaotischen Emotionen« über, nicht selten beim Anblickder Leiche, dann also, wenn wir den Verlust nicht mehrverdrängen können. Chaotisch nenne ich diese Emotio-nen deshalb, weil verschiedene, auch einander widerspre-chende heftige Gefühle erlebt werden: Kummer, Angst,Zorn, Schuld, Sehnsucht, Liebe usw. Auch verhältnismä-ßig ruhige Stunden gehören dazu, Stunden der Dankbar-keit oder gar der Freude.

Während dieser Phase sind Schlafstörungen und Appe-titlosigkeit häufig anzutreffen, auch eine erhöhte Anfäl-ligkeit für Infekte kann beobachtet werden. Das Gefühl,von der Welt und anderen Menschen getrennt zu sein,gehört dazu.

Mit der Beschreibung der Gefühle dieser Phase beginntLewis seine Aufzeichnungen. Wir werden dabei nicht

* V. Kast, Trauern. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses,Stuttgart181996

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nur Zeugen seiner Gefühle, die er möglichst genau zubeschreiben versucht, sondern auch seiner vergeblichenVersuche, die heftigen Gefühle abzuwehren mit der Be-merkung etwa, es gebe für einen Mann auch noch ande-res im Leben als die Liebe.

Ganz besonders interessant ist, daß er von seiner Bezie-hung zu Gott spricht in dieser Zeit, von der AbwesenheitGottes in dieser Situation, in der seine Anwesenheit tröst-lich sein könnte.

»Aber kommt mir nicht und sprecht von den Tröstun-gen der Religion, oder ich schöpfe gegen euch Verdacht,daß ihr nichts versteht« (S. 42).

Diese Erfahrung der Gottferne im Trauerprozeß mit-zuteilen ist deshalb besonders wichtig, weil Menschenin der Umgebung des Trauernden immer wieder auf dieTröstungen der Religion verweisen, die in dieser Situa-tion sehr oft nicht als solche zugänglich sind. So werdenden Trauernden zur Last des Verlustes gelegentlich auchnoch zusätzlich Schuldgefühle aufgebürdet. Die Mitmen-schen ertragen oft trauernde Menschen nicht gut. Sieerinnern daran, daß kein Leben vor dem Verlust gefeitist. Außerdem lassen sie sich in der Regel nicht leicht trö-sten.

Deshalb werden ihnen dann bald einmal Vorschriftengemacht, oder es wird ihnen aufgelistet, was sie eben ma-chen müßten, damit es ihnen wieder besserginge.

Der Trauerprozeß ist für den Menschen, der ihn durch-steht, ein einsamer Prozeß. Trauernde machen es ihrenMitmenschen auch schwer: Sie gehen nicht auf sie zu, gel-ten oft auch als ansprüchlich – denn eigentlich möchtensie den verstorbenen Menschen zurückhaben –, und sie

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verlieren in der Regel auch das Verbindliche. Der Trauer-prozeß bringt es mit sich, daß sehr deutlich unterschiedenwird zwischen dem existentiell Wesentlichen im Lebenund dem Beiwerk – auf das Beiwerk kann der Trauerndekeine Rücksicht nehmen. So ist die Beziehung von beidenSeiten, von den Trauernden und von denen, die tröstenwollen, erschwert. Die beste Art, einen trauernden Men-schen zu begleiten, ist es, dazusein, seine Gefühle auf-zunehmen, die Geschichten mit anzuhören, die erzähltwerden, oder auch selber zu erzählen, wie man den ver-storbenen Menschen erlebt hat. Mit der Zeit ist es nurnoch möglich, die Gefühle des Trauernden aufzunehmen,ohne diese verändern zu wollen. Das bedeutet aber, daßwir Gefühle des Kummers, der Angst, des Zorns, der Ver-zweiflung bei einem anderen Menschen aushalten undakzeptieren.

Der Zorn, der in dieser Phase der aufbrechenden chao-tischen Emotionen in der Regel erlebbar ist, als Zorn aufdie Schöpfung, auf das Leben, manchmal auch auf denverstorbenen Menschen selbst, wird von Lewis als Zornauf Gott erlebt. Wir werden aber nicht einfach Zeugeneines unqualifizierten Zorns; dieser Zorn äußert sich viel-mehr in einer differenzierten Auseinandersetzung, näm-lich mit dem »guten« Gott und dem »bösen« Gott. DieseAuseinandersetzung zieht sich durch die ganze Schriftund zeigt deutlich, daß der Verlust eines Menschen uns inunserer ganzen Existenz trifft, auch in der Auseinander-setzung mit den weltanschaulichen Überzeugungen.

