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Leseprobe Gute Besserung! Geschichten und Gedichte zum Gesundlesen Ausgewählt von Günter Stolzenberger © Insel Verlag insel taschenbuch 4095 978-3-458-35795-7 Insel Verlag

Insel Verlag - suhrkamp.de · Werkrank ist,solltewenigstens etwasdavonhaben.DaßdieTage imBett langsind,kannauchvonVorteilsein.VorallemfrLeute,die gernelesen

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Leseprobe

Gute Besserung!

Geschichten und Gedichte zum Gesundlesen

Ausgewählt von Günter Stolzenberger

© Insel Verlag

insel taschenbuch 4095

978-3-458-35795-7

Insel Verlag

Wer krank ist, sollte wenigstens etwas davon haben. Daß die Tage im Bettlang sind, kann auch von Vorteil sein. Vor allem f�r Leute, die gerne lesen.So mancher hat sich n�mlich schon gesund gelesen. Besonders gut funktio-niert das, wenn B�cher zum Lachen animieren.

Es darf gelacht werden in diesem Buch, ausgiebig und herzhaft! Das istwichtig, denn Lachen ist ja bekanntlich immer noch die beste Medizin.

Nat�rlich kommen auch Fachleute zu Wort. Medizin ist eine ernste An-gelegenheit. Außer �rzten geben Schriftsteller und Philosophen und nichtzuletzt professionelle Kranke wertvolle Hinweise f�r den Umgang mitUnp�ßlichkeiten aller Art. Christian Morgenstern, Erich K�stner, KurtTucholsky, Max Frisch, Robert Gernhardt und viele andere erz�hlen vonerlebten Krankheiten und �berstandenen, von eingebildeten Krankenund wieder Gesundeten,von �berraschenden Heilungen und sonderbarenHeilmethoden und nicht zuletzt von den heilenden Kr�ften der Literatur.Es geht jedoch nicht nur darum,wie man gem�tlich in einem warmen Bettliegt,w�hrend sich draußen der November einregnet. Es geht auch darum,wie heilsam es sein kann,wenn man endlich mal Zeit findet, sich �ber lan-ge Unerledigtes Gedanken zu machen oder sich auf Dinge zu freuen, dieman in Angriff nehmen wird, wenn es einen erst wieder hat – das Leben,das gelebt sein will.

Dieses Buch ist also,wenn man so will, Medizin f�r den Kopf,von dem jaso vieles abh�ngt – ohne Risiken, aber vielleicht mit Nebenwirkungen . . .

G�nter Stolzenberger lebt als wissenschaftlicher Autor und Herausgeberin Frankfurt am Main und hat bereits zahlreiche Anthologien verçffent-licht. Im insel taschenbuch sind bisher von ihm erschienen: F�r immerund ewig (it 2819), Meer in Sicht (it 2931), Gedichte f�r Kinder (it 3067),Die schçnsten Tiergeschichten f�r Kinder (it 3237), Ringelnatz f�r Boshaf-te (it 3357), Die schçnsten Weihnachtsgeschichten f�r Kinder (it 3442),Mark Twain f�r Boshafte (it 3473).

insel taschenbuch 4095Gute Besserung

Gute BesserungGeschichten und Gedichte

zum Gesundlesen

Ausgew�hltvon G�nter Stolzenberger

Insel Verlag

Umschlagabbildung: Pablo PicassoBouquet de l’Amiti�, Fleurs et Mains, 1958

� Succession Picasso / VG Bild-Kunst, Bonn 2011

insel taschenbuch 4095Erste Auflage 2011

Insel Verlag Berlin 2011� Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 2001

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der �bersetzung,des çffentlichen Vortrags sowie der �bertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages

reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielf�ltigt oder verbreitet werden.

