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478 KÜNSTLICHE INTELLIGENZ Forschung & Lehre 6|16 Intelligenz als Überlebenshelfer Von der Freiheit des menschlichen Denkens [ JOACHIM FUNKE ] Kunstliche Intelligenz ist ohne menschliche Intelligenz nicht denkbar. Auch wenn Spezial-Lelstungen von Ma schinen weitaus besser erbracht werden als von Menschen, bleiben Kreativität, Phantasie und Sinngebung eine Bastion der menschlichen Intelligenz. I m r z 2016 geschah e t was E r staunliches: Ein Programm namens „AlphaGo" (entwickelt von Google DeepMind) schlug in vier von fünf Run den den Koreaner Lee Sedol, einen der weitbesten Go-Spieler. Nach dem be reits 1996 erfolgten Sieg des Schachpro gramms „Deep Blue" (entwickelt von IBM) über Garry Kasparov, einen der weitbesten Schachspieler, scheint eine der letzten Bastionen menschlicher in tellektueller Höchstleistungen gefallen, und es taucht die Frage auf, ob Maschi nen nun die Führung auf dem Gebiet des Planens und Pro blemlösens übernehmen könnten. Erweist sich die künstliche Intelligenz endgül tig als der menschlichen über legen? Das Konzept einer künstlichen Intel ligenz verlangt nach einer Gegenüber stellung zu demjenigen menschlicher In telligenz. Was bedeutet eigentlich menschliche Intelligenz? Was macht die menschliche Intelligenz im Vergleich zur künstlichen Intelligenz aus? Wird durch die künstliche Intelligenz die menschliche Intelligenz neu definiert? AUTOR Joachim Funke ist In haber des Lehrstuhls für Allgemeine und Theoretische Psycho logie an der Ruprecht- Karls-Universität Hei delberg. Seine For schungsschwerpunkte sind Denken, Handeln und Problemlösen. Diesen Fragen soll sich dieser Beitrag widmen. Es gab eine Zeit, in der jemand, der gut kopfrechnen konnte, bereits als in telligent galt. Lesen, Rechnen und Schreiben zählen heute zu den grundle genden Kulturtechniken: sie zu beherr schen wird nicht mehr als „Beweis" für Intelligenz betrachtet. Aber was ist In telligenz dann? Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Eine Experten kommission aus dem Jahr 1996 unter Vorsitz von Ulric Neisscr beginnt ihren Überblick zum Thema „Intelligenz" mit dem Satz „Menschen unterscheiden sich voneinander in ihrer Fähigkeit, komple xe Ideen zu verstehen, sich effektiv an die Umwelt anzupassen, aus Erfahrung zu lernen, in verschiedenen Formen zu denken und Hindernisse durch Nach denken zu überwinden." Schon diese Aufzählung vielfältiger Aspekte zeigt, dass menschliche Intelligenz ein sum marisches Konstrukt darstellt, dem nicht leicht beizukommen ist. Allzu schnell reduziert man Intelligenz auf das, was ein Intelligenztest misst. Menschliche Intelligenz beschreibt die Fähigkeit, im Lichte schwieriger Umweltanforderungen zu bestehen (zu überleben). Sie zieht aus Beobachtun gen vernünftige Schlüsse, plant Hand lungsschritte und formuliert Ziele, koor diniert und reguliert aufkommende Ge fühle und verschiedenste Antriebe im Dienst der Handlungsregulation. Dass sich Menschen in ihren Fähig keiten unterscheiden, war bereits in der Antike bekannt. Die ersten antiken Messversuche von Fähigkeitsunterschie den bezogen sich allerdings zunächst auf körperliche Leistungen, wie sie heu te bei den Olympischen Spielen tradiert werden, Geistige Unterschiede waren ebenfalls bekannt, doch wurde erst 1905 der erste Test für menschliche Intelli genz von Binet und Simon in Paris vor gestellt. Die psychometrische Intelligenzfor schung hat seither viele Verbesserungs vorschläge erfahren. Bis heute ist die Messung von kognitiven Leistungen vor allem im Bereich des logi schen Denkens (induktives und deduktives Schließen) weit entwickelt. Kreatives Denken ist weit schwerer zu erfassen. In der Stärke bishe riger Intelligenztests liegt zu gleich deren Schwäche: Sie sind kein wirklich umfassendes Instrument zur Bewertung menschlicher Leistung. Die Begrenzung auf den Bereich „reaso ning" verengt den Blick auf eine (wichti ge) Teilfacette gelungener Anpassungs prozesse. Dass Intelligenz im klassischen Ver ständnis von rein analytischen und kreativen Fähigkeiten nicht uneinge schränkt wünschenswert ist, zeigen die vielen Betrügereien, die gerade von cle veren, hochintelligenten Personen ohne jeden Skrupel ausgeführt werden. Menschliche Intelligenz im Sinne einer Überlebenskunst zu verstehen heißt da her für eine Reihe von Forschenden, zu sätzlich Empathie und Rücksichtnahme auf Mitmenschen einzubeziehen. Diese Erweiterung des Konzepts im Sinn einer sozialen Intelligenz erfassen unsere heu- »Menschliche Intelligenz beschreibt die Fähigkeit, im Lichte schwieriger Um weltanforderungen zu bestehen.«

