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Leseprobe Die Königin der Orchard Street Roman Aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld © Insel Verlag 978-3-458-17625-1 Insel Verlag

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Leseprobe

Die Königin der Orchard Street

Roman

Aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld

© Insel Verlag

978-3-458-17625-1

Insel Verlag

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Susan Jane Gilman

DIE KÖNIGIN DER ORCHARD STREET

Roman

Aus dem Amerikanischen vonEike Schönfeld

Insel Verlag

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Die Originalausgabe erschien erstmals 2014 unter dem TitelThe Ice Cream Queen of Orchard Street

bei Grand Central Publishing in der Hachette Book Group, New York.Copyright © 2014 by Susan Jane Gilman

This edition published by arrangement with Grand Central Publishing,New York, NY, USA. All rights reserved.

Umschlagfotos: Nathan Blaney/Corbis, akg-images/AP

Erste Auflage 2015© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2015

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das desöffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages

reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, WaldbüttelbrunnDruck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in GermanyISBN 978-3-458-17625-1

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DIE KÖNIGIN DER ORCHARD STREET

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Für

Steve Blumenthal&

Frank McCourt

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1. kapitel

Wir waren gerade mal ein Vierteljahr in Amerika, alsdas Pferd mich umrannte. Wie alt ich da war, weiß

ich nicht genau. Vielleicht sechs? Von meiner Geburt gibt’skeine Einträge. Ich weiß nur noch, dass ich die Hester Streetentlangrannte, auf der Suche nach Papa. Der gebleichteHimmel über mir war von Dächern und eisernen Feuerlei-tern eingerahmt. Tauben kreisten, Straßenhändler schrien,Hühner gackerten; und dazwischen die seltsame, wackligeDampforgel des Leierkastenmanns. Dicke Staubwolkenwogten um die Handwagen, sodass die Ladenschilder wieFahnen hin und her schwangen. Ich hörte Getrappel, dannschlug ich hin. Einen Sekundenbruchteil lang blitzte einHuf auf, dann grellweißer Schmerz. Dann: nichts.

Das Pferd, das mich niedertrampelte, zog einen Eiswa-gen. War das nicht eine sonderbare Laune des Schicksals?Hätte mich, sagen wir, ein Lumpensammler oder Kohlen-händler zum Krüppel gemacht, wäre ich nie die LillianDunkle geworden, wie alle Welt sie heute kennt. Und nieim Leben wäre ich zur Legende geworden.

Die Öffentlichkeit meint immer, mein Glück gehe aus-schließlich auf meinen Mann zurück. Ach, wie die Medienihre Königinnen hassen. Wie sie uns übelwollen! Dasschreckliche Foto, das die Zeitungen ständig bringen –auf dem ich aussehe wie Joan Crawford,wenn sie einen Ein-lauf kriegt –, mehr Beweise braucht man wohl nicht. Diesind so schnell mit ihrem Urteil!

Aber das will ich euch sagen, meine Schätzchen: die»Wonder Tundra« mit Schokostückchen, Regenbogenstreu-

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seln, M&Ms oder gehackten Erdnüssen, ganznach Wunsch.Unsere neue Paradetorte, die »Nilla Rilla«, geformt wie un-ser Markenzeichen, der Comic-Affe, umhüllt mit Kokos-raspeln und mit einer geheimen Schicht aus Keksbröckchengefüllt – die hatten wir anfangs nur für Geburts- und Vater-tage im Sortiment, aber ist Ihnen klar, wie viele Leute eineVersion davon für ihre Hochzeit bestellten? Eine Torte ha-ben wir einmal speziell für einen Empfang in Syosset ge-macht, von der wurden 215 Leute satt. Die wäre ins Guin-ness-Buch der Rekorde gekommen, wenn Bert an die blödeKamera gedacht hätte.

