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Leseprobe Berg-Ehlers, Luise Mit Virginia Woolf durch England Originalausgabe. Mit zahlreichen Fotos © Insel Verlag insel taschenbuch 4106 978-3-458-35806-0 Insel Verlag

Insel Verlag - bücher.de · 2018. 11. 8. · London – die literarische Hauptstadt Kensington – royal-großbrgerliches Ambiente Um 1900 war London diegrçßte Stadt der Welt,die

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Leseprobe

Berg-Ehlers, Luise

Mit Virginia Woolf durch England

Originalausgabe. Mit zahlreichen Fotos

© Insel Verlag

insel taschenbuch 4106

978-3-458-35806-0

Insel Verlag

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Auf den Spuren von Virginia Woolf

Die Stationen f�hren quer durch ganz England. Wir erleben das Londonder Bloomsbury Group und von Mrs Dalloway, reisen nach Cornwall, woVirginia mit ihrer Familie die Sommerferien verbrachte. Von dort gehtes nach Sussex, auf den Landsitz von Leonard und Virginia Woolf. Wir be-suchen in Kent den ber�hmten Garten Sissinghurst von Vita Sackville-West und das Schloss Knole und dessen Bewohner Orlando.Durch Virginia Woolfs Augen und ihre Romane entdecken wir Orte, Stra-ßen und Landschaften und tauchen ein in ein wunderbares England – derperfekte Begleiter f�r eine unvergessliche Reise.

Luise Berg-Ehlers studierte Germanistik, Theologie, Theaterwissenschaftund Publizistik in Hamburg und Bochum. Sie hat als Autorin und Heraus-geberin zahlreiche B�cher verçffentlicht.

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insel taschenbuch 4106Luise Berg-Ehlers

Mit Virginia Woolf durch England

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»Hatchards«, 197 Piccadilly in St. James, gegr�ndet 1797, ist der �ltesteBuchladen in London; auch Mrs Dalloway kaufte dort.

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Mit Virginia Woolfdurch EnglandVon Luise Berg-EhlersMit farbigen Fotografien der Autorin

Insel Verlag

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Umschlagfoto: Jon Arnold Images /Masterfile

insel taschenbuch 4106OriginalausgabeErste Auflage 2012� Insel Verlag Berlin 2012Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der �bersetzung,des çffentlichen Vortrags sowie der �bertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie,Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigungdes Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischerSysteme verarbeitet, vervielf�ltigt oder verbreitet werden.Hinweise zu dieser Ausgabe am Schluss des BandesVertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch VerlagUmschlaggestaltung: b�ros�d, M�nchenSatz: H�mmer GmbH, Waldb�ttelbrunnDruck: Kçsel, KrugzellPrinted in GermanyISBN 978-3-458-35806-0

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

London – die literarische Hauptstadt . . . . . . . . . . . . 13Kensington – royal-großb�rgerliches Ambiente . . . . 13Bloomsbury – Boheme und Intellektualit�t . . . . . . 33Westminster, Whitechapel, Hampstead – Kontrasteeiner Metropole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

Surrey – London am n�chsten . . . . . . . . . . . . . . . 70Richmond – Kleinstadt und Kultur . . . . . . . . . . 70Kew Gardens – poetische Botanik . . . . . . . . . . . 82Hampton Court – nicht nur Heinrich VIII. . . . . . . 87

Cambridge & Oxford – akademische Sehnsuchtsorte . . . . . 95Cornwall – Paradies der Kindheit . . . . . . . . . . . . . 116Kent – ein Schloss, ein Garten und eine Liebe . . . . . . . 140Sussex – Bloomsbury auf dem Lande . . . . . . . . . . . 162

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193Literatur und Quellennachweise . . . . . . . . . . . . . 195Touristische Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198

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Vorwort

»London ist bezaubernd. Ich trete auf einen goldbraunen Zauberteppich hin-aus, so kommt es mir vor, & schwebe in die Schçnheit, ohne einen Finger zur�hren. Die N�chte sind wunderbar, mit all den weißen Portikos & breiten,stillen Boulevards.« (Tagebuch, 5. Mai 1924)

