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Leseprobe Zweig, Stefan Schachnovelle Mit einem Nachwort von Siegfried Unseld © Insel Verlag insel taschenbuch 4201 978-3-458-35901-2 Insel Verlag

Insel VerlagStefan Zweig, 1881 in Wien als Sohn jüdischer Eltern geboren, emigrierte 1934 nachLondonundlebte ab1941in Brasilien. Er verfassteLyrik, Prosa, Dramen und Essays. Mit Werken

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Leseprobe

Zweig, Stefan

Schachnovelle

Mit einem Nachwort von Siegfried Unseld

© Insel Verlag

insel taschenbuch 4201

978-3-458-35901-2

Insel Verlag

»Diese Novelle ist ein Vermächtnis.« Der Tagesspiegel

Auf einer Schiffsreise von New York nach Buenos Aires werden die Pas-sagiere Zeugen eines unglaublichen Ereignisses: Der unbekannte und zu-rückhaltende Dr. B. schlägt den bislang unbesiegten Weltmeister MirkoCzentovic in einer Schachpartie. Doch zu aller Überraschung weigert sichDr. B., noch einmal gegen Czentovic anzutreten. Erinnerungen an seine Ver-gangenheit werden in ihm wach, an seine Inhaftierung durch die Gestapo.Damals rettete ihm Schach das Leben . . .

Die Schachnovelle ist die letzte abgeschlossene Prosaarbeit Stefan Zweigsund gehört bis heute zu den bekanntesten und meistgelesenen Werken derdeutschen Literatur des 20. Jahrhunderts.

»Im Aufdecken des Unmenschlichen als Einseitigkeit wird Zweigs Philo-sophie des Schachs zur Philosophie des Lebens.« Siegfried Unseld

Stefan Zweig, 1881 in Wien als Sohn jüdischer Eltern geboren, emigrierte1934 nach London und lebte ab 1941 in Brasilien. Er verfasste Lyrik, Prosa,Dramen und Essays. Mit Werken wie der Schachnovelle (1942) oder Unge-duld des Herzens (1939), aber auch mit seinen historischen Miniaturen undBiografien wurde er weltberühmt. Stefan Zweig nahm sich im Februar1942 in Petrópolis, Brasilien, das Leben.

Außerdem im insel taschenbuch erschienen: Sternstunden der Menschheit(it 4202), Ungeduld des Herzens (it 4203), Marie Antoinette (it 4204), Ma-gellan (it 4205), Maria Stuart (it 4206), Die Welt von Gestern (it 4207) undBrasilien (it 4208).

insel taschenbuch 4201Stefan ZweigSchachnovelle

Stefan ZweigSCHACHNOVELLE

Mit einem Nachwort von Siegfried Unseld

INSEL VERLAG

Der Text dieser Ausgabe folgt der Originalausgabe, die erstmals 1943 erschien.Copyright by Bermann-Fischer AB, Stockholm.

Das Nachwort von Siegfried Unseld erschien erstmals 1979im S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main.

Umschlagfoto: Michele Constantini/Corbis

insel taschenbuch 4201Erste Auflage 2013

© dieser Ausgabe Insel Verlag Berlin 2013Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Vertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch VerlagUmschlaggestaltung: Hißmann, Heilmann, Hamburg

Satz: Hümmer GmbH, WaldbüttelbrunnDruck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in GermanyISBN 978-3-458-35901-2

