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Interview 14 REIKI MAGAZIN 4/14 www.reiki-magazin.de Die Kraft der Schamanen Galsan Tschinag ist Schriftsteller, Dichter und Schamane. Mehr als 30 Bücher hat er bislang veröffentlicht, zahlreiche Literaturpreise erhalten – und ist Träger des Bundesverdienstkreuzes. Oliver Klatt führte ein Interview mit ihm. Oliver Klatt: Ihr neuestes Buch trägt den Titel „Die Kraft der Schamanen“. Worin besteht sie im Wesentlichen aus Ihrer Sicht, die „Kraft der Schamanen“? Galsan Tschinag: In der Quersumme einer Vielzahl von Qualitäten wie der Ergebenheit in das eigene Geistwerk, das genauso Mund- und auch Handwerk ist, in der Führungsfähigkeit über die Geisterschar, in der Breite und Tiefe seines Wissens und in seiner Erfahrung. Von ganz besonderer Bedeutung ist dabei der Wert des Schamanen als Mensch. Sosehr in seltenen Fällen auch Gegenteiliges vorkommen mag, meine ich: Immer dort, wo Edles bezweckt wird, ist die Menschlichkeit wie Was- ser und Luft gefragt. Oliver Klatt: Sie haben bereits im Kindesalter eine Aus- bildung als Schamane begonnen. Wie lange dauerte die Ausbildung – und wie war es für Sie, schon so früh in das Schamanische eingeweiht zu werden? Galsan Tschinag: Ich bin in das Schamanentum hinein- geboren worden. Als ich anfing, meine Umwelt wahrzu- nehmen, umgaben mich quicklebendige Mitmenschen, die entweder selber Schamanen waren oder die geistig von diesen angeleitet wurden. Da herrschten noch die archaischen Sitten und Gebräuche des Lebens im All- tag, denen die Ehrfurcht vor einer allmächtigen beleb- ten, beseelten und begeisteten Natur zugrunde lag. Und dabei dachte man von Geistern nicht anders als von Vor- fahren oder von Helden der Epen und Legenden, die man zwar selber nicht gekannt hat, die aber dagewesen sein mussten, da die Eltern und die ganze Verwandt- schaft, von jenen abstammend, einen umgaben. Und so auch die Berge, Steppen, Flüsse und Wälder, die immer noch die Spuren jener mächtigen Wesen tragen. So gehörten in meiner Vorstellung Sagen, Mythen, Leben, Geister, Vorfahren, Verwandtschaft und ich selbst zu- sammen und bildeten eine Einheit, so wie die Einzeltei- le der Natur den Altai * ergaben und die vielen Men- schen mit ihren unterschiedlichen Gesichtern und Ge- stalten, Stimmen und Launen, ihrer gleichen Sprache und ihrem gleichen Glauben die Sippe ausmachten. Meine Anfangslehre bei der großen Schamanin Pürwü, vorerst die nächste unter den zahlreichen Tanten und Ehefrau des einzigen Bruders meines Vaters, dauerte an die drei Jahre. In diesen traumhaft langen, rund tau- send Tagen der märchenhaft schönen Kindheit lebte und bebte ich als Kinderschamane, dessen Auftritts- bühne die Altai-Steppe hieß und dessen Publikum aus dem Kindervolk bestand, das Dung und Wurzeln sam- melte, Kälber und Lämmer hütete, Ziesel und Murmel- tiere jagte und schließlich Tag um Tag sich in einer Mul- de zusammenfand. Große Freiheit Dann musste ich in die Schule, wo der Geist der mo- dernen Zeit, genauer, des Kommunismus herrschte. Nun, jedes Spiel hat an unterschiedlichen Orten von- einander leicht abweichende Regeln. So war es auch mit diesem tragisch-heroischen Drama der Mensch- heitsgeschichte im Weltenwinkel Altai: Die Vertreter des Zeitgeistes waren junge Menschen, die ausnahmslos von der Urgesellschaft unseres Hirten- und Jägervolkes abstammten und daher leicht rückfällig wurden. Also er- füllten sie tags beim Unterrichten zwar ihre Pflicht vor Partei und Staat, indem sie alles, was mit dem Glauben zusammenhing, für Lug und Trug erklärten. Abends je- doch ließen sie mich vom Internat heimlich abholen und ersuchten mich um Rat – mein Ruf als Schüler bei der berühmten, begehrten wie gefürchteten Schamanin musste ihnen ans Gehör gedrungen sein. Was mir, dem Kind, hinter dessen Stirne die Glut des Selbstwertge- fühls kaum zahmer geglommen haben dürfte als bei je- dem anderen menschlichen Wesen, nun recht verfüh- rerisch schmeichelte. Und in den langen Pausen des Un- terrichtsbetriebes entließ die Schule uns, und wir wur- * Altai: Mittelasiatisches Hochgebirge im Grenz- gebiet von Kasachstan, Russland, der Mongolei und China. Es erstreckt sich über rd. 2.000 Kilo- meter Länge. Der Altai gliedert sich in drei Teile, den Russischen, den Mongolischen und den Go- bi-Altai, deren höchste Gipfel über oder um 4.000 Meter aufragen und große Gletscher tra- gen. Nördlich des Mongolischen Altai liegt der geografische Mittelpunkt Asiens, in der Nähe der tuwinischen Hauptstadt Kysyl. Teile des Altai sind Weltnaturerbe der UNESCO.

