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WI – EDITORIAL IT als Fluch und Segen Der Autor Prof. Dr. Hans Ulrich Buhl ( ) FIM Kernkompetenzzentrum Finanz- & Informationsmanagement Universität Augsburg Universitätsstraße 12 86159 Augsburg Deutschland hans-ulrich.buhl@ wiwi.uni-augsburg.de Online publiziert: 2013-10-29 This article is also available in English via http://www.springerlink.com and http://www.bise-journal.org: Buhl HU (2013) IT as Curse and Blessing. Bus Inf Syst Eng. doi: 10.1007/s12599-013- 0292-2. © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 DOI 10.1007/s11576-013-0385-z Die Büchse der Pandora ist geöffnet – seit Jahren durchdringen IT-Systeme alle Geschäfts- und Lebensbereiche in zunehmendem Maße. Die negativen Auswirkungen hiervon sind in der öffentlichen Debatte allgegenwärtig und kulminieren in Themen wie den weltweiten Datenschutzverletzungen oder globalen Wirtschaftskrisen, welche die IT als Enabler einer immer globaleren, vernetzteren und schnelleren Welt erst er- möglicht hat. Obgleich auch diese Entwicklungen unumkehrbar sind, bringen sie – wie schon Pandoras Büchse – Hoffnung mit sich. Zahlreiche Innovationen wurden durch moderne IT-Systeme eröffnet, die hohen Nutzen in allen Teilen der Gesellschaft stif- ten. Die IT zeigt sich hiermit aus gesellschaftlicher Sicht als Fluch und Segen zugleich. Sie birgt große Potenziale, sofern auch die Wirtschaftsinformatik dazu beiträgt, eine ausgewogene Balance zwischen beiden Polen zu finden. Im Jahr 1965 publizierte die Zeitschrift Electronics die Prognose von Gordon Moore (Moore 1965), einem der beiden Gründer der Intel Corporation, dass sich die wirt- schaftlich produzierbare Anzahl an Transistoren pro Mikrochip etwa alle zwei Jah- re verdoppeln werde. Die heute beobachtbare enorme Leistungssteigerung, die dem Moore’schen Gesetz Recht gibt (Intel Corporation 2005), zusammen mit einer sukzes- siv zunehmenden Vernetzung zwischen mobilen und stationären Endgeräten hat die Sammlung, Verarbeitung und Auswertung von riesigen Datenmengen ermöglicht. Die technischen Entwicklungen in den Bereichen des Informationsaustauschs, der automatisierten Datengewinnung und -verarbeitung haben hierbei eine wirtschaftlich hochrelevante Dynamik hervorgerufen. Die hierdurch eröffneten Potenziale zeigen sich in der Entstehung milliardenschwerer Technologiekonzerne wie Google oder Facebook, deren Geschäftsmodelle dadurch erst ermöglicht wurden. Aber auch etablierte Unter- nehmen werden zum Umdenken gezwungen, wie das Beispiel Apple zeigt: Nur durch die Verbindung von Hardwareprodukten und digitalen Angeboten zu einem eigenen Ökosystem konnte das Unternehmen sein Überleben retten und sich unter Steve Jobs zum teuersten Konzern der Welt entwickeln. Das Beispiel Apple zeigt aber auch, dass die oben genannte Innovationsdynamik weder Stillstand noch Fehler verzeiht und es da- her durchaus fraglich ist, ob die Nachfolger von Steve Jobs an seine Erfolge anknüpfen können. Die technologischen Entwicklungen erlauben eine bisher unerreichte Durchdrin- gung und Beschleunigung aller Lebens- und Arbeitsbereiche. Dieser immer schnelle- re und umfassendere Datenstrom wiederum ermöglicht eine immer stärkere Vernet- zung sowohl von Unternehmen als auch von Privatpersonen und führt zu einer fortlau- fenden und immer weitergehenden Transformation von Geschäftsmodellen und Wert- schöpfungsketten. Die hieraus neu erwachsenden Chancen und Möglichkeiten bergen jedoch auch große Gefahren, die aufgrund der Komplexität der vernetzten Welt kaum prognostizierbar scheinen. Die immer stärkere Durchdringung der Welt mit hochentwickelten IT-Systemen er- möglicht immer weitreichendere Möglichkeiten der Arbeitsteilung. Die hierdurch be- schleunigte vertikale Desintegration bringt eine starke Fragmentierung unternehmeri- scher Wertschöpfungsketten mit sich. Durch Koordinations- und Kommunikations- systeme werden globale Abhängigkeiten in zuvor regionalen Wertschöpfungsnetzen erzeugt, welche für alle beteiligten Unternehmen zunehmend intransparent werden. Im Bereich der Finanzwirtschaft zeigten sich die Gefahren der zunehmenden Kom- plexität z. B. im Rahmen des Börsen-Flashcrashs am 06. Mai 2010. Das High Frequency Trading – siehe hierzu auch Gomber und Haferkorn (2013) – wirkte als Brandbeschleu- niger (Kirilenko et al. 2011) für einen singulären Fehler, der sich hierdurch weltweit ausbreiten konnte und innerhalb weniger Minuten massive Kurseinbrüche verursachte. Neben derartigen kurzfristigen Friktionen hat sich das Ausmaß der finanzwirtschaft- lichen Abhängigkeiten auch langfristiger im Rahmen der internationalen Finanzkrise eindrucksvoll am Beispiel systemrelevanter Marktteilnehmer gezeigt. In der stark auf Informationen ausgerichteten Finanzwelt sind derartige Auswirkungen auf Transpa- renz, Sicherheit und Steuerbarkeit natürlich besonders ausgeprägt. Jedoch führen die zunehmenden Möglichkeiten im Bereich der Informationstechnologie nicht nur zu ei- ner wachsenden Vernetzung innerhalb der Finanzwirtschaft, sondern auch mit und WIRTSCHAFTSINFORMATIK 6|2013 371

