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JAPPE SELBSTKONSTITUTION BEI ROBERT MUSIL UND IN DER PSYCHOANALYSE

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JAPPE SELBSTKONSTITUTION BEI ROBERT MUSIL UND IN DER PSYCHOANALYSE

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MUSIL-STUDIEN

Begründet von Karl Dinklage Herausgegeben von Josef Strutz in Verbindung mit der Vereinigung Robert-Musil-Archiv Klagenfurt

Band 38 · 2011

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LILITH JAPPE

SELBSTKONSTITUTION BEI ROBERT MUSIL UND IN DER

PSYCHOANALYSE

IDENTITÄT UND WIRKLICHKEIT IM MANN OHNE EIGENSCHAFTEN

WILHELM FINK

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Freiburger Arbeitskreises Literatur und Psychoanalyse e.V., der Fondazione Eugenio Gaddini (www.istitutoricci.it) sowie der Stiftungen Landesbank Baden-Württemberg.

E-Book ISBN 978-3-8467-5201-2ISBN der Printausgabe 978-3-7705-5201-6

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INHALT

DANKSAGUNG ......................................................................... 11

A) EINLEITUNG

1. Historischer Kontext der Frage nach Selbstkonstitution ....... 15

2. Die Bindungslosigkeit des modernen Menschen bei Musil ... 17

3. Dichtung als Erkenntnis bei Musil ........................................ 19

4. Der Roman als Erkenntnisprogramm zur Frage der

Selbstkonstitution .................................................................. 26

5. Musil und die Psychoanalyse ................................................ 29

6. Psychoanalytische Theorien zur Selbstkonstitutition ............ 31

7. Methodische Überlegungen zum Vergleich von

psychoanalytischen und literarischen Konzeptionen............. 34

8. Forschungsstand .................................................................... 44

9. Zu Aufbau und Vorgehen dieser Arbeit ................................ 46

B) REFLEXIONEN ÜBER DAS VERHÄLTNIS VON ‚SELBST„ UND WIRKLICHKEIT IM

ROMAN DER MANN OHNE EIGENSCHAFTEN

I. Reflexionen im fiktionalen Medium Roman .......................... 49

1. Verschiedene Ebenen der Reflexion ...................................... 51

2. Verteilung der zentralen Themen auf mehrere Figuren und

Überschneidung der Denkinhalte .......................................... 52

3. Das Verhältnis von Ulrich und Erzähler ................................ 57

4. Konstruktive Ironie ................................................................ 59

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INHALT 6

II. Seinesgleichen und Eigenschaftslosigkeit: Antagonismen

von Selbst und Welt .............................................................. 65

1. Die Auflösung der Persönlichkeit durch das Unpersönliche . 65

2. Eigenschaftslosigkeit als gewählte unpersönliche Haltung

zum Leben ............................................................................. 72

3. Unpersönliche Wirklichkeit und unbestimmtes Selbst in

der Metaphorik von Steinmauern und Nebel ........................ 76

4. Persönliche Haltung als Alternative:

Belebung der Spielzeugstadt ................................................. 87

5. Repräsentationen des Selbst als Leerstelle, als Differenz

und Sehnsucht nach Gegenwirklichkeit ............................... 91

6. Ulrichs Widerstand gegen die Wirklichkeit und sein

unbestimmtes Selbst.............................................................. 93

III. Einheit von Selbst und Welt: Anderer Zustand als

Gegenwirklichkeit ................................................................. 116

1. Musils Konzept des anderen Zustands und seine Funktion

im Roman (Einführung) ..................................................... 117

2. Ideologie: Der andere Zustand als Vision der

Überwindung des Ich ......................................................... 125

3. Anderer Zustand als unpersönliche Liebe .......................... 126

4. Der andere Zustand als weiche, sich der Welt öffnende

Seite Ulrichs ....................................................................... 128

5. Anderer Zustand als frühes Stadium der Ungeschieden-

heit von Ich und Welt ......................................................... 130

6. Der andere Zustand im gewöhnlichen Leben:

Inseln eines zweiten Bewusstseinszustands ....................... 133

7. Der andere Zustand als geistige Störung ............................ 136

8. Anderer Zustand und ‚Seele„:

Sehnsucht nach dem verlorenen Ganzen ............................ 141

9. Anderer Zustand und andere Moral: Ulrichs Suche nach

einer beweglichen Ordnung der Gefühle ............................ 152

10. Anderer Zustand und Aufbruch in eine andere

Wirklichkeit ......................................................................... 165

11. Aporien des anderen Zustands: Stillstand oder

„nature morte“ ...................................................................... 169

12. Fortsetzungen des Romans:

Aufgabe der „Reserveidee aZ“? ........................................... 173

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INHALT 7

IV. Das Verhältnis von Selbst und Wirklichkeit in Ulrichs

Theorien: Liebe* und Gewalt* .............................................. 178

1. Die binäre Struktur von Ulrichs Überlegungen ..................... 179

2. Zweifache Ausgestaltung des Gefühls .................................. 187

3. Begreifendes Erkennen (E1) und

Anteilnehmendes Verstehen (E2) .......................................... 207

4. Normalzustand und anderer Zustand .................................... 213

5. Zwei Formen der Selbstliebe ................................................. 227

6. Zusammenfassung ................................................................. 236

V. Vermittlung von Selbst und Wirklichkeit durch die

Phantasie: das persönliche Leben .......................................... 238

1. Persönliche Ordnungen ......................................................... 240

2. Poetisierende Verfahren zur Veränderung der Wirklichkeit . 258

3. Alternative Ordnungen .......................................................... 274

VI. Zwischenresümee ................................................................ 293

C) DIE PSYCHOANALYTISCHE SICHTWEISE: DAS SELBST

ZWISCHEN VERSCHMELZUNG UND ABGRENZUNG

I. Einleitung ............................................................................... 298

1. Die Begriffe „Ich“ und „Selbst“ in der Psychoanalyse.......... 298

2. Psychoanalytische Schulen .................................................... 302

3. Zum Aufbau von Teil C ........................................................ 306

II. Verschmelzung und Primärer Narzissmus: Sigmund Freud . 308

1. Verschmelzung von Ich und Welt in Freuds Konzept des

Primären Narzissmus ............................................................ 308

2. Einwände gegen eine monadologische Auffassung des

Primären Narzissmus ............................................................ 313

3. „Ozeanisches Gefühl“ ........................................................... 315

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INHALT 8

III. Zeitgenössische Positionen zu Verschmelzung und

variablen Ich-Grenzen: Ferenczi (1913), Tausk (1919),

Andreas-Salomé (1921), Federn (1926-36) .......................... 319

1. Lou Andreas-Salomé: Narzissmus und Allverbundenheit .... 319

2. Sandór Ferenczi: Stufen des Wirklichkeitssinns .................... 322

3. Victor Tausk: Verlust der Ich-Grenzen ................................. 323

4. Paul Federn: Ichgefühl und variable Ich-Grenzen ................. 325

IV. Die psychoanalytische Konzeption einer frühen Symbiose 335

1. Säuglingsforschung versus Psychoanalyse: Grundlegende

Kritik am Konzept einer primären Symbiose oder Dyade .... 338

2. Relativierung der Kritik: Verschmelzung in anderen

Dimensionen des Erlebens .................................................... 344

V. Verschmelzung in verschiedenen Kontexten ....................... 347

1. Ein anderes Verhältnis zur Wirklichkeit:

Sinnbezug und kulturelles Erleben ....................................... 347

2. Verliebtheit ............................................................................ 352

3. Narzisstische Objektbeziehungen.......................................... 353

4. Pathologischer Narzissmus ................................................... 355

5. Zusammenfassung: Narzissmus als

unvollständige Getrenntheit .................................................. 356

VI. Herauslösung des Selbst aus der Verschmelzung ............... 359

1. Konstitution der Außenwelt nach Freud ............................... 359

2. Individuation und Separation nach Margaret Mahler ............ 360

3. Didier Anzieu: Haut-Ich ........................................................ 363

4. Objektbeziehungen: Erreichen der „depressiven Position“ ... 365

5. Integration von Aggression ................................................... 369

6. Zwischenfazit: Zwei Erlebensweisen .................................... 370

VII. Kreatives Welterleben als Balance von Verschmelzung

und Realitätsprüfung ............................................................ 374