Intelligenz als Überlebenshelfer

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Page 1: Intelligenz als Überlebenshelfer

4 7 8 K Ü N S T L I C H E I N T E L L I G E N Z Forschung & Lehre 6|16

Intelligenz alsÜberlebenshelferVo n d e r F r e i h e i t d e s m e n s c h l i c h e n D e n k e n s

[ J O A C H I M F U N K E ] K u n s t l i c h e I n t e l l i g e n z i s t o h n emenschliche Intelligenz nicht denkbar. Auch wenn Spezial-Lelstungen von Maschinen weitaus besser erbracht werden als von Menschen, bleiben Kreativität,Phantasie und Sinngebung eine Bastion der menschlichen Intelligenz.

Im März 2016 geschah etwas Erstaunliches: Ein Programm namens„AlphaGo" (entwickelt von Google

DeepMind) schlug in vier von fünf Runden den Koreaner Lee Sedol, einen derweitbesten Go-Spieler. Nach dem bereits 1996 erfolgten Sieg des Schachprogramms „Deep Blue" (entwickelt vonIBM) über Garry Kasparov, einen derweitbesten Schachspieler, scheint eineder le tz ten Bas t ionen mensch l i cher i ntellektueller Höchstleistungen gefallen,und es taucht die Frage auf, ob Maschinen nun die Führung auf demGebie t des P lanens und Prob l e m l ö s e n s ü b e r n e h m e nk ö n n t e n . E r w e i s t s i c h d i ekünstliche Intelligenz endgültig als der menschlichen überlegen?

Das Konzept einer künstlichen Intelligenz verlangt nach einer Gegenüberstellung zu demjenigen menschlicher Intelligenz. Was bedeutet eigentlichmenschliche Intelligenz? Was macht diemenschliche Intelligenz im Vergleichzur künstlichen Intelligenz aus? Wirddurch die künstliche Intelligenz diemenschliche Intelligenz neu definiert?

A U T O R

Joachim Funke ist Inhaber des Lehrs tuh lsfür Allgemeine undTheoretische Psychologie an der Ruprecht-Kar ls -Un ivers i tä t He idelberg. Seine Forschungsschwerpunkte

s ind Denken, Handeln und Prob lemlösen.

Diesen Fragen soll sich dieser Beitragw i d m e n .

Es gab eine Zeit, in der jemand, dergut kopfrechnen konnte, bereits als intelligent galt. Lesen, Rechnen undSchreiben zählen heute zu den grundlegenden Kulturtechniken: sie zu beherrschen wird nicht mehr als „Beweis" fürIntelligenz betrachtet. Aber was ist Intelligenz dann? Diese Frage ist nichteinfach zu beantworten. Eine Expertenkommission aus dem Jahr 1996 unterVorsitz von Ulric Neisscr beginnt ihren

Überblick zum Thema „Intelligenz" mitdem Satz „Menschen unterscheiden sichvoneinander in ihrer Fähigkeit, komplexe Ideen zu verstehen, sich effektiv andie Umwelt anzupassen, aus Erfahrungzu lernen, in verschiedenen Formen zud e n k e n u n d H i n d e r n i s s e d u r c h N a c hd e n k e n z u ü b e r w i n d e n . " S c h o n d i e s e

Aufzählung vielfältiger Aspekte zeigt,dass menschliche Intelligenz ein summarisches Konstrukt darstellt, demn i c h t l e i c h t b e i z u k o m m e n i s t . A l l z uschnell reduziert man Intelligenz aufdas, was ein Intelligenztest misst.

Menschliche Intelligenz beschreibtdie Fähigkeit, im Lichte schwierigerUmweltanforderungen zu bestehen (zuüberleben). Sie zieht aus Beobachtungen vernünftige Schlüsse, plant Handlungsschritte und formuliert Ziele, koordiniert und reguliert aufkommende Ge

f ü h l e u n d v e r s c h i e d e n s t e A n t r i e b e i mDienst der Handlungsregulation.

Dass sich Menschen in ihren Fähigkeiten unterscheiden, war bereits in derA n t i k e b e k a n n t . D i e e r s t e n a n t i k e nMessversuche von Fähigkeitsunterschieden bezogen sich allerdings zunächstauf körperliche Leistungen, wie sie heute bei den Olympischen Spielen tradiertwerden, Geistige Unterschiede warenebenfalls bekannt, doch wurde erst 1905der e r s te Tes t f ü r mensch l i che I n te l l i

genz von Binet und Simon in Paris vorgestellt.

Die psychometrische Intelligenzforschung hat seither viele Verbesserungsvorschläge erfahren. Bis heute ist dieMessung von kognitiven Leistungen vor

allem im Bereich des logischen Denkens (induktivesund deduktives Schließen)w e i t e n t w i c k e l t . K r e a t i v e sDenken is t we i t schwerer zuerfassen. In der Stärke bishe

riger Intelligenztests liegt zugleich deren Schwäche: Sie sind keinw i r k l i c h u m f a s s e n d e s I n s t r u m e n t z u r

Bewertung menschlicher Leistung. DieBegrenzung auf den Bereich „reasoning" verengt den Blick auf eine (wichtige) Teilfacette gelungener Anpassungsp r o z e s s e .

