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Verdrehte Ranunkeln, aufplatzender Mohn und stachelige Distelkörbe zieren nicht nur den Gar- ten, sondern auch den Innenraum. Doch in wel- chem Gefäß? Die Vasen der klassischen Moderne, die genügen sich selbst. Und für manch eine Ikone, wie die in Form einer Wasserlache von Alvar Aalto, muss der Blumenstrauß eigens ge- bunden werden. Mit ästhetischer Wandlungs- fähigkeit erfreut hingegen die von Andreas Bech- tiger konzipierte Vase „4in1“. In einen 20 cm hohen und breiten und 7,9 cm tiefen Behälter wird ein passgenauer Rahmen mit vier verschiedenen Perforationen gestellt. Je nach Drehung wird geboten: eine große Öffnung für das üppige Gebinde, ein einziges asymme- trisch platziertes kleines Loch oder drei gereihte Löcher für solitäre Stänge, ein mittig gelegenes größeres Loch für einen kleinen Strauß. Als Material verwendet der Designer aus St. Gallen einen unzerbrechlichen weißen Kunststoff, dessen stumpfe Oberfläche an Biskuitporzellan erinnert. Doch die Vase kann in der Spülmaschine gereinigt werden. Wie das Schweizer Sackmes- ser hat „4in1“ eine klare, unaufdringliche Funktio- nalität. Für mehr als nur Alpenveilchen. Bauwelt 6.2015 6 WOCHENSCHAU Kasiskes Fundstück 4in1“ von Andreas Bechtinger Gedenkstätte für den Dichter Mahmoud Darwish in Ramallah, 2011 Foto: CCJO Jafar Tukan (1938–2014) Zum Tod des jordanischen Architekten und Aga-Khan-Preisträgers Er war einer der prägenden Architekten der ver- gangenen 50 Jahre im arabischen Raum. Hierzu- lande hat Jafar Tukan jedoch wenig Beachtung erfahren – er hat keines der unzähligen gesichts- losen Großprojekte in den Emiraten gebaut, die man häufig mit Architektur in Arabien gleichsetzt. Tukan war einer der Pioniere, deren Schaffen sich nicht im Import internationaler Architektur erschöpft, sondern die mit Sensibilität für die Aufgabe und den Ort die Balance zwischen zeit- genössisch-internationaler und regional veran- kerter Architektur suchen. Gemäß diesem Credo wirkte er als Architekt und Stadtplaner, als Be- rater für das jordanische Königshaus, die Stadt- regierung von Amman, die University of Jordan und die National Gallery of Fine Arts, als Preis- richter und Lehrer – und war ein Kulturbotschaf- ter über Grenzen hinweg. Tukan wurde 1938 in Jerusalem geboren, in ei- ne Familie, die seit Jahrhunderten in der Region zwischen Nablus und Al-Salt Einfluss und Bedeu- tung hat. Sein Vater war Ibrahim Touqan, einer der großen Dichter Palästinas. Nach der Ausbil- dung an der American University in Beirut (AUB) in den 50er Jahren arbeitete Tukan für die jorda- nische Regierung und das Büro Dar Al-Handasah, bevor er 1968 in Beirut sein eigenes Büro grün- dete. 1973 übersiedelte Tukan nach Amman, wo er neben Rasem Badran für Jahrzehnte der ein- flussreichste Architekt des Landes war. 2003 fu- sionierte Tukans Atelier mit CCJO Consolidated Consultants, wodurch sein Arbeitsfeld sich in den letzten Jahren auf Afrika und Zentralasien aus- dehnte. Das liberale Elternhaus, das Studium an der AUB und der Zeitgeist der 60er Jahre prägten Tukans Interesse am grenzüberschreitenden Denken und interdisziplinären Arbeiten. Bei Pro- jekten in Jordanien und im Libanon kooperierte er häufig mit nicht-arabischen Kollegen. Das wohl wichtigste Ergebnis dieser Kooperationen ist die Yarmouk University in Amman. Tukan konnte Kenzo Tange für die gemeinsame Teilnahme an dem 1976 ausgelobten Wettbewerb gewinnen. Die beiden siegten und realisierten dieses pres- tigeträchtige, von der Weltbank geförderte Pro- jekt für die heutige Jordan University of Science and Technology. Die größte internationaler Beachtung wurde Tukan 2001 zuteil, als sein 1991 in Aqaba fertig- gestelltes SOS-Kinderdorf mit dem Aga Khan Award ausgezeichnet wurde. Lange bevor „Nach- haltigkeit“ zum populären Schlagwort avancierte, hat Tukan in Aqaba gemeinsam mit örtlichen Bauleuten und den Nutzern ein Höchstmaß an Angemessenheit erzielt – bei der Raumgliede- rung, der Wahl von Baumaterialen und Verarbei- tungsmethoden und mit der Reduzierung von Gebäudetechnik. Weitere bekannte Bauten Tukans sind die City Hall und die National Gallery in Amman, das Mahmoud Darwish Memorial in Ramallah sowie Typenentwürfe für Kindergärten und Grund- schulen in Saudi Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Sein vermittelndes Wesen fand gleichermaßen im jordanischen Königs- haus, in der Verwaltung, bei Investoren und Kol- legen Gehör. So half er, in der Greater Amman Municipality ein interdisziplinäres Beratungs- gremium zu installieren, das die Stadtverwaltung bei der Planung ihrer behutsamen Stadtentwick- lung beriet – Basis für die Entwicklung der Stadt- region in den kommenden Jahrzehnten. Die Biblio- thek von Tukans Büro ist seit Jahren eine öffent- liche Bücherei und Pilgerstätte für Studenten und junge Architekten. Sein einziger Wunsch an seine vielen Gäste: Bücher für die Bibliothek mit- bringen. Nach längerer Krankheit ist Jafar Tukan am 25. November 2014 in Amman gestorben. Benjamin Hossbach, Christine Eichelmann Nie mehr Mit-der-einen-Hand- den-Strauß-halten- und-mit-der-andren- die-passende-Vase- aus-dem-Schrank- Friemeln