1. Frühe Entwicklung und Kreativität nach Winnicott .............. 374

2. Verwandlungsobjekte (Bollas) .............................................. 383

VIII. Zwischenresümee ............................................................. 387

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INHALT 9

D) VERGLEICH DER PERSPEKTIVEN UND

ZUSAMMENFÜHRUNG: SELBSTKONSTITUTION IM MANN

OHNE EIGENSCHAFTEN UND IN DER PSYCHOANALYSE

I. Zwei Erlebensmodi ................................................................ 391

II. Der andere Zustand und die Geschwisterbeziehung aus

Perspektive der psychoanalytischen Musilforschung ............ 397

III. Das in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften

enthaltene Modell der Selbstkonstitution – aus

psychoanalytischer Perspektive............................................. 412

1. Erste Phase: Spaltung – Unbestimmtes Selbst und fremde

Wirklichkeit (‚Wahres und falsches Selbst„) ......................... 414

2. Zweite Phase: Entfaltung des unbestimmten Selbst .............. 419

3. Dritte Phase: Grenzziehung und Vereinbarung von ‚Liebe„

und ‚Gewalt„ ......................................................................... 426

IV. Fazit: Integration von Liebe und Gewalt zur Konstitution

eines Selbst mit variablen Grenzen ....................................... 443

BIBLIOGRAPHIE ....................................................................... 451

REGISTER ................................................................................. 467

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DANKSAGUNG

An erster Stelle ist hier mein Doktorvater, Prof. Dr. Carl Pietzcker,

zu nennen. Als Mitbegründer des Freiburger Arbeitskreises Litera-

tur und Psychoanalyse hat er als Magnet nach Freiburg gewirkt

und meine Arbeit anspruchsvoll betreut. Weiterhin danke ich mei-

nem Zweitgutachter, dem Musil-Kenner und Promotor der literari-

schen Anthropologie Prof. Dr. Fred Lönker herzlich für Anregun-

gen und Beistand während der Promotionszeit.

Besonders herzlich möchte ich Prof. Dr. Achim Aurnhammer

für seine Hilfe danken, ebenso Prof. Dr. Werner Frick und Dr.

Gesa von Essen für ihre Unterstützung bei der Integration ins

Deutsche Seminar der Universität Freiburg. Für die erste Zeit in

Freiburg danke ich Prof. Dr. Willy Michel für die Förderung und

freundliche Aufnahme in sein Kolloquium.

Von großem Wert für die Entwicklung und Vollendung dieser

Arbeit waren die Doktorandenkolloquien von Prof. Dr. Werner

Frick und die Diskussionen im Rahmen der Lesegruppe des Frei-

burg Institute for Advanced Studies (FRIAS) mit Dr. Andrea Alb-

recht, Dr. Olav Krämer, Dr. Stefan Höppner, Dr. Gesa von Essen,

Prof. Dr. Günter Oesterle, Prof. Dr. Lutz Danneberg, Franziska

Bomski und PD Dr. Fabian Lampart. Auch danke ich Prof. Hans

Ulrich Gumbrecht und Prof. Marianne Leuzinger-Bohleber für ihre

hilfreichen Hinweise.

Unschätzbar für das Entstehen dieser Arbeit war das genaue Le-

sen der Musil-Expertin Franziska Bomski, ihr Interesse, fachge-

rechtes Urteil und ihre unermüdliche freundschaftliche Unterstüt-

zung – herzlichen Dank dafür.

Für die finanzielle Unterstützung während der Promotionszeit

danke ich der Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg

und der Stiftungsverwaltung der Albert-Ludwigs-Universität Frei-

burg. Für die Förderung der Veröffentlichung danke ich dem Frei-

burger Arbeitskreis Literatur und Psychoanalyse e.V., der psycho-

analytischen Gesellschaft Fondazione Eugenio Gaddini sowie der

Landesbank-Badenwürttemberg.

Die Durchführung der Arbeit wurde durch die Seminare für

Promovierende der Internationalen Graduiertenakademie (IGA)

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DANKSAGUNG 12

sehr befördert; besonders hervorzuheben ist hier PD Dr. Angelina

Topan. Für Rat und Beistand danke ich Michaela Klosinski, geb.

König, Heidelinde Richter und Andreas Peter.

Dank gebührt außerdem meinen Freunden Carolin Ludi, Dr.

Annette Hilt, Veronika Lochmann, Søren Riis, Sophie Floris, Anna

Volkova, dem Forum für Literatur und Psychoanalyse sowie Mar-

tina Groß, Sandra Hesse und besonders Dr. Lore Schacht.

Für ihr Vertrauen und die große Unterstützung danke ich mei-

nen Eltern und Alexander Malkis.

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A) EINLEITUNG

Wir haben nicht zuviel Verstand und zuwenig Seele, sondern wir haben zuwenig Verstand in den Fragen der Seele.1

Robert Musil

Die Frage nach dem Selbst ist ein wichtiges Thema in Robert Mu-

sils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Auch die psychoanaly-

tische Theorie beschäftigt sich mit der Konstitution des Selbst. Die

vorliegende Arbeit vergleicht die Konzeption von ‚Selbstkonstitu-

tion„ im Der Mann ohne Eigenschaften und in der Psychoanalyse.

Dabei wird die fiktionale Literatur – Musils Roman – selbst als ein

Medium der Erkenntnis behandelt, das eine eigene Auffassung von

‚Selbstkonstitution„ präsentiert. Diesem werden psychoanalytische

Auffassungen zum selben Gegenstand gegenübergestellt. Was

unter ‚Selbstkonstitution„ genau zu verstehen ist oder wie sie sich

aus einer Vereinbarung der genannten Perspektiven konzipieren

lässt, wird in dem Vergleich herausgearbeitet und abschließend in

einem integrativen Modell verdeutlicht. An dieser Stelle soll zu-

nächst eine heuristische Arbeitsdefinition von „Selbstkonstitution“

gegeben und die Problemstellung dargelegt werden.

Im Begriff „Selbstkonstitution“ wird die Konstitution, also et-

was wie die Bildung oder Entstehung des Selbst problematisiert.

Der Ausdruck behauptet somit, das „Selbst“ sei etwas, das nicht

selbstverständlich gegeben oder unhinterfragbar sei. Damit wird

das ‚Selbst„ als etwas betrachtet, das – ähnlich wie die ‚Identität„

im Begriff ‚Identitätsfindung„ – erst aufzufinden oder eben zu –

1 Robert Musil: Gesammelte Werke, herausgegeben von Adolf Frisé, Band 2:

Prosa und Stücke. Kleine Prosa. Autobiographisches. Essays und Reden. Kri-tik, Reinbek bei Hamburg 1978. Im Folgenden unter der Abkürzung: P, [Sei-tenzahl]. An dieser Stelle: Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste (1922), S. 1075-1094, hier: S. 1092.

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A) EINLEITUNG 14

konstituieren – sei. Wie im Begriff der ‚Identitätsfindung„ ist hier

die Vorstellung angesprochen, dass das Individuum gewisserma-

ßen erst zu sich selbst finden und sich als eigene Person herausbil-

den muss. Im Unterschied zur ‚Identitätsfindung„ bezieht sich der

Begriff aber weniger auf das Auffinden einer Identität als etwas

oder einer Identifizierung mit etwas, sondern grundsätzlicher auf

die Abgrenzung der Person gegenüber der Welt oder genauer auf

die Herausbildung des Selbst in Verbindung und Abgrenzung ge-

genüber der umgebenden Wirklichkeit.

„Selbstkonstitution“ wird als die Bildung des Selbst aus und in

dem dialektischen Zusammenspiel von Selbst und Wirklichkeit

und im Sinne einer Abgrenzung verstanden, in der das Selbst sich

von der Welt unterscheidet und zu ihr in Bezug setzt.