Die Phase der aufbrechenden chaotischen Emotionengeht in die Phase des Suchens, Findens und Sich-Trennensüber. Diese Phase ist dadurch gekennzeichnet, daß der

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verstorbene Mensch gesucht wird, natürlich in der Er-innerung, aber auch in Träumen, in Gesprächen mit ande-ren Menschen. Die Entwicklung dieses Prozesses wirddadurch eingeleitet, daß Trauernde in Gedanken nun sehrmit dem Verstorbenen beschäftigt sind. »Ich kann annichts anderes denken als an den Verstorbenen« – heißtes dann etwa, und das ist genau das, was sie auch tunsollen.

Lewis leitet diese Phase, die in seiner Schrift denHauptteil beansprucht – und bei allen Trauernden sehrlange dauert –, mit der Bemerkung ein, man könnte den-ken, der Tod seiner Frau sei hauptsächlich wegen seinerWirkung auf ihn von Belang. »Ich muß mehr an H. undweniger an mich denken!« (S. 36)

Nun sind es natürlich die Zurückgebliebenen, die trau-ern, die in ihrem Selbstverständnis und in ihrem Welt-verständnis verunsichert sind, die spüren, daß in ihremLeben eine grundlegende Wandlung eingetreten ist, diesie nicht gesucht haben. Insofern müssen Trauernde sichmit sich selbst beschäftigen, um wieder mit sich selberin der neuen Situation zurechtzukommen. Selbst dann,wenn sie gleichzeitig andauernd an den verstorbenenMenschen denken, denken sie immer auch an sich und andie Beziehung, die zwischen ihnen bestanden hat.

Es geht bei diesem Denken an den Verstorbenen einmaldarum, sich die Geschichte, die man mit diesem Men-schen hatte, ins Bewußtsein zu rufen. Solange einMensch, mit dem wir in einer Beziehung stehen, nochlebt, ist diese Beziehung nicht zu einem Abschluß gekom-men, und wir können sie auch niemals dergestalt gefühls-mäßig in unserer Erinnerung präsent haben wie dann,

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wenn durch den Tod dieses Menschen auch die Bezie-hung unveränderbar festgeschrieben ist, nicht mehr ver-ändert werden kann und wir zudem unter dem Eindruckstehen, daß hier etwas, was wichtig war für uns, zu einemEnde gekommen ist, wenigstens auf dieser Welt.

Bei dieser Erinnerungsarbeit, bei der das Erzählen vonGeschichten aus dem gemeinsamen Leben mit dem Ver-storbenen von großer Bedeutung ist, geht es nicht nurdarum, das gemeinsame äußere und innere Leben zu re-konstruieren, es geht auch darum, Projektionen zurück-zunehmen, zu sehen, wo man einem verstorbenen Men-schen Wesenszüge von sich selbst angelastet hat, an ihmdiese dann allenfalls gehaßt oder auch geliebt hat. Projek-tionen zurückzunehmen heißt dann, plötzlich zu erken-nen, daß diese Wesenszüge zu uns selbst gehören.

Ganz grundsätzlich wichtig ist weiterhin, daß wirherausarbeiten, welche Wesenszüge ein Mensch, den wirverloren haben, in uns belebt hat. Jeder Mensch, zu demwir in einer Beziehung stehen, vermag Seiten in uns anzu-sprechen, die eben gerade nur durch diesen Menschengeweckt und belebt werden können. In einer Liebesbezie-hung ist es in der Regel so, daß tief verschwiegene Seitenin uns durch den Liebespartner oder die Liebespartne-rin belebt, aus uns »herausgeliebt« werden können. Wasdurch einen Menschen – im Guten oder im Schlechten –in uns belebt wurde, müssen wir auch dann nicht verlorengeben, wenn wir die Beziehung verlieren. Durch diese vonihnen in uns belebten Seiten leben auch die Toten in unsund in unserem Leben weiter.*

* V. Kast, Paare. Beziehungsphantasien oder wie Götter sich in Men-schen spiegeln, Stuttgart141997.

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Der verstorbene Mensch wird in dieser Phase in vielfäl-tiger Weise gesucht und gefunden, nicht zuletzt auch inTräumen, die dem Trauernden das Erlebnis vermitteln,daß der verstorbene Mensch in einer anderen Form wei-terlebt.