IT als Fluch und Segen

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IT als Fluch und Segen

Der Autor

Prof. Dr. Hans Ulrich Buhl (�)FIM Kernkompetenzzentrum Finanz-& InformationsmanagementUniversität AugsburgUniversitätsstraße 1286159 [email protected]

Online publiziert: 2013-10-29This article is also available in Englishvia http://www.springerlink.com andhttp://www.bise-journal.org: Buhl HU(2013) IT as Curse and Blessing. BusInf Syst Eng. doi: 10.1007/s12599-013-0292-2.

© Springer Fachmedien Wiesbaden2013

DOI 10.1007/s11576-013-0385-z

Die Büchse der Pandora ist geöffnet – seit Jahren durchdringen IT-Systeme alleGeschäfts- und Lebensbereiche in zunehmendem Maße. Die negativen Auswirkungenhiervon sind in der öffentlichen Debatte allgegenwärtig und kulminieren in Themenwie den weltweiten Datenschutzverletzungen oder globalen Wirtschaftskrisen, welchedie IT als Enabler einer immer globaleren, vernetzteren und schnelleren Welt erst er-möglicht hat. Obgleich auch diese Entwicklungen unumkehrbar sind, bringen sie – wieschon Pandoras Büchse – Hoffnung mit sich. Zahlreiche Innovationen wurden durchmoderne IT-Systeme eröffnet, die hohen Nutzen in allen Teilen der Gesellschaft stif-ten. Die IT zeigt sich hiermit aus gesellschaftlicher Sicht als Fluch und Segen zugleich.Sie birgt große Potenziale, sofern auch die Wirtschaftsinformatik dazu beiträgt, eineausgewogene Balance zwischen beiden Polen zu finden.

Im Jahr 1965 publizierte die Zeitschrift Electronics die Prognose von Gordon Moore(Moore 1965), einem der beiden Gründer der Intel Corporation, dass sich die wirt-schaftlich produzierbare Anzahl an Transistoren pro Mikrochip etwa alle zwei Jah-re verdoppeln werde. Die heute beobachtbare enorme Leistungssteigerung, die demMoore’schen Gesetz Recht gibt (Intel Corporation 2005), zusammen mit einer sukzes-siv zunehmenden Vernetzung zwischen mobilen und stationären Endgeräten hat dieSammlung, Verarbeitung und Auswertung von riesigen Datenmengen ermöglicht.