»Tower of Sprinkles«. »Mint Everest«. »Fudgie Puppie«.Sie alle – und wirklich alle, Jahr für Jahr werden Millionendavon verkauft – waren meine Erfindung, meine Idee. Aufunserem Höhepunkt hatten wir landesweit 302 Läden. Wirrevolutionierten Produktion, Franchise, Marketing. Glau-ben Sie etwa, das war Zufall? Präsident Dwight D. Eisen-hower persönlich hat mich mal »Die Eiskönigin von Ame-rika« getauft. Ich habe noch das signierte Foto von uns (mitMamie natürlich – samt Perlen und schlechten Zähnen), wiewir uns im Rose Garden die Hände schütteln. Dazu trug ichmein allererstes Chanel-Kostüm, fast in der Farbe von Erd-beereis. (Und das war Jahre vor Jackie Kennedy, schönenDank!) Heute habe ich nicht weniger als drei Dutzend gra-vierte Plaketten, Trophäen, Bänder. Eine Schale aus Kris-tallglas. Sogar einen scheußlichen Gedenkascher aus Zinn –wie gern würde ich den verschenken, aber Herrgott, wasmacht man mit einem Ding, das man von der Gesellschaftzur Erforschung der Kinderdiabetes verliehen bekam, nochdazu mit dem eigenen Namen darauf? Eine ganze Wand mitUrkunden: von der Handelskammer von North Carolina;der Vereinigung der Amerikanischen Milchwirtschaft; vonDow Chemical; sogar vom Maharishi Mahesh Yogi Institutin Rishikesh, Indien. Anscheinend lieben Yogis Eiscreme.Wer hätte das gedacht?

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Doch wenn die Leute heutzutage meinen Namen hören,denken sie nur an miese Schlagzeilen. An einen einzelnenVorfall im Live-Fernsehen. Anklagen wegen Steuerhinter-ziehung und eine Verhaftung – auch das falsch,wie ich wohlnicht extra betonen muss. Unlustige Witze bei Johnny Car-son, diesem schlemihl. Ihr wollt’s lustig? Bitte. Ich weiß wasLustiges.

Erst gestern teilte mir mein Enkel mit, dass ich eine Ant-wort in der neuesten Ausgabe von Trivial Pursuit bin. »Wow,Oma, das ist ja echt der Wahnsinn«, sagte er. Man brauchtbloß lange genug zu leben, dann erlebt man alles. Aber es isteine einzige Hexenjagd. WPIX war doch nur ein Lokalsen-der, Herrgott. Und wir kamen morgens um sieben auf Sen-dung, an einem Sonntag – einem Sonntag! Und vielleichthatte ich ja auch ein paar intus. Aber, meine Schätzchen,versucht ihr doch mal, dreizehn verdammte Jahre lang eineKindersendung zu machen.

Aber halt, ich eile voraus.

Ich fange lieber mal am Anfang an, lange bevor Übertra-gungswagen vom Fernsehen auf der anderen Straßenseitestanden und meine Auffahrt blockierten. Noch vor unse-rer »Sundae on Saturdays«-Kampagne, den »Mocktail«-Milchshakes und vor Spreckles, dem Clown. Alles begannauf Manhattans drückend heißer Lower East Side, mitdem Händler und seinem Pferdefuhrwerk. Ein rundlicher,schwitzender Mann: Salvatore Dinello. Sein Name prangtein abblätternden rot und golden schablonierten Lettern aufden Seiten seines Wagens: »Dinello’s Ices«. Er war eigent-lich der Letzte seiner Art. Die meisten anderen arbeitetenda schon für Grossisten. Mr Dinello trug einen Schlapp-hut und einen braunen Leinenkittel. Statt wie die anderenHändler zu schreien, sang er »A-HAIS, A-HAIS«. Wie eineArie. Ach, es war herrlich. Ich hörte seinen Bariton die gan-ze Hester Street lang, durch den unglaublichen Lärm.

