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Leseprobe Flaubert, Gustave Bouvard und Pécuchet Roman Aus dem Französischen von Erich Wolfgang Skwara © Insel Verlag 978-3-458-17431-8 Insel Verlag

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Leseprobe

Flaubert, Gustave

Bouvard und Pécuchet

Roman

Aus dem Französischen von Erich Wolfgang Skwara

© Insel Verlag

978-3-458-17431-8

Insel Verlag

Gustave FlaubertBouvard und Pecuchet

RomanAus dem Französischen von Erich Wolfgang SkwaraMit einer Nachbemerkung des ÜbersetzersInsel Verlag

Originaltitel: Bouvard et Pecuchet.

Erstausgabe in Buchform: 1881

© dieser Ausgabe: Insel Verlag Berlin 2010

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie

der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm

oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages repro-

duziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, verviel-

fältigt oder verbreitet werden.

Satz: TypoForum GmbH, Seelbach

Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim

Printed in Germany

Erste Auflage 2010

ISBN 978-3-458-17431-8

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Bouvard und Pecuchet

I

Bei einer Hitze von 33 Grad lag der Boulevard Bourdon völ-lig verlassen da.

Weiter unten, von den beiden Schleusen abgeschlossen,erstreckte der Kanal Saint-Martin geradlinig sein tintenfar-biges Wasser. In der Mitte gab es einen mit Holz voll bela-denen Kahn und am Ufer eine Doppelreihe von Fässern.

Jenseits des Kanals, zwischen den durch Lagerhallen ge-trennten Häusern, hob sich der große reine Himmel in ultra-marinblauen Flächen ab, und unter dem Strahlen der Sonneblendeten die weißen Fassaden, die Schieferdächer, die Uferaus Granit. Ein unbestimmter Lärm stieg aus der Ferne indie laue Luft; und alles schien erstarrt von Sonntagsträgheitund Traurigkeit der Sommertage.

Da erschienen zwei Männer.Der eine kam von der Bastille, der andere vom Jardin des

Plantes. Der größere, der einen Leinenanzug trug, ging mitnach hinten geschobenem Hut, aufgeknöpfter Weste undseiner Halsbinde in der Hand. Der kleinere, dessen Körperin einem kastanienbraunen Gehrock verschwand, senkte un-ter einer spitzen Schirmmütze den Kopf.

Als sie die Mitte des Boulevards erreicht hatten, setztensie sich im selben Moment auf dieselbe Bank.

Um sich die Stirn zu trocknen, nahmen sie ihre Kopfbe-deckungen ab, die jeder neben sich legte; da bemerkte derkleinere Mann, daß in den Hut seines Sitznachbarn »Bou-vard« eingeschrieben stand, während dieser mühelos in derMütze des Mannes im Gehrock das Wort »Pecuchet« erken-nen konnte.

– Also so etwas, sagte er, wir haben denselben Einfall ge-

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habt, nämlich unseren Namen in unsere Hüte zu schrei-ben.

– Ja natürlich, man könnte mir sonst im Büro versehent-lich den meinen nehmen.

– Wie mir auch, ich bin Angestellter.Jetzt erst schauten sie einander genauer an.Das freundliche Aussehen Bouvards gefiel Pecuchet so-

fort.Seine bläulichen, immer halbgeschlossenen Augen lächel-

ten in seinem geröteten Gesicht. Eine breite Bundhose, diein losen Falten bis zu seinen Biberpelzschuhen reichte, um-spannte seinen Bauch, sein Hemd bauschte sich über demGürtel, und seine blonden Haare, die sich von selber inleichten Locken kräuselten, verliehen ihm etwas Kindhaf-tes.

Er stieß mit gespitzten Lippen eine Art von anhaltendemPfeifen aus.

Das ernsthafte Aussehen Pecuchets überwältigte Bou-vard.

Man hätte meinen können, daß er eine Perücke trug, soglatt und schwarz waren die Haarsträhnen, die seinen ho-hen Kopf bedeckten. Sein Gesicht schien nur aus dem Pro-fil zu bestehen, weil seine Nase so weit nach unten reichte.Seine Beine, die in Röhrenhosen aus Lasting steckten, paß-ten nicht zur Länge des Torsos, und er hatte eine laute,dumpf tönende Stimme.