Um dieses Wiederfinden, ohne sich dabei zu betrügen –denn H. scheint in Lewis den Willen, genau hinzusehenim Leben, sich nichts vorzumachen, verstärkt oder über-haupt belebt zu haben –, ringt Lewis immer wieder. Erbeschreibt aber auch immer wieder Situationen, wo esgelingt:

»Und in dem Augenblick, wo ich um H. die bisher min-deste Trauer empfand, erinnerte ich mich ihrer plötzlicham klarsten. Ja, es war (beinahe) besser als bloße Erinne-rung; ein augenblicklicher, unbestreitbarer Eindruck. Eseine Begegnung zu nennen ginge zu weit . . .« (S. 57)

Immer wieder bemüht sich Lewis, die Art dieser »Be-gegnung«, für die wir eigentlich keine beschreibendenWorte mehr haben, doch zu beschreiben. So sagt er aneiner anderen Stelle:

»›Begegnen‹ ist ein viel zu starker Ausdruck . . . (Ichmeine) vielmehr die unaufdringliche, aber standhaltendeEmpfindung, sie sei so gut wie je eine Tatsache, mit derman zu rechnen hat« (S. 62).

Die Verstorbene als eine »Tatsache«, mit der man zurechnen hat – etwas, das in unser Leben noch in einerdeutlichen Weise hereinwirkt, eine Wirklichkeit, die nichtübersprungen werden kann und darf.

Durch dieses Bemühen um Erinnerung, durch Bilderdes verstorbenen Menschen, die in der Erinnerung eineeigentümliche Deutlichkeit gewinnen, kommt es dann

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zu einer neuen Beziehung zu einem Menschen, der nichtmehr der konkreten Alltagswelt angehört, mit dem dieserAlltag auch nur noch in sehr beschränktem Maße geteiltwerden kann.

Nicht selten wird zu Beginn dieser Phase der verstor-bene Mensch auch idealisiert. Diese Harmonie mit demVerstorbenen kann selten andauern, immer wieder wirdim Alltag die gnadenlose Abwesenheit erlebt, die alltäg-liche Abwesenheit, sexuelle Bedürfnisse und Bedürfnissenach Zärtlichkeit erinnern an den Menschen, der nichtmehr da ist. Gerade in solchen Momenten wird das Er-lebnis des Verlustes wieder übermächtig, der Trauerndewird wiederum von den aufbrechenden chaotischen Ge-fühlen überschwemmt.

Lewis beschreibt diese Erfahrung so: »Für mich stehtdas Programm jedenfalls fest. Ich will mich ihr so oft wiemöglich in froher Stimmung zuwenden. . . Je weniger ichum sie trauere, um so näher fühle ich mich ihr. Ein be-wundernswürdiges Programm. Nur leider nicht durch-führbar. Heute abend ist wieder die ganze Hölle frischerTrauer los; die rasenden Worte, der bittere Groll, dasFlattern im Magen, der Alptraum vom Nichts, das Suhlenin Tränen. Denn in der Trauer läßt sich nichts ›festna-geln‹. Immer wieder taucht man aus einer Phase auf; abersie kehrt immer wieder . . . Bewege ich mich im Kreis, oderdarf ich hoffen, es sei eine Spirale?« (S. 66 f.)

Der Ausschnitt aus dem Trauerprozeß, den Lewis be-schreibt, vermittelt den Eindruck, daß das Bild der Spi-rale ein treffenderes Bild ist als das Bild des Kreises.Und doch wird in diesem Zweifel, den Lewis ausdrückt,eine Erfahrung von Trauer sehr deutlich beschrieben: Die

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Phasen wiederholen sich, immer wieder muß man siedurchstehen. Wenn immer das Gefühl des Verlustes vor-herrscht, erleben wir uns in der Phase der aufbrechendenchaotischen Emotionen. Mit der Zeit – und daran erweistes sich, daß auch bei diesem psychischen Prozeß das Sym-bol der Spirale seine Geltung hat – weiß man, daß diesePhasen der Verzweiflung usw. auch wieder ihr Ende fin-den werden, daß die Phasen des relativen Wohlbefindensauch wieder eintreten werden.

Gerade dadurch, daß immer wieder auch Gefühle desVerlustes wiederbelebt werden, die ja auch dem konkre-ten Verlust entsprechen, kann sich die innere Beziehungzum Verstorbenen verändern, verändert sich auch derverstorbene Mensch. Er geht nicht verloren, er gehört so-gar in seiner sehr unausweichlichen Art zu unserem Le-ben, aber der Mensch, der trauert, wendet sich wiederumdem Leben zu, läßt sich allenfalls auch wieder neu in Be-ziehungen ein.

Jetzt ist der Verlust akzeptiert. Jetzt kann und mußauch der Schmerz um den verstorbenen Menschen geop-fert werden. Gelegentlich kommt es vor, daß der Schmerzan die Stelle des verstorbenen Menschen tritt. Würde manden Schmerz opfern, so meinen diese Menschen, würdeman den Verstorbenen vergessen.