Die technischen Entwicklungen in den Bereichen des Informationsaustauschs, derautomatisierten Datengewinnung und -verarbeitung haben hierbei eine wirtschaftlichhochrelevante Dynamik hervorgerufen. Die hierdurch eröffneten Potenziale zeigen sichin der Entstehung milliardenschwerer Technologiekonzerne wie Google oder Facebook,deren Geschäftsmodelle dadurch erst ermöglicht wurden. Aber auch etablierte Unter-nehmen werden zum Umdenken gezwungen, wie das Beispiel Apple zeigt: Nur durchdie Verbindung von Hardwareprodukten und digitalen Angeboten zu einem eigenenÖkosystem konnte das Unternehmen sein Überleben retten und sich unter Steve Jobszum teuersten Konzern der Welt entwickeln. Das Beispiel Apple zeigt aber auch, dass dieoben genannte Innovationsdynamik weder Stillstand noch Fehler verzeiht und es da-her durchaus fraglich ist, ob die Nachfolger von Steve Jobs an seine Erfolge anknüpfenkönnen.

Die technologischen Entwicklungen erlauben eine bisher unerreichte Durchdrin-gung und Beschleunigung aller Lebens- und Arbeitsbereiche. Dieser immer schnelle-re und umfassendere Datenstrom wiederum ermöglicht eine immer stärkere Vernet-zung sowohl von Unternehmen als auch von Privatpersonen und führt zu einer fortlau-fenden und immer weitergehenden Transformation von Geschäftsmodellen und Wert-schöpfungsketten. Die hieraus neu erwachsenden Chancen und Möglichkeiten bergenjedoch auch große Gefahren, die aufgrund der Komplexität der vernetzten Welt kaumprognostizierbar scheinen.

Die immer stärkere Durchdringung der Welt mit hochentwickelten IT-Systemen er-möglicht immer weitreichendere Möglichkeiten der Arbeitsteilung. Die hierdurch be-schleunigte vertikale Desintegration bringt eine starke Fragmentierung unternehmeri-scher Wertschöpfungsketten mit sich. Durch Koordinations- und Kommunikations-systeme werden globale Abhängigkeiten in zuvor regionalen Wertschöpfungsnetzenerzeugt, welche für alle beteiligten Unternehmen zunehmend intransparent werden.

Im Bereich der Finanzwirtschaft zeigten sich die Gefahren der zunehmenden Kom-plexität z. B. im Rahmen des Börsen-Flashcrashs am 06. Mai 2010. Das High FrequencyTrading – siehe hierzu auch Gomber und Haferkorn (2013) – wirkte als Brandbeschleu-niger (Kirilenko et al. 2011) für einen singulären Fehler, der sich hierdurch weltweitausbreiten konnte und innerhalb weniger Minuten massive Kurseinbrüche verursachte.Neben derartigen kurzfristigen Friktionen hat sich das Ausmaß der finanzwirtschaft-lichen Abhängigkeiten auch langfristiger im Rahmen der internationalen Finanzkriseeindrucksvoll am Beispiel systemrelevanter Marktteilnehmer gezeigt. In der stark aufInformationen ausgerichteten Finanzwelt sind derartige Auswirkungen auf Transpa-renz, Sicherheit und Steuerbarkeit natürlich besonders ausgeprägt. Jedoch führen diezunehmenden Möglichkeiten im Bereich der Informationstechnologie nicht nur zu ei-ner wachsenden Vernetzung innerhalb der Finanzwirtschaft, sondern auch mit und

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innerhalb der Realwirtschaft. Die Informationstechnologie hat sich somit zusammenmit der Finanzwirtschaft zu einem wichtigen Teil des Blutkreislaufes der Realwirtschaftentwickelt.