Plötzlich entfuhr ihm der Ausruf:– Wieviel angenehmer es auf dem Lande wäre!Die nähere Umgebung aber hielt Bouvard wegen des lär-

menden Betriebs in den Ausflugsschenken für unzumutbar.Pecuchet dachte genauso. Dennoch wurde er der Haupt-stadt langsam müde. Bouvard auch.

Und ihre Blicke wanderten über Berge von Bausteinen,

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über das abstoßende Wasser, auf dem ein Strohballenschwamm, über den Schornstein einer Fabrik, der sich amHorizont erhob; Gestank von Abwässern erfüllte die Luft.Sie schauten in die andere Richtung. Dort hatten sie dieMauern des städtischen Getreidespeichers vor sich.

Es war tatsächlich – und Pecuchet wunderte sich dar-über – auf der Straße noch heißer als daheim!

Bouvard schlug ihm vor, seinen Gehrock auszuziehen.Ihm war es ganz egal, was die Leute dachten!

Auf einmal wankte ein Betrunkener über den Gehsteig,und sie begannen ein politisches Gespräch über die Arbei-terklasse. Sie teilten die gleichen Meinungen, auch wennBouvard vielleicht etwas liberaler sein mochte.

In einem Wirbel aus Staub ertönte metallenes Kreischenauf den Pflastersteinen: drei Mietskutschen fuhren nach Ber-cy hinaus; eine Braut mit ihrem Blumenstrauß, Bürger mitweißem Halstuch, bis an die Achselhöhlen in ihre Röckegehüllte Damen, zwei oder drei Mädchen und ein Ober-schüler nahmen an der Spazierfahrt teil. Der Anblick dieserHochzeitsgesellschaft bewog Bouvard und Pecuchet dazu,über Frauen zu sprechen, die sie für frivol, streitsüchtig undstarrköpfig erklärten. Dennoch waren sie manchmal besserals die Männer, dann wieder auch schlimmer. Es war jeden-falls klüger, ohne sie zu leben; Pecuchet war daher lediggeblieben.

– Ich bin Witwer, sagte Bouvard, und kinderlos!– Vielleicht ist es sogar ein Glück für Sie. Aber auf lange

Frist war das Alleinsein wohl recht traurig.Dann erschien am Kanalufer ein Freudenmädchen mit

einem Soldaten. Blaß, mit schwarzem Haar und Pockennar-ben, stützte sie sich auf den Arm des Militärs, schlurfte inihren Latschen und schlenkerte mit den Hüften.

Als sie etwas weiter war, erlaubte sich Bouvard eine obs-

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zöne Bemerkung. Pecuchet errötete heftig und wies – wohlum nichts darauf erwidern zu müssen – mit dem Blick aufeinen näherkommenden Priester.

Der Geistliche ging langsam die Avenue mit den küm-merlichen jungen Ulmen hinunter, die den Gehsteig säum-ten, und sobald Bouvard den Dreispitz nicht mehr erkennenkonnte, gab er seiner Erleichterung Ausdruck, denn er ver-abscheute die Jesuiten. Ohne diese von jeder Schuld freizu-sprechen, ließ Pecuchet der Religion gegenüber doch einegewisse Ehrerbietung erkennen.

Inzwischen fiel die Dämmerung ein, und die Jalousiengegenüber waren bereits hochgezogen worden. Die Zahlder Passanten nahm zu. Es schlug sieben Uhr.

Ihre Worte flossen unerschöpflich dahin, Bemerkungenfolgten auf Anekdoten, philosophische Äußerungen auf pri-vate Gedanken. Sie nörgelten über das Brücken- und Stra-ßenbauwesen, die Tabakregie, den Handel, die Theater, un-sere Marine und das gesamte Menschengeschlecht wie Leu-te, denen großer Verdruß widerfahren ist. Im Hinhören aufden anderen entdeckte jeder der beiden vergessene Teile sei-ner selbst. Und obwohl das Alter naiver Empfindungen hin-ter ihnen lag, empfanden sie eine neue Lust, ein Aufblühen,den Zauber erwachender Zärtlichkeiten.

