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Leseprobe Seneca, Vom glücklichen Leben © Insel Verlag insel taschenbuch 3397 978-3-458-35097-2 Insel Verlag

Insel Verlag - bücher.de · 2020. 1. 24. · Ideals von der Seelenruhe fordert er nicht etwa auf zum Rckzug ins ... VOM GLCKLICHEN LEBEN Ein Leben im Glck, Bruder Gallio, wnschen

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  • Leseprobe

    Seneca, Vom glücklichen Leben

    © Insel Verlaginsel taschenbuch 3397

    978-3-458-35097-2

    Insel Verlag

  • Die praktische Lebensphilosophie des rçmischen Stoikers Seneca istin der Hektik unserer Zeit besonders aktuell. Seneca gibt eine ganzmodern anmutendeAnalyse des der Seelenruhe entgegengesetzten Zu-standes, der Unzufriedenheit mit sich selbst, sowie therapeutischeRatschl�ge zur Herstellung des inneren Gleichgewichts. Trotz seinesIdeals von der Seelenruhe fordert er nicht etwa auf zum R�ckzug insPrivatleben, sondern weiterhin zum Wirken f�r die Allgemeinheit.Dieser Band enth�lt neben Senecas um 60 n.Chr. entstandenem

    Textmit demprogrammatischen TitelVomgl�cklichen Lebenweiterezentrale Schriften des Philosophen: �ber die Milde, Von der Seelen-ruhe,�ber die Muße.

  • insel taschenbuch 3397Seneca

    Vom gl�cklichen Leben

  • SenecaVom gl�cklichen

    LebenPhilosophische Schriften

    Herausgegeben und ausdem Lateinischen �bertragen

    von Heinz Berthold

    Insel Verlag

  • insel taschenbuch 3397Erste Auflage 2008

    Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 2008� Aufbau Verlagsgruppe GmbH, Berlin 1980

    (Diese Ausgabe erschien erstmals 1980 als Band 367der Sammlung Dieterich; Sammlung Dieterich

    ist eine Marke der Aufbau Verlagsgruppe GmbH, Berlin)Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des

    çffentlichen Vortrags sowie der �bertragung durchRundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

    (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages

    reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielf�ltigt oder verbreitet werden.Hinweise zu dieser Ausgabe am Schluß des BandesVertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch Verlag

    Satz: H�mmer GmbH,Waldb�ttelbrunnDruck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

    Printed in GermanyISBN 978-3-458-35097-2

    1 2 3 4 5 6 – 13 12 11 10 09 08

  • INHALT

    Vom gl�cklichen Leben . . . . . . . . . . . . . . . . 9�ber die Milde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51Von der Seelenruhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90�ber die Muße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

    Erl�uterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

  • VOM GL�CKLICHEN LEBEN

    Ein Leben im Gl�ck, Bruder Gallio, w�nschen sich wohlalle, ebenso tappen aber auch alle im dunkeln, wenn esdarum geht, sich die Voraussetzungen f�r ein echtes Le-bensgl�ck deutlich vor Augen zu stellen. Es ist aber auchnicht einfach, ein solches Lebensgl�ck zu erlangen. Hatman n�mlich den Weg einmal verfehlt, kann man sich so-gar vom Ziel entfernen, und zwar um so weiter, je hastigerman sich ihm n�hern will. Denn f�hrt derWeg in entgegen-gesetzte Richtung, l�ßt gerade die Geschwindigkeit denAbstand immer grçßer werden. So muß man sich zuerstdas Ziel seines Strebens klarmachen und sich dann nachMçglichkeiten umsehen, es recht rasch zu erreichen. Dabeiwird man – vorausgesetzt, der eingeschlagene Pfad ist rich-tig – gewissermaßen unterwegs begreifen, welche Streckeman t�glich vorw�rtskommen kann und um wieviel wirdem Ziel unseres nat�rlichen Verlangens n�her gekommensind. Solange wir freilich �berall umherschweifen und unsnach keinem F�hrer richten, sondern nach dem h�ßlichenGel�rm und Geschrei von Leuten, die ganz verschiedeneRichtungen anraten, solange vergeuden wir – trotz pausen-loser Bem�hung um eine richtige geistige Einstellung – aufIrrwegen unsere an sich schon so knappe Lebenszeit. Ent-scheidungen �ber Ziel und Weg d�rfen deshalb auch nichtohne einen erfahrenen, wegekundigen F�hrer getroffenwerden; in diesem Fall gelten n�mlich andere Bedingungenals bei sonstigen Reisen, wo der eingeschlagene Pfad unddie Ausk�nfte der Einheimischen keinen Irrtum zulassen.In unserem Fall f�hrt gerade der beliebteste und am mei-

