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Page 1: Intelligenz als Überlebenshelfer

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Intelligenz alsÜberlebenshelferVo n d e r F r e i h e i t d e s m e n s c h l i c h e n D e n k e n s

[ J O A C H I M F U N K E ] K u n s t l i c h e I n t e l l i g e n z i s t o h n emenschliche Intelligenz nicht denkbar. Auch wenn Spezial-Lelstungen von Maschinen weitaus besser erbracht werden als von Menschen, bleiben Kreativität,Phantasie und Sinngebung eine Bastion der menschlichen Intelligenz.

Im März 2016 geschah etwas Erstaunliches: Ein Programm namens„AlphaGo" (entwickelt von Google

DeepMind) schlug in vier von fünf Runden den Koreaner Lee Sedol, einen derweitbesten Go-Spieler. Nach dem bereits 1996 erfolgten Sieg des Schachprogramms „Deep Blue" (entwickelt vonIBM) über Garry Kasparov, einen derweitbesten Schachspieler, scheint eineder le tz ten Bas t ionen mensch l i cher i ntellektueller Höchstleistungen gefallen,und es taucht die Frage auf, ob Maschinen nun die Führung auf demGebie t des P lanens und Prob l e m l ö s e n s ü b e r n e h m e nk ö n n t e n . E r w e i s t s i c h d i ekünstliche Intelligenz endgültig als der menschlichen überlegen?

Das Konzept einer künstlichen Intelligenz verlangt nach einer Gegenüberstellung zu demjenigen menschlicher Intelligenz. Was bedeutet eigentlichmenschliche Intelligenz? Was macht diemenschliche Intelligenz im Vergleichzur künstlichen Intelligenz aus? Wirddurch die künstliche Intelligenz diemenschliche Intelligenz neu definiert?

A U T O R

Joachim Funke ist Inhaber des Lehrs tuh lsfür Allgemeine undTheoretische Psychologie an der Ruprecht-Kar ls -Un ivers i tä t He idelberg. Seine Forschungsschwerpunkte

s ind Denken, Handeln und Prob lemlösen.

Diesen Fragen soll sich dieser Beitragw i d m e n .

Es gab eine Zeit, in der jemand, dergut kopfrechnen konnte, bereits als intelligent galt. Lesen, Rechnen undSchreiben zählen heute zu den grundlegenden Kulturtechniken: sie zu beherrschen wird nicht mehr als „Beweis" fürIntelligenz betrachtet. Aber was ist Intelligenz dann? Diese Frage ist nichteinfach zu beantworten. Eine Expertenkommission aus dem Jahr 1996 unterVorsitz von Ulric Neisscr beginnt ihren

Überblick zum Thema „Intelligenz" mitdem Satz „Menschen unterscheiden sichvoneinander in ihrer Fähigkeit, komplexe Ideen zu verstehen, sich effektiv andie Umwelt anzupassen, aus Erfahrungzu lernen, in verschiedenen Formen zud e n k e n u n d H i n d e r n i s s e d u r c h N a c hd e n k e n z u ü b e r w i n d e n . " S c h o n d i e s e

Aufzählung vielfältiger Aspekte zeigt,dass menschliche Intelligenz ein summarisches Konstrukt darstellt, demn i c h t l e i c h t b e i z u k o m m e n i s t . A l l z uschnell reduziert man Intelligenz aufdas, was ein Intelligenztest misst.

Menschliche Intelligenz beschreibtdie Fähigkeit, im Lichte schwierigerUmweltanforderungen zu bestehen (zuüberleben). Sie zieht aus Beobachtungen vernünftige Schlüsse, plant Handlungsschritte und formuliert Ziele, koordiniert und reguliert aufkommende Ge

f ü h l e u n d v e r s c h i e d e n s t e A n t r i e b e i mDienst der Handlungsregulation.

Dass sich Menschen in ihren Fähigkeiten unterscheiden, war bereits in derA n t i k e b e k a n n t . D i e e r s t e n a n t i k e nMessversuche von Fähigkeitsunterschieden bezogen sich allerdings zunächstauf körperliche Leistungen, wie sie heute bei den Olympischen Spielen tradiertwerden, Geistige Unterschiede warenebenfalls bekannt, doch wurde erst 1905der e r s te Tes t f ü r mensch l i che I n te l l i

genz von Binet und Simon in Paris vorgestellt.

Die psychometrische Intelligenzforschung hat seither viele Verbesserungsvorschläge erfahren. Bis heute ist dieMessung von kognitiven Leistungen vor

allem im Bereich des logischen Denkens (induktivesund deduktives Schließen)w e i t e n t w i c k e l t . K r e a t i v e sDenken is t we i t schwerer zuerfassen. In der Stärke bishe

riger Intelligenztests liegt zugleich deren Schwäche: Sie sind keinw i r k l i c h u m f a s s e n d e s I n s t r u m e n t z u r

Bewertung menschlicher Leistung. DieBegrenzung auf den Bereich „reasoning" verengt den Blick auf eine (wichtige) Teilfacette gelungener Anpassungsp r o z e s s e .