Zwanzig Mal waren sie aufgestanden, hatten sich wie-der gesetzt und waren den ganzen Boulevard zwischen deroberen und unteren Schleuse auf und ab gewandert, wolltendabei jedes Mal ihrer Wege gehen und fanden nicht die Kraftdazu, weil eine Bestrickung sie zurückhielt.

Endlich verabschiedeten sie sich dennoch, sie schüttelteneinander die Hände, als Bouvard unvermutet sagte:

– Wollen wir nicht zusammen zu Abend essen?– Auch ich hatte daran gedacht, entgegnete Pecuchet,

aber ich getraute mich nicht, es Ihnen vorzuschlagen.

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Und er ließ sich in ein kleines Restaurant gegenüber demHotel de Ville führen, das angeblich gut war.

Bouvard verlangte die Speisekarte.Pecuchet fürchtete sich vor Gewürzen, weil sie den Kör-

per entzünden könnten. Das wurde zum Gegenstand einesmedizinischen Gesprächs. Daraufhin rühmten sie die Vor-teile der Wissenschaften: So viel gab es zu lernen, so viel zuerforschen . . . wenn man nur Zeit hätte! Leider beanspruch-te ihn der Brotberuf viel zu sehr; und sie hoben die Armevor Verwunderung, sie hätten sich beinahe über den Tischhinweg umarmt, als sie herausfanden, daß sie beide Schreib-kräfte waren, Bouvard in einer Handelsfirma, Pecuchet imMarineministerium; was ihn nicht davon abhielt, jedenAbend ein paar Augenblicke dem Studium zu widmen. Erhatte im Werk von Monsieur Thiers Fehler gefunden, under sprach mit größter Hochachtung von einem gewissenDumouchel, einem Professor.

Bouvard übertraf ihn in anderen Belangen. Seine Uhr-kette aus Roßhaar und die Art und Weise, wie er die Remou-ladensauce rührte, wiesen ihn als erfahrenen Genießer aus,und beim Essen – den Zipfel der Serviette unter die Achselgeklemmt – gab er Dinge von sich, über die Pecuchet lachenmußte. Es war ein eigenartiges Lachen, ein einziger sehr tie-fer Ton, immer derselbe, den er in langen Abständen aus-stieß. Das von Bouvard war kräftig, volltönend, entblößteseine Zähne, rüttelte an seinen Schultern, und noch dieGäste an der Tür drehten sich nach ihm um.

Nachdem sie die Mahlzeit beendet hatten, gingen sie zumKaffee in ein anderes Lokal. Als Pecuchet die Gaslichterbetrachtete, stöhnte er über das Überhandnehmen der Ver-schwendung, dann schob er mit einer verächtlichen Gebär-de die Zeitungen zur Seite. Bouvard war nachsichtiger mitihnen. Er mochte im Prinzip alle Schriftsteller und hatte in

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seiner Jugend mit dem Gedanken gespielt, Schauspieler zuwerden.

Er wollte mit einem Billardstock und zwei Elfenbein-kugeln Balancetricks machen, wie Barberou, einer seinerFreunde, sie zustande brachte. Aber sie fielen beständig zuBoden und rollten zwischen den Beinen der Leute in eineentfernte Ecke. Der Kellner, der jedesmal aufstand, um sieauf allen vieren unter den Sitzbänken zu suchen, beklagtesich schließlich darüber. Pecuchet geriet in Streit mit ihm,der Wirt fuhr dazwischen, er aber wollte seine Entschul-digungen nicht hören und bekrittelte auch noch, was siebestellt hatten.

Schließlich schlug er vor, den Abend friedlich in seinerWohnung zu beenden, die ganz in der Nähe lag, in der RueSaint-Martin.

Kaum waren sie eingetreten, als er in eine Art von Haus-jacke aus bedrucktem Baumwollstoff schlüpfte und denGastgeber spielte.