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Page 1: Interview Die Kraft der Schamanen · Interview 14 REIKI MAGAZIN 4/14 Die Kraft der Schamanen Galsan Tschinag ist Schriftsteller, Dichter und Schamane. Mehr als 30 Bücher hat er bislang

Interview

14 REIKI MAGAZIN 4/14 www.reiki-magazin.de

Die Kraft der SchamanenGalsan Tschinag ist Schriftsteller, Dichter und Schamane. Mehr als 30 Bücher hat

er bislang veröffentlicht, zahlreiche Literaturpreise erhalten – und ist Träger des

Bundesverdienstkreuzes. Oliver Klatt führte ein Interview mit ihm.

Oliver Klatt: Ihr neuestes Buch trägt den Titel „Die Kraftder Schamanen“. Worin besteht sie im Wesentlichenaus Ihrer Sicht, die „Kraft der Schamanen“?

Galsan Tschinag: In der Quersumme einer Vielzahl vonQualitäten wie der Ergebenheit in das eigene Geistwerk,das genauso Mund- und auch Handwerk ist, in derFührungsfähigkeit über die Geisterschar, in der Breiteund Tiefe seines Wissens und in seiner Erfahrung. Vonganz besonderer Bedeutung ist dabei der Wert desSchamanen als Mensch. Sosehr in seltenen Fällen auchGegenteiliges vorkommen mag, meine ich: Immer dort,wo Edles bezweckt wird, ist die Menschlichkeit wie Was-ser und Luft gefragt.

Oliver Klatt: Sie haben bereits im Kindesalter eine Aus-bildung als Schamane begonnen. Wie lange dauertedie Ausbildung – und wie war es für Sie, schon so frühin das Schamanische eingeweiht zu werden?

Galsan Tschinag: Ich bin in das Schamanentum hinein-geboren worden. Als ich anfing, meine Umwelt wahrzu-nehmen, umgaben mich quicklebendige Mitmenschen,die entweder selber Schamanen waren oder die geistigvon diesen angeleitet wurden. Da herrschten noch diearchaischen Sitten und Gebräuche des Lebens im All-tag, denen die Ehrfurcht vor einer allmächtigen beleb-ten, beseelten und begeisteten Natur zugrunde lag. Unddabei dachte man von Geistern nicht anders als von Vor-fahren oder von Helden der Epen und Legenden, dieman zwar selber nicht gekannt hat, die aber dagewesensein mussten, da die Eltern und die ganze Verwandt-schaft, von jenen abstammend, einen umgaben. Und soauch die Berge, Steppen, Flüsse und Wälder, die immernoch die Spuren jener mächtigen Wesen tragen. Sogehörten in meiner Vorstellung Sagen, Mythen, Leben,Geister, Vorfahren, Verwandtschaft und ich selbst zu-sammen und bildeten eine Einheit, so wie die Einzeltei-le der Natur den Altai* ergaben und die vielen Men-

schen mit ihren unterschiedlichen Gesichtern und Ge-stalten, Stimmen und Launen, ihrer gleichen Spracheund ihrem gleichen Glauben die Sippe ausmachten.