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  • sten empfohlene Weg am ehesten in die Irre. In der Haupt-sache m�ssen wir uns also davor h�ten, wie das liebe Viehder Herde unserer Vorg�nger zu folgen und weiter mitzu-gehen, wohin man eben geht und nicht, wohin man eigent-lich gehen sollte. Nichts verwickelt uns n�mlich in grçßereSchwierigkeiten als unsereNeigung, sich nach demGerededer Leute zu richten, das heißt, immer das f�r das Beste zuhalten, was allgemein Beifall findet, und sich an die bloßeZahl der Beispiele zu halten, also unser Leben nicht nachVernunftgr�nden, sondern nach verwandten Erscheinun-gen zu gestalten. Darum st�rzt immer wieder einer �berden anderen, und es kommt zu einer so gewaltigen Zusam-menballung.Was sich bei einem großen Volksauflauf allesabspielt, wenn ein einziges Menschenkn�uel sich schiebtund dr�ckt, keiner fallen kann, ohne seinen Nachbarn mit-zureißen, die Vordersten denNachfolgenden zumVerh�ng-nis werden, dasselbe kannst du �berall im Leben beobach-ten: Keiner begeht f�r sich allein einen Irrtum, jeder istgleicherweise Grund und Urheber fremden Irrtums. Es istnun außerordentlich sch�dlich, sich einfach seinen Vorg�n-gern anzuschließen.Weil es n�mlich einem jeden lieber ist,etwas auf Glauben anzunehmen, als sich selbst ein Urteil�ber eine Sache zu bilden, kommt es nie zu einer Beurtei-lung unserer Lebensf�hrung. Immer verl�ßt man sich nurauf andere, und Irrt�mer, von Hand zu Hand weiterge-reicht, halten uns erst zu Narren und st�rzen uns zuletztin den Abgrund. Sich nach anderen richten f�hrt zum Un-tergang! Geheilt werden kçnnen wir nur, wenn wir unsvom großen Haufen absondern; dieser aber beharrt nunin seiner vernunftfeindlichen Haltung und nimmt seine ei-genen Laster in Schutz. So geht es denn genauso zu wie in

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  • den Wahlversammlungen, wo sp�ter, wenn sich die leichtbeeinflußbare çffentliche Meinung ge�ndert hat, die W�h-ler �ber ihre eigene Entscheidung bei der Richterwahl ver-wundert sind. Ein und dasselbe billigen wir erst, danntadeln wir es. Das kommt letzten Endes bei jeder gericht-lichen Mehrheitsentscheidung heraus.

    Handelt es sich aber um die Frage nach unserem Lebens-gl�ck, darfst du mir nicht wie bei Senatsentscheidungenantworten: »Hier steht wohl die Mehrheit!« Gerade dievertritt hier die schlechtere Sache. Im Bereich des Verh�lt-nisses der Menschen zueinander sind wir nicht in der g�n-stigen Lage, daß sich eineMehrheit f�r das Bessere entschei-det, vielmehr beweist die große Anzahl der Bef�rwortereben die Schlechtigkeit einer Sache. Unser Fragen muß dar-auf gerichtet sein, welches das beste Handlungsziel, nicht,was allgemein �blich und was uns ein immerw�hrendesGl�cksgef�hl verschafft, nicht,was der großeHaufenmeint,der allemal der ungeeignetste Maßstab der Wahrheit ist.Zu diesemHaufen gehçren – ich betone das – auch die Pur-pur- undKronentr�ger! Ich richte mich n�mlich nicht nachder Farbenpracht der Kleidung, die einMensch tr�gt. Han-delt es sich um den Menschen, verlasse ich mich nicht aufden Augenschein. Zur Unterscheidung von Wahrheit undL�ge dient mir eine kr�ftigere und zuverl�ssigere Laterne:�ber geistigeWerte soll allein der Geist entscheiden.Wennder nur einmal Zeit f�nde, aufzuatmen und zur Besinnungzu kommen, dann w�rde er sich schon selbst auf die Fol-ter spannen und die Wahrheit eingestehen. Er wird sagen:»W�re doch nie geschehen, was durch mich geschehen ist!�berdenke ich meine Reden, beneide ich die stummen Tie-re! Meine W�nsche muß ich f�r Fl�che meiner Feinde hal-