Quellenhinweise am Schluß des BandesVertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Umschlaggestaltung: b�ros�d, M�nchenSatz: H�mmer GmbH,Waldb�ttelbrunn

Druck: CPI – Ebner & Spiegel, UlmPrinted in Germany

ISBN 978-3-458-35795-7

1 2 3 4 5 6 – 16 15 14 13 12 11

Inhalt

Alles wird gut

Mark Twain · Als Tom einmal die Schuleschw�nzen wollte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Michael Ende · Der Scheinriese . . . . . . . . . . . . 17Giovanni di Boccaccio · Mit List und T�cke . . . . . 23Wilhelm Busch · Eine Nachtgeschichte . . . . . . . . 28Harold Courlander · Der Held von Adi Nifas . . . . 29Ludwig Bechstein · Das M�rchen vom Schlaraffenland 31Hermann Hesse · Bewçlkter Himmel . . . . . . . . 35Karl Philipp Moritz · Die B�chse der Pandora . . . . 38

Schçn krankoder Sich legen bringt Segen

Friedrich Nietzsche · Arznei der Seele . . . . . . . . 39Erich K�stner · Wiegenlied f�r sich selber . . . . . . 39G�nter Kunert · Im Winter . . . . . . . . . . . . . . 41Martin Walser · Ich liege . . . . . . . . . . . . . . . 42Marie Luise Kaschnitz · Im Bockshorn . . . . . . . . 47

Wo tut’s denn weh?

Karl Valentin · Beim Arzt . . . . . . . . . . . . . . . 48Friedrich Stoltze · Das Leberleiden . . . . . . . . . . 50Art Buchwald · T�V . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51Michail Bulgakow · Tagebuch eines Kranken . . . . 54Heinrich Spoerl · Bitte recht gr�ndlich . . . . . . . . 56

�ber das Leben oder Irgendwas ist immer

Kurt Tucholsky · Irgendwas ist immer . . . . . . . . 62Max Frisch · Ein wirkliches Leben . . . . . . . . . . 65Heimito von Doderer · Lebensfreude . . . . . . . . . 66Ina Seidel · Lebe intensiv! . . . . . . . . . . . . . . . 66Stefan Andres · Ziel und Sehnsucht . . . . . . . . . . 67Christoph Wilhelm Hufeland · Wie man das Leben

verl�ngert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68Noah Ben Shea · Ein Mann mit einer Laterne . . . . 70Johann Wolfgang Goethe · Eines Menschen Leben . 71Brigitte Kronauer · Ein Mensch, der wohltut . . . . 71Erika Pluhar · Das Leben siegt . . . . . . . . . . . . 72Joachim Ringelnatz · . . . als eine Reihe von guten Tagen 73

Am eigenen Zopf

Gottfried August B�rger · M�nchhausen im Sumpf . 74Hermann Hesse · Schwingungen . . . . . . . . . . . 75Charles Baudelaire · Aufschwung . . . . . . . . . . . 78Ror Wolf · Schurke . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79Arno Plack · Vom Warten . . . . . . . . . . . . . . . 80Emil Cou� · Autosuggestion . . . . . . . . . . . . . 82Leonardo da Vinci · Geduld . . . . . . . . . . . . . 87Johann Wolfgang Goethe · Guter Rat . . . . . . . . 87

Endlich mal Zeit

Peter Bichsel · Die Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . 88Robert Walser · Denke dran . . . . . . . . . . . . . 88Hilde Domin · Auf der andern Seite des Monds . . . 89Kurt Tucholsky · Was machen Menschen, wenn sie

alleine sind? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90Heinrich Spoerl · Ferien vom Du . . . . . . . . . . . 93

Peter Bamm · �ber die Kunst zu warten . . . . . . . 96Franz Hohler · 66 Fragen . . . . . . . . . . . . . . . 98

Das kleine Gl�ck ist �berall

Hans Schiebelhuth · Vorlautes Blau . . . . . . . . . 101Albert Memmi · Die Fr�chte des Friedens . . . . . . 101Friedrich Hçlderlin · Des Morgens . . . . . . . . . . 102Ernst Nowak · Der Regen . . . . . . . . . . . . . . . 103Hilde Domin · Einhorn . . . . . . . . . . . . . . . . 105Robert Walser · Rede an einen Knopf . . . . . . . . 105Christoph Wilhelm Hufeland · Sinnesreize . . . . . . 107Joachim Ringelnatz · Schwebende Zukunft . . . . . 108