Meine Anfangslehre bei der großen Schamanin Pürwü,vorerst die nächste unter den zahlreichen Tanten undEhefrau des einzigen Bruders meines Vaters, dauertean die drei Jahre. In diesen traumhaft langen, rund tau-send Tagen der märchenhaft schönen Kindheit lebteund bebte ich als Kinderschamane, dessen Auftritts-bühne die Altai-Steppe hieß und dessen Publikum ausdem Kindervolk bestand, das Dung und Wurzeln sam-melte, Kälber und Lämmer hütete, Ziesel und Murmel-tiere jagte und schließlich Tag um Tag sich in einer Mul-de zusammenfand.

Große Freiheit

Dann musste ich in die Schule, wo der Geist der mo-dernen Zeit, genauer, des Kommunismus herrschte.Nun, jedes Spiel hat an unterschiedlichen Orten von-einander leicht abweichende Regeln. So war es auchmit diesem tragisch-heroischen Drama der Mensch-heitsgeschichte im Weltenwinkel Altai: Die Vertreter desZeitgeistes waren junge Menschen, die ausnahmslosvon der Urgesellschaft unseres Hirten- und Jägervolkesabstammten und daher leicht rückfällig wurden. Also er-füllten sie tags beim Unterrichten zwar ihre Pflicht vorPartei und Staat, indem sie alles, was mit dem Glaubenzusammenhing, für Lug und Trug erklärten. Abends je-doch ließen sie mich vom Internat heimlich abholen undersuchten mich um Rat – mein Ruf als Schüler bei derberühmten, begehrten wie gefürchteten Schamaninmusste ihnen ans Gehör gedrungen sein. Was mir, demKind, hinter dessen Stirne die Glut des Selbstwertge-fühls kaum zahmer geglommen haben dürfte als bei je-dem anderen menschlichen Wesen, nun recht verfüh-rerisch schmeichelte. Und in den langen Pausen des Un-terrichtsbetriebes entließ die Schule uns, und wir wur-

* Altai: Mittelasiatisches Hochgebirge im Grenz-gebiet von Kasachstan, Russland, der Mongoleiund China. Es erstreckt sich über rd. 2.000 Kilo-meter Länge. Der Altai gliedert sich in drei Teile,den Russischen, den Mongolischen und den Go-bi-Altai, deren höchste Gipfel über oder um4.000 Meter aufragen und große Gletscher tra-gen. Nördlich des Mongolischen Altai liegt dergeografische Mittelpunkt Asiens, in der Nähe dertuwinischen Hauptstadt Kysyl. Teile des Altai sindWeltnaturerbe der UNESCO.

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den wieder der großen Freiheit überlassen, dem Noma-dentum zurückgegeben.

Später, in der Mittelschule, nun zwei Tagesritte weiterentfernt, widerfuhr mir einmal eine zu große Ehre, diemich wohl mitten in meinem Gehäuse durcheinandergebracht haben muss. Denn da beschloss ich mit einemMal, alles mir bislang Vertraute und Heilige zu verneinenund so zu einem neuzeitigen Menschen zu werden. Da -raufhin aber wurde ich von einer geheimnisvollen,schweren Krankheit heimgesucht, die erst dann michverließ, als mich die bisherige Tante und Lehrerin nebenihren vielen eigenen Kindern als ein weiteres Kind adoptierte. Daher der Name Muttertante, wie sie in meinen Büchern öfters genannt wird. Also rückten wirbeide noch näher aneinander. Ich, ohnehin längst ihrLaufbursche, wurde nun zu ihrem unmittelbaren Gehil-fen. Diese Verbundenheit blieb die ganzen Jahre beste-hen, solange sie lebte.