Die gelungene Selbstkonstitution als ein positives Ziel oder als

Wert impliziert einen emphatischen Selbstbegriff im Sinne einer

Zielvorstellung. So verfügen zwar alle Figuren des Romans doch

in irgendeiner Weise über ein ‚Selbst„, insofern sie individuell

unterscheidbare Personen darstellen. Zumeist zeigt sich dieses

‚Selbst„ der Figuren aber als künstlich, erstarrt oder – im Fall des

Protagonisten – als entfremdet. Ebenso kann der psychoanalyti-

schen Theorie zufolge die Entwicklung des Selbst verfehlt werden

oder gestört sein, selbst wenn die entsprechenden Personen über

verschiedene Selbstbilder verfügen und womöglich als gesell-

schaftlich funktionstüchtige Individuen agieren. Dagegen zielt der

Begriff „Selbstkonstitution“ auf die Vorstellung eines authenti-

schen oder ‚eigentlichen„ Selbst. Dies entspricht einer wertenden

Perspektive, die sowohl der psychoanalytischen Entwicklungstheo-

rie als auch dem Erkenntnisprogramm in Musils Roman inhärent

ist – hier begibt sich der Protagonist, gewissermaßen in Begleitung

von Erzähler und Leser auf die Suche nach dem ‚rechten Leben„,

was – trotz aller Ironie, mit der dies geschieht, eine normative Aus-

richtung erkennen lässt. –

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A) EINLEITUNG 15

1. Historischer Kontext der Frage nach Selbstkonstitution

Die Herangehensweise der Arbeit ist problemorientiert – sowohl

Musils Roman, als auch die psychoanalytischen Theorien zur Ge-

nese des Selbst werden herangezogen, da sie zum Problem der

‚Selbstkonstitution„ Relevantes zu sagen haben. Die Problematik

hat dennoch auch einen historischen Kontext. – So werden mit

dem Beginn der Moderne, aber auch noch bis in die Gegenwart

hinein, Fragen nach dem ‚Ich„, dem ‚Selbst„ oder der persönlichen

Identität virulenter.2 Aufgrund der „transzendentalen Obdachlosig-

keit“3 sieht der Einzelne sich vermehrt vor die Aufgabe gestellt,

seinen Lebensentwurf und seine ethische Orientierung selbst in die

Hand zu nehmen. So betrachtet Odo Marquard „die rasante und

brisante moderne Konjunktur der Identität“ als Reaktion auf den

Bedeutungsverlust traditioneller Teleologien und Wesensbegriffe:

„der neuzeitliche Verlust des Wesens verlangt als sein Minimalsur-

rogat die Identität, und der neuzeitliche ‚Telosschwund„ etabliert

als Schwundtelos die Identität“.4 Aus soziologischer Perspektive

argumentiert Uwe Schimank, dass die Frage, was Individualität

ausmacht und an welchen Werten sich der Mensch orientieren

kann, im Zuge der technischen Differenzierung und durch den

Bedeutungsverlust der Religion besonders intensiv gestellt wird.5

2 Diese Historische Einordnung relativiert sich allerdings, wenn man bedenkt,

dass schon in der Romantik oder bei Jean Paul Fragmentierungen des Ich inten-siv zum Thema gemacht werden. Siehe dazu u.a. Helmut Bachmaier: „Einlei-tung: Die Signaturen der Wiener Moderne“, in: ders: Paradigmen der Moderne, Wien 1990, S. vii-xxiii. Bachmaier erörtert hier die Hintergründe der Ich-The-matik in der Wiener Moderne und verbindet dies mit der Beobachtung, dass der „Individualismus relativ spät zu einem Problem der österreichischen Kulturge-schichte geworden ist verglichen mit der Reflexionsphilosphie und der Litera-tur der deutschen Klassik“. Bachmaier, Signaturen, S. xiii.

3 Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Ver-

such über die Formen der großen Epik, Neuwied 1963, S. 35, zitiert nach: Gotthart Wunberg: „Fin de siècle in Wien. Zum bewußtseinsgeschichtlichen Horizont von Schnitzlers Zeitgenossenschaft“, in: ders.: Jahrhundertwende: Studien zur Literatur der Moderne, Tübingen 2001, S. 208-228, hier: 219.

4 Odo Marquard: „Identität: Schwundtelos und Miniessenz – Bemerkungen zur

Genealogie einer aktuellen Diskussion“, in: Odo Marquard/Karlheinz Stierle (Hgg.): Identität, München 1979 [Poetik und Hermeneutik 8], S. 347-370, hier: 358.

5 Uwe Schimank: Das zwiespältige Individuum. Zum Personen-Gesellschaft-

Arrangement der Moderne, Opladen 2002.

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A) EINLEITUNG 16

Durch den Verlust an transzendenten Perspektiven gewinnt in

der Moderne die Frage nach dem Ich und der persönlichen Identität

an Bedeutung. Um die Jahrhundertwende erschüttern Theorien wie

die Freud‟sche Psychoanalyse mit ihrer ‚Entdeckung des Unbe-

wussten„ die Souveränität des Ichs;6 Ernst Machs in der Analyse der Empfindungen formulierte These der „Unrettbarkeit des Ichs“

bestreiten dessen Existenz.7 Es entwickelt sich außerdem ein er-

höhtes Bewusstsein um die Abhängigkeit der Wahrheit von der

Perspektive,8 um die Relativität der Wirklichkeit gegenüber dem

Subjekt und seiner Interpretation. Umgekehrt bildet das Subjekt

seinerseits keinen in sich stabilen Bezugspunkt: seine Identität ist

durch keinen transzendenten Bezug begründet und an die Stelle

eines absoluten, über die empirische Welt hinausweisenden Grun-

des tritt das Bewusstsein, dass die eigene Person in ihrer spezifi-

schen Beschaffenheit von der empirischen Wirklichkeit geprägt ist.

Daraus ergibt sich eine große Verunsicherung. In einem frühen

Entwurf lässt Musil seine Heldin Agathe diese Erkenntnis folgen-

dermaßen erleben: „Es war der Schreck: Die Welt hing von ihr ab,

und sie wußte nicht, wer sie war“.9

Aus beiden Tendenzen entsteht das Bild einer gegenseitigen

Abhängigkeit von Welt und Subjekt, in der keiner der beiden Pole

6 Zu den Wechselwirkungen von Freuds Psychoanalyse und der Literatur in

Wien siehe Michael Worbs: Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende, Frankfurt am Main 1983.

7 Die Rezeption Ernst Machs in der österreichischen Literatur und insbesondere

durch Musil erläutert differenziert Claudia Monti: „Mach und die österreichi-sche Literatur: Bahr, Hofmannsthal, Musil“, in: Giuseppe Farese (Hg.): Akten des Internationalen Symposiums ‘Arthur Schnitzler und seine Zeit‘, Bern 1985 [Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, Bd. 13], S. 163-183. Zum Einfluss Machs auf die Literatur – mit einem Seitenblick auf Freud – siehe ebenfalls: Ryan, Judith: „Die andere Psychologie. Ernst Mach und die Folgen“, in: Wolfgang Paulsen (Hg.): Österreichische Gegenwart. Die moderne Litera-tur und ihr Verhältnis zur Tradition, Bern 1980, S. 11-24.

8 Etwa durch den „Perspektivismus“ in der Philosophie Friedrich Nietzsches.

Dessen Bedeutung für Musils „performativen Essayismus“ erläutert Hans-Joachim Pieper: Musils Philosophie. Essayismus und Dichtung im Spannungs-feld der Theorien Nietzsches und Machs, Würzburg 2002. Siehe auch Charlotte Dresler-Brumme: Nietzsches Philosophie in Musils Roman ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘. Eine vergleichende Betrachtung als Beitrag zum Verständnis, Frankfurt am Main 1987.

9 Der Roman wird zitiert nach der Ausgabe: Robert Musil: Der Mann ohne Ei-

genschaften. Roman, herausgegeben von Adolf Frisé, Band I und II, Reinbek bei Hamburg 1978. Im Folgenden unter der Abkürzung: MoE, [Seitenzahl]. Hier: S. 1664.

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A) EINLEITUNG 17

einen festen Grund bilden kann. Die Möglichkeit der Selbstfindung

erweist sich als eng mit der Konstitution einer auf das Subjekt be-

zogenen Wirklichkeit verknüpft. Die Selbstkonstitution kann nicht

unabhängig von ihr betrachtet werden, beide Konstruktionen ste-

hen in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander, die Musil in

folgende Worte fasst: „Aber Welt und Ich waren nicht fest; in eine

weiche Tiefe gesenkte Gerüste; aus einer Ungestalt sich gegensei-

tig heraushelfend“ (MoE, 1664).

2. Die Bindungslosigkeit des modernen Menschen bei Musil

Musil selbst reflektierte die ‚Krisen„-Situation seiner Zeit unter

dem Begriff der „Bindungslosigkeit des modernen Menschen“ und

betrachtete sie als große Chance. In dieser positiven Bewertung

moderner Auflösungserscheinungen unterscheidet er sich von vie-

len seiner Zeitgenossen. Wie er 1926 in einem Interview über den

geplanten großen Roman unterstreicht, sehnt sich Musil nicht nos-

talgisch nach traditionellen Orientierungen oder einer transzendent

begründeten Ordnung zurück: „Im Gegenteil. Ich mache mich da-

rin [im Roman, L.J.] über alle Abendlandsuntergänge und ihre

Propheten lustig“.10

Musil betrachtet den Menschen als innerlich „gestaltloses“ We-

sen, das der Ideologie bzw. der „Bindungen“ „Leitlinien“ und ge-

sellschaftlich „bereitstehender Formen“ zu seiner inneren Formung

und seinem Halt bedürfe.11 Neben Ideologien und Religion be-

10

Was arbeiten Sie? Gespräch mit Robert Musil (30. April 1926), P, 939-942, hier: S. 942.