»Wir sind jetzt kurz vor der Abreise nach Cornwall. Morgen [. . .] werden wirden Bahnsteig von Penzance betreten, die Luft schnuppern & dann [. . .] querdurch die Heide nach Zennor fahren – Warum bin ich so unglaublich roman-tisch was Cornwall betrifft?« (Tagebuch, 22. M�rz 1921)

»Oh, es ist jetzt so herrlich in den Downs – ein Tauteich wie ein silberner Tel-ler in der Mulde; und die ganzen H�gel, nicht scharf umrissen wie im Sommer,sondern riesig, glatt rasiert, heiter [. . .].« (Briefe, 28. Dezember 1932)

Diese drei Zitate bezeichnen die wichtigsten Lebens-, Reise-und Schreiborte von Virginia Woolf, die unterschiedlichen Zen-tren ihrer Vita. In London wurde sie 1882 geboren, verbrachtedort den grçßten Teil ihres Lebens und betrachtete die Stadtals den essentiellen Mittelpunkt ihres Daseins, ihrer Arbeit.Cornwall war das Paradies ihrer Kindheit, das sonnige Ferien-land mit dem Zentrum St. Ives, das noch weit in die Tr�umeder Erwachsenen, in die Kreativit�t der Schriftstellerin hin-einwirkte. Sussex, vor allem die South Downs und das DorfRodmell, nahe Lewes,wurden der Zufluchtsort,wenn die Hek-tik der Großstadt zu bedr�ngend und sp�ter die Schrecken desKrieges zu be�ngstigend wurden.

Ein Blick auf die Landkarte kçnnte nahelegen, das (geogra-phische) England von Virginia Woolf pseudomathematisch wieein Dreieck zu beschreiben, dessen Spitzen sich aus den OrtenLondon, St. Ives und Rodmell erg�ben – mit einem Abstecher

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nach Cambridge zu Studentinnen und nach Kent zu der Freun-din Vita Sackville-West. Doch diese Vereinfachung verkennt,dass die Fiktionalisierung realer Topographie in der Perspekti-ve der jeweiligen Romanfiguren erfolgt und insofern sehr vielst�rker als bei anderen Autoren zu einer inneren Welt verdich-tet wird. Auch w�rde die Reduktion auf nur Landschaftlichesder Bedeutung nicht gerecht, die der gesamte Lebensraum Eng-land f�r Virginia Woolf hatte.

Die Autorin war eine leidenschaftliche Beobachterin ihrerUmwelt und ihrer Mitmenschen, und so finden sich in allenTexten – seien es Romane, Briefe oder Tagebuchaufzeichnun-gen – genaue Verweise auf ihre Lebensorte, auf ihre Sicht Eng-lands, auf ihre eigene Welt. Interessanterweise aber schreibt siein ihren Erz�hlungen weniger von jenen Pl�tzen, die zu ihremAlltag gehçren, wo sie st�ndig lebt, sondern mehr von denen,die f�r sie assoziativ mit W�nschen, Emotionen, Erinnerungenverbunden sind; nicht alle Orte ihres Lebens werden also zumThema, sie sind aber im Subtext ihres Schreibens fast immer ent-halten.

In diesem Schreiben erstehen die Orte, die Landschaften,wiesie Virginia Woolf im England der ersten H�lfte des 20. Jahr-hunderts erlebte, doch reichen manche Erinnerungen noch wei-ter zur�ck. Der Reisende von heute wird aber noch vieles sowiederfinden, wie er es in den Texten der Autorin gelesen hat.Zwar erlitt London im Zweiten Weltkrieg schwere Zerstçrun-gen, und der Wiederaufbau einzelner Stadtteile – wie beispiels-weise Bloomsbury – ver�nderte diese in unterschiedlichem Aus-maß, und St. Ives ist inzwischen nicht mehr der Ort der Fischer,die auf Sardinenschw�rme warten, sondern ein K�stenst�dtchen,das von Touristenschw�rmen heimgesucht wird. Doch eineWanderung in Sussex �ber die South Downs oder eine Rast