Jafar Tukan (1938–2014) - · PDF fileer neben Rasem Badran für Jahrzehnte der ein

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Page 1: Jafar Tukan (1938–2014) -  · PDF fileer neben Rasem Badran für Jahrzehnte der ein

Verdrehte Ranunkeln, aufplatzender Mohn und stachelige Distelkörbe zieren nicht nur den Gar­ten, sondern auch den Innenraum. Doch in wel­chem Gefäß? Die Vasen der klassischen Moderne, die genügen sich selbst. Und für manch eine Ikone, wie die in Form einer Wasserlache von Alvar Aalto, muss der Blumenstrauß eigens ge­bunden werden. Mit ästhetischer Wandlungs­fähigkeit erfreut hingegen die von Andreas Bech­tiger konzipierte Vase „4in1“.

In einen 20 cm hohen und breiten und 7,9 cm tiefen Behälter wird ein passgenauer Rahmen mit vier verschiedenen Perforationen gestellt. Je nach Drehung wird geboten: eine große Öffnung für das üppige Gebinde, ein einziges asymme­trisch platziertes kleines Loch oder drei gereihte Löcher für solitäre Stänge, ein mittig gelegenes größeres Loch für einen kleinen Strauß.

Als Material verwendet der Designer aus St. Gallen einen unzerbrechlichen weißen Kunststoff, dessen stumpfe Oberfläche an Biskuitporzellan erinnert. Doch die Vase kann in der Spülmaschine gereinigt werden. Wie das Schweizer Sackmes­ser hat „4in1“ eine klare, unaufdringliche Funktio­nalität. Für mehr als nur Alpenveilchen.