11 „Das Leben formt sich in bereitstehenden Formen […]. Ohne Leitlinien zerfällt

der Mensch.“ P, 1362. „Man spricht allgemeiner als von Ideologien von Bin-dungen, welche das Leben des Menschen halten. Wenn das Leben sozial ge-bunden und individuell nur beschränkt beweglich ist, ist es erleichtert. […] Grundsätze, Richtlinien, Vorbilder, Beschränktheiten sind Kraftakkumulato-ren.“ Ohne sie wäre der Mensch gestaltlos, wie man noch an den Verhaltens-weisen im Kontext der Liebe erkennen könne: „selbst unsere Gefühle formen sich wie Flüssiges in Gefäßen, welche Generationen gebildet haben, und unsere Ungestalt wird von Ihnen aufgefangen“ (P, 1380). Dies führt Musil in seinem Essayfragment Der deutsche Mensch als Symptom (1923. P, 1353-1400) aus, das unter dem anschaulicheren Titel Das Theorem der Gestaltlosigkeit bekannt ist (tatsächlich handelt es sich dabei um die Überschrift eines Unterkapitels, vgl. P, 1368).

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A) EINLEITUNG 18

zeichnet Musil auch den Beruf als „Bindung“ und zwar als die

„hauptsächliche“ der Gegenwart (P, 1362 und 1381):

Außerhalb dieser Bindungen klappt der Mensch zusammen wie ein ausgeblasener Luftsack […]. Die Hast, die Verkapselung im Beruf, das Gebrüll der Feierstunden überbrücken eine tiefe Angst, die sonst da wäre.

(P, 1381)

In der Gegenwart seien die meisten übergeordneten Bindungen

zerstört.12 Musil kritisiert, dass diese Entwicklung als „Verfall“

betrachtet wird und dem „entbundenen Menschen […] die alten

Bindungen empfohlen“ werden. Stattdessen plädiert er dafür, es als

„neues Problem“ zu betrachten, „welches noch keine Lösung hat“

und nach dieser zu suchen (P, 1382).

Die Suche nach einer solchen Lösung verlegt Musil in seinen

Roman, wie er im Interview mit Oskar Maurus Fontana erläutert.

Musil „möchte Beiträge zur geistigen Bewältigung der Welt geben.

Auch durch den Roman.“ Es bedürfe in der modernen Welt einer

„neue[n] Moral“ und in seinem Roman möchte Musil „Material zu

einer solchen neuen Moral geben“. Der Roman sei „der Versuch

einer Auflösung und Andeutung einer Synthese“ (P, 942).13

12

Zwar existierten weiterhin viele Ideologien, aber die Situation erweise sich als „ungeheuer partikularistisch, ja individualistisch. Bestandteile der großen alten Ideologien wie des Christentums oder des Buddhismus wie der Unzahl ver-schiedener Ideologien, die in einzelnen philosophischen und künstlerischen Persönlichkeiten vereint gewesen sind, fliegen sozusagen in der Luft herum.“ (P, 1381). Die Beschreibung der „unausdrückbaren Vielspältigkeit“, die Musil hier gibt, bei der „individuelle Teile […] individuell ausgelesen“ werden, ließe sich cum grano salis – etwa mit dem Unterschied, dass dies inzwischen nichts Neues mehr bedeutet – auch noch auf die Gegenwart in der westlichen Welt anwenden.

13 Neben der Tendenz zur ironischen Auflösung ist die ‚Suchbewegung„ des

Romans nicht immer deutlich auszumachen. Dennoch beschäftigt etwa den Protagonisten Ulrich, der sich im ersten Buch distanziert von jedem persönli-chen Einsatz zurückhält, die Frage nach dem rechten Leben und er versucht ihr im zweiten Buch, gemeinsam mit der Schwester praktisch auf den Grund zu kommen. Dabei spielt das Erleben eines Verschmelzens mit der Welt eine we-sentliche Rolle, das Musil in seinen Aufzeichnungen meist als ‚anderen Zu-stand„ bezeichnet.

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A) EINLEITUNG 19

3. Dichtung als Erkenntnis bei Musil

Musil geht demnach davon aus, dass im Medium der Literatur eine

Suche nach Erkenntnis möglich ist – bzw. betrachtet er dies als ein

primäres Ziel seines Schreibens.14 Diese Auffassung erläutert und

begründet Musil in verschiedenen Essays.

In seinem Schreiben kommt es Musil explizit auf den Gedanken

an,15 in der Kunst sollten sich „Erlebnis und Reflexion“ verbinden

(P, 1138).16 Ebenso wichtig ist für ihn die ästhetische Form eines

Gedankens, doch stehe sie in einem notwendigen Zusammenhang

zu seinem Inhalt: „Stil ist für mich exakte Herausarbeitung eines

Gedankens“ (P, 942).17

Musils Konzeption, wie in der Dichtung Erkenntnis konstituiert

werde, hängt mit seiner Auffassung des generellen Verhältnisses

von Erleben und Erfahrung zusammen. In der Art, wie Menschen

Wirklichkeit erfahren oder sich in ihr orientieren, besteht Musil

zufolge eine beständige Wechselwirkung zwischen Prägung nach

vorgeformten Erwartungen und Begriffen und unerwartetem, noch

14

Vergleiche etwa Sebastian Seidel: „Schreiben war für ihn [Musil, L.J.] niemals nur Selbstzweck, um eine Geschichte zu erzählen, sondern immer ein Erkennt-nisvorgang und eine Prozeß der Bedeutungsgebung mit dem Ziel, die Wirk-lichkeit in ihrer Totalität besser zu begreifen“ (Sebastian Seidel: „Versuche, ei-nen anderen Menschen zu finden. Eine biographische Einführung in das Werk Robert Musils“, in: ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘. Eine Auseinandersetzung mit Robert Musil. [Protokolldienst/Evangelische Akademie Bad Boll 1997/31], S. 3-36, hier: S. 3.

15 „Ich meine den Gedanken, auch in der schönsten Form, die mir erreichbar ist“

(P, 942). Dies betont Musil auch in seinem Essay Ansätze zu einer neuen Äs-thetik, wo er das Misstrauen gegen Theorie kritisiert und die Literatur als eine Kunstform beschreibt, die dem Denken am nächsten steht. (P, 1137 f. und 1152).

16 Diesen Gedanken erörtert Musil ausführlich in dem Aufsatz Ansätze zu neuer

Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films von 1925 (P, 1137-1154, hier: S. 1138).

17 Die Form kann aber auch nicht vom Gedanken isoliert bestehen: „jedenfalls

existiert die formale Seite, in der man so oft das Wesentliche der Kunst gesehn hat, niemals selbständig. Was von einem Gedicht nach Abzug der logischen Bedeutung übrig bleibt, ist bekanntlich ein Trümmerhaufen wie das, was von seinem Sinn übrig bleibt, wenn man den Vokalismus und Rhythmus mit einem alltäglichen vertauscht; ähnliches gilt in allen Künsten“ (P, 1140). Rasch zu-folge ist Form für Musil „das, was sich auf andere Weise nicht ausdrücken läßt.“ Wolfdietrich Rasch: Über Robert Musils Roman ‚Der Mann ohne Eigen-schaften‘, Göttingen 1967, S. 15.

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A) EINLEITUNG 20

ungeordnetem Erleben.18„[J]ede neue Erfahrung sprengt die Formel

der bisher erworbenen, wird aber zugleich in ihrem Sinn gemacht“

(P, 1151):

Dies geht so weit, daß ohne präformierte stabile Vorstellungen, und das sind die Begriffe, eigentlich nur ein Chaos bleibt, und da ande-rerseits die Begriffe wieder von der Erfahrung abhängen, entsteht ein Zustand des gegenseitigen Sichformens wie zwischen Flüssig-keit und elastischem Gefäß, ein Gleichgewicht ohne festen Wider-halt.19

Die Kunst vermag es, die „Formelhaftigkeit des Daseins“, die auf

diese Weise (zum Zweck der Orientierung in der Wirklichkeit)

entsteht, zu „sprengen“ (P, 1146 f.) indem sie sich – etwa in der

Literatur über unerwartete, ungewöhnliche Bilder und Vergleiche

und neue Formulierungen – dem dargestellten Erlebnis anschmiegt

und dessen vorschnelle schematische Behandlung vermeidet. Da-

mit verwandelt und präzisiert sie das Verständnis der Wirklichkeit.

In „unsere[m] geistige[n] Sein […] hat die Kunst die Aufgabe un-

aufhörlicher Umformung und Erneuerung des Bildes der Welt und

des Verhaltens in ihr, indem sie durch ihre Erlebnisse die Formel

der Erfahrung sprengt“ (P, 1152).