Besonders in der schwersten Phase meines Lebens, alsich wegen meiner politischen Überzeugung der Verfol-gung von Seiten der Stasi ausgesetzt war, wurde siemeine Hauptstütze. Ihre mahnenden, ermutigendenWorte: „Du bist ängstlich geworden. Solange ich da bin,gibt es kein Messer, imstande, dich zu schneiden. Gehdas Ungeheuer mutig an!“ haben als Devise den Fort-gang meines späteren Lebens bestimmt. Und eines Ta-ges durfte ich, als sie auf dem Totenbett lag, ihr einenAbschiedsgesang singen. Da stand sie unter der Lastvon 82 Jahren, was in unserer Ecke ein sehr hohes Al-ter war. Also hat die Lehre angedauert, solange die Leh-rerin auf Erden umherging. Nun, obwohl sie längst nichtmehr da ist, fühle ich mich immer noch als Schüler vorihren Geistern und vor dem Blauen Himmel. Also dauertdie schamanische Lehre zeitlebens an.

Oliver Klatt: Es gibt Schamanen in allen Teilen der Welt.Was zeichnet das mongolische Schamanentum aus?Welches sind dessen wesentliche Eckpfeiler?

Tiefe Ehrfurcht

Galsan Tschinag: Zunächst die positive Seite dieser Sa-che. Der Glaube an die Einheit, was so zu verstehen ist:Alles im All ist belebt, beseelt und begeistet. So sind wirMenschen winzige Splitter eines großen, heiligenGanzen. Dieser Glaube liegt der tiefen Ehrfurcht vor derMutter Erde, dem Vater Himmel und der engen Verbun-denheit aller Wesen miteinander zu Grunde. Nun zu dernegativen Seite. Ich beobachte, wie Schamanen, die ei-gentlich das Gleiche predigen, einander ständigbekämpfen. Was in der Tat eine Grundeigenschaft desKünstlertums ist, das von nichts anderem so sehr lebtwie von Ambitionen. Ein Großteil der neuzeitigen Scha-manen zeigt sich bestrebt, möglichst viele von den ver-gessenen alten Sitten und Gebräuchen wieder zu bele-

ben. Ich bin da vorsichtig und frage: Warum sind be-stimmte Brauchtümer in Vergessenheit geraten? Wohldeswegen, weil sie von der Zeit überholt sind und denBedürfnissen des heutigen Lebens nicht mehr entspre-chen. Nach meiner Überzeugung braucht auch dasSchamanentum ständig Erneuerungen, wenn nicht inseinem Grundgerüst, so doch in seinen Begleiterschei-nungen. Hierbei denke ich an die Verwendung von Blut,Ruß, Schnaps, Edelmetallen und bestimmten Körpertei-len seltener Tiere in der schamanischen Alltagspraxis.

Oliver Klatt: Sie sind auch Stammesoberhaupt der Tu-wa, eines alten Volkes in der Mongolei. Welche Aufga-ben obliegen Ihnen in diesem Zusammenhang?

Galsan Tschinag: Mein Vater war Sippenhäuptling, wieder von Temudschin, dem späteren Dschingis Khan,auch. Jener Spross aus der Vergangenheit hat die vie-len zerstreuten, ständig einander bekriegenden Sippenund Stämme zunächst zu einem Nomadenstaat vereintund diesen zum Schluss zu einer Weltmacht vergrößert.Ich aber wollte lediglich meine kleine Volksminderheitmit ihrer eigenen Sprache, Kultur und besonderen Le-bensstruktur erhalten. Das ist jedoch angesichts derGlobalisierung eine sehr schwierige Aufgabe, verbun-den mit der Überwindung von juristischen und morali-schen Hürden und der Gewährleistung einer Existenz-basis mitten in der weltwirtschaftlichen Krise.

Während alle anderen Führer besoldet sind, bekommtein Häuptling für seine Anstrengung nichts außer Aner-kennung; im Gegenteil, der Häuptling, der ich bin, mussmit den bescheidenen Mitteln, die von meiner schrift-stellerischen Tätigkeit zusammenkommen, meinem �

Galsan Tschinag in der Mongolei.

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Volk beistehen. Hatte der geniale Heeresführer es ver-mocht, seinen Staat recht schnell zu vergrößern, mir je-doch wollte es nicht einmal gelingen, das Sippenvolk zu-sammenzuhalten. Was nun tun? Nach mancher Über-legung beschloss ich, an dem Ruf meines Volkes undmeiner Heimat zu putzen und zu wetzen, anstatt ihm zu-sätzliche äußere Last, genannt Größe, ankleben zu wol-len. So schrieb ich über sie Bücher in anderen Spra-chen, pflanzte in ihrem Namen Bäume und wagte etwas,das noch keinem eingefallen war: machte Regen.