Dass Intelligenz im klassischen Verständnis von rein analytischen undkreativen Fähigkeiten nicht uneingeschränkt wünschenswert ist, zeigen dievielen Betrügereien, die gerade von cleveren, hochintelligenten Personen ohnejeden Skrupel ausgeführt werden.Menschliche Intelligenz im Sinne einerÜberlebenskunst zu verstehen heißt daher für eine Reihe von Forschenden, zusätzlich Empathie und Rücksichtnahmeauf M i tmenschen e inzubez iehen . D iese

Erweiterung des Konzepts im Sinn einersozialen Intelligenz erfassen unsere heu-

»Menschliche Intelligenz beschreibt dieFähigkeit, im Lichte schwieriger Umweltanforderungen zu bestehen.«

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tigen Testverfahren nicht, aber maschinelle Intelligenz besitzt nichts Soziales.

Eine der wichtigsten Teilfähigkeitenintelligenter Organismen betrifft dieÜberwachung des eigenen Denkens.

schlussendlich sprachlichen und motorischen Output. Die Idee lag nicht fern,menschliche Informationsverarbeitungauf Rechnern mittels Computerprogrammen nachzubilden.

Diese Fähigkeit zur Selbstreflexion, inder Psychologie gelegentlich als Meta-kognition bezeichnet, besitzt nur derM e n s c h . D i e b e w u s s t e K o n t r o l l e u n d

Steuerung intelligenten Handelns ist Bes t a n d t e i l m e n s c h l i c h e r E x i s t e n z . K e i n e

künstliche Intelligenz kann (im Unterschied zum Menschen) „denStecker ziehen" - was eine in

telligente Handlung sein kann,wenn man sich festgefahrenhat .

Es gab Zeiten in der Geschichte der Psychologie, dadachte man, der menschlicheGeist funktioniere wie ein Computer(sog. Computer-Metapher): Die Sinnessysteme nehmen den Input auf, das Geh i r n v e r a r b e i t e t u n d n u t z t u n s e r G edächtnis als Speicher und produziert

Doch dieses vorgestellte Ideal einerMechanisierung des Geistes stießschnell an seine Grenzen: Bei genauererBetrachtung erwies sich die Computer-Metapher als zu einfach. Statt der Silizium-Hardware von Rechenmasch inen i s tdie „Wetware" des Gehirns doch völlig

»Keine künstliche Intelligenz kann(im Unterschied zum Menschen) >denStecker z iehen<.«

anders aufgebaut (schon die zwei Him-hälften machen stutzig), und auch dieVerarbeitungsprozesse funktionierengrundsätzlich anders (neuronale Netzekommunizieren auf multiplen Ebenen:

elektrisch, chemisch). Und ganz wesentlich fehlen Emotionen, die nach heutigem Verständnis entscheidungsrelevanteIn fo rma t i onen l i e fe rn . Küns t l i che In te l

ligenz schämt sich nicht nach einemFehler und f reu t s ich n ich t über e inen

Erfolg - KI ist eben auch „kalte" Intelligenz.

Aber viel wichtiger: Menschliche Intelligenz stiftet Sinn,

kann allen Arten von Symbolen Bedeutung geben

und die Welt sprachlichin beliebige Kategorien

o r d n e n . I n e i n e r v o n

Jorge Luis Borgesbeschriebenen (fiktiven) chinesischenEnzyklopädiek a n n m a n T i e r ewie folgt klassifizieren: „a) Tiere,d i e d e m K a i s e r

gehören, b) einbalsamierte Tiere,c ) g e z ä h m t e ,d) Milchschweine,

e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herren

lose Hunde, h) indiese Gruppierung

gehörige, i) die sichwie Tolle gebärden,

k) die mit einem ganz feinen P inse l aus Kamelhaar

gezeichnet sind, 1) und soweiter, m) die den Wasser

krug zerbrochen haben, n) dievon weitem wie Fliegen ausse

hen". Diese abstrusen Kategorienzeigen die Freiheit menschlichen

Denkens; maschinelle Klassifikatorenwürden Tiere anders ordnen. Fassen wirzusammen: Menschliche Intelligenz istein unscharfes und allgemein gehaltenesBündel an geistigen Fähigkeiten, hins i c h t l i c h d e r e r s i c h M e n s c h e n u n t e rscheiden und das für den Erfolg im Leben einen wichtigen Faktor darstellt, Erschüttern uns die Erfolge der künstli

chen Intelligenz, und müssen sie uns Angst machen?I c h d e n k e n i c h t - a u c hwenn beeindruckende Spezi-al-Leistungen von Maschin e n b e s s e r a l s v o n M e ns c h e n e r b r a c h t w e r d e n ,b le ib t unse re Bas t ion unan

gefochten: Kreativität, Phantasie undSinngebung. Menschliche Intelligenzläuft dann zur Höchstform auf, wenn siezur Weishei t w i rd . Das wi rd Maschinenkaum gelingen.


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