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Dinellos Eis war mit Zitronen- und manchmal auch mitKirschgeschmack. Es hatte die Konsistenz von Schnee.Einmal, als Flora und ich das Abendessen holen sollten,kaufte ich uns stattdessen eine Kugel. Wir verschlangenes – Kirsch, das weiß ich noch –, und unsere Münder wur-den knallrot, bonbonrot. Es war köstlich. Wie im Delirium.Doch unmittelbar danach – ach, das schlechte Gewissen!Die zwei Cent waren eigentlich für eine Kartoffel be-stimmt. Von da an versuchte ich, einen Bogen um Mr Dinel-lo und seinen Eiswagen zu machen. Aber immer wenn wirin der Hester Street waren, sah ich sehnsuchtsvoll zu,wie erfür einen Kunden eine kleine Portion der schimmerndenLeckerei in seinenwinzigen Glasbecher schöpfte. Der Kun-de leckte den Becher sauber und reichte ihn Mr Dinellozurück, der ihn dann in einem Zinkeimerausspülte, der hin-ten am Wagen baumelte. Jeder bekam denselben Becher. Sowar das damals.

Meine Familie hatte keinen Penny, als wir vom Schiff tra-ten. Aber wo war das anders? Die Geschichten der Leute,die mit Geld in Amerika landeten, sind uninteressant. Dannhat Ihr ältester Bruder, Lord Sowieso, also den Familien-besitz geerbt, und Sie Ärmster mussten Ihr Glück daher inder Neuen Welt machen? Bitte. Kommt mir bloß nicht da-mit.

Zur Zeit meines Unfalls wohnten wir in einer Miets-kaserne in der Orchard Street, im fünften Stock, Hinter-haus. Wir zahlten einem Schneider namens Lefkowitz zweiDollar die Woche, damit er uns in seinem Wohnzimmerschlafen ließ. Mama nahm Kissen vom Sofa und legte sieauf zwei knarrenden Holzkisten aus. Tagsüber arbeitetesie für Mr Lefkowitz, schnitt zusammen mit zwei weiterenFrauen im vorderen Zimmer, inmitten einer Wolke wirbeln-der Fasern, Muster aus.

Wenn Papa nicht gerade unterwegs war, arbeitete auch erfür Mr Lefkowitz. Mit einem schweren Bügeleisen, das auf

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dem Küchenherd erhitzt wurde, plättete er Hemden. Wenndas heiße Metall auf der Baumwolle zischte, roch es wie an-gebrannte Vanille. Ich liebte diesen Geruch. Jahre späterversuchte ich, ihn in unserem Labor nachzubilden.

Meine Eltern arbeiteten in einem Abstand von zwei Me-tern. Und dennoch redeten sie nicht miteinander.

Nach Amerika zu gehen war nämlich überhaupt nichtder Plan gewesen.

In der Nacht, in der wir aus unserem kleinen Dorf Wisch-new flohen, nähte mir meine Mutter zweihundert Rubelins Futter meines Mantels. Einen Teil hatte sie selbst ange-spart, den Rest hatte ihr Bruder, mein Onkel Hyram, ausSüdafrika geschickt. Eine kleine Geheimtasche, von Mamafabriziert, direkt unter der Achselhöhle. Zweimal stach siesich mit der Nadel, so sehr zitterten ihr die Hände. Wir hat-ten zu viele Geschichten gehört,von Familien, die auf einemWagen gereist waren, nur um ausgeraubt und auf die Straßegeworfen zu werden, liegen gelassen für die Kosaken. In derWoche vor unserer Abreise durften meine Schwestern undich uns auch nicht mehr waschen, damit wir nicht zu appe-titlich aussahen. Mein grauer Filzmantel hatte erst Bella,dann Rose, dann Flora gehört. (Anscheinend kriegte nurSamuel, als er noch lebte, neue Kleider.) Der Filz war sodünn, dass es eher theoretisch als praktisch ein Mantel war.»Wer schaut sich solche Lumpen schon genauer an?«, argu-mentierte meine Mutter. »Wer fleddert ein kleines Kind-chen mit so einem punim?«

Ich war das Baby der Familie, das jüngste Kind in unse-rem ganzen Schtetl. Ich wurde geboren, nachdem der Mobsich verzogen hatte, nachdem die geplünderten Häuser mitBrettern vernagelt, die Scherben aufgefegt und die Blut-flecken mit Essig von den Dielen gewischt worden waren.Und während andere in einem gespenstischen Schockzu-stand durch Wischnew schlichen, störte ich die Stille, wie

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nur ein glückliches Kind es kann, das von alldem gar nichtsmitbekommen hat.