Ein Schreibtisch aus Tannenholz, der mitten im Raumstand, störte mit seinen Kanten; und rundherum befandensich auf Brettchen, auf drei Stühlen, auf dem alten Lehnses-sel und in den Ecken wirr verstreut mehrere Bände derEncyclopedie Roret, das Handbuch des Magnetiseurs, ein Fene-lon, andere alte Bücher, dazu ein Haufen Papierkram, zweiKokosnüsse, etliche Medaillen, eine Türkenmütze und Mu-scheln, die Dumouchel aus Le Havre mitgebracht hatte.Eine Schicht aus Staub bedeckte die Wände, die ursprüng-lich gelb gestrichen waren. Die Schuhbürste lag beim Bett,von dem die Leintücher herabhingen. Auf der Zimmerdek-ke sah man einen großen schwarzen Fleck, der vom Rauchder Lampe herrührte.

Weil offenbar lange nicht gelüftet worden war, bat Bou-vard um die Erlaubnis, das Fenster öffnen zu dürfen.

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– Die Papiere würden davonfliegen!, rief Pecuchet, derzu allem Überfluß auch Angst vor Zugluft hatte.

Dennoch rang er in diesem kleinen Zimmer, das seit demMorgen von den Dachschieferplatten aufgeheizt wordenwar, nach Luft.

Bouvard sagte zu ihm:– An Ihrer Stelle würde ich die Flanellweste ausziehen.– Wie bitte?Und Pecuchet ließ vor Entsetzen, daß er seine Gesund-

heitsweste nicht länger tragen sollte, den Kopf sinken.– Begleiten Sie mich doch, redete Bouvard weiter, die

Luft draußen wird Sie erfrischen.Schließlich zog Pecuchet wieder sein Schuhwerk an und

murrte dabei:– Sie verhexen mich noch, mein Ehrenwort!Und trotz der Entfernung begleitete er ihn bis zu seiner

Wohnung an der Ecke der Rue de Bethune gegenüber demPont de la Tournelle.

Das Zimmer Bouvards, frisch gebohnert, mit Perkalvor-hängen und Möbeln aus Mahagoniholz, verfügte über einenBalkon mit Blick auf den Fluß. Die zwei auffälligsten Zier-stücke waren ein Likörservice mitten auf der Kommode undentlang des Spiegels Daguerreotypien, auf denen Freundeabgebildet waren; in der Schlafecke hing ein Ölbild.

– Mein Onkel, sagte Bouvard.Und der Leuchter, den er hielt, beschien einen Mann.Ein roter Backenbart dehnte sein Gesicht, das von einem

um den Scheitel gelockten Haarschopf gekrönt war. Seinehohe Halsbinde mit dem dreifachen Hemdkragen, die Samt-weste und schwarze Jacke gaben ihm ein gedrungenes Aus-sehen. Auf die Brustkrause hatte man Diamanten gesetzt.Seine Augen verengten sich gegen die Wangen hin, und erlächelte mit einem leicht verschmitzten Ausdruck.

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Pecuchet konnte sich nicht zurückhalten zu sagen:– Man würde ihn eher für Ihren Vater halten.– Er ist mein Pate, erwiderte Bouvard beiläufig und fügte

hinzu, daß er mit seinen Taufnamen Francois-Denys-Bar-tholomee hieß. Jene Pecuchets waren Juste-Romain-Cyrille,und sie hatten das gleiche Alter: siebenundvierzig Jahre. Die-ser Zufall gefiel ihnen, aber überraschte sie auch, weil jederden anderen für viel weniger jung gehalten hatte. Dann prie-sen sie die Vorsehung, deren Berechnungen oft wunderbarsind.

– Wenn wir nachmittags nicht zu unserem Spaziergangaufgebrochen wären, hätten wir vor unserer Begegnungsterben können!

Und nachdem sie die Anschriften ihrer Arbeitgeber aus-getauscht hatten, wünschten sie einander eine gute Nacht.

– Suchen Sie bloß nicht die Damen auf!, rief Bouvardnoch ins Treppenhaus.

Pecuchet ging die Stiegen hinunter, ohne auf den gewag-ten Scherz zu antworten.