Dass Intelligenz im klassischen Verständnis von rein analytischen undkreativen Fähigkeiten nicht uneingeschränkt wünschenswert ist, zeigen dievielen Betrügereien, die gerade von cleveren, hochintelligenten Personen ohnejeden Skrupel ausgeführt werden.Menschliche Intelligenz im Sinne einerÜberlebenskunst zu verstehen heißt daher für eine Reihe von Forschenden, zusätzlich Empathie und Rücksichtnahmeauf M i tmenschen e inzubez iehen . D iese

Erweiterung des Konzepts im Sinn einersozialen Intelligenz erfassen unsere heu-

»Menschliche Intelligenz beschreibt dieFähigkeit, im Lichte schwieriger Umweltanforderungen zu bestehen.«

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tigen Testverfahren nicht, aber maschinelle Intelligenz besitzt nichts Soziales.

Eine der wichtigsten Teilfähigkeitenintelligenter Organismen betrifft dieÜberwachung des eigenen Denkens.

schlussendlich sprachlichen und motorischen Output. Die Idee lag nicht fern,menschliche Informationsverarbeitungauf Rechnern mittels Computerprogrammen nachzubilden.

Diese Fähigkeit zur Selbstreflexion, inder Psychologie gelegentlich als Meta-kognition bezeichnet, besitzt nur derM e n s c h . D i e b e w u s s t e K o n t r o l l e u n d

Steuerung intelligenten Handelns ist Bes t a n d t e i l m e n s c h l i c h e r E x i s t e n z . K e i n e

künstliche Intelligenz kann (im Unterschied zum Menschen) „denStecker ziehen" - was eine in

telligente Handlung sein kann,wenn man sich festgefahrenhat .

Es gab Zeiten in der Geschichte der Psychologie, dadachte man, der menschlicheGeist funktioniere wie ein Computer(sog. Computer-Metapher): Die Sinnessysteme nehmen den Input auf, das Geh i r n v e r a r b e i t e t u n d n u t z t u n s e r G edächtnis als Speicher und produziert

Doch dieses vorgestellte Ideal einerMechanisierung des Geistes stießschnell an seine Grenzen: Bei genauererBetrachtung erwies sich die Computer-Metapher als zu einfach. Statt der Silizium-Hardware von Rechenmasch inen i s tdie „Wetware" des Gehirns doch völlig

»Keine künstliche Intelligenz kann(im Unterschied zum Menschen) >denStecker z iehen<.«

anders aufgebaut (schon die zwei Him-hälften machen stutzig), und auch dieVerarbeitungsprozesse funktionierengrundsätzlich anders (neuronale Netzekommunizieren auf multiplen Ebenen:

elektrisch, chemisch). Und ganz wesentlich fehlen Emotionen, die nach heutigem Verständnis entscheidungsrelevanteIn fo rma t i onen l i e fe rn . Küns t l i che In te l

ligenz schämt sich nicht nach einemFehler und f reu t s ich n ich t über e inen

Erfolg - KI ist eben auch „kalte" Intelligenz.

Aber viel wichtiger: Menschliche Intelligenz stiftet Sinn,

kann allen Arten von Symbolen Bedeutung geben

und die Welt sprachlichin beliebige Kategorien

o r d n e n . I n e i n e r v o n

Jorge Luis Borgesbeschriebenen (fiktiven) chinesischenEnzyklopädiek a n n m a n T i e r ewie folgt klassifizieren: „a) Tiere,d i e d e m K a i s e r

gehören, b) einbalsamierte Tiere,c ) g e z ä h m t e ,d) Milchschweine,

e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herren

lose Hunde, h) indiese Gruppierung

gehörige, i) die sichwie Tolle gebärden,

k) die mit einem ganz feinen P inse l aus Kamelhaar

gezeichnet sind, 1) und soweiter, m) die den Wasser

krug zerbrochen haben, n) dievon weitem wie Fliegen ausse

hen". Diese abstrusen Kategorienzeigen die Freiheit menschlichen

Denkens; maschinelle Klassifikatorenwürden Tiere anders ordnen. Fassen wirzusammen: Menschliche Intelligenz istein unscharfes und allgemein gehaltenesBündel an geistigen Fähigkeiten, hins i c h t l i c h d e r e r s i c h M e n s c h e n u n t e rscheiden und das für den Erfolg im Leben einen wichtigen Faktor darstellt, Erschüttern uns die Erfolge der künstli

chen Intelligenz, und müssen sie uns Angst machen?I c h d e n k e n i c h t - a u c hwenn beeindruckende Spezi-al-Leistungen von Maschin e n b e s s e r a l s v o n M e ns c h e n e r b r a c h t w e r d e n ,b le ib t unse re Bas t ion unan

gefochten: Kreativität, Phantasie undSinngebung. Menschliche Intelligenzläuft dann zur Höchstform auf, wenn siezur Weishei t w i rd . Das wi rd Maschinenkaum gelingen.