Musil zufolge „sucht“ „auch die Kunst […] Wissen“. So stelle

sie etwa „das Unanständige und Kranke durch seine Beziehungen

18

In seiner Kritik an der Verstandesfeindlichkeit vieler seiner Zeitgenossen erläu-tert Musil, dass bereits die Sinne „intellektuell“ seien, denn „bekanntlich sehen wir, was wir wissen […]. Beim Hören geschieht ähnliches; wenn unser Ver-ständnis nicht dem Klang voraus ist wie der Souffleur dem Schauspieler, macht uns der Sinn Mühe […] und erst recht gilt ähnliches von den seelischen Erleb-nissen, von denen man durchwegs behaupten kann, daß die Gestalt, welche sie in verschiedenen Menschen annehmen, die der Vorstellungen ist, die sich diese vorher von ihnen gemacht haben“ (P, 1146).

19 P, 1146. In diesen Überlegungen ist ein deutlicher Niederschlag der Gestaltpsy-

chologie zu beobachten, mit der sich Musil im Rahmen seines Psychologie-Studiums auseinandergesetzt hat (Zur Bedeutung der Gestaltpsychologie für Musil siehe etwa Annette Gies: Musils Konzeption des ‚Sentimentalen Den-kens‘. ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘ als literarische Erkenntnistheorie, Würzburg 2003, S. 126-148. Weitere Einflüsse aus Musils wissenschaftlichem Umfeld während seines Psychologiestudiums beschreibt Margret Kaiser-El-Safti: „Robert Musil und die Psychologie seiner Zeit“, in: Hans-Georg Pott (Hg.): Robert Musil – Dichter, Essayist, Wissenschaftler, München 1993 [Mu-sil-Studien 8], S. 126-170. Zu Musils Konzeption des Denkens und seiner Dar-stellung in Musils Werk siehe Olav Krämer: Denken erzählen, Repräsenta-tionen des Intellekts bei Robert Musil und Paul Valéry, Berlin, New York 2009. Zur Einordnung von Musils Konzeption in den wissenschaftsgeschichtlichen Kontext siehe dort, insbesondere S. 159-163.

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A) EINLEITUNG 21

zum Anständigen und Gesunden dar, das heißt nichts anderes als:

sie erweitert ihr Wissen vom Anständigen und Gesunden“ (P,

980).20 Den Willen, etwas künstlerisch darzustellen vergleicht Mu-

sil mit wissenschaftlichem Vorgehen:

es heißt etwas darstellen: seine Beziehungen zu hundert anderen Dingen darstellen; weil es objektiv nicht anders möglich ist, weil man nur so etwas begreifbar und fühlbar machen kann, … wie ja auch wissenschaftliches Verständnis nur durch Vergleichen und Verknüpfen entsteht, wie menschliches Verstehen überhaupt ent-steht.

(P, 979)

Das Wissen der Kunst bezieht sich vornehmlich auf das menschli-

che Innenleben, ihre Erkenntnisweise gilt vor allem der Art, wie

unterschiedlichste Dinge erlebt werden.

In der Skizze der Erkenntnis des Dichters21 unterscheidet Musil

zwei Bereiche menschlichen Verstehens und Wissens, den

„ratioïden“ und den „nicht-ratioïden“. Ersterer bezieht sich auf klar

benennbare Tatsachen, die eindeutig formuliert und empirisch

überprüft werden können. Er umfasse „alles wissenschaftlich

Systematisierbare“ und sei durch „eine gewisse Monotonie der

Tatsachen“ gekennzeichnet (P, 1026 f). Der andere Bereich ist der

seelischer Umstände und menschlicher Beziehungen. Die Tatsa-

chen dieses Bereichs sind weniger leicht zu erfassen und insbeson-

dere nicht systematisierbar, da sie aus „individuellen Erlebnissen“

bestehen (P, 1049).22 Dennoch betrachtet Musil diesen Bereich

nicht als irrational oder dem Verstand völlig unzugänglich. Der

Verstand müsse hier nur „desto elastischer sein“ und „dort, wo

alles fließt, umso schärfer unterscheiden und fassen“ (P, 1050). –

Im Sinne des oben Gesagten lässt sich dies so verstehen, dass der

Verstand sich dem Individuellen und Spezifischen der jeweiligen

Erfahrung besonders gut anzupassen habe.

Für diese ‚Gegenstände„ sei die Dichtung als Erkenntnismedium

besonders geeignet. Zum Verständnis dieser Gegenstände – die in

Erlebnissen bestehen – gehöre, dass sie „jeweils wiedererlebt wer-

20

Das Unanständige und Kranke in der Kunst (1911), P, 977-983, hier: S. 980. 21

Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918), P, 1025-1030. 22

Im Essay Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind von 1921 führt Musil die Überlegungen zum Erkenntniswert von Dichtung in anderem Kontext fort, P, 1042-1059, hier: S. 1049.

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A) EINLEITUNG 22

den“ (P, 1049) – dies ermöglicht die Dichtung. Statt zu systemati-

sieren gehe sie in ihrer Erkenntnisweise „schöpferisch“ vor (P,

1050), indem sie sich dem Einzelfall in Form „pulsierender Vor-

stellung“ mithilfe von Analogien und im Rahmen der ‚Wahr-

scheinlichkeit„ annähere.

Diese Form der Erkenntnis enthält ein stark subjektives Mo-

ment, indem sie die Partizipation des Verstehenden voraussetzt:

Ich erkenne die Welt (gemeint ist hier die menschliche, moralische Welt) indem ich mich selbst kenne. Nicht indem ich weiß, was eine Reaktionszeit bedeutet oder ein Scheinbewegungserlebnis, wo für sich die Psychologie interessiert. Nicht indem ich das Schema des von den Psychiatern für den psychiatrischen Gebrauch ausgebilde-ten Begriffsnetzes darüber breite oder das der Psychoanalyse. Son-dern indem ich das Erlebnis aus Motiven rekonstruiere.23

Musil grenzt die spezifisch dichterische Erkenntnisweise, die auf

einem partizipierenden, nachvollziehenden Verstehen beruhe, hier

einerseits (a) von der Psychologie als Experimentalwissenschaft,

andererseits (b) gegen solche Ansätze ab, die Begriffssysteme des

Seelischen erstellen. Die Psychologie (a) zählt Musil zu den

‚ratioïden„ Wissenschaften, da sie die messbaren Aspekte des Psy-

chischen analog zu anderen empirischen Wissenschaften unter-

sucht: „und die Mannigfaltigkeit ihrer Tatsachen ist auch gar nicht

unendlich“ (P, 1029).24 Doch „unberechenbar und mannigfaltig“

blieben die „seelischen Motive und mit ihnen ha[be] die Psycholo-

gie nichts zu tun“ (P, 1029).25 Die Dichtung gebe nicht die Tatsa-

chen selbst, sondern „den Gefühlswert von Tatsachen“.26

23

[Über Kritik – Ohne Titel, vermutlich vor 1914] P, 1330-1334, hier: S. 1333. 24

Siehe dazu auch die Notiz Musils: „Objekt der Psychol[ogie] ist der allgemeine Fall[, Objekt der] Dichtung der persönliche[,] Aufgabe der Dichtung: movere; etwas davon ist: deuten.“ (P, 1334).

25 Hervorhebung von Musil. Zur Gegenüberstellung von Motivation und Kausali-

tät in Musils Konzeption der erkenntnistheoretischen wie ästhetischen Funktio-nen von Dichtung siehe Oliver Pfohlmann: „Von der Abreaktion zur Energie-verwandlung. Musils Auseinandersetzung mit den ‚Studien über Hysterie„ in den ‚Vereinigungen„“, in: Peter-André Alt/Thomas Anz (Hgg.): Sigmund Freud und das Wissen der Literatur, Berlin New York 2009, S. 169-191, hier: S. 185-188. Pfohlmann geht eingehend auf Musils Abgrenzbemühungen gegenüber der Psychoanalyse und gegenüber der akademischen Psychologie ein.

26 Robert Musil, Nachlassmappe IV/3/118, zitiert nach Pfohlmann, Von der Ab-

reaktion zur Energieverwandlung, S. 172.

