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Leseprobe Traumland und Zuflucht Heinrich Mann und Frankreich. Buddenbrookhaus-Katalog Mit zahlreichen Abbildungen © Insel Verlag insel taschenbuch 4254 978-3-458-35954-8 Insel Verlag

Insel Verlag - suhrkamp.de · rechnen muss. Thomas Johann Heinrich Mann wurde 1840 geboren und begann 1855 eine Lehre in der väterlichen Fir-ma. Die gewünschte Ausbildung im Ausland

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Leseprobe

Traumland und Zuflucht

Heinrich Mann und Frankreich. Buddenbrookhaus-Katalog

Mit zahlreichen Abbildungen

© Insel Verlag

insel taschenbuch 4254

978-3-458-35954-8

Insel Verlag

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Für Heinrich Mann (1871-1950) war Frankreich das Land seinerTräume und Visionen, für ihn verkörperte es den idealen Gegenpolzum reaktionären wilhelminischen Deutschland. Doch kannte erFrankreich vor allem aus Büchern und Zeitungen, seine erste Reisedorthin unternahm er erst spät: Er war schon 53 Jahre alt und hatteseine wichtigsten Werke bereits geschrieben. Es war zeitlebens dieVorstellung von Frankreich, die seine Ideen und seine Selbststilisie-rung als Mensch und Autor prägte.

1933 suchte er an der Côte d’Azur Zuflucht, doch auch von dortwurde er vertrieben und musste 1940 unter dramatischen Umstän-den in die USA fliehen. An der Verklärung Frankreichs und der Rolleder Literaten dort hat er dennoch bis zuletzt festgehalten. Vor allemaber hat er sich schon früh für die deutsch-französische Verständi-gung eingesetzt – das ist sein eigentliches Vermächtnis.

Der Bedeutung des Frankreich-Bezugs in Leben und Werk Hein-rich Manns geht der erfahrene Biograf Manfred Flügge in diesemreich bebilderten Band erstmals nach.

Manfred Flügge lebt als freier Autor in Berlin. Zuletzt erschien imInsel Verlag: Muse des Exils. Das Leben der Malerin Eva Herrmann.(2012)

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insel taschenbuch 4254Manfred Flügge

Traumland und Zuflucht

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MANFRED FLÜGGE

Traumland undZufluchtHEINRICH MANN UND FRANKREICH

Mit zahlreichen Abbildungen

Insel Verlag

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Buddenbrookhaus-KatalogeHerausgegeben im Auftrag der Kulturstiftung Hansestadt LübeckHeinrich-und-Thomas-Mann-Zentrumvon Holger Pils.

Umschlagabbildung: Heinrich Mann im Jahr 1930,Foto: Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin

Erste Auflage 2013insel taschenbuch 4254Originalausgabe© Insel Verlag Berlin 2013Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie,Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigungdes Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischerSysteme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Vertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch VerlagUmschlaggestaltung: Michael HagemannSatz: Hümmer GmbH,WaldbüttelbrunnDruck: CPI – Ebner & Spiegel, UlmPrinted in GermanyISBN 978-3-458-35954-8

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INHALT

Zweite Heimat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11Vorahnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13Erste Schritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15Paris – verfehlt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19Reiz der Symbole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24Sackgasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27Zwei Wege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35Der Essayist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40Lektüren und Lektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 44Entdeckung von Nizza . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47Private Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52Bühnen-Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55Deutsche Krisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58Im Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61Bruderkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63Im Frieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68Erkundung von Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . 74En français s’il vous plaît . . . . . . . . . . . . . . . . 85Der Mittler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87Andere Engel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99Abreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104Utopie und Exil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109Hass und Hoffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117Der Aktivist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121Nelly in Nizza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135Schreiben und Retten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141Vertreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151Ausreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160Rückblende aus Hollywood . . . . . . . . . . . . . . . 170

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Erträumte Vereinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . 175Abschied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177Was bleibt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182

Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

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»Mir hat Frankreich mein Leben langGutes gegeben.«

Heinrich Mann 1948.