Bisheriges Ergebnis der Anstrengungen dieser dreige-teilten Person, die ich bin: Drei satte Dutzend Bücher, dieschon heute ausreichten, ein schamanenseliges, noma-dengeistiges Sonderfach in der Bücherei der Weltlitera-tur aufzufüllen, sind erschienen; eine halbe Million Bäu-me sind gepflanzt; ein Regengerät arbeitet den drittenSommer, von dem ich vorsichtig berichten darf, es wirdwenigstens mitgeholfen haben, dass nach langen Jahr-zehnten der Dürre ausgerechnet diese letzten drei Som-mer von Niederschlägen voll gesegnet waren. Durch dasleise, aber anhaltende Lob, erzeugt von den genanntenAktivitäten, erhaschen lauschende Ohren mindestenszwei Namen immer öfters: Altai und Tuwa.

Oliver Klatt: Als Schamane wer-den Sie auch in Sachen Heilungkonsultiert. Was ist für Sie Hei-lung?

Galsan Tschinag: Anstatt „auch“in Ihrer Frage würde ich lieber„vor allem“ sagen. Denn derSchamane ist in seiner erstenFunktion Heiler. Dann noch Ver-mittler zwischen der sichtbarenund der unsichtbaren Welt. Dannauch Dichter, Sänger, Tänzer –Unterhalter. Ein Dummer kannschlecht zum Schamanen tau-gen. Also ist der Schamane einDenker. So auch ein Geschickter.Also ein Macher. Ein Feinfühliger.Ein Weich- und Warmherziger,gleichzeitig aber auch ein Kühner.Ein richtiger, guter Schamane hat,so gesehen, eine menschlicheAuslese zu sein. Was natürlichder Idealfall wäre. Schamane ist,übrigens, keine gute, zutreffendeBezeichnung. Mehr noch: ein Un-wort, nach Europa herüber ge-schleppt von einem sach- undsprachunkundigen Weltenwande-rer. Besser hätte Heiler zuge -troffen. Meinetwegen auch Geist -heiler.

„Heil ist was ganz ist.“

Heilung kommt von heil. Heil ist, was ganz ist. Ganz ist,wessen Urzustand noch ungestört andauert. Der Him-mel, die Erde, ein Fluss, ein Wald, ein Tier, ein Mensch er-krankt, wenn ihm, dem Lebe-, Geist- und Seelenwesen,etwas fehlt oder auch, wenn ein Fremdkörper in es ein-dringt und seinen Urzustand stört. Heilung wird erreicht,wenn man dem Körper das Fehlende wieder gibt oderdas Störende beseitigt und so den Urzustand wiederherstellt. Was nicht nur den Körper als äußere Hülle, son-dern auch die Seele und den Geist als Inhalt betrifft.

Ich habe, wie es bei den Nomaden so ist, viele Berufe.Mein Ur- und Hauptberuf aber ist der Heiler. Das betrifftauch meine Literatur. Meine Bücher sind, wenn Sie es sowollen, niedergeschriebene schamanische Untersu-chungen, Befunde und Ratschläge. Ich habe es, bevorich einen Menschenleib anfassen durfte, zunächst beiden Schafen versucht. Und zwar habe ich mich gleich anihre Seele herangemacht. Ein schweres Unterfangen fürein so kleines menschliches Wesen. Aber das Ergebnisist erstaunlich: Die Schafmutter, die bei dem verheeren-den Unwetter ihr eigenes nacktes Leben retten wollte, in-dem sie beschloss, ihr Lamm nicht an sich heranzulas-sen und es so dem Hungertod zu überlassen, wird durchmeinen unnachgiebigen Gesang von ihrer Selbstsuchtgeheilt. Wer den Film „Das weinende Kamel“ gesehenhat, wird vielleicht verstehen, was ich meine.