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  • ten, meine Bef�rchtungen h�tten mir gewiß viel wenigerSorgen machen d�rfen als meine W�nsche! Mit wie vielenhabe ich Streit gehabt, den Haß verwunden und mich wie-der versçhnt, wenn es unter Verworfenen �berhaupt Ver-sçhnung gibt! Zur Freundschaft mit mir selbst habe iches noch nicht gebracht. Wie habe ich mir M�he gegeben,mich von der Menge abzuheben und durch eine besondereBegabung aufzufallen. Doch habe ich mich damit nur An-griffen ausgesetzt und die Bçswilligen auf meine verwund-baren Stellen hingewiesen. Sieh sie dir doch an, die Lob-redner meiner Beredsamkeit, wie sie meinem Reichtumnachlaufen, sich um meine Freundschaft bewerben, mei-nen Einfluß in den Himmel heben. Alle sind sie meine Fein-de oder, was auf dasselbe hinausl�uft, kçnnten es sein:Gleich groß ist die Schar meiner Bewunderer und meinerNeider. Warum bem�he ich mich da nicht vielmehr umein bew�hrtes Gut, das ich innerlich besitzen kann undnicht zur Schau stellen muß? Was man bewundernd be-trachtet, wovor man stehenbleibt, was einer dem anderenstaunend zeigt, ist doch nur die gl�nzende Fassade; dahin-ter sieht’s elend aus!«Also gilt es, ein Gut zu suchen und zu finden: ohne �uße-

    ren Glanz, aber gediegen, ausgeglichen und von großer in-nerer Schçnheit. So weit liegt es schließlich nicht. Wennman nur weiß,wohin man greifen muß,wird es sich schonfinden lassen. Jetzt aber laufenwir wie imNebel amN�chst-liegenden vorbei, stolpern gerade �ber das, war wir sehn-s�chtig suchen. Um dich nun nicht auf Umwege zu f�hren,will ich die Meinungen der anderen �bergehen – sie aufzu-z�hlen und zu widerlegen w�rde zu weit f�hren –; stelledich einfach auf unseren Standpunkt! Wenn ich ›unseren‹

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  • sage, binde ich mich nicht an einen einzelnen der angesehe-nen Stoiker; auch mir steht ein Recht auf eigenes Urteil zu.So werde ich bald dem einen folgen, bald von dem anderenn�here Ausf�hrungen holen, vielleicht auch werde ich, alsletzter aufgerufen, allen meinen Vorrednern zustimmenund sagen: »Ich schließe mich dieser Meinung an!« Bei al-ledem bin ich – wie unter allen Stoikern �blich – f�r �ber-einstimmung mit der Natur. Von ihr nicht abzuweichen,nach ihrem Gesetz und Vorbild sich formen zu lassen,darin besteht die Weisheit. Demgem�ß ist ein Leben danngl�cklich zu nennen,wenn es sich im Einklangmit der eige-nen Natur befindet. Das kann nur verwirklicht werden,wenn unser Geist gesund ist und immer gesund bleibt,wenn er weiterhin Tapferkeit und Tatkraft zeigt, wenn erferner standhaft auszuhalten vermag, sich den Zeitumst�n-den anpassen kann, nicht �ngstlich besorgt ist um den Kçr-per und seine Anspr�che,wenn er dann noch eine Vorliebehat f�r alle mçglichen Dinge, die das Leben angenehm ma-chen, freilich ohne eines dieser Dinge anzubeten, wenn erdie Gaben des Gl�cks nutzt, aber nicht von ihnen abh�ngigist. Auch ohne n�here Erkl�rung begreifst du, daß unge-stçrte Ruhe, Unabh�ngigkeit sich einstellen, sobald dasvertrieben ist,was uns reizt oder schreckt. Erf�llt uns dochdann anstelle der Begierden und all des Niedrigen, Hinf�l-ligen und in seiner Sch�ndlichkeit Verderblichen eine hoheFreudigkeit, die nicht zu ersch�ttern ist und sich immergleichbleibt; Friedfertigkeit und Eintracht und sanfte Ho-heit folgen, denn jede Form von Roheit ist ein Zeichenvon Schw�che.