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A) EINLEITUNG 23

Außerdem (b) richtet sich Musil gegen Versuche, seelische Phä-

nomene begrifflich zu systematisieren,27 wie es die psychiatrische

Diagnostik oder auch die Psychoanalyse unternähme. – Für die

Psychoanalyse gilt diese Kritik jedoch nur bedingt, da auch in ihrer

Methode Erkenntnis zu gewinnen die Subjektivität und die Empa-

thie eine tragende Rolle spielen.28 – Auch die Kompetenz der Phi-

losophie für das ‚Seelische„ betrachtet Musil als eingeschränkt, da

sie vornehmlich in abstrakten Begriffen operiert, statt das Erleben

differenziert zu erfassen.29 Den Dichter zeichne dagegen die dop-

pelte Fähigkeit aus, „das Erlebnis nicht nur scharf, sondern auch

zärtlich zu beobachten“ (P, 1138) und anstelle „des starren Be-

griffs“ biete er „die pulsierende Vorstellung“ (P, 1050).30

Literatur und Kunst bewegen sich nach Musils Auffassung auf

der Grenze „zweier Welten“ oder zweier gegensätzlicher Verhal-

tensweisen zur Welt (P, 1141, 1153). Auf der einen Seite dem

Normalzustand, in dem die Welt zum Zweck der Orientierung rela-

tiv schematisch wahrgenommen und nach Begriffen geordnet wird,

und einer Dimension unmittelbaren Ergriffenseins, wo „das Bild

jedes Gegenstandes […] zu einem wortlosen Erlebnis wird“ (P,

1144).31 Die Kunst eröffne einen Zugang zu jenem ‚anderen Erle-

ben„, doch komme neben dem „Entrückungsvorgang, wie ihn das

27

Siehe auch die folgende Bemerkung aus den Tagebüchern: „Ich will nicht begreiflich, sondern fühlbar machen. Das ist glaube ich im Keim der Unter-schied zwischen psychologischer Wissenschaft u. psychologischer Kunst.“ Ro-bert Musil: Tagebücher, Band II, Anmerkungen, Anhang, Register, herausgege-ben von Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1983, hier: S. 1217. Im Folgenden zitiert unter der Abkürzung TB II.

28 Siehe unten, Kapitel 7 a Affinitäten von Literatur und Psychoanalyse, S. 34.

29 „Den Philosophen liegt die Erforschung der Methodik eines Gebietes nicht

recht, dessen Tatsachen in Erlebnissen bestehn, die den meisten von ihnen nicht in der nötigen Mannigfaltigkeit bekannt sind“ (P, 1050). So würden „auf dem moralischen Gebiet […] in das Unbestimmte die erstarrenden Caissons der Be-griffe gesenkt“ (P, 1027).

30 Die Dichtung vermittelt Erkenntnis, „indem [sie] [...] Erlebnis vermittelt“ (P,

1224) und verkörpert Gedanken, statt sie nur auszusprechen, „indem sie sie in Handlung, in Geschehnisse umsetzt“ (Pieper, Musils Philosophie, S. 31). Nach Musils Selbstdarstellung dient ihm die „Schilderung der Realität“ im Roman al-lerdings als bloßes „Mittel“ für den begriffsstarken Menschen [...] ,„mit dessen Hilfe er sich an die Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen heran-schleicht, die allgemein und in Begriffen nicht, sondern nur im Flimmern des Einzelfalls [...] zu erfassen sind.“ Über Robert Musil’s Bücher (1913), P, 995-1001, hier: S. 997. Hervorhebung von Musil.

31 Dieser Zustand heißt in Musils Terminologie anderer Zustand. Zu seiner Erläu-

terung siehe Kapitel III im Teil B dieser Arbeit.

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A) EINLEITUNG 24

Erlebnis der Kunst darstellt, der Rückübersetzung, der Berührungs-fläche mit dem Normalzustand und dem Übergang in diesen min-

destens das gleiche Interesse zu wie dem aktuellen Erlebnis

selbst“.32

Insbesondere der Roman verbindet die ‚andere„ Erlebensweise,

die dem ‚Nicht-ratioïden„ zuzuordnen ist, mit der ‚ratioïden„ Er-

kenntnisweise, also etwa mit begrifflicher Reflexion.33 Ein Schrift-

steller, der mit einem Erkenntnisinteresse schreibt, kann die Versu-

che, Gegenstände des ‚nicht-ratioïden„ Gebietes rational zu verste-

hen und in Ansätzen doch zu systematisieren, damit verbinden,

durch seine sprachliche Ausdrucksgabe und durch das Erfinden

von Handlungskonstellationen beim Leser diejenigen Vorstellun-

gen und Erlebnisse zu evozieren, um die es ihm in seinen Überle-

gungen geht. Das Verstehen (bzw. das Bemühen darum) treibt den

dichterischen Prozess voran und präzisiert oder vertieft sich, indem

der Schriftsteller die geeignete sprachliche Form entdeckt und

entwickelt. Anschließend kann sich das Verständnis dem Leser

vermitteln, bzw. sich in der Lektüre reaktualisieren.

Was Musil unter der Vermittlung von Erkenntnis in Form von

Erleben versteht, zeigt sich an seinem Konzept der lebenden Ge-danken. Dieses Konzept verdeutlicht auch, was die dichterische

Form für einen Gedanken leistet.34

„Lebende Gedanken“ sind solche, die einen Anteil an Gefühl

oder an Willen enthalten. Nach Musils Beobachtung können man-

che Gedanken einen ‚ansprechen„, ‚ergreifen„ oder aber kalt lassen,

je nachdem, mit welcher Gefühlsdisposition man ihnen begegnet,

da sie nicht allein von ihrem rationalen Inhalt leben – der ‚wahr

oder falsch„ sein kann, wie andere rein rationale Gedanken35 – son-

32

P, 1151. Hervorhebungen von mir, L.J. 33

Vergleiche P, 1154. Musil charakterisiert hier den Roman als eine der „Kunst-gattungen […], die beide Verhaltensweisen vereinen“.

34 Die dichterische Form wird, Rasch zufolge, für Musil an dem Punkt notwendig,

wo er mit der gedanklich, diskursiven Form der Ausdrucksweise an eine Gren-ze stoße: „An dieser Grenze, in ihrem Spannungsfeld entstand für ihn die dich-terische Form. Sie nimmt, als Romanform die gedanklichen Bestände in sich hinein, aber zugleich auch die Spannung zwischen ihnen und dem, was diskur-siv nicht mehr gesagt werden kann und nur in der dichterischen Form sich aus-drücken läßt“. Rasch, Über Robert Musils Roman, S. 15.

35 „Ein rationaler Gedankengang nun kann wahr oder falsch sein, ein sentimenta-

ler auch, aber er ‚spricht„ außerdem ‚an„ oder spricht nicht an“ (P, 1336). Und, fährt Musil fort, es gäbe „Gedankengänge, die eigentlich nur durch das zweite wirken“ (ebd.).

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A) EINLEITUNG 25

dern auch von dem Gefühlsanteil, also von einer Art Reaktion zwi-

schen dem Gedanken und dem Individuum, das ihn denkt oder von

ihm ‚ergriffen wird„.36 Dieses Erlebnis entzieht sich der willentli-

chen Kontrolle und hat „Evidenzcharakter“: in ihm wird der Ge-

danke „plötzlich lebendig“ und scheint das Innere der Person zu

erfassen.37 – Das Konzept der lebenden Gedanken wird weiter un-

ten ausführlicher erklärt, da es wesentlich mit der im Roman ent-

wickelten Theorie des Selbst zusammenhängt.38

Die ‚Erkenntnis des Dichters„ ist – Musil zufolge – zudem nicht

ausschließlich an dem orientiert, was ist, sondern ihrem Wesen

nach inventorisch.39 Sie formuliert Entwürfe oder Möglichkeiten zu

sein und präsentiert sie dem Leser in verlockender Form:

Die Aufgabe [des Dichters, L.J.] ist: immer neue Lösungen, Zu-sammenhänge, Konstellationen, Variable zu entdecken, Prototypen von Geschehnisabläufen hinzustellen, lockende Vorbilder, wie man Mensch sein kann, den inneren Menschen erfinden.40

Diese Vorstellung ist sehr wichtig für Musils in seinem Roman

durchgeführtes Erkenntnisprogramm. Er gibt keine Definition von

‚Selbstkonstitution„, sondern er reflektiert und erprobt spielerisch,

was Selbstkonstitution sein könnte. – Wie Musils Roman dies im

Einzelnen leistet, wird im Ersten Teil der Arbeit untersucht.

36

Musil unterscheidet demnach zwischen lebendigem und totem Erkennen, wobei sich das ‚lebendige Erkennen„ „nicht unabhängig von subjektivem Erleben be-schreiben“ lasse. Pieper, Musils Philosophie, S. 36.

37 Olav Krämer gibt eine dichte Zusammenfassung dieses Konzepts, das Musil

bereits früh entwickelt und parallel zu anderen Konzepten aufrechterhält. Siehe Krämer, Denken Erzählen, S. 119-122, hier: S. 122 und S. 120.