Die Wandlung von realwirtschaftlichen Wertschöpfungsketten hin zu komplexenWertschöpfungsnetzen mit intransparenten Abhängigkeitsstrukturen zeigen verschie-dene jüngere Vorgänge, wie z. B. die Auswirkungen der Flutkatastrophe in Thailandim Herbst 2011. Insgesamt 45 % der weltweiten Festplattenproduktion kamen aus demGroßraum Bangkok, dessen Überflutung zu globalen Lieferausfällen führte. Dass Un-ternehmen heute via moderner Informationstechnologie aus einem globalen Angebotan Zulieferern auswählen können, bringt weitreichende Vorteile bei der Gestaltung vonWertschöpfungsnetzwerken mit sich. Aus der generellen Vernetzung ergeben sich aller-dings zusammen mit der vertikalen Desintegration sehr komplexe Wertschöpfungsnet-ze. Wie auch in Nahrungsnetzen biologischer Systeme kann eine zunehmende Kom-plexität zu einer Destabilisierung führen und unvorhersehbare Risiken hervorbringen(May 1972). Exogene Schockereignisse wie eine Flutkatastrophe können hierdurch un-erwartete und weitreichende Auswirkungen auf das Netzwerk haben, da Unterneh-men häufig nur ihre unmittelbaren Zulieferer kennen, jedoch nicht deren Lieferanten,Unterlieferanten, usw.

Durch die hohe Geschwindigkeit des Informations- und Geldflusses entwickelte sichdas Finanzsystem zu einem wichtigen Teil des Blutkreislaufes der Realwirtschaft. Diesführt auf der einen Seite zu einer engen Verzahnung der Informationsströme der Fi-nanzmärkte mit der Realwirtschaft, deren Warenströme dem Informationsfluss weithinterherhinken.

Auf der anderen Seite eröffnet dies gleichzeitig auch das Entstehen einer kollekti-ven Verantwortungslosigkeit. Nicht nur verursachen die globalen Verflechtungen uner-wartete Interdependenzen, durch welche kurzfristig orientiertes, individuell rationalesHandeln jedes Beteiligten zu einem langfristig verantwortungslosen Ergebnis für dieGesellschaft führen kann. Sondern es bietet den Marktteilnehmern gleichzeitig auchdie Möglichkeit, eigene Verantwortung, welche mit der Kenntnis der Zusammenhän-ge des Gesamtsystems sukzessive wächst, nicht wahrzunehmen, und sich stattdessenhinter dem System, Regulierungsdefiziten oder anderen – noch verantwortungslose-ren – Marktteilnehmern zu verstecken. Damit wird es dem einzelnen Entscheider mög-lich, den eigenen kurzfristigen Nutzen zu optimieren, ohne negative Konsequenzen fürandere Beteiligte bzw. das Gesamtsystem berücksichtigen zu müssen. Das Auffindendes jeweiligen Verantwortungsträgers kann ihnen hierzu doch zu unwahrscheinlich,wenn nicht unmöglich erscheinen, sodass nicht einmal mehr der Druck einer späterenRechtfertigung für das eigene Handeln besteht.

Am Beispiel der globalen Rohstoffmärkte wird dies besonders deutlich, da hier bei-de Welten aufeinander prallen. Langfristig orientierte Investoren und kurzfristig agie-rende Spekulanten sind nun mehr denn je befähigt, Rohstoffpreise zu verzerren unddamit der Realwirtschaft direkten Schaden zuzufügen. Obgleich keiner der Marktteil-nehmer dies beabsichtigt, aber vielleicht billigend in Kauf nimmt, führen die systemi-schen Zusammenhänge und die undurchsichtigen Verflechtungen zu gesellschaftlichnicht verantwortbaren Ergebnissen.

Ein weiterer Treiber der Komplexitätssteigerung unserer Welt ist die wachsende Be-deutung hybrider Wertschöpfung. Die Leistungen realwirtschaftlicher Unternehmenentwickeln sich immer mehr von güter- hin zu dienstleistungsdominierten Systemen(Lusch und Vargo 2006), sodass die Grenzen zwischen Realwirtschaft, Dienstleistungs-sektor und Finanzsektor verschwimmen. Wir bewegen uns in einem Kontinuum zwi-schen diesen Welten, in dem Unternehmen auf Kundenwünsche ausgerichtete, indivi-duelle Kombinationen aus Sach- und Dienstleistungen anbieten. Hierdurch erreichensie eine gesteigerte Wettbewerbsdifferenzierung sowie eine höhere Wertigkeit des Leis-tungsangebots für ihre Kunden und damit ein höheres Margenpozential. Dass real-wirtschaftliche Unternehmen ihren Kunden neben ihren Produkten auch nachgelager-te Services verkaufen, ist hierbei nichts Neues. Inzwischen bieten Unternehmen ihrenKunden jedoch stark individualisierte Leistungsbündel – eine integrierte Sichtweise vonSach- und Dienstleistungen ist daher unerlässlich.