Ich drehte Pirouetten, brüllte, lachte und vergaß dabeiganz, mir die Hand vor den Mund zu halten, wie Mamaes mir gesagt hatte. Ich lief in unserem Garten herum undsang mäandernde kleine Liedchen vor mich hin, die ichselber erfunden hatte. Die Töne sprudelten nur so aus mirheraus: »Der Frosch im Brunnen« und »Ich mag Hühner«sind zwei, die ich mir gemerkt habe. Ich musste einfach sin-gen. Es war, wie mit den Beinen zu schwingen, wenn ich aufeinem Hocker saß.

Bitte, verklagt mich doch: Ich war eben neugierig.»Mama, warum ist unsere Scheune abgebrannt?«, fragte

ich mit heller Stimme. »Warum fehlt Sol ein Arm?« »Wiekommt’s, dass Etta keine Eltern hat?«

Meine Mutter war eine dralle Frau mit einem verheertenHabichtsgesicht. Ein Großteil ihrer Haare war vorzeitiggrau geworden. »Das hab ich von euch«, sagte sie bei jederneuen Strähne und zeigte darauf. Mamas knochige Händewaren gewaltig. Sie schlugen den Teig für kneidlach undrissen widerspenstigen Hühnern die blutigen Federn aus.Sie zogen Becken voller Wasser aus dem Brunnen undschrubbten grimmig jeden Freitagnachmittag erst meineSchwestern und mich, dann unsere Kleider und schließlichunser Leinzeug, bis alles vollkommen rein war.

Binnen einer Sekunde holten diese Hände aus und ver-passten mir einen solchen Hieb, dass ich nicht wusste, wiemir geschah. Bald landeten sie offenbar jedes Mal, wennich den Mund aufmachte, als Klaps auf den Ohren odermit einem Flapp auf meinem Hintern, begleitet von einem»Ich habe gesagt, es reicht, Malka!« Oder »Sei nicht soneunmalklug, Malka!« Oder einfach: »Oy! Du!« Freitagsin der Synagoge brummte Mama den anderen Frauen zu:»Ihr Mundwerk«, und zeigte auf mich, »das bringt unsnichts als tsuris.«

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Von unserer Reise aus Russland hinaus habe ich sehr wenigeErinnerungen, nur dass ich auf einem Wagen unter einerLadung Kohlköpfe lag. Mama hatte mich in den trauri-gen grauen Filzmantel gepackt, als wäre er eine Rüstung.»Greift jemand nach deiner Tasche, dann machst du einsolches geschrei, wie sie’s noch nie gehört haben, bubeleh.Lass niemanden an den Mantel, nicht mal Papa, verstehstdu?«

Ich nickte. Meine Mutter nannte mich selten bubeleh. Ichfühlte mich als etwas ungeheuer Besonderes, doch gleichnachdem sie meinen Kragen gerichtet hatte, runzelte siedie Stirn. »Mit so einem Gesicht kriegst du womöglich nieeinen Mann ab. Aber wenigstens kannst du dir dein großesMundwerk zunutze machen.«

Männer an Kontrollpunkten mit Laternen scheuchtenuns in wütendem Flüsterton herum. Ich stellte mir vor,wie an jeder Biegung Räuber und Kosaken warteten, umaus dem Wald hervorzuspringen, und so hielt ich den gan-zen Tag den Mantel fest um mich gezogen, während ich imKopf übte, ein solches geschrei zu veranstalten, wie die Weltes noch nie gehört hatte. Aber wo nun das gesamte magereVermögenmeiner Familie unter meiner Achsel steckte,wag-te ich in Wahrheit gar nicht zu singen, zu summen oderauchnur etwas Lautes zu sagen.