In diesem Zusammenhang formuliert Lewis: »Immer-hin läßt es sich nicht leugnen: In gewissem Sinn ›fühle ichmich besser‹, und damit stellen sich sogleich eine Artvon Scham und das Gefühl ein, man habe irgendwie diePflicht, sein Unglück zu hätscheln, zu schüren und zu ver-längern . . .« (S. 64)

»Was steckt dahinter? Zum Teil zweifellos Eitelkeit.

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Wir wollen uns beweisen, daß wir Liebende großen Stilessind, tragische Helden . . .« Wir wollen »die Toten keinzweites Mal töten. Wir sind ein Fleisch. Jetzt, wo es ent-zweigeschnitten ist, widerstrebt es uns, so zu tun, als sei esheil und ganz« (S. 64 f.).

Im nachfolgenden Text wird dann sehr deutlich, wieLewis merkt, daß dieses Festhalten am Schmerz denTrauerprozeß blockiert, die Beziehung zum Verstorbenensozusagen einfriert. So muß auch der Schmerz geopfertwerden; man opfert damit nicht die Beziehung zum Ver-storbenen, man gibt sie aber in eine Veränderung hineinfrei.

Man versteht sich dann selbst als Menschen, der zwareinen Verlust erlitten hat, aber doch auch wieder fürsich allein ganz sein kann. Die Erinnerung an das Lebenmit dem verstorbenen Menschen wird immer wieder auf-tauchen, gehört auch zu diesem neuen Leben, aber dieErinnerung daran beherrscht nicht mehr das ganze Le-ben. Ein Gefühl der Dankbarkeit kann erlebt werden fürdie Wegstrecke, die man mit einem Menschen zurück-legen durfte, für das, was in uns durch den verstorbenenMenschen geweckt worden ist – manchmal auch ein Be-dauern darüber, daß zuwenig aus der Beziehung gemachtworden ist, daß man zu vieles aufgeschoben hat auf einenspäteren Zeitpunkt, den es nun nicht mehr gibt.

Die Beziehungen werden kostbar für Menschen, dieeinen Verlust erlitten haben. Geht ein Mensch nach ei-nem Verlust, der betrauert worden ist, wiederum eineBeziehung ein, dann mit sich widerstreitenden Gefühlen:Dieser Mensch wird sich ganz einlassen wollen auf einenanderen Menschen, und er weiß darum, wie endlich Be-

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ziehungen sind. Andererseits besteht auch eine Angst da-vor, sich ganz einzulassen, denn jetzt kennt man den Preisdafür: die Gefühle des Verlustes, die Zeiten der Trauer.

Ziemlich abrupt enden die Aufzeichnungen von Lewis.Er bemerkt dazu selber, er habe sich geirrt, er habe ge-dacht, Kummer sei ein Zustand, und er könnte einenZustand beschreiben. »Kummer hat sich indessen . . . alsein Vorgang erwiesen« (S. 68). Dieser Vorgang bedürfeeiner Geschichte, und wenn er nicht willkürlich damitaufhöre, dann höre die Geschichte überhaupt nicht auf.

»Trauer gleicht einem langen Tal, einem gewundenenTal, wo jede Biegung eine vollkommen neuartige Land-schaft enthüllen mag« (S. 68).

Dennoch ist zu fragen, ob Lewis hier wirklich aufhörtmit der Beschreibung dieses Trauerprozesses, weil, wie ersagt, die vier Hefte vollgeschrieben sind, die er im Hau-se vorrätig hatte, oder ob es auch noch andere Gründegibt. Seine Bemerkung dazu: »Soweit diese Niederschriftals Waffe gegen einen völligen Zusammenbruch gedienthat, als Sicherheitsventil, hat sie gute Dienste geleistet«(S. 68).

Damit drückt er aus, daß er so lange seine Trauerreak-tionen, seine Gefühle beobachtet und beschrieben hat,wie er einen Zusammenbruch befürchtete. Dadurch, daßer sich auch schreibend seiner Trauer gestellt hat, brauchter jetzt kein »Sicherheitsventil« mehr. Ein durchlebterTrauerprozeß gibt die Möglichkeit, daß wir uns wiedersicherer fühlen, daß sich unser Selbstgefühl auch wiederstabilisiert. Dabei ist daran zu denken, daß der Trauer-prozeß ein spontan ablaufender Prozeß in jedem Men-schen ist, wenn er nicht in irgendeiner Weise gehemmt

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