Bauwelt 6.20156 Wochenschau

Kasiskes Fundstück „4in1“ von Andreas Bechtinger

Gedenkstätte für den Dichter Mahmoud Darwish in Ramallah, 2011Foto: CCJO

Jafar Tukan (1938–2014)Zum Tod des jordanischen architekten und aga-Khan-Preisträgers

er war einer der prägenden Architekten der ver­gangenen 50 Jahre im arabischen Raum. Hierzu­lande hat Jafar Tukan jedoch wenig Beachtung erfahren – er hat keines der unzähligen gesichts­losen Großprojekte in den Emiraten gebaut, die man häufig mit Architektur in Arabien gleichsetzt. Tukan war einer der Pioniere, deren Schaffen sich nicht im Import internationaler Architektur erschöpft, sondern die mit Sensibilität für die Aufgabe und den Ort die Balance zwischen zeit­genössisch­internationaler und regional veran­kerter Architektur suchen. Gemäß diesem Credo wirkte er als Architekt und Stadtplaner, als Be­rater für das jordanische Königshaus, die Stadt­regierung von Amman, die University of Jordan und die National Gallery of Fine Arts, als Preis­richter und Lehrer – und war ein Kulturbotschaf­ter über Grenzen hinweg.

Tukan wurde 1938 in Jerusalem geboren, in ei­ne Familie, die seit Jahrhunderten in der Region zwischen Nablus und Al­Salt Einfluss und Bedeu­tung hat. Sein Vater war Ibrahim Touqan, einer der großen Dichter Palästinas. Nach der Ausbil­dung an der American University in Beirut (AUB) in den 50er Jahren arbeitete Tukan für die jorda­nische Regierung und das Büro Dar Al­Handasah, bevor er 1968 in Beirut sein eigenes Büro grün­dete. 1973 übersiedelte Tukan nach Amman, wo er neben Rasem Badran für Jahrzehnte der ein­flussreichste Architekt des Landes war. 2003 fu­sionierte Tukans Atelier mit CCJO Consolidated Consultants, wodurch sein Arbeitsfeld sich in den letzten Jahren auf Afrika und Zentralasien aus­dehnte.

Das liberale Elternhaus, das Studium an der AUB und der Zeitgeist der 60er Jahre prägten Tukans Interesse am grenzüberschreitenden Denken und interdisziplinären Arbeiten. Bei Pro­jekten in Jordanien und im Libanon kooperierte er häufig mit nicht­arabischen Kollegen. Das wohl

wichtigste Ergebnis dieser Kooperationen ist die Yarmouk University in Amman. Tukan konnte Kenzo Tange für die gemeinsame Teilnahme an dem 1976 ausgelobten Wettbewerb gewinnen. Die beiden siegten und realisierten dieses pres­tigeträchtige, von der Weltbank geförderte Pro­jekt für die heutige Jordan University of Science and Technology.

Die größte internationaler Beachtung wurde Tukan 2001 zuteil, als sein 1991 in Aqaba fertig­gestelltes SOS­Kinderdorf mit dem Aga Khan Award ausgezeichnet wurde. Lange bevor „Nach­haltigkeit“ zum populären Schlagwort avancierte, hat Tukan in Aqaba gemeinsam mit örtlichen Bauleuten und den Nutzern ein Höchstmaß an Angemessenheit erzielt – bei der Raumgliede­rung, der Wahl von Baumaterialen und Verarbei­tungsmethoden und mit der Reduzierung von Gebäudetechnik.

Weitere bekannte Bauten Tukans sind die City Hall und die National Gallery in Amman, das Mahmoud Darwish Memorial in Ramallah sowie Typenentwürfe für Kindergärten und Grund­schulen in Saudi Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Sein vermittelndes Wesen fand gleichermaßen im jordanischen Königs­haus, in der Verwaltung, bei Investoren und Kol­legen Gehör. So half er, in der Greater Amman Municipality ein interdisziplinäres Beratungs­gremium zu installieren, das die Stadtverwaltung bei der Planung ihrer behutsamen Stadtentwick­lung beriet – Basis für die Entwicklung der Stadt­region in den kommenden Jahrzehnten. Die Biblio­thek von Tukans Büro ist seit Jahren eine öffent­liche Bücherei und Pilgerstätte für Studenten und junge Architekten. Sein einziger Wunsch an seine vielen Gäste: Bücher für die Bibliothek mit­bringen. Nach längerer Krankheit ist Jafar Tukan am 25. November 2014 in Amman gestorben. Benjamin hossbach, christine eichelmann

Nie mehr Mit-der- einen-Hand-den-Strauß-halten-und-mit-der-andren-die-passende-Vase-aus-dem-Schrank-Friemeln