Am Tag darauf ertönte eine Stimme im Hof der GebrüderDescambos, Elsässische Stoffe, in der Rue Hautefeuille 92:

– Bouvard! Monsieur Bouvard!Dieser steckte den Kopf durchs Fenster und erkannte

Pecuchet, der nun mit noch lauterer Stimme rief:– Ich bin nicht krank! Und ich habe sie ausgezogen!– Was denn?– Da, sie!, sagte Pecuchet, und zeigte auf seine Brust.Das viele Gerede des Tages, dazu die Temperatur in der

Wohnung und die Mühen der Verdauung hatten ihn nichteinschlafen lassen, bis er es schließlich nicht mehr ausgehal-ten und seine Flanellweste weit von sich geschleudert hatte.Am Morgen hatte er sich seiner Tat entsonnen, die glück-licherweise ohne Folgen geblieben war, und kam nun, um

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Bouvard davon in Kenntnis zu setzen, der in seiner Wert-schätzung dadurch eine unerhörte Höhe erlangt hatte.

Er war der Sohn eines kleinen Kaufmanns und hatte seineMutter, die sehr jung gestorben war, nicht gekannt. Als erfünfzehn gewesen war, hatte man ihn aus der Internats-schule genommen, um ihn bei einem Gerichtsvollzieherunterzubringen. Unvermutet kamen die Gendarmen, undder Brotherr wurde zur Zwangsarbeit verurteilt; eine böseGeschichte, die ihn immer noch mit Entsetzen erfüllte. Da-nach hatte er sich in mehreren Beschäftigungen versucht:Apothekerlehrling, Schullehrer, Buchhalter auf einem derPassagierdampfer der oberen Seine. Ein Abteilungsleiter,der von seiner Handschrift begeistert war, hatte ihn schließ-lich als Kopisten angestellt; aber das Bewußtsein einer lük-kenhaften Schulbildung mit den geistigen Bedürfnissen, diees in ihm auslöste, verstörte sein Gemüt, und er lebte ganzund gar allein, ohne Eltern, ohne Geliebte. Seine einzigeAbwechslung war es, an den Sonntagen öffentliche Baustel-len zu inspizieren.

Die ältesten Erinnerungen Bouvards führten ihn an dieUfer der Loire zurück, in den Hof eines Bauerngutes. EinMann, der sein Onkel war, hatte ihn nach Paris gebracht,damit er zum Kaufmann ausgebildet würde. Zu seiner Groß-jährigkeit gab man ihm tausend Francs. Er hatte daraufhingeheiratet und einen Süßwarenladen eröffnet. Sechs Mo-nate später verschwand seine Ehefrau und nahm die Kassemit. Freunde, das Wohlleben und vor allem die Trägheit hat-ten ihn bald völlig ruiniert. Aber er hatte den guten Einfallgehabt, seine schöne Handschrift zu nutzen; und so hatte erseit nunmehr zwölf Jahren seine Anstellung bei den Gebrü-dern Descambos, Stoffhandel, Rue Hautefeuille, Nummer92. Was seinen Onkel anging, der ihm zum Andenken einstdas famose Porträtbild geschickt hatte, kannte Bouvard nicht

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einmal mehr seine Anschrift und erwartete von ihm nichtsmehr. Fünfzehnhundert Livres Zinseinkommen und sein Ko-pistenlohn erlaubten es ihm, jeden Abend in einer Kneipeein Nickerchen zu machen.

So hatte ihre Begegnung die Wichtigkeit eines Abenteuersangenommen. Sie hatten augenblicklich durch geheime Fa-sern aneinander gehangen. Wie könnte man übrigens Sym-pathien erklären? Warum ist eine Besonderheit oder ein Ma-kel bei diesem da gleichgültig oder widerwärtig und ent-zückt bei jenem anderen? Was man die Liebe auf den erstenBlick nennt, gilt für alle Leidenschaften. Noch vor dem Endeder Woche duzten sie sich.

Oft holten sie einander von ihrem Büro ab. Sobald dereine erschien, schloß der andere sein Schreibpult zu, und siegingen gemeinsam durch die Straßen davon. Bouvard gingmit großen Schritten vorwärts, wohingegen Pecuchet, des-sen Gehrock ihm gegen die Absätze schlug, die seinen ver-vielfachte und auf Rädern zu gleiten schien. Auch in denAngelegenheiten ihres Geschmacks paßten sie zusammen.Bouvard rauchte Pfeife, mochte Käse, nahm regelmäßig sei-nen schwarzen Kaffee zu sich. Pecuchet schnupfte Tabak, aßzur Nachspeise nur eingemachte Früchte und tunkte einStück Zucker in den Kaffee. Der eine war zuversichtlich,leichtsinnig, großzügig; der andere zurückhaltend, nach-denklich, sparsam.