Das Veto des Kçrpers

Robert Gernhardt · Mein Kçrper . . . . . . . . . . . 110Albert Memmi · Die Z�rtlichkeiten . . . . . . . . . . 111Webesius · Der Darmst�dter incognito . . . . . . . . 113Ren� Descartes · �ber das Seufzen . . . . . . . . . . 113Eugen Roth · Wunderbalsam . . . . . . . . . . . . . 114Epikur · Kurz und heftig . . . . . . . . . . . . . . . 114Siegfried Lenz · �ber den Schmerz . . . . . . . . . . 115Bernard Seemann · Ein Prinzip des Lebens . . . . . . 118Alain · Denk an die Gegenwart . . . . . . . . . . . . 119

Erstaunliche Sichtweisen

Ernst Penzoldt · In der eigenen Gesellschaft . . . . . 121Rainer Maria Rilke · Die Verwandlung der Drachen 121Georg Christoph Lichtenberg · Hier und jetzt . . . . 125Christian F�rchtegott Gellert · Das Land der

Hinkenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126Robert Walser · Eine Art Gegengewicht . . . . . . . 127

Emile M. Cioran · Beichten durch den Leib . . . . . 129Christian Morgenstern · Reinigung . . . . . . . . . 129Alain · Die Zukunft ist offen . . . . . . . . . . . . . 130

Das Katastrophenprinzipoder Wunder gibt es immer wieder

Margarete von Navarra · Die Frau des Sattelmachers 132Norman Cousins · Das Lachwunder . . . . . . . . . 134Charles de Montesquieu · Dichter im Fieber . . . . . 136Jean-Jacques Rousseau · Die Langeweile des

Wohlbefindens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136Erwin Liek · Der innere Ingenieur . . . . . . . . . . 140Ernst Penzoldt · Mutation . . . . . . . . . . . . . . 141

Vorsicht: Eingebildete Krankheitensind ansteckend!

G�nter Eich · Ode an meinen Ohrenarzt . . . . . . . 142Kurt Schwitters · Frau Meier leidet . . . . . . . . . . 143Peter Altenberg · Sanatorium f�r Nervenkranke . . . 143Sigmund Freud · Flucht in die Krankheit . . . . . . . 145Marcel Proust · Nervçse Naturen . . . . . . . . . . 147Franz Grillparzer · Guter Rat . . . . . . . . . . . . . 151Christoph Wilhelm Hufeland · �berspannte

Einbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152Lily Brett · Hypochondrie . . . . . . . . . . . . . . . 154Georg Christoph Lichtenberg · Ein pathologischer

Egoist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

Von f�hrenden Dichtern empfohlen

Robert Gernhardt · Sei gut zu dir . . . . . . . . . . . 158Walter Benjamin · G�nstige Bedingung . . . . . . . 158

Johann Peter Hebel · Der geheilte Patient . . . . . . 159FranÅois Rabelais · Die Ursach der Beschwer . . . . 162Helmut Qualtinger · Kranken-Spar-Kasse . . . . . . 164Christian Morgenstern · Heilung . . . . . . . . . . . 167Kurt Tucholsky · Rezepte gegen Grippe . . . . . . . 167

Abenteuer auf Station B

Eike Christian Hirsch · Wer nichts hat . . . . . . . . . 171Art Buchwald · Der Bettenberg . . . . . . . . . . . . 173Michail Sostschenko · Die Operation . . . . . . . . 175Thomas Mann · Frau Oberin . . . . . . . . . . . . . 178Ernst Penzoldt · Besuch . . . . . . . . . . . . . . . . 183George Bernard Shaw · Ein Interessenkonflikt . . . . 185

Des Menschen Pille ist sein Himmelreich

Karl Valentin · In der Apotheke . . . . . . . . . . . . 188Karl Julius Weber · Vom Einfluß des Lachens . . . . 190Friedrich R�ckert · Der Apotheker . . . . . . . . . . 192Erich K�stner · Brief aus einem Herzbad . . . . . . . 194Heinz Erhardt · Rezept . . . . . . . . . . . . . . . . 195

Alles f�r die Gesundheit

Francis Bacon · �ber die Pflege der Gesundheit . . . 196Christoph Wilhelm Hufeland · Der t�gliche Luftgenuß 198Friedrich Nietzsche · Hauptursachen . . . . . . . . . 200Alain · Die Kunst, sich wohlzuf�hlen . . . . . . . . . 201Eike Christian Hirsch · Alles f�r die Gesundheit . . . 202Eugen Roth · Vorbeugen . . . . . . . . . . . . . . . 204

Textnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206

Alles wird gut

mark twain

Als Tom einmal die Schuleschw�nzen wollte

Der Montagmorgen fand Tom Sawyer in tr�bseliger Stim-mung. Das war jeden Montagmorgen so – denn da fing wie-der eine Woche langen Leidens in der Schule an. Gewçhn-lich begann er diesen Tag mit dem Wunsch, er h�tte garkeinen Feiertag dazwischen gehabt; das machte es nur nochabscheulicher, sich wieder in Gefangenschaft und Ketten zubegeben.