38 Siehe unten, Teil B, Kapitel V 3 d ‚Lebende Gedanken„, S. 285 ff.

39 Dichtung habe „nicht die Aufgabe das zu schildern, was ist, sondern das was

sein soll; oder das, was sein könnte, als eine Teillösung dessen, was sein soll“ (P, 970).

40 P, 1029. Hervorhebung von Musil.

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A) EINLEITUNG 26

4. Der Roman als Erkenntnisprogramm zur Frage der

Selbstkonstitution

Musil versucht im Mann ohne Eigenschaften der Frage nachzuge-

hen, wie unter modernen Bedingungen – nach der Auflösung tradi-

tioneller Bindungen und dem Verlust vorgegebener Sinnkontexte –

eine sinnerfüllte Existenz möglich ist. Die Aufgabe der Selbstkon-

stitution knüpft sich daran, der Beliebigkeit einer kontingenten

Welt etwas entgegenzusetzen und die Wirklichkeit im eigenen

Erleben sinnstiftend zu besetzen und um sich zu zentrieren.41

Es gibt im Roman etwas, das, wo nicht der Suche nach einem

‚eigentlichen Selbst„, so doch nach einer größeren Stimmigkeit des

Selbsterlebens entspricht, nach einem Verhältnis von Ich und Welt,

bei dem sich das Subjekt stärker ‚bei sich„ fühlt und zugleich von

der Welt weniger ‚abgetrennt„. Diese ‚Suche„ vollzieht sich auf

Figuren- und Erzählerebene. Der Protagonist Ulrich nimmt sich ein

Jahr „Urlaub vom Leben“, um mit diesen Fragen ins Reine zu

kommen, und ist besonders im zweiten Teil – gemeinsam mit sei-

ner Schwester – darum bemüht, den Ausgangspunkt für eine sinn-

erfüllte Existenz zu fassen zu bekommen.42 Parallel dazu vollzieht

der Erzähler die ‚Auflösung„ der alten Moral, indem er die gesell-

schaftlichen Zustände ironisierend schildert, und drapiert zugleich

das „Material“ zu einer neuen Moral, indem er an unterschiedli-

chen Figuren die Sehnsucht nach einem anderen Erleben, nach

einem besseren Zusammenklang von Ich und Welt aufzeigt. In der

Erkenntnissuche des Erzählers nach anderen Möglichkeiten des

‚Menschseins„ besteht Ulrichs Funktion darin, versuchsweise das

41

Diese Form des Erlebens wird im Roman als „persönliches Leben“ thematisiert und ironisiert, da es zumeist ohne die Einsicht geführt wird, wie fragil und hinterfragbar die eigenen Grundlagen sind. „Man ist früher mit besserem Ge-wissen Person gewesen als heute“ (MoE, 150, siehe Kapitel B II Anm. 23). Siehe unten Teil B Kapitel II 1, II 4 und V. Das persönliche Leben erscheint als naiv, oder auch als zunehmend unmöglich, da es voraussetzt, vor den Auflö-sungserscheinungen der Moderne die Augen zu verschließen. Dennoch ist ein sinnerfülltes Leben für Musil wichtiges Ziel, über das es sich lohnt nachzuden-ken (siehe unten, S. 121). Für ihn steht es im Zusammenhang mit dem Phäno-men, das er als „anderen Zustand“ bezeichnet (Siehe unten, Kapitel III).

42 Dieser Ausgangspunkt besteht für ihn in einem Erleben, bei dem die Grenzen

von Ich und Welt verschwimmen; das Ich sich also den Dingen der Welt auch näher oder verbundener und weniger abgegrenzt fühlt. Siehe Teil B, Kapitel III.

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A) EINLEITUNG 27

umzusetzen oder zu leben, was der Erzähler theoretisch entwickelt,

und zugleich dessen Theoriebildung anzuregen.43

Bereits der Titel „Der Mann ohne Eigenschaften“ weist auf eine

Entfremdung zwischen dem Selbst und der Wirklichkeit hin: Die

Eigenschaften werden vom Protagonisten als Attribute empfunden,

die ihm von außen zugesprochen werden oder ihm von der Wirk-

lichkeit aufgeprägt werden, ihn selbst aber im Grunde nicht berüh-

ren – ohne dass er dagegen positiv bestimmen könnte, wer er statt-

dessen ‚eigentlich„ sei. Die Bezeichnung „Mann ohne Eigenschaf-

ten“ benennt in diesem Zusammenhang neben einem Problem (der

fehlenden Übereinstimmung der Person mit ihren Eigenschaften)

auch eine starke Selbstironie des Protagonisten. Auf der anderen

Seite lässt sich der Ausdruck „ohne Eigenschaften“ aber auch auf

eine mystische Tradition zurückführen – wie Jochen Schmidt ge-

zeigt hat.44 Die Formel verweist dann auf Zustände der Entrückung,

in denen die menschliche Seele Abstand von allen weltlichen Be-

stimmungen und damit eine größere Nähe zu Gott findet. Auch

dieser, vom ersten stark unterschiedene Bedeutungsaspekt ist für

den Roman relevant, da er im Zusammenhang mit der Suche des

Protagonisten Ulrich nach dem ‚rechten Leben„ steht. Ulrich

forscht Zuständen der ‚Versenkung„ oder eines Verschmelzens von

Selbst und Welt nach, um in ihnen womöglich die Grundlage einer

anderen, erfüllteren Existenzweise zu finden.45 – Auch dieser Ver-

such sollte jedoch letztlich scheitern, sodass die Gegenseite zu

Entfremdung und Ironie – die quasi mystische Verschmelzung von

Selbst und Wirklichkeit nicht als ideologischer Zielpunkt des Ro-

mans begriffen werden kann.

Neben der ernsthaften, zumeist skeptisch-skrupulös ausgeführ-

ten Suche des Protagonisten nach dem ‚rechten Leben„ oder der

‚Rettung seiner Eigenheit„ wird dieses Thema auch ironisch in

43

In diesem Sinne ist auch Ulrichs Protest gegen Gerdas Vorschlag zu verstehen, er solle seine Überlegungen doch aufschreiben: „Aber wie komme ich denn da-zu, ein Buch schreiben zu müssen?! [...] Mich hat doch eine Mutter geboren und kein Tintenfaß!“ (MoE, 490). Ironischerweise ist Ulrich zwar tatsächlich ein ‚Tintenerzeugnis„, aber seine Aufgabe besteht gerade darum darin, etwas zu leben und nicht seinerseits wieder zu schreiben.

44 Jochen Schmidt: Ohne Eigenschaften. Eine Erläuterung zu Musils Grund-

begriff, Tübingen 1975. 45

Dabei möchte er diese Erlebensformen allerdings unabhängig von jeweiligen religiösen Traditionen und Auslegungen betrachten und das Phänomen – eine bestimmte Weise, sich und die Welt zu erleben – aus ihrem religiösen Kontext extrahieren.

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A) EINLEITUNG 28

anderen Erzählsträngen wiederaufgegriffen. So etwa in der patrio-

tischen „Parallelaktion“, die nach einer krönenden Idee zur Erlö-

sung der Seele vom Geist der Zivilisation sucht. Die spezifische

Ironie, in der Musil seine Themen jeweils ‚bricht„ und sie im einen

Kontext als Karikatur, im anderen als höchst wichtige Angelegen-

heit des Protagonisten darstellt, für welche die Anteilnahme des

Lesers geradezu explizit ‚eingefordert„ wird, ist charakteristisch für

den Roman und zentral für sein Verständnis. Selbst den karikie-

renden Passagen fehlt nicht ein gewisser Anteil an Verständnis für

das Handeln und Denken der Figuren und umgekehrt fehlt auch

den Reflexionen und der Suche des Protagonisten nicht ein gewis-

ses Maß an Ironie. Beide relativieren und beleuchten sich wechsel-

seitig.46

Wenn in diesem Kontext vom ‚Wissen in der Literatur„ die Re-

de ist oder von einer Theorie, die der Roman formuliert, so ist da-

mit kein abgeschlossenes, fest begründetes Wissen gemeint, wie

man es etwa von einem Sachtext verlangen würde, sondern Refle-

xionsangebote, die der Text dem Leser anhand eines reichen ‚An-

schauungsmaterials„ von verschiedenen Figuren in unterschiedli-

chen Kontexten, mitsamt ihren jeweiligen Erlebensweisen und

ihrer Art, sich die Wirklichkeit auszulegen, unterbreitet.47 Indem

46

Siehe Teil B, Kapitel I 4, in dem Musils Technik der „konstruktiven Ironie“ erläutert wird.