    Unser Begriff vom hçchsten Gut kann, ohne seinen Sinnzu �ndern, auch noch anders, das heißt, mit anderen Wor-

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  • ten beschrieben werden. Wie ein Heer sich bald in vollerBreite entfaltet, bald auf einem Raum zusammendr�ngt,entweder die Fl�gel vorzieht und das Zentrum einkr�mmtoder sich in gerader Front ausbreitet – die Ordnung magwechseln, seine St�rke und Einsatzbereitschaft f�r seine Sa-che bleiben sich gleich –, so kann auch der Begriff des hçch-sten Gutes einmal weitl�ufig und umfassender bestimmtwerden, ein anderes Mal gedr�ngter und mit zwingenderK�rze. Es l�uft also auf dasselbe hinaus, wenn ich sage:»Das hçchste Gut ist eine Gesinnung, die Zuf�lligkeitenverachtet, aber Freude an seiner Tugend findet«, oder:»Sie ist die Kraft eines ungebrochenen Geistes, mit Lebens-erfahrung, voll ruhiger Tatkraft, die sich im Verkehr mitdenMitmenschen sehr umg�nglich und f�rsorglich zeigt.«Der Begriff l�ßt sich auch so fassen, daß wir den als gl�ck-lichen Menschen bezeichnen, dem Gutes und �bles das-selbe bedeuten wie gute und schlechte Gesinnung, der dieEhre hochh�lt, sich an der Tugend genug sein l�ßt, denZuf�lligkeiten weder �berm�tig noch niedergeschlagenmachen, der von keinem grçßeren Gute weiß als dem auseigener Kraft erworbenen und dessen wahre Lust in derVerachtung der Begierden besteht.Will man weitschweifigsein, kann man das gleiche in immer anderer Gestalt vor-f�hren; die volle Wirkung der Grundbedeutung bleibt un-umstçßlich bestehen, denn warum sollten wir f�r ›wahr-haft gl�ckliches Leben‹ nicht auch sagen kçnnen: »Dies istein unabh�ngiger, aufrechter, unerschrockener und stand-fester Geist, entr�ckt jeglicher Furcht und Begierde. Seineinziges Gut heißt Ehre, sein einziges �bel Schande; alle�brigen Dinge gelten ihm nichts, kçnnen sein Lebensgl�ckweder grçßer noch kleiner machen, da sie kommen und

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  • gehen, ohne Wachstum und Schwund des hçchsten Guteszu beeinflussen. Also muß, unabh�ngig vom Wollen oderNichtwollen, hierin der Grund liegen, daß sich best�ndigeHeiterkeit und tiefinnerliche Frçhlichkeit einstellen, wiebei einem Menschen, der Freude an seinem Eigentum hatund dessen W�nsche nicht �ber die h�uslichen Grenzenhinausstreben. Ist das nun nicht ein gutes Gegengewichtgegen die armseligen, nichtsw�rdigen und best�ndigen kçr-perlichen Triebe? Lust und Schmerz treten immer gleich-zeitig ihre Herrschaft an. Du siehst doch, in welch �bleund sch�dliche Abh�ngigkeit jemand ger�t, den Begierdenund Schmerzen, diese unbest�ndigsten und unb�ndigstenZwingherren, abwechselnd knechten. Da darf es nur einenAusweg geben: Unabh�ngigkeit gewinnen! Das aber kannnur gelingen, wenn man sich nicht um das Schicksal k�m-mert. Dann n�mlich erw�chst uns ein unsch�tzbares Gut:die sicher gegr�ndete Ruhe und Erhabenheit des Geistesund nach �berwundenen Schrecken eine großartige, durchnichts zu vertreibende Freude, die aus der Erkenntnis derWahrheit stammt, endlich Leutseligkeit und innere Gelçst-heit, an denen man seine Freude haben wird, nicht wie aneinzelnen G�tern, sondern wie an Abkçmmlingen eines ur-eigenen Gutes.«