SCHACHNOVELLE

Auf dem großen Passagierdampfer, der mitternachts vonNew York nach Buenos Aires abgehen sollte, herrschte dieübliche Geschäftigkeit und Bewegung der letzten Stun-de. Gäste vom Land drängten durcheinander, um ihrenFreunden das Geleit zu geben, Telegraphenboys mit schie-fen Mützen schossen Namen ausrufend durch die Ge-sellschaftsräume, Koffer und Blumen wurden geschleppt,Kinder liefen neugierig treppauf und treppab, währenddas Orchester unerschütterlich zur Deck-show spielte.Ich stand im Gespräch mit einem Bekannten etwas ab-seits von diesem Getümmel auf dem Promenadedeck,als neben uns zwei- oder dreimal Blitzlicht scharf auf-sprühte – anscheinend war irgendein Prominenter knappvor der Abfahrt noch rasch von Reportern interviewt undphotographiert worden. Mein Freund blickte hin undlächelte. »Sie haben da einen raren Vogel an Bord, denCzentovic.« Und da ich offenbar ein ziemlich verständ-nisloses Gesicht zu dieser Mitteilung machte, fügte er er-klärend bei: »Mirko Czentovic, der Weltschachmeister.Er hat ganz Amerika von Ost nach West mit Turnier-spielen abgeklappert und fährt jetzt zu neuen Triumphennach Argentinien.«

In der Tat erinnerte ich mich nun dieses jungen Welt-

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meisters und sogar einiger Einzelheiten im Zusammen-hang mit seiner raketenhaften Karriere; mein Freund, einaufmerksamerer Zeitungsleser als ich, konnte sie mit ei-ner ganzen Reihe von Anekdoten ergänzen. Czentovichatte sich vor etwa einem Jahr mit einem Schlage nebendie bewährtesten Altmeister der Schachkunst, wie Alje-chin, Capablanca, Tartakower, Lasker, Bogoljubow, ge-stellt; seit dem Auftreten des siebenjährigen Wunderkin-des Rzecewski bei dem Schachturnier 1922 in New Yorkhatte noch nie der Einbruch eines völlig Unbekannten indie ruhmreiche Gilde derart allgemeines Aufsehen erregt.Denn Czentovics intellektuelle Eigenschaften schienenihm keineswegs eine solche blendende Karriere von vorn-herein zu weissagen. Bald sickerte das Geheimnis durch,daß dieser Schachmeister in seinem Privatleben außer-stande war, in irgendeiner Sprache einen Satz ohne ortho-graphische Fehler zu schreiben, und wie einer seiner ver-ärgerten Kollegen ingrimmig spottete, »seine Unbildungwar auf allen Gebieten gleich universell«. Sohn eines blut-armen südslawischen Donauschiffers, dessen winzige Bar-ke eines Nachts von einem Getreidedampfer überranntwurde, war der damals Zwölfjährige nach dem Tode sei-nes Vaters vom Pfarrer des abgelegenen Ortes aus Mit-leid aufgenommen worden, und der gute Pater bemühtesich redlich, durch häusliche Nachhilfe wettzumachen,was das maulfaule, dumpfe, breitstirnige Kind in der Dorf-schule nicht zu erlernen vermochte.

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Aber die Anstrengungen blieben vergeblich. Mirkostarrte die schon hundertmal ihm erklärten Schriftzei-chen immer wieder fremd an; auch für die simpelstenUnterrichtsgegenstände fehlte seinem schwerfällig arbei-tenden Gehirn jede festhaltende Kraft. Wenn er rechnensollte, mußte er noch mit vierzehn Jahren jedesmal dieFinger zur Hilfe nehmen, und ein Buch oder eine Zei-tung zu lesen, bedeutet für den schon halbwüchsigen Jun-gen noch besondere Anstrengung. Dabei konnte manMirko keineswegs unwillig oder widerspenstig nennen.Er tat gehorsam, was man ihm gebot, holte Wasser, spal-tete Holz, arbeitete mit auf dem Felde, räumte die Kü-che auf und erledigte verläßlich, wenn auch mit verär-gernder Langsamkeit, jeden geforderten Dienst. Was denguten Pfarrer aber an dem querköpfigen Knaben am mei-sten verdroß, war seine totale Teilnahmslosigkeit. Er tatnichts ohne besondere Aufforderung, stellte nie eine Fra-ge, spielte nicht mit anderen Burschen und suchte vonselbst keine Beschäftigung, sofern man sie nicht aus-drücklich anordnete; sobald Mirko die Verrichtungendes Haushalts erledigt hatte, saß er stur im Zimmer her-um mit jenem leeren Blick, wie ihn Schafe auf der Wei-de haben, ohne an den Geschehnissen rings um ihnden geringsten Anteil zu nehmen. Während der Pfarrerabends, die lange Bauernpfeife schmauchend, mit demGendarmeriewachtmeister seine üblichen drei Schach-partien spielte, hockte der blondsträhnige dumpfe Bur-

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sche stumm daneben und starrte unter seinen schwerenLidern anscheinend schläfrig und gleichgültig auf das ka-rierte Brett.