Als wir dann – Tage, vielleicht auch Wochen später – end-lich in Hamburg eintrafen, setzten wir uns auf den Bänkenin der Abfertigungshalle des Hilfsvereins und warteten. Ichhabe eine vage Erinnerung an Schlafsäle, an endlose, trost-lose Flure. Eingepferchtes Chaos. Angst. Und, oh!, dermenschliche Gestank! Jeder benahm sich wie ein Bettlerund wurde auch so behandelt. Ich sage euch: Ich kenneMilchkühe in Vermont heutzutage, die werden besser be-handelt. Aber damit will ich gar nicht erst anfangen.

Eines Nachmittags kam mein Vater mit einem Stück Pa-pier, das mehrere Stempel trug, zu unserer Bank zurück.

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»Komm«, befahl meine Mutter. Sie marschierte mit mir aufden Abort und verriegelte die Tür. »Arme hoch«, befahl sie.Der Gestank war unerträglich. Sie schälte mich aus meinemkratzigen, staubigen Mantel und tastete ihn ab. Die Rubelwaren nicht mehr da. Jemand musste mich im Schlaf bestoh-len haben!

Doch Mama griff tiefer ins Futter und förderte schließ-lich die feuchten, zerknitterten Scheinezutage. Während siezählte und dann noch einmal zählte, stieß ich stolz die Luftaus.

»Was?« Sie sah mich böse an. »Soll ich der Sonne etwa je-den Morgen applaudieren, dass sie aufgeht?«

Sie entriegelte die Tür und deutete auf den Hof. Von dortkam das Gekreisch anderer Kinder. »Geh«, seufzte sie.»Jetzt kannst du so viel Rabatz machen, wie du willst.«

Der Plan war, nach Kapstadt zu fahren. Onkel Hyramhatte im Transvaal zusammen mit einigen Vettern aus Vilni-us eine Kurzwarenhandlung. Onkel Hyram war anschei-nend ein sehr frommer Mann. Vor den Pogromen hatte erstudiert, um Rabbi zu werden. Ich war ihm nie begegnet,aber Bella sagte, er rieche wie gekochte Zwiebeln, und Rosesagte, er habe ein Zucken am linken Auge, weswegen manmeine, er zwinkere einem die ganze Zeit zu. Papa schiensich nicht viel aus ihm zu machen. Er bezeichnete ihn immerals »dieser shmendrik«. Doch Onkel Hyram schrieb Briefeund schickte fleißig Geld. Kommt nach Südafrika, so G-ttwill, wir können Dich als Buchhalter einstellen, Tillie alsSchreiberin. Hier gibt es Möglichkeiten genug.

Kapstadt, Kapstadt – dieser Name ging mir im Kopfherum. Heute hat man Atlanten, Fernseher und Biblio-theken. Aber als ich klein war, besaß niemand in unseremSchtetl einen Globus oder auch nur eine Landkarte. Keinemeiner Schwestern hatte ein Schulbuch.Wowar dieses »Süd-afrika«? Niemand wusste es. Als meine Familie mit demPapierkram und unseren ganzen Ersparnissen zum Schiffs-

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büro ging, die kostbaren Rubel und Rands zu einem ex-orbitanten Kurs in Deutsche Mark getauscht – diese preu-ßischen gonifs, schimpfte Mama –, führte uns ein Mannzu einer riesigen ausgebleichten Landkarte, die an dieWand geheftet war. Das war mein erster Blick auf die grö-ßere Welt: eine Ansammlung von Kringeln und Klecksen,schmuddelig von den Fingerabdrücken Tausender Verkäu-fer und Auswanderer. Hellblau waren »Ozeane«, hellpinkwar »Land«, »Nationen« waren limonengrün umrandet.Der Mann zeigte auf einen abgewetzten roten Stern mittenauf der Karte. »Das ist Hamburg«, erklärte er. Dann fuhr ermit dem Finger zu einem winzigen schwarzen Pünktchenganz unten. »Und da ist euer Kapstadt.«