    Da ich mich nun einmal n�her darauf eingelassen habe:Gl�cklich darf man nur jemanden nennen, der wederW�n-sche hegt noch Furcht empfindet, allerdings vermçge sei-ner Vernunft, denn unbekannt sind Furcht und Trauer jaauch den f�hllosen Steinen und nicht minder dem Herden-vieh. Deswegen wird trotzdem keiner etwas gl�cklich nen-nen, dem das Bewußtsein seines Gl�ckes fehlt. Hierzu mußman nun auch die Menschen z�hlen, deren stumpfsinnige

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  • und einsichtslose Natur sie dem Vieh und der unbelebtenNatur zuordnet. Zwischen beiden besteht kein Unter-schied: Haben die einen �berhaupt keine Vernunft, gebrau-chen die anderen ihre fehlgeleitete Vernunft zum eigenenSchaden und gegen deren eigentliche Bestimmung. Darfman doch niemand gl�cklich nennen, der der Wahrheitfernsteht! Also beruht die Sicherheit und Unwandelbarkeiteines gl�cklichen Lebens auf vern�nftiger und verl�ßlicherUrteilskraft. Dann n�mlich, wenn er sich nicht nur �bergrobe Anw�rfe, sondern auch �ber kleine Sticheleien hin-weggesetzt hat, ist unser Sinn rein und frei von allem �bel,verharrt ausdauernd auf seinem Posten, ja, behauptet sei-nen Platz auch gegen den drohenden Zorn des Schicksals.Was nun aber die sinnlichen Reize angeht, so mçgen siesich uns ruhig von allen Seiten aufdr�ngen, auf jedem WegZugang suchen, unseren Geist schmeichelnd geneigt ma-chen und alles mçgliche in Bewegung setzen wollen, umuns ganz oder teilweise zu erregen. Welcher Sterbliche,dem auch nur die geringste Spur seinesMenschseins geblie-ben ist, mçchte sich schon Tag und Nacht reizen lassenund sich, vçllig vomGeist verlassen, ausschließlich seinemKçrper widmen?

    »Doch wird es« – meint man – »wohl auch geistige Be-gierden geben kçnnen?« – Gewiß wird es sie geben, auchsoll ›dieser Geist‹ ruhig �ber Verschwendungssucht undAusschweifungen zu Gericht sitzen, soll sich an allen mçg-lichen Sinnesreizen s�ttigen, dann seine R�ckschau aufVergangenes richten und im Gedanken an seine abgefeim-ten L�ste mit seinen fr�heren Abenteuern prahlen, be-reits auf zuk�nftige lauern und seine Sehns�chte ins Feldf�hren; soll er doch, w�hrend der Kçrper noch am Freß-

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  • napf h�ngt, seine Gedanken schon zur n�chsten F�tterungschweifen lassen: Gerade hierin sehe ich aber den Grundseines Elends.Wer anstelle des Guten das Schlechte w�hlt,muß doch wohl von Sinnen sein! Zum Gl�ck gehçrt gei-stige Gesundheit; gesund aber kann kein Mensch sein,der, statt f�r sein eigenes Bestes bem�ht zu sein, sich selbstzu schaden bestrebt ist. Ein wirklich gl�cklicher Menschwird also �ber eine gesunde Urteilskraft verf�gen, sich inseine jeweilige Gegenwart schicken und im Einklang mitseinem Geschick leben. Kurz, er ist ein Mensch, dessen ge-samten Lebensstil die Vernunft bestimmt.