Eines Winterabends klingelten, während die beidenPartner in ihre tägliche Partie vertieft waren, von derDorfstraße her die Glöckchen eines Schlittens rasch undimmer rascher heran. Ein Bauer, die Mütze mit Schneeüberstäubt, stampfte hastig herein, seine alte Mutter lägeim Sterben und der Pfarrer möge eilen, ihr noch recht-zeitig die letzte Ölung zu erteilen. Ohne zu zögern folgteihm der Priester. Der Gendarmeriewachtmeister, der seinGlas Bier noch nicht ausgetrunken hatte, zündete sichzum Abschied eine neue Pfeife an und bereitete sich ebenvor, die schweren Schaftstiefel anzuziehen, als ihm auf-fiel, wie unentwegt der Blick Mirkos auf dem Schach-brett mit der angefangenen Partie haftete.

»Na, willst du sie zu Ende spielen?« spaßte er, vollkom-men überzeugt, daß der schläfrige Junge nicht einen ein-zigen Stein auf dem Brette richtig zu rücken verstünde.Der Knabe starrte scheu auf, nickte dann und setzte sichauf den Platz des Pfarrers. Nach vierzehn Zügen war derGendarmeriewachtmeister geschlagen und mußte zudemeingestehen, daß keineswegs ein versehentlich nachlässi-ger Zug seine Niederlage verschuldet habe. Die zweitePartie fiel nicht anders aus.

»Bileams Esel!« rief erstaunt bei seiner Rückkehr derPfarrer aus, dem weniger bibelfesten Gendarmeriewacht-

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meister erklärend, schon vor zweitausend Jahren hättesich ein ähnliches Wunder ereignet, daß ein stummes We-sen plötzlich die Sprache der Weisheit gefunden habe.Trotz der vorgerückten Stunde konnte der gute Pater sichnicht enthalten, seinen halb analphabetischen Famuluszu einem Zweikampf herauszufordern. Mirko schlug auchihn mit Leichtigkeit. Er spielte zäh, langsam, unerschüt-terlich, ohne ein einziges Mal die gesenkte breite Stirnvom Brette aufzuheben. Aber er spielte mit unwiderleg-barer Sicherheit; weder der Gendarmeriewachtmeisternoch der Pfarrer waren in den nächsten Tagen imstande,eine Partie gegen ihn zu gewinnen. Der Pfarrer, besserals irgend jemand befähigt, die sonstige Rückständigkeitseines Zöglings zu beurteilen, wurde nun ernstlich neu-gierig, wieweit diese einseitige sonderbare Begabung ei-ner strengeren Prüfung standhalten würde. Nachdem erMirko bei dem Dorfbarbier die struppigen strohblondenHaare hatte schneiden lassen, um ihn einigermaßen prä-sentabel zu machen, nahm er ihn mit seinem Schlitten indie kleine Nachbarstadt, wo er im Café des Hauptplatzeseine Ecke mit enragierten Schachspielern wußte, denener selbst erfahrungsgemäß nicht gewachsen war. Es er-regte bei der ansässigen Runde nicht geringes Staunen,als der Pfarrer den fünfzehnjährigen strohblonden undrotbäckigen Burschen in seinem nach innen getragenenSchafspelz und schweren, hohen Schaftstiefeln in das Kaf-feehaus schob, wo der Junge befremdet mit scheu nieder-

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geschlagenen Augen in einer Ecke stehenblieb, bis manihn zu einem der Schachtische hinrief. In der ersten Par-tie wurde Mirko geschlagen, da er die sogenannte Sizi-lianische Eröffnung bei dem guten Pfarrer nie gesehenhatte. In der zweiten Partie kam er schon gegen den be-sten Spieler auf Remis. Von der dritten und vierten anschlug er sie alle, einen nach dem andern.