Tom lag da und �berlegte. Bald verfiel er darauf, sich zuw�nschen, er w�re krank; dann d�rfte er zu Hause bleiben.Hier gab es eine vage Mçglichkeit. Er untersuchte seinenKçrper. Er fand keinerlei Leiden, deshalb forschte er vonneuem. Diesmal glaubte er, Symptome von Leibschmerzenfeststellen zu kçnnen, und versuchte recht hoffnungsvoll,sie zu beleben. Sie wurden jedoch immer schw�cher und ver-schwanden bald ganz. Er �berlegte weiter. Plçtzlich ent-deckte er etwas. Einer seiner oberen Schneidez�hne wak-kelte. Das war Gl�ck; schon wollte er beginnen zu stçhnen,»zur Einleitung«, wie er es nannte, da fiel ihm ein, wenn ermit diesem Argument vor Gericht tr�te, w�rde ihm seineTante den Zahn ziehen, und das t�te weh. Also beschloßer,den Zahn vorl�ufig in Reserve zu halten und weiter zu su-chen. Einige Zeit bot sich nichts, und dann erinnerte er sich,einmal gehçrt zu haben,wie der Doktor von einem gewissenLeiden sprach, das einen Patienten zwei oder drei Wochenans Bett fesselte und wobei man einen Finger verlieren kçnn-te. Deshalb zog der Junge seinen wunden Zeh unter der Bett-decke hervor und hielt ihn hoch, um ihn zu inspizieren.

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Allerdings kannte er die notwendigen Symptome nicht. Im-merhin lohnte sich bestimmt, es darauf ankommen zu las-sen, und so begann er, mit betr�chtlicher Inbrunst zu stçh-nen.

Aber Sid schlief weiter und merkte nichts.Tom stçhnte lauter und bildete sich ein, nun wirklich

Schmerzen im Zeh zu sp�ren.Keinerlei Ergebnis bei Sid.Tom keuchte bereits vor Anstrengung. Er ruhte sich ein

wenig aus, f�llte dann die Brust mit Luft und gab eine Reihebewundernswerter �chzlaute von sich.

Sid schnarchte weiter.Tom wurde �rgerlich. Er sagte: »Sid, Sid!« und r�ttelte

ihn. Diese Methode bew�hrte sich, und Tom begann wiederzu stçhnen. Sid g�hnte, rekelte sich, hob sich mit einemSchnaufen auf den Ellbogen und starrte Tom an. Tom stçhn-te weiter. Sid sagte:

»Tom! He, Tom!«Keine Antwort.»Hier,Tom! Tom! Was ist los,Tom?« Er sch�ttelte ihn und

blickte ihm �ngstlich ins Gesicht.Tom �chzte: »Oh, nicht, Sid. Sch�ttel mich nicht.«»Warum, was ist denn los, Tom? Ich ruf die Tante.«»Nein, laß. Das geht schon nach und nach vorbei, glaub

ich. Ruf niemand.«»Doch, ich muß! Stçhn doch nicht so, Tom, das ist ja

schrecklich. Wie lange ist dir denn schon so?«»Stundenlang. Au! Beweg dich nicht so, Sid. Du bringst

mich um.«»Tom, warum hast du mich denn nicht fr�her geweckt?