    Haben doch auch die, nach deren Meinung das hçch-ste Gut in diesen Dingen liegt, einen Blick daf�r behalten,welch entehrenden Platz sie ihm damit einr�umten. Be-haupten sie doch, Lust und Tugend seien gar nicht vonein-ander zu trennen und keiner kçnne ein ehrbares Leben f�h-ren, ohne auch zugleich Vergn�gen daran zu haben, ebensowie keiner vergn�gt leben kçnne, ohne zugleich ein Ehren-mann zu sein. Ich vermag nun nicht zu entdecken, wieso verschiedene Dinge eine feste Verbindung miteinandereingehen kçnnen. Woran soll es liegen, warum, bitte, soll-ten Lust und Tugend untrennbar verbunden sein m�ssen?Weil nun die Tugend der Ursprungsort alles Guten ist, ent-springt ihremWurzelboden etwa auch das, was ihr so sehrliebt und begehrt? W�re aber beides wirklich so untrenn-bar, bek�men wir nicht soviel Angenehmes zu sehen, dasdurchaus ehrenhaft ist, andererseits auch hçchst Ehrenhaf-tes, das unangenehm hart ist und mit Schmerzen erkauftwerden muß. Dazu kommt noch, daß es auch im erb�rm-lichsten Leben Lust gibt, Tugend dagegen eine schlechteLebensweise gar nicht erst zul�ßt, und daß es Ungl�ckliche

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  • gibt, nicht aus Mangel an Lust, sondern durch die Lustselbst, was unmçglich w�re, wenn Tugend und Lust so in-nig verbunden w�ren. Die Tugend muß oft ganz auf Lustverzichten; freilich ohne jemals auf sie angewiesen zu sein.Was vergleicht ihr Dinge, die miteinander un�hnlich, ja

    geradezu entgegengesetzt sind? Tugend, das ist etwas Ho-hes, Erhabenes und Kçnigliches, etwas Unbesiegbares, dassich nicht �berwinden l�ßt. Lust, das ist etwas Niedriges,Sklavisches, Schw�chliches,Verg�ngliches, fest beheimatetin Bordellen und Schenken. Tugend wirst du im Tempel,auf dem Forum, im Ratssaal antreffen; vor den Mauern,staubbedeckt, wettergebr�unt und mit schwieligen H�n-den. Lust versteckt sich gern, sucht verborgene Winkel inder N�he von Badeh�usern, Schwitzb�dern und �rtlich-keiten, die çffentliche Aufsicht zu scheuen haben, weich-lich und nervenschwach wirst du sie vorfinden,Wein oderPomade ausschwitzend, leichenblaß oder geschminkt, durchArzneimittel zugrunde gerichtet. Dem hçchstenGut eignetUnsterblichkeit, es kennt kein Ende, keine �bers�ttigungund keine Reue. Einer vern�nftigen Sinnesart ist jederRichtungswechsel, jeder Haß gegen sich selbst und jedeAb�nderung der besten Lebensform fremd, die Lust hinge-gen erlischt mitten auf ihrem Hçhepunkt, ihr Spielraum ist�ußerst begrenzt; daher kommt es schnell zur Erf�llung,dann zum �berdruß und nach dem ersten Andrang zur Er-schlaffung. Auf ein von Natur aus unbest�ndigesWesen istniemals sicherer Verlaß.Was kommt und vor�bereilt, sichselbst verzehrt und schnell erlischt, kann demgem�ß garkeine feste Grundlage haben, steuert es doch einen Punktan,der unweigerlichHalt gebietet, und selbst in seinemAn-fang liegt schon sein Ende.