Nun ereignen sich in einer kleinen südslawischen Pro-vinzstadt höchst selten aufregende Dinge; so wurde daserste Auftreten dieses bäuerlichen Champions für dieversammelten Honoratioren unverzüglich zur Sensation.Einstimmig wurde beschlossen, der Wunderknabe müsseunbedingt noch bis zum nächsten Tage in der Stadt blei-ben, damit man die anderen Mitglieder des Schachklubszusammenrufen und vor allem den alten Grafen Simczic,einen Fanatiker des Schachspiels, auf seinem Schlosseverständigen könne. Der Pfarrer, der mit einem ganzneuen Stolz auf seinen Pflegling blickte, aber über sei-ner Entdeckerfreude doch seinen pflichtgemäßen Sonn-tagsgottesdienst nicht versäumen wollte, erklärte sich be-reit, Mirko für eine weitere Probe zurückzulassen. Derjunge Czentovic wurde auf Kosten der Schachecke imHotel einquartiert und sah an diesem Abend zum ersten-mal ein Wasserklosett. Am folgenden Sonntagnachmit-tag war der Schachraum überfüllt. Mirko, unbeweglichvier Stunden vor dem Brett sitzend, besiegte, ohne einWort zu sprechen oder auch nur aufzuschauen, einen Spie-

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ler nach dem andern; schließlich wurde eine Simultan-partie vorgeschlagen. Es dauerte eine Weile, ehe mandem Unbelehrten begreiflich machen konnte, daß beieiner Simultanpartie er allein gleichzeitig gegen die ver-schiedenen Spieler zu kämpfen hätte. Aber sobald Mirkodiesen Usus begriffen, fand er sich rasch in die Aufgabe,ging mit seinen schweren, knarrenden Schuhen langsamvon Tisch zu Tisch und gewann schließlich sieben vonden acht Partien.

Nun begannen große Beratungen. Obwohl dieser neueChampion im strengeren Sinne nicht zur Stadt gehörte,war doch der heimische Nationalstolz lebhaft entzündet.Vielleicht konnte endlich die kleine Stadt, deren Vorhan-densein auf der Landkarte kaum jemand bisher wahr-genommen, zum erstenmal sich die Ehre erwerben, einenberühmten Mann in die Welt zu schicken. Ein Agent na-mens Koller, sonst nur Chansonetten und Sängerinnenfür das Kabarett der Garnison vermittelnd, erklärte sichbereit, sofern man den Zuschuß für ein Jahr leiste, denjungen Menschen in Wien von einem ihm bekannten aus-gezeichneten kleinen Meister fachmäßig in der Schach-kunst ausbilden zu lassen. Graf Simczic, dem in sechzigJahren täglichen Schachspiels nie ein so merkwürdigerGegner entgegengetreten war, zeichnete sofort den Be-trag. Mit diesem Tage begann die erstaunliche Karrieredes Schiffersohnes.