»Für Frankreichkann man nur Liebe undBewunderung empfinden.«

Thomas Mann an Heinrich Mann 1936.

»N’est-ce pas à l’étranger que vonttous nos rêves?«

Gustave Flaubert 1846.

Für Viviane, Daniel und Ina

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ZWEITE HEIMAT

»Man kann in einem Lande geboren werden und Kind sein,sich dieser Luft und diesem Horizont verbunden fühlen wieder Baum im Garten, zwischen sich und den Menschen um-her keinen Unterschied machen: und allmählich steigen den-noch Zeichen herauf, dass man anders ist als die meisten;dass die Sprache, mit der man aufwuchs, noch nicht die ist,in der man sein Leben lang sich ausdrücken soll; dass hinterdiesem Land, nie gesehen und dunkel, doch schon im eige-nen Herzen angekündigt, eine zweite Heimat wartet.«

Als der 35-jährige Heinrich Mann diese Sätze in einer Buch-besprechung schrieb, galten sie längst für ihn selbst. Seinezweite Heimat glaubte er in Frankreich zu finden, die Spra-che seiner Zuneigung wurde das Französische. Die Herkunftder Wahlheimat aus einem Traum, einem Herzenswunsch,darf man nie vergessen, sie ist allen Äußerungen HeinrichManns über Frankreich beigemischt.

Reale Erfahrungen in diesem Land machte er sehr spät inseinem Leben, und auch dann nur begrenzt. Das mindert denWert seiner Urteile über die französische Gesellschaft, überfranzösische Autoren, über die französischen Zustände all-gemein. Es mindert nicht die Bedeutung Frankreichs für seinLeben und Schreiben.

Die rosige Vision von Frankreich mit seiner republikani-schen Staatsform, der Tradition von Freiheit und Menschen-rechten, der hohen Geltung der Literatur, gehörte zu seinerPersönlichkeit als Mensch und als Autor. Als Gegenbild recht-fertigte sie sich in der Periode der deutschen Katastrophen,die er vorausgeahnt und dann durchlitten hat. Diese Visionwurde in seinen letzten 15 Jahren, im Exil, im Kampf gegen

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Hitlerdeutschland, ergänzt um ein positives Bild der Sowjet-union, für ihn wahrhaft ein nie gesehenes und dunkles Land,über das er gleichwohl ausgiebig schrieb und sprach.

Dass Frankreich schließlich zum Exil wurde, machte diebesondere Pointe dieses Lebens aus; seine Tragik lag darin,dass er aus diesem Paradies-Ersatz durch den Krieg vertrie-ben wurde. Sein zweites Exil in Amerika glich eher einemAlptraum.

Der Frankreich-Bezug erweist sich als Schlüsselmomentfür Person und Werk,und er zieht sich durch seine ganze Exis-tenz. Es ist die Geschichte einer Fernliebe, einer geliebtenFerne, mit der sich schließlich eine unerwartete Annäherungergeben hat, ohne dass der Charakter der traumhaften Wahr-nehmung verloren ging. Doch wenn es auch ein Traum war –oder vielleicht gerade deshalb –, ist es eine literarisch pro-duktive Beziehung geworden.

Real und von bleibender Bedeutung war seine Hoffnung,dass Deutschland am französischen Beispiel genesen könnevon Hass,Wahn und Dünkel, von Untertänigkeit, Aggressivi-tät und Lustfeindschaft. Der Träumer und Utopist HeinrichMann wurde zu einem Vorläufer der deutsch-französischenAussöhnung. Dieses Ziel hat er sich früh zu eigen gemachtund öffentlich vertreten. Er versuchte, ein Mittler zu sein ineiner Zeit, in der kaum anzunehmen war,dass dieser Wunsch-traum je in Erfüllung gehen könnte. Frankreich als unseren»natürlichen Freund« anzusehen, ist Heinrich Manns eigent-liches Vermächtnis.