Ach, Tom! Ich krieg ne G�nsehaut, wenn ich dich hçr.Tom, was hast du denn bloß?«

»Ich vergeb dir alles, Sid.« (Stçhnen.) »Alles,was du mir jeangetan hast. Wenn ich nicht mehr bin . . .«

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»Ach, Tom, du stirbst doch nicht etwa? Tu’s nicht, Tom,tu’s nicht. Vielleicht . . .«

»Ich vergeb allen, Sid.« (Stçhnen.) »Sag’s ihnen, Sid. UndSid, gib meinen Fensterrahmen und meine ein�ugige Katzedem M�dchen, das neu in die Stadt gekommen ist, und sagihr . . .«

Sid hatte aber schon seine Sachen aufgerafft und war ver-schwunden. Tom litt jetzt wirklich, so pr�chtig arbeiteteseine Einbildungskraft, und sein Stçhnen hatte daher denKlang der Echtheit angenommen.

Sid st�rzte nach unten und rief: »Oh, Tante Polly, kommschnell! Tom liegt im Sterben!«

»Im Sterben!«»Jawohl. Wirklich. Schnell, komm!«»Unsinn! Ich glaub’s nicht!«Aber sie lief nach oben, und Sid und Mary hinter ihr her.

Ihr Gesicht wurde ganz weiß, und ihre Lippen zitterten.Als sie zum Bett kam, stieß sie hervor:

»Tom! Tom, was hast du?«»Oh, Tantchen, ich . . .«»Was hast du denn, was hast du nur, Kind?«»Ach, Tantchen, mein weher Zeh ist abgestorben!«Die alte Dame sank auf einen Stuhl und lachte ein wenig,

dann weinte sie ein wenig, dann tat sie beides gleichzeitig.Das brachte sie wieder zu sich, und sie sagte:

»Tom,was hast du mir f�r einen Schrecken eingejagt. Jetzthçr aber auf mit dem Unsinn und mach,daß du aus dem Bettkommst.«

Das Stçhnen verebbte,und der Schmerz schwand aus demZeh. Der Junge kam sich ein wenig dumm vor und sagte:

»Tante Polly, es hat wirklich so ausgesehen, als ob er abge-storben war, und hat so weh getan, daß mir mein Zahn garnix ausgemacht hat.«

»Dein Zahn, so! Was ist denn mit deinem Zahn los?«

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»Einer ist locker und tut furchtbar weh.«»Na, na, nun fang nicht gleich wieder an zu stçhnen.

Mach mal den Mund auf. Ja, dein Zahn ist wirklich lose,aber daran stirbst du nicht gleich. Mary, hol mir mal einenSeidenfaden und aus der K�che ein brennendes Scheit.«

Tom sagte: »Ach bitte. Tantchen, zieh ihn nich raus. Er tutauch gar nich mehr weh. Ich will tot umfallen,wenn er nochweh tut. Bitte, nich. Tantchen. Ich will doch nich von derSchule wegbleiben.«

»Ach wirklich? Das ganze Theater war also bloß, weil dugeglaubt hast, du kannst von der Schule wegbleiben und an-geln gehen? Tom,Tom, ich hab dich so lieb, und du scheinstes bloß drauf anzulegen, mir mit deiner Ungezogenheit meinaltes Herz zu brechen.«

Mittlerweile waren die zahn�rztlichen Instrumente be-reit. Die alte Dame befestigte ein Ende des Seidenfadensmit einer Schlinge um Toms Zahn und band das andere umden Bettpfosten. Dann ergriff sie das brennende Scheit undstieß es dem Jungen plçtzlich fast ins Gesicht. Schon bau-melte der Zahn am Bettpfosten.

Aber jede Pr�fung bringt ihre Belohnung mit sich. AlsTom nach dem Fr�hst�ck zur Schule ging,war er der Gegen-stand des Neids aller Jungen, die er traf, weil ihn die L�ckein seiner oberen Zahnreihe bef�higte, auf eine neue, bewun-dernswerte Weise zu spucken. Er sammelte ein ganz an-sehnliches Gefolge von Jungen um sich, die sich f�r dieseVorf�hrung interessierten; und einer, der sich in den Fingergeschnitten und bisher im Mittelpunkt der Aufmerksamkeitund Bewunderung gestanden hatte, fand sich plçtzlich ohneGefolge und seines Ruhmes beraubt. Sein Herz war schwer,und mit einer Verachtung, die er nicht empfand, sagte er, essei ja gar nichts, so zu spucken wie Tom Sawyer; ein andererJunge aber sagte: »Die Trauben sind sauer!« Da machte ersich davon, ein entzauberter Held.