So ist beispielsweise Rolls Royce bereits vor über einer Dekade dazu übergegan-gen, Antriebsleistung anstatt Flugzeugturbinen zu verkaufen. Dem Kunden werdenAntriebssysteme inklusive kundenindividueller Wartungs- und Ersatzzusagen für ei-ne Gebühr pro Betriebsstunde zur Verfügung gestellt – womit plakativ gesprochen

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heiße Luft (zum Antrieb von Flugzeugen) anstelle eines Maschinenbauprodukts an-geboten wird. Die einzelnen Leistungskomponenten können jedoch ebenso in einemWertschöpfungsnetzwerk mit Partnerunternehmen angeboten werden. Ein relativ be-kanntes Beispiel, welches auch die Verschmelzung real- und finanzwirtschaftlicher Leis-tungskomponenten sehr gut verdeutlicht, stellt die Nulltarif-Versicherung des Opti-kers Fielmann dar, die dieser in Kooperation mit dem VersicherungsunternehmenHanseMerkur anbietet.

Der Bezug eines kompletten Systems aus Produkten und Dienstleistungen stellt fürdie Kunden natürlich eine Erleichterung dar. Daneben resultiert hieraus jedoch aucheine gesteigerte Abhängigkeit – die Anbieter hybrider Leistungsbündel tragen durchdie weitgehendere Einbindung in das jeweilige Wertschöpfungsnetz der Kunden mehrund mehr Verantwortung. Erst die zunehmenden Möglichkeiten IT-basierter unter-nehmensinterner und -übergreifender Kommunikations- und Koordinationssystemehaben die weitgehendere Einbindung von Dienstleistern in die Wertschöpfungsnet-ze realwirtschaftlicher Unternehmen bzw. die erhöhten Koordinationsanfordernissezwischen Kunden und Erbringern hybrider Leistungsbündel möglich gemacht.

Unter anderem die klare Ausrichtung am Kunden im Bereich der hybriden Wert-schöpfung oder im Cloud-Computing erfordern jedoch einen geeigneten Umgang mitden hierfür notwendigen kundenspezifischen Daten. Das Volumen steuerungsrelevan-ter unternehmensinterner und -externer Daten wächst fortlaufend und Daten wer-den immer mehr zum strategischen „Rohstoff“ für Unternehmen, was sich auch imaktuellen Hype zum Thema Big Data widerspiegelt.

Bereits in Ausgabe 02/2013 haben wir im Editorial das Thema Big Data ausführlichdiskutiert und werden diesem Hype-Thema auch das Schwerpunktheft 05/2014 wid-men. Weiterhin sind die Herausforderungen sowohl bei der erfolgreichen Konzeptionund Umsetzung geeigneter Big-Data-Initiativen als auch beim Aspekt des Datenschut-zes noch sehr groß. Bei erfolgreicher Umsetzung bietet Big Data Unternehmen jedochweitreichende Möglichkeiten, eine deutliche Verbesserung ihrer Steuerungskonzepteund eine weitgehendere Individualisierung ihrer angebotenen Leistungen zu erreichen.Die Analyse vielfältiger Daten im Unternehmen mit dem Ziel, hieraus steuerungsrele-vante Informationen abzuleiten, ist grundsätzlich nichts Neues und im Rahmen vonBusiness-Intelligence-Strategien/Data Analytics seit Jahren gängige Praxis. Jedoch be-wegen sich die Möglichkeiten von Big Data weit darüber hinaus: Nicht nur das Volu-men verfügbarer, analysierbarer Daten steigt, sondern auch die Datenvielfalt. Es werdenmehr und mehr neuartige Daten generiert – sowohl unternehmensintern (wie z. B. dieDaten intelligenter, eingebetteter Systeme) als auch -extern (wie z. B. Daten aus sozialenNetzwerken). Hieraus resultiert oft eine hohe Heterogenität der Datenstrukturen, wel-che durch das Zusammenführen verschiedenster Daten aus unterschiedlichen Quellenund die Verwendung teils unstrukturierter Daten entsteht. Daneben bringt Big DataUnternehmen u. a. eine Vielzahl neuer Möglichkeiten zur zielgerichteten Entwicklungvon Produkten und Dienstleistungen, die Wettbewerbsvorteile ermöglichen – insbe-sondere auch im Bereich der hybriden Wertschöpfung. Die Unternehmen stehen hier-bei vor der Herausforderung, ihre Datenmanagement- und Steuerungssysteme auf BigData abzustimmen.