Später ging ich daran, Menschen zu heilen, indem ichmit meinen Kinderhändchen erwachsene Menschen -körper zu kneten anfing. Noch später versuchte ich, dievon Menschen der Erdmutter zugefügten Wunden zuheilen, indem ich Bäume pflanzte. Und nun bin ich da-bei, den Himmelsvater von der Erde aus mit 20 gewal-tigen Edelstahlrohren zu akupunktieren, um ihn vondem nuklearen Müll zu befreien.

Oliver Klatt: Im Usui-System des Reiki arbeiten wir mitder universellen Lebensenergie, die wir per Handaufle-gen übermitteln, zu Zwecken der Heilung. Haben Siepersönliche Erfahrungen der Lebensenergie oder mitHandauflegen?

Natürliche Heilinstrumente

Galsan Tschinag: Der Schöpfer hat uns Menschen voll-kommen erschaffen. Unser Körper ist in der Lage, sichselber und durch Berührung auch andere zu heilen. Soist auch der Meinige ein rundum einsetzbares und funk-tionierendes Mess- und Heilinstrument. Selbstver-ständlich kommt da den Händen eine zentrale Rolle zu.Jeder Nomade kennt dies und kann auch damit arbei-ten. Daher kommt es, dass in jedem Menschen aus demNomadentum ein Heiler steckt. Und um den Menschennebenan heilen zu können, braucht man am besten Kör-

Beide Fotos © Archiv Förderverein Mongolei e.V.

Galsan Tschinag in Schamanentracht.

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perkontakt. Doch die Hände sind nur eines der natürli-chen Heilinstrumente eines jeden Menschen.

Jedes Stück der nackten, heißen menschlichen Hautkann Heilung bewirken: Der weiche Bauch, der festeRücken, die harten Knie und Ellenbögen, die weiche,feuchte Zunge, die weichen, spannfähigen Lippen – al-les, alles, womit uns der Schöpfer gesegnet, kann unsbei der Heilung dienen. Die Zunge zum Beispiel, um dieAugen des Nächsten von störenden, gefährdendenFremdkörpern durch Abschlecken zu befreien, und dieLippen zum Absaugen von Geräuschen, so auch derSchwerhörigkeit aus den Ohren der Nächsten. Dass ichin den letzten Jahren Hunderte von Menschen durchAbsaugen vom Tinnitus habe heilen können, passt frei-lich nicht zum Konzept der Weltgesundheitsorganisa -tion, die dieses lästige Pfeifen und Rauschen im Innen -ohr zu den unheilbaren Leiden der Menschheit hinaufgestuft hat, und zu der Pharmaindustrie, für die jedeKrankheit eine willkommene Quelle für weitere Gewin-ne zu sein scheint.

Oliver Klatt: Eine für die spirituelle Entwicklung in ei-gentlich allen Traditionen und Religionen sehr wesent-liche Grundhaltung ist Dankbarkeit. Können Sie etwasdazu sagen, was für Sie Dankbarkeit bedeutet?

Dankbarkeit leben

Galsan Tschinag: Oh, dazu könnte ich eine ganze Men-ge sagen ... doch hier möchte ich nur zwei Dinge kurzerwähnen. Erstens, jeder neue Lebenstag beginnt fürmich mit der Dankbarkeit, die ich tief in mir empfinde.Ich bin, wenn ich morgens erwache, dem Himmel dank-bar dafür, dass ich lebe. Dann dafür, dass der Himmelnoch da ist, mit seiner Sonne, seinem Mond und seinenunzähligen Sternen, seinem Wind und seinen Wolken,die uns bald frisches Wasser, dieses Grundelement jeg-lichen Lebens, herunterschicken möchten. Dann dankeich, dass der große Friede noch andauert, ohne Krieg,ohne Erdbeben oder sonstige Katastrophen. Undabends, wenn ich mich zur Nachtruhe niederlege, em -pfinde ich die Dankbarkeit noch einmal, dafür, dass ichwieder einen so schönen Tag habe verleben dürfen. Dadecken sich Dankbarkeit und Gebet.