Um ihm einen Gefallen zu erweisen, wollte Bouvard Pe-cuchet mit Barberou bekannt machen. Er war ein ehemali-ger Handelsvertreter, der zur Zeit an der Börse spekulierte,ein sehr gutmütiger Kerl, Patriot, ein Freund der Damenund mit einer Vorliebe für den Dialekt der Vorstadt. Pe-cuchet fand ihn unsympathisch und brachte Bouvard zuDumouchel. Dieser Autor (denn er hatte ein kleines Hand-buch zur Mnemotechnik veröffentlicht) gab Literaturkurse

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in einem Internat für junge Mädchen, er hatte strenggläu-bige Ansichten und ein ernsthaftes Auftreten. Er langweilteBouvard.

Keiner der beiden hatte dem anderen seine Meinung ver-hehlt. Und beide sahen sie deren Richtigkeit ein. Ihre Ge-wohnheiten änderten sich, sie gaben ihre bürgerliche Ver-köstigung auf und aßen schließlich jeden Tag gemeinsam zuAbend.

Sie stellten Überlegungen zu den gerade aktuellen Thea-terstücken an, redeten über die Regierung, den hohen Preisder Lebensmittel, die Betrügereien im Handel. Von Zeit zuZeit tauchte die Halsbandaffäre oder der Gerichtsprozeß vonFualdes wieder in ihren Gesprächen auf; und schließlichsuchten sie nach den Ursachen der Revolution.

Sie flanierten an den Trödlerbuden vorbei. Sie besichtig-ten das Gewerbemuseum, Saint-Denis, die Gobelinmanu-faktur, den Invalidendom und alle öffentlichen Sammlun-gen.

Wenn man ihren Ausweis verlangte, gaben sie vor, zweiAusländer – zwei Engländer – zu sein, und taten so, als obsie ihn verloren hätten.

In den Galerien des Naturkundemuseums gingen sie mitVerwunderung an den ausgestopften Vierbeinern, mit Ver-gnügen an den Schmetterlingen, mit Gleichgültigkeit an denMetallen vorbei; die Fossilien brachten sie zum Träumen, dieMuschelkunde langweilte sie. Sie musterten die Treibhäuserdurch die Glasscheiben und schauderten bei der Vorstellung,daß dieses ganze Laubwerk Gifte ausschied. An der Zederbewunderten sie, daß man sie angeblich in einem Hut hier-her ins Land gebracht hatte.

Im Louvre strengten sie sich an, sich für Raphael zu begei-stern. In der Großen Bibliothek hätten sie gerne die genaueZahl der dort gesammelten Bände erfahren.

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Einmal besuchten sie eine Arabisch-Vorlesung im Collegede France, und der Professor war erstaunt, diese beiden Un-bekannten zu sehen, die versuchten, Notizen zu machen.Dank Barberou drangen sie zur Hinterbühne eines kleinenTheaters vor. Dumouchel besorgte ihnen Eintrittskarten füreine Sitzung der Akademie. Sie hielten sich über Entdeckun-gen auf dem laufenden, lasen Broschüren, und auf Grunddieser Neugierde entwickelte sich ihre Intelligenz. Vor demHintergrund eines mit jedem Tag weiter werdenden Hori-zontes nahmen sie zugleich verwirrende und wunderbareDinge wahr.

Wenn sie ein altes Möbelstück bewunderten, bedauertensie, nicht in der Epoche gelebt zu haben, in der es gedienthatte, obwohl sie von jener Zeit absolut keine Ahnung hat-ten. Anhand mancher Namen stellten sie sich Länder um soschöner vor, als sie nichts Genaues darüber wußten. Werke,deren Titel für sie unverständlich waren, schienen für sie einGeheimnis zu enthalten.

Indem sie zunehmend Ideen hatten, nahmen ihre Leidenzu. Wenn ihnen auf der Straße eine Postkutsche begegnete,empfanden sie das Bedürfnis, in ihr davonzufahren. Der Kaider Blumenhändler ließ sie nach dem offenen Land seufzen.