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in Rodmell kçnnen sehr schnell die Vergangenheit in der Ge-genwart erstehen lassen. Wer also bei seiner Reise durch Eng-land Virginia Woolf als Begleiterin, vielleicht sogar als Reise-f�hrerin w�hlt, wird manches andere sehen, als es Travel Guidesgemeinhin zu pr�sentieren pflegen. Dies sollte ihn aber nichtdaran hindern, seine Sichtweise mit der literarischen zu verglei-chen, um dann vielleicht die eine zu �ndern – die andere bleibt,wie sie Virginia Woolf beschrieben hat.

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Statue von Queen Victoria vor dem Kensington Palace

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London – die literarische Hauptstadt

Kensington – royal-großb�rgerliches Ambiente

Um 1900 war London die grçßte Stadt der Welt, die Residenzder Monarchie eines Weltreiches, die Metropole einer Wirt-schaftsmacht, die Hauptstadt mit einem mannigfaltigen Kultur-leben. Schon damals fiel es schwer, einen �berblick �ber dieVielgestaltigkeit Londons zu gewinnen, und so schrieb der Bae-deker in seiner deutschen Ausgabe 1906 fast resignierend: »Lon-don ist ein unbestimmter Begriff und deckt sich in keiner seineramtlichen Anwendungen mit der ungeheuren zusammenh�n-genden Straßen- und H�usermasse, die heutzutage die großeMetropole bildet und noch t�glich nach allen Richtungen hinzunimmt.«

Wer aber das London von Virginia Woolf nach der Lekt�reihrer Tageb�cher, Briefe und Erinnerungen erkunden mçch-te, f�r den scheint die Metropole im Wesentlichen aus zweiStadtvierteln und zwei Adressen zu bestehen: Kensington undBloomsbury bzw. Hyde Park Gate und Gordon Square. Zwi-schen beiden liegen etwa 7 km – großz�gig gerechnet – und(heute) zwanzig Minuten Fahrzeit mit einem Taxi – knapp ge-rechnet. Eine sehr viel grçßere Distanz jedoch ergibt sich ausden sozialen Unterschieden der beiden Wohngegenden. In Ken-sington lebten – zumindest nach dem Verst�ndnis der dama-ligen Zeit – herkçmmlicherweise der Adel und die gehobeneB�rgerlichkeit, in Bloomsbury die Boheme und die gehobeneUnb�rgerlichkeit; allerdings beschreibt Virginia Woolf den Gor-

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don Square und seine Bewohner als »wohlhabende Mittelklasseund ausgesprochen mittelviktorianisch«. Sie wohnte w�hrenddes ersten Drittels ihres Lebens in Kensington,danach in Blooms-bury; doch es gibt noch etliche andere Orte in London, dief�r sie von Bedeutung waren und die man besuchen kann. Diescheinbare Eingrenzung der Stadt auf wenige Quadratkilome-ter hatte aber f�r Virginia Woolf auch eine Art Schutzfunktion.Denn das »Monster« London konnte Gef�hle des Fremdseins,der Un�bersichtlichkeit und Beklemmung auslçsen, denen siebei ihren Spazierg�ngen durch die Stadt zu entfliehen und inihrem Schreiben zu begegnen versuchte. Sie selbst notiert ineinem kurzen Text: »Da war wieder London; diese riesige un-achtsame unpersçnliche Welt; Autobusse; gesch�ftliches Treiben;Lampen vor den Kaschemmen; und g�hnende Polizisten.« 1