»Da fahren Sie hin?«, fragte Papa.Der Mann schien verblüfft. »O nein. Ich fahre nach Ame-

rika«, sagte er mit nicht geringem Stolz. Er zeigte auf einenPunkt, der noch weiter weg schien als Südafrika, aber aufgleicher Höhe wie Hamburg lag. »Milwaukee.«

Amerika: Milwaukee. New York. Pittsburgh. Chicago.Von dem Augenblick an, als wir in der Abfertigungshalleeingetroffen waren, geisterten diese Namen als ehrfürchti-ges Flüstern durch die Menge. Und dann hörten wir auchdie Gerüchte. A-MEH-ri-ka. Das »goldene Medina«, nann-ten es manche Juden und schnatterten verzückt von Ame-rikas Pflastersteinen aus vierundzwanzigkarätigem Gold,den Flüssen aus Milch und Honig. Die Schifffahrtsgesell-schaften stellten große Werbetafeln auf, die luxuriöse Par-tys an Bord ihrer Schiffe zeigten, auf denen die Passagierezu eineramerikanischen Fahne fuhren, die über einem Was-serfall aus Goldmünzen flatterte. Anscheinend wollten alleaußer uns in dieses A-MEH-ri-ka. »Da kriegt man kos-tenlos Land«, sagte einer. »Meine Schwester schreibt, dasses dort Bäume gibt, von denen es Äpfel regnet«, sagte einanderer. »Sie lebt an einem Ort namens Connecticut.« Undein weiterer teilte uns mit: »Man geht von Bord, und sie

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stellen einen vom Fleck weg ein. Nach einem Jahr ist manreich.«

Meine Mutter hingegen tat das alles als schlichten Blöd-sinn und Wunschdenken ab. »Diese meshuggenehs, waswissen die schon«, grollte sie. »Seit wann muss man dennnicht arbeiten? Die sind wie verliebte Dummköpfe.«

So wurden sechs Fahrscheine nach Kapstadt gekauft, zu-sammengefaltet und sorgsam in die kleine Geheimtasche imFutter meines Mantels gesteckt. Ich war zur Brieftasche derFamilie geworden.

Kapstadt, Kapstadt.Drei Tage vor unserer Abreise wachte meine Schwester

Rose weinend auf. Sie war, wie ich fand, eine Meckerliese.Blass und zitternd, jammerte sie ständig wegen ihres ner-vösen Magens, ihres Ausschlags von der Sonne, ihrer zartenKonstitution. Sie war älter als ich und hübsch wie eine Por-zellantasse: Ich begriff nicht, warum sie ständig alle Auf-merksamkeit auf sich ziehen musste. »Mama«, schluchztesie und fuhr in Panik mit dem Kopf herum. »Ich kann nichtssehen. Alles ist so verschwommen.«

Binnen Stunden kriegten auch Bella, Flora und meineMutter nicht mehr die Augen auf. Sie versuchten es zu ver-bergen, indem sie so taten, als wäre ihnen kalt, und sich denSchal tief in die Stirn zogen, doch auf ihren rosafarbenen,nässenden Lidern bildete sich schon bald eine glitzerndeKruste. Sie kniffen die Augen zusammen und stolpertenjämmerlich herum. Rose stöhnte. Flora weinte. AndereAuswanderer in der Halle rückten schnell von uns wegund machten einen großen Bogen um uns. Vielleicht wares einer von ihnen, der petzte, zugetraut hätte ich es ihnen.Jedenfalls erschienen Auswanderungsbeamte und stecktenmeine Mutter und Schwestern in Quarantäne. »Bindehaut-entzündung«, erklärte der Arzt. Unsere Namen wurdenvon der Passagierliste gestrichen.

»Niemand mit einer ansteckenden Krankheit darf an

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