Die bisherigen Betrachtungen machen unweigerlich deutlich: Moderne IT-Systemesind Fluch und Segen zugleich. Die fortschreitenden technischen Entwicklungen brin-gen Unternehmen zahlreiche Chancen, ihre Geschäftsmodelle und ihre Wertschöp-fungsprozesse zu ihrem Vorteil (und zugleich zum Vorteil ihrer Kunden) zu transfor-mieren und weiterzuentwickeln. Jedoch unterliegen Unternehmen hierdurch auch ei-nem laufenden Veränderungsprozess und der Herausforderung, die stetig wachsendeKomplexität und Beschleunigung dieser durch IT getriebenen Transformationsprozes-se zu beherrschen. Die Wirtschaftsinformatik als gestaltungs- und lösungsorientierteDisziplin kann bei der Bewältigung dieser Herausforderungen einen wichtigen Beitragleisten.

Die Wirtschaftsinformatik kann bei der Beherrschung systemischer Risiken z. B. imRahmen von Wertschöpfungsnetzen helfen, die globale und intransparente Verflech-tung der Netzwerke der Real- und Finanzwirtschaft mit ihren teilweise unvorhersehba-ren Auswirkungen beherrschbar zu machen. Es müssen hierzu innovative und zugleichpraxistaugliche IT-basierte Konzepte entwickelt werden, mit deren Hilfe Transparenzgeschaffen, Risiken (teil-)automatisiert bewertet und ökonomisch fundierte Entschei-dungen über Gegenmaßnahmen getroffen werden können. Die Wissenschaft hat seitder Finanzkrise das Auftreten systemischer Risiken primär aus finanzwirtschaftlicher

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Perspektive z. B. im Rahmen verbesserter Stresstests für Kreditinstitute und einer ef-fektiveren Regulierung – wenn auch nur ex post – adressiert. So wurde erst jüngst ei-ne Besteuerung von Unternehmen vorgeschlagen, die auf dem individuellen Beitragzum systemischen Risiko basiert (Chen et al. 2013). Hierdurch wird es Regulierern er-laubt, auf eine Dezentralisierung eines Netzwerks zu dessen Stabilisierung hinzuwirken.Die Analyse von systemischen Risiken in realwirtschaftlichen Netzen oder Stromnetzenhingegen und die darauf aufbauende Entwicklung von praxistauglichen Konzepten zurRisikoidentifikation, -bewertung und -steuerung fehlen noch weitestgehend, wie auchdas Beispiel der Energienetze in Deutschland zeigt.