Derartige Gef�hle der Unsicherheit gab es allerdings auchin der vertrauten Umwelt, und die war f�r Virginia – sei esals kleines Kind, als M�dchen oder als junge Frau – der vorneh-me Stadtteil Kensington mit dem großen Park (KensingtonGardens) und dem Schloss (Kensington Palace), das dem Vier-tel eine besondere Bedeutung verlieh. Im fr�hen 17. Jahrhun-dert urspr�nglich als ein Landhaus erbaut, ließ es William III.von Christopher Wren zu einem Palast umgestalten. Bis zurMitte des 18. Jahrhunderts war hier die Residenz der englischenKçnige, die den aufwendig angelegten Park und die frische, vonden widerlichen Ger�chen der City freie Luft sch�tzten. ErstGeorge III., seit 1760 Kçnig, zog wieder in die N�he von West-minster, in die N�he der parlamentarischen Macht, obwohldie Luft nicht unbedingt besser geworden war.2 Doch vieleRoyals, von Victoria, der sp�teren Queen, bis zu Diana, der sp�-teren »Prinzessin der Herzen«, haben hier weiterhin gewohnt.An Victoria erinnert das massive, weiße Monument vor der

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Schlossumz�unung, an Diana erinnern die Blumengebinde, dieimmer noch – wenn auch in geringerer Menge als kurz nachihrem Tod – vor dem Tor niedergelegt werden.

Aber es waren nat�rlich nicht nur die Royals selbst, die ihrDomizil in Kensington hatten; die zahlreichen Hçflinge, dieLadies und Lords des Hofstaates brauchten ein Zuhause, sofernsie nicht im Schloss selbst wohnten, und so entstanden viele klei-nere, jedoch durchaus pr�chtige Herrenh�user zwischen Ken-sington Gardens und Holland Park. Mit dem Wegzug des Hofesver�nderte sich allm�hlich die gesellschaftliche Zugehçrigkeitder Einwohner. Ein Londoner Guide Book vom Beginn des20. Jahrhunderts beschreibt dieses Viertel mit seinen herrlichenH�usern als bevorzugte Wohngegend von erfolgreichen An-w�lten, Schriftstellern und K�nstlern. Und zu diesen gehçrtendie Familien von Virginia Woolfs Eltern. Wenn man es genaunimmt,war Kensington der Stadtteil der Stephens und der Patt-les, samt ihren Verwandten und Freunden, da diese in engerNachbarschaft zueinander lebten und sich st�ndig besuchten.

Virginia Woolf beschreibt ihre Herkunft in einer biographi-schen Skizze folgendermaßen: »Wer war ich also? Adeline Vir-ginia Stephen, die zweite Tochter von Leslie und Julia PrinsepStephen, geboren am 25. Januar 1882, entstammt einer langenReihe von Vorfahren, einige ber�hmt, andere unbekannt; hin-eingeboren in eine große Familie, nicht von reichen, aber wohl-habenden Eltern; hineingeboren in eine sehr redselige, litera-rische, Briefe schreibende, Besuche machende, typische Gesell-schaft des sp�ten neunzehnten Jahrhunderts [. . .].«3 Mit dieserDarstellung charakterisiert sie zugleich ihre eigene Existenz,denn die Nachfahrin von M�nnern des Wortes wusste schonfr�h, dass auch sie schreiben wollte – ganz nach dem Vorbildihres Vaters.