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michael ende

Der Scheinriese

Jedermann, der einmal eine W�ste durchreist hat, weiß,daß die Sonnenunterg�nge dort von ganz besonderer Prachtsind. Der Abendhimmel strahlt in allen Farben, vom feurig-sten Orange bis zum zartesten Rosa, Hellgr�n und Violett.

Lukas und Jim saßen auf dem Dach ihrer Lokomotiveund baumelten mit den Beinen. Dabei aßen sie die Reste ausdem Proviantkorb auf und tranken den letzten Tee aus dergoldenen Thermosflasche. »Jetzt gibt’s nichts mehr, bis wirneuen Proviant finden«, meinte Lukas sorgenvoll.

Die Hitze hatte etwas nachgelassen. Es war sogar einleichter Wind aufgekommen, der beinahe k�hl �ber sie hin-strich. Die Luftspiegelungen waren verschwunden, außereiner einzigen,die sich hartn�ckig noch eine Weile zu haltenversuchte. Es war aber nur eine ganz kleine Naturerschei-nung: ein halbes Fahrrad, auf dem ein Igel saß. Es fuhr nocheine Viertelstunde lang etwas verloren in der W�ste umher,dann lçste es sich auf.

Jetzt durften die beiden Freunde ziemlich sicher sein, daßdie eben am Horizont untergehende Sonne die wirklicheSonne war. Und da die Sonne bekanntlich immer im Westenuntergeht, konnte Lukas jetzt ganz leicht bestimmen, woNorden war und wie er zu fahren hatte. Die Abendsonnemußte zum linken Fenster hereinschauen. Das war ganz ein-fach, und so dampften sie los.

Als sie eine Weile unterwegs waren und die Sonne sichanschickte, hinter dem Horizont zu versinken, fiel Jim etwasMerkw�rdiges auf. Bisher waren die Geier ihnen best�ndighochoben inderLuft gefolgt, aber nundrehtenplçtzlichallezugleich um und flogen davon.

Sie schienen es sogar besonders eilig zu haben. Jim teilteLukas seine Beobachtung mit.

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»Vielleicht haben sie’s endlich aufgegeben«, knurrte Lu-kas zufrieden.

Doch in diesem Augenblick stieß Emma plçtzlich einengellenden Pfiff aus, der wie ein Entsetzensschrei klang, undzugleich machte sie ganz von selbst kehrt und raste wie ver-r�ckt davon.

Lukas griff nach der Bremse und brachte Emma zum Ste-hen. Sie hielt zitternd und schnaufte, stoßweise keuchend.

»Nanu, Emma!« rief Lukas. »Was sind denn das f�r neu-modische Sitten?«

Jim wollte etwas sagen, als er zuf�llig nach hinten hinaus-blickte, und da blieb ihm das Wort im Halse stecken.

»Da!« konnte er nur noch fl�stern.Lukas f�hr herum. Und was er nun draußen sah, das �ber-

traf einfach alles, was ihm jemals vor Augen gekommenwar.

Am Horizont stand ein Riese von so ungeheurer Grçße,daß selbst das himmelhohe Gebirge »Die Krone der Welt«neben ihm wie ein Haufen Streichholzschachteln gewirkth�tte. Offenbar war er ein sehr alter Riese, denn er hatteeinen langen weißen Bart, der ihm bis auf die Knie herab-hing und merkw�rdigerweise zu einem dicken Zopf ge-flochten war. Wahrscheinlich, weil es auf diese Weise ein-facher war,den Bart in Ordnung zu halten. Man kann sich javorstellen, wie m�hsam es sein muß, einen solchen Urwaldjeden Tag zu k�mmen! Auf dem Kopf trug der Riese einenalten Strohhut. Wo in aller Welt mochte es nur so riesigeStrohhalme geben? Der gewaltige Leib steckte in einem al-ten, langen Hemd, das freilich grçßer war als die allergrçß-ten Schiffssegel.