Diese Art zu leben halte ich für den Grundzug meinerReligiosität. Nicht gut finde ich, dass viele Menschenerst dann anfangen zu beten, wenn sie wieder einmalauf Schwierigkeiten stoßen, wie zum Beispiel, wenn siesich mit der Diagnose einer unheilbaren Krankheit odermit einem anderen Schicksalsschlage konfrontiert se-hen. Das Gebet, das dann über ihre Lippen flutet, isteher eine armselige, verspätete Bettelei.

Zweitens, wir sollen und können unseren Mitmenschenhelfen, wo wir es nur können. Dürfen dabei aber keinen

Gegendank erwarten. Denn derMensch scheint von seiner Naturher ein mit allen Waffen zum Rau-ben, Zerstören und Töten verse-henes, daher wohl ein undankba-res Wesen zu sein. Das mag hartklingen. Doch dieses Urteilkommt aus der Erfahrung her-ausgeschossen, die ich als ideali-stisch veranlagter Mensch in mei-nem relativ langen Leben habemachen müssen. Ich habe michzeitlebens wie ein Arbeitstier vor-angetrieben und deswegen aucheiniges erreicht, unter anderemrelativ viel Geld verdient. Ich habeaber den größten Teil dieses Gel-des meinen Mitmenschen undmeinem Staat mir nichts, dirnichts weiter geschenkt.

Was ist nun das Ergebnis? Die Menschen, die ich mitGeld versehe, wollen immer größere Summen haben.Und wenn ich mit der weiteren Gabe zögere, meinen sie,ich wäre vergreist und knauserig geworden. Und derStaat, dessen versäumte Aufgaben ich übernehme unddafür staatsmäßige Summen von meinem schwer ver-dienten Geld abgebe, hat für mich nichts anderes übrig,als mir seine kalte Schulter zu zeigen und scheint allesdaran zu setzen, mein Werk totzuschweigen, aus einemGrund, wofür ich nichts kann: Ich bin zwar auch blau-steißig geboren, aber trotzdem kein reinrassiger Mon-gole – Wortbezeichnungen, die in anderen Ländern ver-dächtig klängen, ja, sogar unzulässig wären, aber nichtbei den rassistisch-nationalistischen Führern unseresStaates!

Oliver Klatt: Sie sind viel auf Reisen, unter anderem aufLesereisen weltweit unterwegs. Neben den regionalenBesonderheiten, die es in jedem Land, an jedem Ort si-cherlich gibt – was eint aus Ihrer Sicht alle Menschen?

Glücklich sein

Galsan Tschinag: Unabhängig von der Farbe ihrer Haut,von dem Zuschnitt ihres Gesichts und Körpers, von derSprache und Kultur und von der Religion, die sie prägt,wollen alle Menschen glücklich sein – möglichst weitweg von solchen unangenehmen Erfahrungen wieKrieg und Katastrophe, Hunger und Durst, Armut undKrankheit, Schmerz und Erniedrigung. Durch alle, obweiß oder braun, schwarz oder gelb strömt rotes, kleb-riges Blut und aus allen Augen, ob schmal oder rund,schwarz oder braun, grün oder blau, rinnen klare, bitte-re Tränen.

Oliver Klatt: Vielen Dank für das Interview. �

Veranstaltungstipp:Tages-Workshop „Schamanismus und Wissenschaft: Die Kunst des Heilens“ mit Galsan TschinagOrt: Therapeium – Zentrum für Natur -heilkunde, 14163 BerlinDatum: So., 5. Oktober 2014Info: www.therapeium.de

Große Baumpflanzaktion

Jahrzehntelang wurde in der Mongolei eine unkon-trollierte Abholzung des Baumbestandes ohne Auf-forstung zugelassen. Ein aktuelles Herzensprojektvon Galsan Tschinag ist die Wiederbewaldung einesTeils der Mongolei und des Hohen Altai. Schon seit2009 wurden von der Galsan-Tschinag-Stiftung anverschiedenen Stellen der Zentralmongolei die ers -ten Setzlinge gepflanzt. Inzwischen ist die Anzahl dergesetzten Bäumchen, die von der Galsan-Tschinag-Stiftung, dem deutschen Förderverein Mongolei e.V.,dem Schweizer Verein Open-Hearts-For-Mongoliaund Spenden finanziert werden, auf 400.000 Bäumeangewachsen.

Weitere Infos: www.foerderverein-mongolei.de