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Sir Leslie Stephen wurde 1832 in 39 Kensington Gore ge-boren, nach der Umbenennung der Straße in Hyde Park Gate�nderte sich die Hausnummer in 42; das Haus musste sp�tereinem großen Wohnblock weichen. Insofern spielte sich Ste-phens Leben – abgesehen von der Zeit, die er in Eton als Sch�-ler und in Cambridge als Student und sp�ter als Lehrender ver-brachte – vornehmlich im Umkreis von Kensington Gardensab. Seine Familie – kinderreich wie die meisten Familien im19. Jahrhundert – gehçrte zur Clapham-Sekte, einer evange-likalen Gruppierung der anglikanischen Kirche, die sich u. a.f�r die Abschaffung der Sklaverei und des Sklavenhandels ein-setzte und einen hohen moralischen, teilweise zur Askese nei-genden Anspruch vertrat. Von Leslies Vater ist die Anekdote�berliefert, dass er, als er eine Zigarre rauchte, merkte, wie gutsie schmeckte, und sich daraufhin dieses Vergn�gen nie wie-der gçnnte. Die meisten M�nner der Familie waren Juristen,die als Anw�lte und Richter arbeiteten, sich aber auch politischengagierten. Der Bruder von Leslie, ein kr�ftiger, stattlicherMann, wurde ebenfalls Jurist; vor allem aber war er in der ge-meinsamen Schulzeit in Eton und sp�ter w�hrend des Studiumsin Cambridge der H�ter seines Bruders. Denn Leslie war in jun-gen Jahren ein empfindsamer, h�ufig kr�nkelnder Junge, f�rden man die Ballade »Erlkçnig« nicht mit dem Tod des Kna-ben enden lassen durfte, da ihn das sofort zum Weinen gebrachth�tte. Als Student aber und als Lehrender arbeitete er intensivdaran, seine Schw�chlichkeit zu �berwinden, und wenn er auchnicht im Rugbyspiel brillierte, so doch als Rudertrainer undvor allem im Bergsteigen und im Wandern. Er war ein her-ausragender Alpinist – seine Hochzeitsreise f�hrte sp�ter nachGrindelwald – und nicht nur in den Ferien unternahm er tage-lange Wanderungen; sieht man heute das bekannteste Bild von

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Stephen mit Zauselbart und Leidensmiene, w�rde man in ihmkaum einen derart sportlichen Mann vermuten. Seine TochterVirginia unternahm sp�ter fast t�glich ebenfalls kilometerweiteSpazierg�nge – wichtig f�r ihr Schreiben und damit f�r ihrWohlbefinden.

Leslie beendete schon bald die Universit�tskarriere als Fel-low, da er den religiçsen Anforderungen nicht mehr nachkom-men konnte und wollte, zu denen er als ordinierter Geistlicher –Voraussetzung f�r eine akademische Laufbahn – verpflichtetwar. Er kehrte nach London zur Familie zur�ck und arbeitetemit immensem Einsatz als Journalist und Herausgeber des Dic-tionary of National Biography und wurde damit zu einem der an-gesehensten Autoren seiner Zeit. Der berufliche Erfolg hatteStephens Selbstsicherheit nur wenig wachsen lassen, dennochwurde es nun f�r ihn als ein Mann Ende zwanzig Zeit, an Hei-rat zu denken. Bei einer Einladung seiner Mutter lernte er dieTçchter von William Makepeace Thackeray kennen – damalseiner der ber�hmtesten englischen Romanciers, der kurz zu-vor gestorben war. Die j�ngere heiratete er, die �ltere, eine Au-torin von Romanen, zog 1873 mit in den Haushalt in SouthKensington ein. Das Haus 8 Southwell Gardens, mit weißen,hohen S�ulen am Eingang und vielen Stockwerken, war geradeeinigermaßen bezugsfertig geworden. In der neu erschlossenenGegend hatten sich Abgeordnete, Gelehrte und andere Ange-hçrige des gehobenen Mittelstandes angesiedelt, die allerdingsdie Geb�ude mit den Bauleuten, die noch an der Fertigstel-lung arbeiteten, teilen mussten. Hier wurde die Tochter gebo-ren, hier starb die Ehefrau 1875 w�hrend der zweiten Schwan-gerschaft.

Mit der Schw�gerin als Beinahe-Schwiegermutter in einemHaushalt zu leben, d�rfte auch f�r eine weniger empfindliche