47 Das ‚Wissen der Literatur„ ist in den letzten Jahren Gegenstand einer unüber-

schaubar großen Anzahl an Forschungen und vielfältiger Ansätze und Diskus-sionen. Siehe zuletzt Jochen Hörisch: Das Wissen der Literatur, München 2007; Ralf Klausnitzer: Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen, Berlin 2008 und in Bezug auf psychoanalytisches Wissen den von Peter-André Alt und Thomas Anz herausgegebenen Sammelband Sigmund Freud und das Wissen der Literatur. Anz erläutert darin, die Literatur selbst wisse „nichts“. Sie „zum wissenden Subjekt zu machen ist eine metonymische Verkürzung“. Gerade die Psychoanalyse stelle literarische Texte aber zumeist „in einen Be-zug zu den realen Subjekten [...], die sie schreiben oder lesen“ (Thomas Anz, „Nachwort“, in: Alt/Anz, Freud und das Wissen der Literatur, S. 193-198, hier: S. 193f.). In seiner Dissertation Literatur und Erkenntnis. Studien zur kogniti-ven Signifikanz fiktionaler literarischer Werke (Paderborn 2008) unterzieht Tilmann Arndt Köppe den Anspruch eines Wissens der Literatur einer kritisch-analytischen Prüfung. Da „Wissen“ im engeren Sinne personal gebunden sei, könne die Literatur nicht selbst über ‚Wissen„ verfügen. Auch die Frage, ob man über die Literatur Wissen über die Welt, also etwa über den Menschen er-langen könne, wird zunächst negativ beantwortet: die Literatur selbst biete auf-grund des fiktionalen Charakters der Rede keinen Anhaltspunkt zu „begründe-ten Überzeugungen“ gelangen. Allerdings könne die Literatur doch dazu bei-tragen, die Überzeugungen eines Lesers zu modifizieren – durch die Bezie-

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A) EINLEITUNG 29

der Roman in seinen Aussagen wie oben beschrieben ‚in der

Schwebe„ bleibt, vermeidet er, eindeutige Antworten auf die Prob-

leme zu geben, die er stellt. Er ist stattdessen als eine große ‚Su-

che„ angelegt, an der der Erzähler den Leser beteiligt, gerade in-

dem er die Themen seiner Reflexionen in ironischer Brechung auf

verschiedene Figuren verteilt.

Der so formulierten ‚Theorie„ der Selbstkonstitution soll ihre

Konzeption in psychoanalytischen Theorien gegenübergestellt

werden.

Ein solches Vorgehen wirft Fragen in Bezug auf Musils Ver-

hältnis zur Psychoanalyse auf, wie zum Verhältnis von Literatur

und Psychoanalyse generell. Ebenfalls ist zu begründen, welche

Theorien zum Vergleich mit Musil herangezogen wurden. Alle

diese Fragen stehen in Bezug zu umfangreichen Forschungsgebie-

ten, deren Ergebnisse hier nicht ausführlich präsentiert werden

können. Es wird nur kurz dasjenige zusammengefasst, was zur

Begründung der Methode dieser Arbeit wichtig ist.

5. Musil und die Psychoanalyse

Musils Schreiben und seine im Roman durchgeführte ‚Erkenntnis-

suche„ wurde vergleichsweise wenig von der zeitgenössischen

Psychoanalyse beeinflusst. Musil kannte einige Schriften Freuds,

begegnete ihnen aber überwiegend mit vorsichtiger Skepsis und

bemühte sich, in seinem ‚dichterischen Erforschen„ der Seele eige-

ne, von der Psychoanalyse unabhängige Wege einzuschlagen.48–

Einige seiner Nebenbemerkungen zur Psychoanalyse zeugen über-

hung, die der Leser vom Gelesenen zu Inhalten aus anderen Wissensquellen – etwa aus seiner eigenen Erfahrung herstellt, können aus der Lektüre abgeleitete ‚Vermutungen„ auf Umwegen letztlich doch verifiziert werden. Köppe weist damit nach, dass man „sowohl theoretisches wie praktisches Wissen anhand von fiktionaler Literatur erwerben“ könne. Zwar wird einer allein aus der Lite-ratur abgeleiteten Erkenntnis eine Absage erteilt, zugleich wird aber zugestan-den, dass Literatur das Netz von Überzeugungen, über das ein Mensch verfügt, verändern und ihm womöglich den Anstoß zu entscheidenden Erkenntnissen geben kann.

48 Für die Novellen Vereinigungen gilt dies nur mit Einschränkung, da sie – neben

anderen Quellen wie den Fällen der „Psychasthenie“ nach Konstantin Oester-reich – auf einer intensiven Auseinandersetzung mit Breuers und Freuds Studi-en über Hysterie basiert. Siehe zuletzt Pfohlmann, Von der Abreaktion zur Energieverwandlung.

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A) EINLEITUNG 30

dies von einer eher oberflächlichen Kenntnis und teilweise auch

von einem Missverstehen ihrer Konzepte.49

Da die vorliegende Arbeit keinen historischen, sondern einen

systematischen Ansatz verfolgt, ist die Frage nach Musils Verhält-

nis zur zeitgenössischen Psychoanalyse – zu der bereits eine um-

fangreiche Forschung existiert50 – für sie weniger relevant.

Umgekehrt behandelt Musil aber einige Themen – in Bezug auf

das Selbst, das Verhältnis von Selbst und Wirklichkeit und insbe-

sondere auf Verschmelzungszustände von Selbst und Welt – die

umfassend erst in einer späteren, nachfreudianischen Psychoanaly-

se intensive Beachtung finden. Claudia Monti51 und Peter Hennin-

49

Vergleiche dazu Peter Henninger: Der Buchstabe und der Geist. Unbewußte Determinierung im Schreiben Robert Musils, Frankfurt am Main 1980, S. 162 f.

50 Zum Verhältnis Musils zur Psychoanalyse siehe: Karl Corino: „Ödipus oder

Orest? Robert Musil und die Psychoanalyse“, in: Uwe Baur/Dietmar Goldschnigg (Hgg.): Vom ‚Törleß‘ zum ‚Mann ohne Eigenschaften‘. Grazer Musil-Symposion 1972, München 1973 [Musil-Studien 4], S. 123-235. Johan-nes Cremerius: „Robert Musil. Das Dilemma eines Schriftstellers vom Typus des ‚Poeta ductus„“, in: ders.: Freud und die Dichter, Freiburg 1995, S. 140-185 [auch in: Psyche 33 (1979), S. 734-772]. Peter Henninger: Der Buchstabe und der Geist, Hildegard Lahme-Gronostaj: Einbildung und Erkenntnis bei Ro-bert Musil und im Verständnis der „Nachbarmacht“ Psychoanalyse. Würzburg 1991, S. 13-17. Claudia Monti: „Musils Bemerkungen zur ‚wissenschaftlichen und dichterischen Psychologie„: Die Hypothese einer nichtratioïden Psychoana-lyse“, in: Annette Daigger/Renate Schröder-Werle/Jürgen Thöming (Hgg.); West-östlicher Divan zum utopischen Kakanien. Hommage à Marie-Louise Roth, Bern 1999, S. 373-388. Siehe ebenfalls das Kapitel „Musils Einstellung zur Psychoanalyse“ in: Oliver Pfohlmann: Eine finster drohende und lockende Nachbarmacht? Untersuchungen zu psychoanalytischen Literaturdeutungen am Beispiel von Robert Musil, München 2003 [Musil-Studien 32], S. 364-377.

51 Monti erwägt, dass in Musils Abneigung und gezielter Unabhängigkeit womö-

glich auch Abwehr und eine partielle unbemerkte Beeinflussung durch die Psychoanalyse enthalten sein mag, dass er gerade, indem er sich von ihren We-gen ferngehalten habe, eine eigene dichterische Psychologie habe entwickeln können, die den Sackgassen und Denkblockaden der zeitgenössischen Psycho-analyse entgehen und wichtige Erkenntnisse der späteren Psychoanalyse antizi-pieren konnte: „E cioè che proprio grazia a questa resistenza o diffidenza con-scia ed elaborazione soltanto inconscia della psicoanalisi egli svilupperebbe ul-teriormente alcuni dei quesiti posti e non risolti dalla psicoanalisi stessa, riu-scendo in certo modo ad aggirare alcuni nodi su cui si era bloccata l‟indagine del tempo e addensando così nei suoi testi letterari, anche se spesso non in mo-do immediatamente riconoscibile, un sapere di eminente rilevanza psicoanali-tica, una psicologa poetica che anticiperebbe di diversi decenni gli sviluppi del-la psicoanalisi più recente.“ Claudia Monti: „Psicologia scientifica e psicologia poetica. Osservazioni su letteratura e psicanalisi esemplificate sul caso di Mu-