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VORAHNUNGEN

Am Anfang standen in der Familie überlieferte Erinnerungenan die Franzosenzeit von 1806 bis 1813. Denn auch Lübeckhatte seine französische Geschichte. Während der napoleo-nischen Besatzung gehörten die Hansestadt und ihr Umlandals »Arrondissement Lübeck« zum Département Elbmündun-gen, auf Französisch »Bouches de l’Elbe«, als Teil des »Kö-nigreichs Westphalen«.

In der literarischen Verwandlung der Familiengeschichte,in Thomas Manns Roman Buddenbrooks, findet sich vonden ersten Zeilen an eine sonderbare Sprachmischung ausPlattdeutsch und Französisch. Es wird von der Tätigkeit derFirma Buddenbrook als Heereslieferant gesprochen, für dieFranzosen wie für die Preußen. Ähnlich dürfte die FirmaMann mit Heu und Hafer gehandelt haben. Das Motiv desFutterhandels für die französischen Heere taucht im literari-schen Werk von Heinrich Mann verschiedentlich auf.

In einem Tischgespräch im Hause Buddenbrook geht esdarum, wer Napoleon leibhaftig gesehen habe, und es wirdeine Anekdote aus Danzig erzählt, in der es heißt, die Deut-schen liebten die kleinen Napoleons, also die Goldstücke,mehr als den großen Napoleon. Daran knüpfen sich politi-sche Gespräche über die Juli-Monarchie und den französi-schen Konstitutionalismus – Betrachtungen von ansonstenUnpolitischen . . .

Auch wenn sich die Erinnerung an die Franzosenzeit undder Gebrauch der französischen Sprache nach 1848 in derFamilie verflüchtigt hat, etwas davon dürfte geblieben sein.Die französische Sprache spielt – auch im Roman – im Pen-sionat von Sesemi Weichbrodt eine Rolle, denn bei ihr ar-beitet eine Französin, Mademoiselle Popinet. Vorbild für Se-semi war eine Frau mit französischem Namen und wohl auch

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französischer Herkunft, Therese Bousset, Leiterin und Inha-berin eines Mädchenpensionats in Lübeck, in dem Julia daSilva Bruhns unterrichtet wurde, die Mutter von Heinrichund Thomas Mann, im brasilianischen Paraty als Tochter ei-ner ausgewanderten Lübecker Familie geboren.

Zur mythologischen Vorgeschichte von Heinrich MannsFrankreich-Bezug gehört eine Reise des Vaters, aber hierbeimag es sich auch um eine der vielen erfundenen Erinnerun-gen handeln, mit denen man bei Heinrich Mann immerrechnen muss. Thomas Johann Heinrich Mann wurde 1840geboren und begann 1855 eine Lehre in der väterlichen Fir-ma. Die gewünschte Ausbildung im Ausland erhielt er 1858in London und 1859 in Amsterdam. Zwischendurch warer – vielleicht – für eine Kur nach Pau in die Pyrenäen gefah-ren.

Bei Heinrich Mann heißt es in einem Artikel über seineeigene Reise nach Pau im Jahr 1927, sein Vater habe sich um1860 in den Pyrenäen von einer Krankheit erholt; anders-wo wird die Jahreszahl 1858 genannt. Nach Pau und in ver-schiedene kleine Orte am Hang der Pyrenäen kamen damalsin der Tat Gäste zu Höhen- oder Thermalkuren, darunter be-sonders viele Engländer. Vater Mann mag während seinerLehrzeit in London von Pau gehört haben, in den Gästelis-ten der Stadt ist sein Name bislang allerdings nicht nachzu-weisen.

Der erste literarische Text von Heinrich Mann trägt den Ti-tel Apart. Graf Anatole Vernier war »von Jugend auf ein et-was sonderbarer Mensch – apart nannte man ihn«. Er hatdie oberflächliche Bildung, die seinem Status als »schönstemKavalier von Paris« geziemt. Er lebt von der Aussicht auf eingroßes Erbe. Er überlässt sich dem Strom des geselligen Le-

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bens und verstrickt sich in Liebeshändel, die mit einem Duellenden, einem »amerikanischen«, wie es heißt, das aber keinDuell ist, sondern ein Sturz aus dem Heißluftballon auf dieChamps-Élysées. »Jedenfalls ein sehr aparter Tod!« Anatoleist kein Eroberer, eher ein dekadenter Snob. Paris ist die Ku-lisse seiner Träume, doch es sind Träume vom stilvollen Un-tergang.