Nach einem halben Jahre beherrschte Mirko sämtliche

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Geheimnisse der Schachtechnik, allerdings mit einer selt-samen Einschränkung, die später in den Fachkreisen vielbeobachtet und bespöttelt wurde. Denn Czentovic brach-te es nie dazu, auch nur eine einzige Schachpartie aus-wendig – oder wie man fachgemäß sagt: blind – zu spie-len. Ihm fehlte vollkommen die Fähigkeit, das Schlacht-feld in den unbegrenzten Raum der Phantasie zu stellen.Er mußte immer das schwarz-weiße Karree mit den vier-undsechzig Feldern und zweiunddreißig Figuren hand-greiflich vor sich haben; noch zur Zeit seines Weltruhmesführte er ständig ein zusammenlegbares Taschenschachmit sich, um, wenn er eine Meisterpartie rekonstruierenoder ein Problem für sich lösen wollte, sich die Stellungoptisch vor Augen zu führen. Dieser an sich unbeträcht-liche Defekt verriet einen Mangel an imaginativer Kraftund wurde in dem engen Kreise ebenso lebhaft diskutiert,wie wenn unter Musikern ein hervorragender Virtuoseoder Dirigent sich unfähig gezeigt hätte, ohne aufgeschla-gene Partitur zu spielen oder zu dirigieren. Aber diesemerkwürdige Eigenheit verzögerte keineswegs Mirkos stu-penden Aufstieg. Mit siebzehn Jahren hatte er schon einDutzend Schachpreise gewonnen, mit achtzehn sich dieungarische Meisterschaft, mit zwanzig endlich die Welt-meisterschaft erobert. Die verwegensten Champions, je-der einzelne an intellektueller Begabung, an Phantasieund Kühnheit ihm unermeßlich überlegen, erlagen eben-so seiner zähen und kalten Logik wie Napoleon dem

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schwerfälligen Kutusow, wie Hannibal dem Fabius Cunc-tator, von dem Livius berichtet, daß er gleichfalls in sei-ner Kindheit derart auffällige Züge von Phlegma und Im-bezillität gezeigt habe. So geschah es, daß in die illustreGalerie der Schachmeister, die in ihren Reihen die ver-schiedensten Typen intellektueller Überlegenheit verei-nigt, Philosophen, Mathematiker, kalkulierende, imagi-nierende und oft schöpferische Naturen, zum erstenmalein völliger Outsider der geistigen Welt einbrach, einschwerer, maulfauler Bauernbursche, aus dem auch nurein einziges publizistisch brauchbares Wort herauszulok-ken selbst den gerissensten Journalisten nie gelang. Frei-lich, was Czentovic den Zeitungen an geschliffenen Sen-tenzen vorenthielt, ersetzte er bald reichlich durch Anek-doten über seine Person. Denn rettungslos wurde mit derSekunde, da er vom Schachbrette aufstand, wo er Meisterohnegleichen war, Czentovic zu einer grotesken und bei-nahe komischen Figur; trotz seines feierlichen schwarzenAnzuges, seiner pompösen Krawatte mit der etwas auf-dringlichen Perlennadel und seiner mühsam manikürtenFinger blieb er in seinem Gehaben und seinen Manierenderselbe beschränkte Bauernjunge, der im Dorf die Stubedes Pfarrers gefegt. Ungeschickt und geradezu scham-los plump suchte er zum Gaudium und zum Ärger sei-ner Fachkollegen aus seiner Begabung und seinem Ruhmmit einer kleinlichen und sogar oft ordinären Habgierherauszuholen, was an Geld herauszuholen war. Er rei-

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ste von Stadt zu Stadt, immer in den billigsten Hotelswohnend, er spielte in den kläglichsten Vereinen, sofernman ihm sein Honorar bewilligte, er ließ sich abbildenauf Seifenreklamen und verkaufte sogar, ohne auf denSpott seiner Konkurrenten zu achten, die genau wußten,daß er nicht imstande war, drei Sätze richtig zu schreiben,seinen Namen für eine ›Philosophie des Schachs‹, die inWirklichkeit ein kleiner galizischer Student für den ge-schäftstüchtigen Verleger geschrieben. Wie allen zähenNaturen fehlte ihm jeder Sinn für das Lächerliche; seitseinem Siege im Weltturnier hielt er sich für den wich-tigsten Mann der Welt, und das Bewußtsein, all diese ge-scheiten, intellektuellen, blendenden Sprecher und Schrei-ber auf ihrem eigenen Feld geschlagen zu haben, und vorallem die handgreifliche Tatsache, mehr als sie zu verdie-nen,verwandelte die ursprüngliche Unsicherheit in einenkalten und meist plump zur Schau getragenen Stolz.