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  • Gibt es denn nicht Lustgef�hle f�r Gute wie f�r Bçse,und erfreuen sich nicht die Schurken an ihrer Schandeebenso wie die Ehrenm�nner an ihren Tugendtaten? Daherdie Weisung der Alten, die beste Lebensweise der ange-nehmsten vorzuziehen, damit auf diese Weise die Lustzum Begleiter, nicht zum F�hrer einer geradlinigen und gu-tenWillenshaltung wird. Die Natur sollen wir uns zur F�h-rerin w�hlen, nach ihr richtet sich die Vernunft, ihre Rat-schl�ge holt sie ein. Also ist ein wahrhaft gl�ckliches undein naturgem�ßes Leben ein und dasselbe. Was das bedeu-tet, will ich dir gleich erkl�ren: Wenn wir auf unsere kçr-perlichen Anlagen und das, was uns liegt, aufmerksam,aber ohne Furcht acht haben, so als w�ren es fl�chtige,nur f�r den Tag gegebeneDinge; wennwir uns nicht in ihreKnechtschaft begeben und diesen Fremdlingen keine Be-sitzrechte �ber uns zugestehen; wenn f�r uns das kçrper-lich Angenehme und nur �ußerliche den Rang einnimmt,der im Feldlager den Hilfstruppen und den Leichtbewaff-neten zukommt – sie sollen dienen und nicht befehlen –,dann und nur dann kçnnen sie uns innerlich helfen! EinMann soll gegen �ußere Einfl�sse unzug�nglich und un-�berwindlich sein, soll nur sich selbst bewundern, ›sichselbst vertrauen und auf alles gefaßt sein‹, kurz: sein Lebenmeistern. Doch soll seinem Selbstvertrauen nicht die Ein-sicht, seiner Einsicht nicht die Ausdauer fehlen. Er soll beidem bleiben,was er einmal beschlossen hat, und an seinenEntscheidungen nicht herumbessern. Man soll auch ohnemein Zutun begreifen, daß es sich hier um einen ausge-glichenen, ordentlichenMann handelt, der in seiner Hand-lungsweise Leutseligkeit mit hohem Sinn zu verbindenweiß. Unsere Vernunft jedoch ist an die Sinne gebunden,

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  • kann dort ihre Grundlage finden und endlich zu sich selbstzur�ckkehren; einen anderen Ausgangspunkt, der ihr ei-nen Zugriff zurWahrheit ermçglichen kçnnte, hat sie n�m-lich nicht. Wirkt auch das allumfassende Weltgef�ge unddie das Weltall leitende Gottheit nach außen, kehrt sietrotzdem von �berallher ins Innere zu sich selbst zur�ck.Unser Geist soll es ebenso machen: Hat er sich seinen Sin-nen anvertraut und sich mit ihrer Hilfe die Außenwelt er-obert, gilt es f�r ihn, seine Sinne und sich selbst in der Ge-walt zu haben. Auf diese Art wird sich eine einheitlicheKraft und eine in �bereinstimmung mit sich selbst wir-kende Macht bilden, jene irrtumsfreie Vernunft wird sicheinstellen, die keinen Widerspruch, keine Unschl�ssigkeitkennt,weder in Meinungen und Begriffen noch in der Vor-stellungswelt. Ist sie zu innerer Ordnung und �bereinstim-mung, ja – wie ich sagen mçchte – zu vollem Zusammen-klang der Teile gelangt, streift sie bereits das hçchste Gut.Dann gibt es nichts Verkehrtes und Tr�gerisches mehr,nichts, woran sie sich stoßen oder wor�ber sie strauchelnkçnnte. Alles geschieht jetzt auf eigenen Befehl, nichts Un-erwartetes begegnet; im Gegenteil, alles, was ein Menschunternimmt, geht zum Guten aus: leicht, zwanglos undohne Verzçgerung bei der Ausf�hrung. Zaudern und Un-entschlossenheit zeugen n�mlich von innerer Spannungund Unbest�ndigkeit. So darf man also frei bekennen, dashçchste Gut sei innere �bereinstimmung. Denn wo �ber-einstimmung und Einigkeit herrschen, dort m�ssen ja Tu-genden sein; Zwietracht ist Sache der Laster.

    »Doch selbst du«, wendet man ein, »ehrst doch die Tu-gend nur, weil du dir irgendein Lustgef�hl von ihr ver-sprichst!« – Zun�chst: Auch wenn Tugend mit Lust ver-

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