In diesem Rahmen ergeben sich vier zentrale Ansatzpunkte für weitere Forschungim Bereich der Wirtschaftsinformatik. Erstens gilt es, das vorhandene Informationsde-fizit über die Netzwerkstrukturen zu beseitigen. Die Informationen über die Akteureeines Wertschöpfungsnetzes und deren Interdependenzen müssen transparent zugäng-lich gemacht werden. Hierbei spielt der Schutz wichtiger Daten im Rahmen der Erstel-lung der informationellen Grundlagen aus Unternehmenssicht eine besondere Rolle.Die Erfahrung zeigt, dass Unternehmen ihre Daten nicht zur Verfügung stellen, wennsie hierdurch ihre Wettbewerbssituation in Gefahr sehen. Neue Konzepte des Informa-tionsaustauschs, wie z. B. im vielversprechenden Trusted-third-party-Ansatz, könnenhier Abhilfe schaffen. Zweitens müssen die im Zuge dessen angehäuften Daten mit ent-sprechenden Methoden ausgewertet werden, um Rückschlüsse über den Zustand unddas dynamische Verhalten eines Netzwerks zu gewinnen. Besondere Bedeutung kommthierbei der Stabilität eines Netzwerks zu. Wie die Beispiele der Flutkatastrophe oder derFinanzkrise zeigen, kann ein globales Netzwerk, welches im normalen Zustand schein-bar stabil ist, bei einem lokalen Schockereignis schnell kollabieren. Es bedarf dahergeeigneter Methoden zur IT-gestützten Modellierung, Identifikation und Bewertungvon systemischen Risiken in realwirtschaftlichen Wertschöpfungsnetzen. Unternehmenmüssen in die Lage versetzt werden, durch die steuerungsorientierte Modellierung ihresWertschöpfungsnetzes ein besseres Verständnis der bestehenden güterbasierten, finan-ziellen und informationellen Abhängigkeitsstrukturen zu erlangen. Unter Anderem be-darf es in diesem Rahmen sowohl einfacher, robuster Risikoabschätzungen (z. B. Struk-turanalysen, Key-Risk-Indikatoren) als auch sophistizierter Analyseverfahren (z. B. Pa-rameterschätzverfahren, Wirkungskettenanalysen). Dies legt die Grundlage, um drit-tens Unternehmen die Möglichkeit zu geben, ihre Versorgungsnetzwerke und Ge-schäftsprozesse so zu gestalten, dass lokale Schocks innerhalb des Wertschöpfungsnet-zes nicht zu einem bedrohlichen Ereignis für das eigene Unternehmen werden. Hierbeiist es unerlässlich, eine sinnige Abwägung zwischen dem Nutzen eines höheren Detail-lierungsgrades der Risikobestimmung und den damit verbundenen Kosten z. B. für In-formationsbeschaffung und -aufbereitung zu treffen. Die klassischen Methoden der Fi-nanzwirtschaft eröffnen hierbei die Möglichkeit, ertrags-/risikooptimale Entscheidun-gen über Investitionen in die Risikovermeidung zu treffen, um systemische Risiken ab-zumildern. Generell sollte damit jedes einzelne Unternehmen durch das Auflösen vonIntransparenzen und den bewussten Umgang mit Abhängigkeiten in Wertschöpfungs-netzen einen Beitrag zur Stabilisierung des gesamten Systems leisten können. Dies istinsbesondere dann von hoher Relevanz, wenn aufgrund komplexer und globaler Ab-hängigkeitsstrukturen eine angemessene Regulierung nicht gut gelingt. Folglich stelltdie Schaffung verbesserter Regulierungsmöglichkeiten und -maßnahmen gleichzeitigden vierten Ansatzpunkt für weitere Forschung im Bereich der Wirtschaftsinforma-tik dar. Neben der Schaffung einer größtmöglichen Transparenz, welche für Unter-nehmen als auch Regulierungsbehörden gleichermaßen von Interesse ist, gilt es auf-bauend auf erweiterten informationellen Grundlagen und verbesserten IT-gestütztenBewertungsmethoden den Regulierungsbehörden einen geeigneten Maßnahmen- undMethodenkatalog zur Verfügung zu stellen.

Die bestehende Komplexität realwirtschaftlicher Wertschöpfungsnetze wird durchdie Entwicklungen im Bereich der hybriden Wertschöpfung nochmals verstärkt. NeueKonzepte und Methoden zum besseren Umgang mit systemischen Risiken und derhieraus resultierenden besseren Steuerungs- und Koordinationsfähigkeit sind insbe-sondere auch für das Management hybrider Geschäftsmodelle höchstrelevant. Darüberhinaus bringt das Thema hybride Wertschöpfung die Herausforderung, den wachsen-den Anforderungen einer individuellen, kunden(gruppen)spezifischen Leistungserstel-lung und -erbringung gerecht zu werden. Hier ist die Wirtschaftsinformatik bereits imRahmen früher Phasen der Technologieentwicklung gefragt, um die parallele Entwick-lung von relevanten, nutzerzentrierten Dienstleistungen zu ermöglichen. Hierbei ist

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stets auch eine betriebswirtschaftliche Bewertung und Steuerung der Chancen und Ri-siken neuer technologiebasierter Angebote inklusive aller damit verbundenen Prozess-und IT-Unterstützungsherausforderungen erforderlich – und wer könnte durch unsereinterdisziplinäre und technoökonomische Ausrichtung besser dazu in der Lage sein alswir?