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Natur als Leslie Stephen es war, eine Anfechtung dargestellt ha-ben – vor allem, da Anny Thackeray zwar ein netter, aber auchein unglaublich chaotischer Mensch gewesen sein muss, der mitEntsetzen und Gelassenheit zugleich Unordnung und �ber-zogene Konten ertrug. Stephen ertrug nichts davon, und derst�ndige Optimismus seiner Schw�gerin war f�r den seine Me-lancholie pflegenden Melancholiker ebenfalls problematisch.Dennoch fand er sie nach eigenem Bekunden sehr sympathisch,und er war dankbar f�r die ihm und seiner Tochter gew�hrteFreundlichkeit, Anteilnahme und F�rsorge. Umso heftiger muss-te es den an intensive Betreuung gewçhnten Witwer getroffenhaben, als Anny nach dem Umzug in das gemeinsam geerbteHaus 20 Hyde Park Gate heiratete und auszog. Doch Rettungwar nahe, sehr nahe sogar, denn in 22 Hyde Park Gate, zweiH�user weiter, wohnte mit ihren drei Kindern eine Freundinvon Anny, die fr�h verwitwete Julia Duckworth, von LeslieStephen schon lange umworben; 1878 heirateten sie. Julia Duck-worth, geborene Prinsep Jackson, stammte aus der mit vielenschçnen Tçchtern gesegneten Familie Pattle und galt als einAusbund an Schçnheit und Wohlt�tigkeit, was sie in der M�n-nerwelt von Ferne anbetungsw�rdig machte,w�hrend ihre Kin-der hingegen sich mehr N�he gew�nscht h�tten. Sie mussten zuihrem Bedauern nicht selten hinter den Armen und Krankenin London oder St. Ives zur�ckstehen – vielleicht war deshalbVirginia Woolf nicht ungern krank, sicherte ihr doch Krank-heit die Zuwendung der Mutter (und sp�ter all derer, die ihrnahestanden).

W�hrend die Familie von Leslie Stephen vor allem im Ver-waltungsbereich t�tig war, gr�ndete die Pattle-Familie ihre fi-nanziellen Ressourcen auf Aktivit�ten in Indien, auch wenn derStammherr James Pattle ein ziemlicher Trinker gewesen sein

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muss, der angeblich – so eine der Familienanekdoten – nach sei-nem Tod, konserviert in einem Rumfass, nach England �ber-f�hrt werden sollte. Beim Transport explodierte das Fass, dieLeiche wurde hinausgeschleudert, und die mitreisende Witwe,die ihren toten Ehemann wohl verwahrt glaubte, soll fast denVerstand verloren haben. Dennoch erreichte sie mit ihren Tçch-tern London, verheiratete die meisten in wohlsituierte Verh�lt-nisse und schuf eine Art Familienclan.

Unter den jungen Frauen waren durchaus einige mit k�nst-lerischen Ambitionen. Am bekanntesten wurde Julia MargaretCameron, die als bedeutende Portr�tfotografin nicht nur ihreVerwandtschaft, sondern viele angesehene K�nstler aus der ZeitKçnigin Victorias ablichtete; sie starb kurz vor der Geburt vonVirginia Woolf. Ihre Schwester Sarah Prinsep ließ sich nach ih-rer R�ckkehr aus Indien mit der Familie westlich der Kensing-ton Gardens im Bereich Holland Park nieder. Der Park unddas große Holland House, 1607 errichtet, haben eine sehr be-wegte Geschichte; kçnigliche Familienmitglieder und OliverCromwell gehçrten gleichermaßen zu den G�sten. In fried-licheren Zeiten wurde das Great House ein Treffpunkt f�r Li-teraten und Politiker; Charles Dickens, Benjamin Disraeli,Wal-ter Scott und viele andere besuchten den Salon von Lord undLady Holland. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Haus bis aufeinen Seitenfl�gel durch Bomben zerstçrt; heute ist in dem nochverbliebenen Hausteil eine Jugendherberge untergebracht. ImOberhaus, dem House of Lords, ist Holland Park immer nochdurch eine Literatin vertreten: die Autorin von Kriminalroma-nen, P. D. James, wurde als Baroness James of Holland Park vonder Kçnigin zum Life Peer gemacht.

Die Prinseps mieteten den »Witwensitz« der Adelsfamilie,Little Holland House genannt, wo sie die »Salontradition« fort-

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London, 22 Hyde Park Gate; Geburts- und Wohnhausvon Virginia Woolf