An einem Sonntag brachen sie gleich am frühen Morgenzu einer Wanderung auf; an Meudon, Bellevue, Suresnes,Auteuil vorbei vagabundierten sie den ganzen langen Tagzwischen den Weingärten, rissen Mohnblumen an den Rän-dern der Felder aus, schliefen im Gras, tranken Milch, aßenunter den Akazien der Landschenken und kehrten staubig,erschöpft und entzückt erst recht spät nach Hause zurück.Sie wiederholten diese Spaziergänge oft. Der jeweils nächsteTag war dann so traurig, daß sie schließlich darauf verzich-teten.

Die Eintönigkeit des Büros wurde ihnen verhaßt. Dau-

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ernd das Radiermesser und die Korrektur, dasselbe Tin-tenfaß, dieselben Schreibfedern und dieselben Kollegen imKontor! Da sie sie für dumm hielten, sprachen sie immer we-niger mit ihnen. Das trug ihnen Sticheleien ein. Sie erschienenjeden Tag zu spät und erhielten Ermahnungen.

Früher hatten sie sich nahezu für glücklich gehalten; aberihr Beruf demütigte sie, seit sie sich selbst höher einschätz-ten, und sie übersteigerten sich in diesem Abscheu, stachel-ten sich gegenseitig an, wurden unwilliger, Pecuchet über-nahm die Schroffheit Bouvards, Bouvard zeigte Spuren vonPecuchets Mißmut.

– Ich möchte in der Öffentlichkeit als Gaukler auftreten!,sagte der eine.

– Lieber ein Lumpenhändler werden!, rief der andere.Welch scheußliche Lage! Und keine Aussicht, ihr zu ent-

kommen! Nicht einmal die Hoffnung darauf!An einem Nachmittag (es war am 20. Januar 1839), als

Bouvard in seinem Kontor saß, erhielt er einen Brief, dender Briefträger brachte.

Seine Arme schossen in die Höhe, sein Kopf kippte lang-sam zur Seite, und er fiel ohnmächtig auf den Steinboden.

Die Angestellten stürzten herbei, man nahm ihm seineHalsbinde ab. Man sandte nach einem Arzt. Er öffnete wie-der die Augen; auf die Fragen, die man ihm stellte, folgteein:

– Ach! . . . Es ist nur . . . es ist nur . . . ein wenig frische Luftwird mir guttun. Nein, lassen Sie mich! Lassen Sie mich hin-aus!

Und trotz seiner Beleibtheit lief er ohne Atemholen biszum Marineministerium, fuhr sich mit der Hand über dieStirn, glaubte verrückt zu werden, versuchte sich zu beruhi-gen.

Er ließ Pecuchet rufen.

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Pecuchet erschien.– Mein Onkel ist tot! Ich bin Erbe!– Nicht möglich!Bouvard zeigte die folgenden Zeilen:

KanzleiMaıtre TardivelÖffentlicher Notar

Savigny-en-Septaine, 14. Januar 1839

»Monsieur,

Ich ersuche Sie, sich in meine Kanzlei zu begeben, um Kenntnisvom Testament Ihres natürlichen Vaters, M. Francois-Denys-Bar-tholomee, einstmals Kaufmann in der Stadt Nantes, und in dieserGemeinde am 10. des laufenden Monats verschieden, zu erhalten.Dieses Testament enthält eine sehr stattliche Verfügung zu IhrenGunsten.Mit hochachtungsvollen GrüßenTARDIVEL, Notar«

Pecuchet mußte sich auf einen Steinvorsprung im Hof setzen.Dann gab er das Schriftstück zurück und sagte langsam:

– Wenn . . . es sich nur nicht . . . um einen bösen Streichhandelt!

– Du glaubst, daß es ein Streich ist, würgte Bouvard miterstickter Stimme hervor, die dem Röcheln eines Sterbendenglich.

Aber die Briefmarke, der gedruckte Briefkopf mit Namender Notariatskanzlei, die Unterschrift des Notars, allesbewies die Echtheit der Neuigkeit; – und sie betrachteteneinander mit einem Zittern der Mundwinkel und einer Trä-ne, die in ihren unbewegten Augen stand.

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