»Oh!« stieß Jim hervor. »Das ist keine Fata! Schnell fort,Lukas! Vielleicht hat er uns noch nicht gesehen!«

»Immer mit der Ruhe!« erwiderte Lukas und paffte kleineWçlkchen. Dabei beobachtete er den Riesen scharf. »Ich

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finde«, stellte er fest, »außer seiner Grçße sieht der Rieseganz manierlich aus!«

»W. . . w . . . was?« stotterte Jim entsetzt.»Nun ja«, meinte Lukas ruhig, »bloß weil er so groß ist,

braucht er doch noch lange kein Ungeheuer zu sein!«»Ja, aber . . .!« stammelte Jim, »wenn er aber doch eins

is’?«Jetzt streckte der Riese sehns�chtig die Hand aus. Dann

ließ er sie hoffnungslos wieder sinken, und ein tiefer Seufzerschien seine Brust zu heben. Zu hçren war allerdings seltsa-merweise nichts. Es blieb ganz still.

»Wenn er uns was tun wollte«, sagte Lukas, die Pfeifezwischen den Z�hnen, »dann h�tte er das l�ngst gekonnt.Er scheint gutartig zu sein. Mçchte bloß wissen, warumer nicht n�her kommt. Ob er sich am Ende vor uns f�rch-tet?«

»Oh, Lukas!« stçhnte Jim, dem vor Angst die Z�hne zuklappern anfingen. »Jetzt is’ es aus mit uns!«

»Glaub’ ich nicht«, erwiderte Lukas. »Vielleicht kann unsder Riese sogar sagen, wie wir aus der verflixten W�ste her-auskommen!«

Jim verschlug es die Rede. Er wußte nicht mehr, was erdenken sollte.

Plçtzlich hob der Riese beide H�nde, faltete sie und riefmit einem ganz d�nnen armseligen Stimmchen:

»Bitte, bitte, ihr Fremden, lauft nicht fort! Ich will euchgewiß nichts tun!«

Bei seiner Grçße h�tte die Stimme eigentlich wie ein Don-nerwetter klingen m�ssen. Das war aber keineswegs derFall. Was konnte das f�r einen Grund haben?

»Mir scheint«, brummte Lukas, »das ist ein ganz harmlo-ser Riese. Er kommt mir sogar sehr nett vor. Nur mit seinerStimme ist irgendwas nicht in Ordnung!«

»Vielleicht verstellt er sich!« rief Jim voller Angst. »Er will

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uns wahrscheinlich fangen und einkochen. Ich hab’ mal vonso einem Riesen gehçrt. Bestimmt, Lukas!«

»Du traust ihm nicht, bloß, weil er so m�chtig groß ist«,antwortete Lukas. »Aber das ist kein Grund. Daf�r kann erschließlich nichts!«

Jetzt ließ sich der Riese am Horizont auf die Knie niederund rief mit flehentlich gefalteten H�nden:

»Ach bitte, bitte, glaubt mir doch! Ich will euch nichtstun, ich will nur mit euch reden. Ich bin so allein, so schreck-lich allein!« Wieder klang die Stimme seltsam kl�glich undd�nn.

»Der arme Kerl kann einem ja leid tun«, sagte Lukas. »Ichwerd’ ihm mal winken,damit er merkt,daß wir nichts Bçsesim Sinn haben!«

Mit Entsetzen beobachtete Jim, wie Lukas sich aus demFenster beugte, hçflich die M�tze zog und mit seinem Ta-schentuch winkte. Jetzt w�rde das Unheil gleich �ber siehereinbrechen! Der Riese erhob sich langsam. Er schien un-schl�ssig und ganz verwirrt.

»Heißt das«, rief er mit seinem d�rftigen Stimmchen, »ichdarf n�hertreten?«

»Jawohl!« schrie Lukas durch die hohle Hand und winktefreundlich mit dem Taschentuch. Der Riese machte vorsich-tig einen Schritt auf die Lokomotive zu. Dann hielt er inneund wartete.

»Er glaubt uns nicht«, knurrte Lukas. Kurz entschlossenstieg er aus und ging dem Riesen winkend entgegen.

Jim verschwamm vor Entsetzen alles vor den Augen.Viel-leicht hatte Lukas einen Sonnenstich bekommen?

Aber wie auch immer, Jim konnte seinen Freund Lukasunmçglich allein in eine solche Gefahr hineinlaufen lassen.Also stieg er ebenfalls aus und rannte hinter Lukas her, ob-wohl ihm dabei die Knie zitterten.

»Warte doch, Lukas!« keuchte er. »Ich komm’ mit!«

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