Ein „strategischer Rohstoff“ sowohl für bessere Methoden und Konzepte als auch fürdie geeignete Gestaltung neuer kundenindividueller Leistungsangebote sind für Unter-nehmen stets ihre Daten. Dass nicht einfach eine umfangreichere Datensammlung zurVerbesserung des Managements und der Gestaltung neuer Leistungsangebote führt, istsicherlich einleuchtend. Vielmehr benötigen erfolgreiche Big-Data-Initiativen passen-de Tools zur Qualitätssicherung, Analyse und Auswertung der umfangreichen Daten-volumina. Hierbei ist insbesondere auch die Entwicklung von Tools notwendig, welcheeinen geeigneten Umgang mit der im Rahmen von Big Data besonders ausgeprägtenDatenvielfalt ermöglichen. Die erfolgreiche Integration von Daten erfordert daher kla-re Regelungen zur Sicherstellung einer hohen Datenqualität und ein intelligentes Da-tenmanagement, d. h. die Qualitätssicherung, Auswahl und Nutzung der relevantenDaten.

Daneben spielt insbesondere auch der Aspekt des Datenschutzes eine zentrale Rolle.Befeuert durch den aktuellen NSA-Skandal gewinnt dieses Thema auch in der brei-ten Öffentlichkeit immer weiter an Bedeutung. Sowohl durch die wachsenden Daten-bestände als auch die zunehmende Durchdringung von Unternehmen mit vernetz-ter Informationstechnologie erhalten gezielte Spionage- und Sabotageakte einen ganzneuen Nährboden. Es gilt, auf aktuelle und zukünftige Bedrohungen vorbereitet zusein und massive Schäden durch Spionage und Sabotage von der Wirtschaft abzuwen-den. Hierzu sind relevante Bedrohungen zu identifizieren, analysieren und deren Aus-wirkungen mit finanzwirtschaftlichen Methoden zu bewerten. Auf dieser Basis kön-nen anschließend Handlungsempfehlungen abgeleitet werden, mit deren Hilfe Unter-nehmen und öffentliche Einrichtungen ökonomisch fundierte Entscheidungen übermögliche Gegenmaßnahmen treffen können. Dabei gilt es unter Berücksichtigung un-terschiedlicher Rahmenbedingungen und wirtschaftlicher bzw. gesellschaftlicher Zie-le die risikoreduzierenden Wirkungen von Maßnahmen mit den entstehenden Kostenabzuwägen.

Abschließend sei festgehalten: Die immer weiter fortschreitende technologische Ent-wicklung wird die Welt im Allgemeinen und insbesondere die unternehmerischen Tä-tigkeiten auch weiterhin zunehmend komplex gestalten. Der Weg zurück mag für denein oder anderen aus subjektiver Sicht vielleicht wünschenswert sein, jedoch ist dieBüchse der Pandora bereits geöffnet und der Fluch der modernen IT-Systeme ist indie Welt entlassen. Wir sind daher angehalten die immer weitergehenden technologi-schen Möglichkeiten einzusetzen, um den Fluch der immer komplexeren und schnelle-ren Welt zu bändigen. Jedoch müssen wir auch der Hoffnung aus Pandoras Büchse denWeg ebnen und die segensreiche Wirkung der IT weiter entfalten, um neue Chancenzu eröffnen. In diesem Spannungsfeld zwischen Fluch und Segen kommt der Wirt-schaftsinformatik eine wichtige Rolle zu. Durch ihre inhärenten Stärken wie Interdiszi-plinarität, Methodenpluralismus, gestaltungs- und ingenieurwissenschaftliche Traditi-on, Innovationsstärke und Praxisnähe hat sie auch weiterhin großes Potenzial. Beson-ders als Wirtschaftsinformatiker sind wir für die Nutzbarmachung von IT-Systemen fürdie Gesellschaft verantwortlich.

Literatur

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