Das erste Buch, das Heinrich Mann als Kind beeindruckthatte,war ein Geschenk der Großmutter gewesen, eine Über-setzung der Kunstmärchen von Charles Perrault aus dem17. Jahrhundert, die im Original Les contes de ma mère l’oyehießen und auf Deutsch Gänsemütterchens Märchen. DiesesBuch habe er beim Spielen vertrödelt, schrieb Heinrich Mannspäter, andere Kinder hätten es an sich genommen und erhabe keinen Ersatz dafür haben wollen. Er bewahrte lieberden Schmerz über diesen Verlust. Aber vielleicht war auchdas nur ein Märchen in seiner Erinnerung.

ERSTE SCHRITTE

Französisch gelernt hat Heinrich Mann auf dem Gymnasiumvon Lübeck, dem Katharineum, einer der fortschrittlichs-ten Schulen in Deutschland. Im altsprachlichen Zweig, denHeinrich besuchte, gab es viel Latein und Griechisch, bei Pro-fessor Curtius, dem Modell für »Professor Unrat«, hingegennur zwei Stunden Französisch pro Woche; auf dem praktischorientierten Realschulzweig waren es vier Stunden. Dem Un-terricht zugrunde gelegt wurde die Elementar-Grammatikdes Französischen von Karl Julius Ploetz.

Heinrichs Zeugnisse waren eher mittelmäßig, oft fehlte erwegen Krankheit, die Noten im Französischen waren meis-tens gut. Man schrieb Diktate oder machte Übersetzungen

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ins Deutsche; bis zur Lektüre anspruchsvoller Texte war ernicht gekommen, da er die Schule nach Obersekunda wegenschlechter Noten in Mathematik und wegen allgemeiner Un-lust verließ. Die Klassiker des 17. Jahrhunderts wurden erstab der Unterprima gelesen, wie man in den Jahresberichten1871-1889 des Katharineums nachlesen kann. Auf den jähr-lichen Feierlichkeiten zum Abschluss des Schuljahres im Aprilwurden auch Texte in französischer Sprache deklamiert, Sze-nen von Corneille, Racine oder Molière oder Gedichte undLieder von Béranger. Für zwei Wochenstunden Unterrichtwaren seine praktischen Kenntnisse des Französischen er-staunlich gut.

Zur französischen Literatur fand er ohne die Schule. Einewichtige Rolle für seine Orientierung spielte um 1890 Hein-rich Schunck (1816-1896), eine hanseatische Persönlichkeit,Kaufmann und Bildungsbürger. Der Jugendfreund des aus Lü-beck stammenden Dichters Emmanuel Geibel gehörte lite-rarischen Vereinen und Stiftungen an,war belesen und wuss-te über neue literarische Trends in Frankreich Bescheid. EinMentor ist er vor allem für Heinrich Manns Klassenkame-rad Ludwig Ewers gewesen. Heinrich hat Schunck respektiertund großen Wert gelegt auf das Urteil des »alten Literaturken-ners«,dem er frühe Schreibversuche zukommen ließ. Schunckhat die anti-realistische Tendenz des jungen Heinrich Mannentscheidend beeinflusst.

Von Heinrich Mann gibt es kein Tagebuch, nur unregelmä-ßig geführte Notiz- und Arbeitshefte.Von seiner persönlichenund literarischen Entwicklung zeugen vor allem seine Briefean Ludwig Ewers, nachmals Journalist und Romancier (DieGroßvaterstadt). Nachdem Heinrich Mann Lübeck verlas-sen hatte und sich ab 1890 in Dresden als Lehrling im Buch-handel, ab 1891 in Berlin beim S. Fischer Verlag versuchte,

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schrieb er eifrig und endlos von seinen Liebesabenteuern, Lek-türen und literarischen Ideen.