»Aber wie sollte ein so rascher Ruhm nicht einen soleeren Kopf beduseln?« schloß mein Freund, der mir ge-rade einige klassische Proben von Czentovics kindischerPräpotenz anvertraut hatte. »Wie sollte ein einundzwan-zigjähriger Bauernbursche aus dem Banat nicht den Ei-telkeitskoller kriegen, wenn er plötzlich mit ein bißchenFigurenherumschieben auf einem Holzbrett in einer Wo-che mehr verdient als sein ganzes Dorf daheim mit Holz-fällen und den bittersten Abrackereien in einem ganzenJahr? Und dann, ist es nicht eigentlich verflucht leicht,

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sich für einen großen Menschen zu halten, wenn mannicht mit der leisesten Ahnung belastet ist, daß ein Rem-brandt, ein Beethoven, ein Dante, ein Napoleon je gelebthaben? Dieser Bursche weiß in seinem vermauerten Ge-hirn nur das eine, daß er seit Monaten nicht eine einzi-ge Schachpartie verloren hat, und da er eben nicht ahnt,daß es außer Schach und Geld noch andere Werte aufunserer Erde gibt, hat er allen Grund, von sich begeistertzu sein.«

Diese Mitteilungen meines Freundes verfehlten nicht,meine besondere Neugierde zu erregen. Alle Arten vonmonomanischen, in eine einzige Idee verschossenen Men-schen haben mich zeitlebens angereizt, denn je mehr sicheiner begrenzt, um so mehr ist er anderseits dem Unend-lichen nah; gerade solche scheinbar Weltabseitigen bau-en in ihrer besonderen Materie sich termitenhaft einemerkwürdige und durchaus einmalige Abbreviatur derWelt. So machte ich aus meiner Absicht, dieses sonder-bare Spezimen intellektueller Eingleisigkeit auf der zwölf-tägigen Fahrt bis Rio näher unter die Lupe zu nehmen,kein Hehl.

Jedoch: »Da werden Sie wenig Glück haben«, warntemein Freund. »Soviel ich weiß, ist es noch keinem ge-lungen, aus Czentovic das geringste an psychologischemMaterial herauszuholen. Hinter all seiner abgründigenBeschränktheit verbirgt dieser gerissene Bauer die großeKlugheit, sich keine Blößen zu geben, und zwar dank der

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simplen Technik, daß er außer mit Landsleuten seiner ei-genen Sphäre, die er sich in kleinen Gasthäusern zusam-mensucht, jedes Gespräch vermeidet. Wo er einen gebil-deten Menschen spürt, kriecht er in sein Schneckenhaus;so kann niemand sich rühmen, je ein dummes Wort vonihm gehört oder die angeblich unbegrenzte Tiefe seinerUnbildung ausgemessen zu haben.«

Mein Freund sollte in der Tat recht behalten. Währendder ersten Tage der Reise erwies es sich als vollkommenunmöglich, an Czentovic ohne grobe Zudringlichkeit,die schließlich nicht meine Sache ist, heranzukommen.Manchmal schritt er zwar über das Promenadedeck, aberdann immer die Hände auf dem Rücken verschränkt mitjener stolz in sich versenkten Haltung, wie Napoleon aufdem bekannten Bilde; außerdem erledigte er immer soeilig und stoßhaft seine peripatetische Deckrunde, daßman ihm hätte im Trab nachlaufen müssen, um ihn an-sprechen zu können. In den Gesellschaftsräumen wieder-um, in der Bar, im Rauchzimmer zeigte er sich niemals;wie mir der Steward auf vertrauliche Erkundigung hinmitteilte, verbrachte er den Großteil des Tages, in seinerKabine auf einem mächtigen Brett Schachpartien ein-zuüben oder zu rekapitulieren.

Nach drei Tagen begann ich mich tatsächlich zu är-gern, daß seine zähe Abwehrtechnik geschickter war alsmein Wille, an ihn heranzukommen. Ich hatte in mei-nem Leben noch nie Gelegenheit gehabt, die persönliche

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