Seine frühesten Ansichten waren traditionell deutsch. Ineinem Brief an den Vater vom November 1889, den er eine»förmliche literarische Beichte« nannte, wandte er sich ge-gen »französische Zoten« und überlegte, wie dem »nationa-len Drama« in Deutschland aufzuhelfen sei. Immerhin kannteer den Namen Zola, der, wie er wisse, den Beifall des Vatershabe. Thomas Mann hat berichtet, der Vater habe Zolas Ro-mane im Original gelesen, dies aber durch neutrale Buchum-schläge zu verbergen getrachtet, weil der Autor als anstößiggalt.

Wie reserviert Heinrich Mann anfangs den französischenEinflüssen gegenüberstand, belegen die Briefe an Ewers, indenen er die »Reinheit« der deutschen Dichter verteidigteund Seitenhiebe austeilte auf das unmoralische Frankreichsowie auf die »Französiertheit« bei deutschen Nachahmern.Das war das Echo damals gängiger nationalistischer Vorur-teile.

Neben Fontane, Liliencron und Paul Lindau hatte er zweideutsche Idole, die auf unterschiedliche Weise einen starkenFrankreich-Bezug hatten: den Dichter Heinrich Heine undden Philosophen Friedrich Nietzsche. »Der einzige Dichter,der so glücklich ist, alle meine Ansprüche zu erfüllen, ist Hein-rich Heine«, schrieb Mann im März 1890 an Ewers. Er liebeihn als Dichter und könne ihn als Menschen trotz seinerSchwächen nicht verachten, »denn seine Schwächen entstam-men heißem Blut und kühner Phantasie«. Ab Ostern 1891spielte für zwei Jahre die Nietzsche-Lektüre eine wichtigeRolle. Für Heinrich war er »der große Moderne, zu dem mei-ne Wünsche emporranken«. Dass ihn Nietzsche nachhaltigbeeinflusst hätte, kann man aber nicht behaupten.

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1891 entdeckte er die französische Literatur als Inspirations-quelle; da war er gerade zwanzig. Es war auch ein persön-liches Schicksalsjahr, denn im Herbst starb der Vater, nur51 Jahre alt.

Als Erbe hatte Heinrich den Vater früh enttäuscht, für dieLeitung der Familienfirma kam er nicht in Betracht. Nochvor der Operation, die er nicht überleben sollte, hatte der Se-nator seine Angelegenheiten geordnet: Die Firma wurde auf-gelöst, das Vermögen gut angelegt, Frau und Kinder wurdenmit Renten und Vormundschaft bedacht. Gern zitiert wirdder Passus aus dem Testament, nach dem die Mutter den so-genannten literarischen Neigungen ihres Sohnes Heinrichentgegentreten solle. Der Vater berief sich als mahnendesBeispiel auf Shakespeares King Lear. Das Schreiben im Na-men der Literatur zu verbieten war höchst ambivalent –und im Fall der Söhne Heinrich und Thomas zwecklos. Dasssich Heinrich auf dem Totenbett mit dem Vater versöhnt unddieser dessen literarischen Ambitionen gebilligt habe, wie eres selbst erzählt und gezeichnet hat, dürfen wir als privateFabel ansehen.

Ein Brief an Ludwig Ewers vom 23. Januar 1891 markiertden Beginn der literarischen Auseinandersetzung HeinrichManns mit der französischen Literatur. Der erste französi-sche Autorenname, der in seinen Briefen auftauchte, warÉmile Zola, und der angehende Autor, der kleine Erzählun-gen in diversen Zeitungen unterbrachte, wurde in LübeckmitdemspöttischenAusdruck»der jungeZola«bedacht,dochdas missfiel ihm, denn er wollte eben nicht als Realist gel-ten.

Auf Paul Bourget hat ihn Schunck hingewiesen. Als Hein-rich Anfang 1891 Bourgets Roman Le disciple las, zwei Jahrezuvor in Paris erschienen,war es ein Erweckungserlebnis und

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ein Moment der Selbsterkenntnis. Hier entdeckte er eineliterarische Methode, an der er sich schulen wollte, und eineGestalt, in der er sich wiedererkannte. Paul Bourget, 1852 inAmiens geboren und in Straßburg aufgewachsen, war ein an-gesehener, aber kein bedeutender, vor allem kein fortschritt-licher Autor. Um 1890 stand er in Paris auf dem Höhepunktseines Ansehens, von einem Modeerfolg getragen.

Sein Roman erzählt die Geschichte eines nihilistischen Phi-losophen. Dieser hat einen jungen fanatischen Anhänger, derseine Ideen nachleben will und dabei eine Kette von Unheilerzeugt. Vor Gericht muss der Philosoph seine Lehre erläu-tern und verteidigen, bei Gefängnisbesuchen führt er den Dis-put mit seinem extremen ›Schüler‹ fort. Es ist eher ein philo-sophischer Dialog über Gut und Böse und über die Verant-wortung von Schriftstellern als ein Roman. Literatur ist hierals angewandte Psychologie verstanden. Diese Auffassungvom Roman als Analyse-Instrument, die Bourget in einemVorwort erläutert, wie auch die Gestalt des »haltlosen« undverantwortungslosen disciple waren es, die den jungen Hein-rich Mann beeindruckten. Er selber hatte im Herbst 1890in Dresden eine Novelle mit dem Titel Haltlos geschrieben,in der er seine eigene erotische, moralische und menschlicheOrientierungslosigkeit spiegelte.

PARIS – VERFEHLT

Im August 1891 war Heinrich Mann als Volontär in den Fi-scher Verlag eingetreten. Dieser war gerade zum führendendeutschen Literaturverlag aufgestiegen, und zwar in der neu-en Hauptstadt Berlin, nicht in der traditionsreichen Bücher-stadt Leipzig. Fischers Hausautor Gerhart Hauptmann warder Star der Stunde. Heinrich Mann sollte im kaufmännischen

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Sektor ausgebildet werden. Die Zeit im Verlag sah Heinrichnicht als Chance, sondern als lästige Pflicht an. Er wusstenicht, dass Zola bei Hachette angefangen und viel über dasliterarische Marketing gelernt hatte, was ihm später als Au-tor zugutekam. Überdies missfiel Heinrich Mann die natura-listische Tendenz, die bei Fischer gepflegt wurde.

Die Lehrzeit in Berlin endete früher als gedacht im Januar1892: Heinrich Mann erlitt einen Blutsturz und musste inein Sanatorium eingeliefert werden. Ende Februar schickteman den Lungenkranken zur Kur nach Wiesbaden. Seine fran-zösische Lektüre, seine Schreibversuche und seine Korres-pondenz mit Ewers führte er unterdessen fort.

An einen ›bürgerlichen‹ Beruf war nach der Krankheit undallmählichen Genesung nicht mehr zu denken. Es blieb nurdie prekäre Existenz des freien Schriftstellers. Dafür freilichkannte er kein Vorbild, er musste ein Lebensmodell finden,tastend, irrend,umwegreich,und wurde seinerseits zum Vor-bild für den Bruder Thomas,wenn auch eher als abschrecken-des Beispiel. Heinrich sollte auf Dauer ein Leben der Impro-visation und der Heimatlosigkeit führen, eine Hotelexistenz,ohne Familie, ohne Haus, ohne Verfassung, wie Thomas esnannte; materiell abgesichert war er durch eine kleine Rente,doch bedurfte er zusätzlicher Einkünfte, um seine anspruchs-volle und unstete Lebensweise zu gewährleisten. Für ihn galtwohl der Satz aus seinem ersten Roman (In einer Familie),dass die häufige Ortsveränderung so etwas wie ein Betäu-bungsmittel sei. Allerdings blieb das eigentliche Traumlandzunächst unerreichbar, als wäre es ihm wichtiger, den Traumrein zu bewahren, statt ihn zu leben.

Das erste Halbjahr 1892 verbrachte er in Kliniken und Sana-torien. Danach begann eine Zeit der Suche und des Reisens.Im Spätsommer 1892 schrieb er aus dem Café Broglie in

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