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KONTEXT KUNST+UNTERRICHT 415 416 I 2017 67 Medienbildung ist ein zentraler Teil der Kunstpädagogik, der – so- wohl gestalterisch als auch rezipierend – dazu verhilft, sich in einer von Medien dominierten Welt zu orientieren und (selbst-)bewusst zu positionieren. Für diese These werden im Folgenden aus dem wirren Geflecht des digitalen Rhizoms vielschichtige Begründun- gen aufgefächert. Das Smartphone ist immer dabei! Im Schnitt 88 mal am Tag wird das Display aktiviert, 35 mal davon, um Uhrzeit oder den Eingang von Nachrichten zu prüfen, 53 mal zum Surfen, Chatten oder für andere Apps – so der Befund aus dem Menthal-Balance-Projekt der Universität Bonn (https://menthal.org). Der rasche Griff und flüchtige Blick zum Smartphone mit seinen Apps wird in die All- tagsroutinen integriert. Schon lange steht nicht mehr die Frage im Raum, was wir mit der neuen, digitalen Technik anstellen, sondern was die Applika- tionen hinter der Oberfläche der bunt-leuchtenden Buttons mit uns machen. In China ist die digitale Technik bereits deutlich tiefer in die Gesellschaft eingegraben: „Mehr als 44 Regierungsstellen haben sich zusammengeschlossen, um Regelbrecher auf möglichst vie- len Ebenen zu benachteiligen“, lässt sich Xiang der Chef der Voll- zugsabteilung des obersten Gerichtshofes in Peking zitieren. Und das hat Folgen. Wer mit der Rückzahlung eines Kredites säumig ist, dem wird der chipkontrollierte Zugang zu Bahn und Flugzeug verweigert (FR vom 20. 2. 2017). Bald wird ein Social Score das Verhalten im Internet bis zum Straßenverkehr bündeln und Einfluss nehmen bei der Woh- nungsvergabe oder Kreditwürdigkeit. Das Datentracking der Smartphones wird auch hier die Quantifizierung des Sozialen als Ranking vorantreiben. Da könnte das Strategiekonzept der Kultusministerkonferenz zur „Bildung in der digitalen Welt“ vom Dezember 2016 gerade zur rechten Zeit kommen (KMK 2016). Und das Bundesland Bayern wird bei der Rückkehr zum G9 ab 2018 im Gymnasium das Pflicht- fach Informatik einführen. Doch hinter den „Computerkompetenzen“ der KMK, die ihre Einführung hoffnungsspendend ganz im Geiste der Klafki’schen Orientierung von Bildung an Teilhabe und Zukunftsfähigkeit aus- gerichtet hat, bleibt nicht viel mehr als eine affirmative Adap- tion an wirtschaftliche Anforderungen der Technikbedienung – Tippen in Word, Zahlen in Excel und, als kritisches Bildungsziel, Funde aus der Google-Recherche bewerten. Die KMK möchte die von ihr verkürzt und einseitig definierte IT-Bildung immerhin nicht an ein Fach delegieren, sondern sieht dies als Aufgabe aller Fächer und fordert deshalb eine Akzen- tuierung in der Lehreraus- und -fortbildung. Doch der fromme Wunsch hat kein Curriculum, das dem digitalen Dispositiv nur annährend gerecht würde. JOHANNES KIRSCHENMANN I ANN-JASMIN RATZEL Im Sog des Bilderstroms Algorithmische Choreografien des Bildes im digitalen Dispositiv 1 I … sich in einer von Medien dominierten Welt orientieren und positionieren © Franz Stein 2017 51415-2017-415_67_71_Kontext.indd 67 29.08.2017 13:10:03

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Medienbildung ist ein zentraler Teil der Kunstpädagogik, der – so-

wohl gestalterisch als auch rezipierend – dazu verhilft, sich in einer

von Medien dominierten Welt zu orientieren und (selbst-)bewusst

zu positionieren. Für diese These werden im Folgenden aus dem

wirren Geflecht des digitalen Rhizoms vielschichtige Begründun-

gen aufgefächert.

Das Smartphone ist immer dabei! Im Schnitt 88 mal am Tag wird das Display aktiviert, 35 mal davon, um Uhrzeit oder den Eingang von Nachrichten zu prüfen, 53 mal zum Surfen, Chatten oder für andere Apps – so der Befund aus dem Menthal-Balance-Projekt der Universität Bonn (https://menthal.org). Der rasche Griff und flüchtige Blick zum Smartphone mit seinen Apps wird in die All-tagsroutinen integriert.

Schon lange steht nicht mehr die Frage im Raum, was wir mit der neuen, digitalen Technik anstellen, sondern was die Applika-tionen hinter der Oberfläche der bunt-leuchtenden Buttons mit uns machen.

In China ist die digitale Technik bereits deutlich tiefer in die Gesellschaft eingegraben: „Mehr als 44 Regierungsstellen haben sich zusammengeschlossen, um Regelbrecher auf möglichst vie-len Ebenen zu benachteiligen“, lässt sich Xiang der Chef der Voll-zugsabteilung des obersten Gerichtshofes in Peking zitieren. Und das hat Folgen. Wer mit der Rückzahlung eines Kredites säumig ist, dem wird der chipkontrollierte Zugang zu Bahn und Flugzeug verweigert (FR vom 20. 2. 2017).

Bald wird ein Social Score das Verhalten im Internet bis zum Straßenverkehr bündeln und Einfluss nehmen bei der Woh-nungsvergabe oder Kreditwürdigkeit. Das Datentracking der Smartphones wird auch hier die Quantifizierung des Sozialen als Ranking vorantreiben.

Da könnte das Strategiekonzept der Kultusministerkonferenz zur „Bildung in der digitalen Welt“ vom Dezember 2016 gerade zur rechten Zeit kommen (KMK 2016). Und das Bundesland Bayern wird bei der Rückkehr zum G9 ab 2018 im Gymnasium das Pflicht-fach Informatik einführen.

Doch hinter den „Computerkompetenzen“ der KMK, die ihre Einführung hoffnungsspendend ganz im Geiste der Klafki’schen Orientierung von Bildung an Teilhabe und Zukunftsfähigkeit aus-gerichtet hat, bleibt nicht viel mehr als eine affirmative Adap-tion an wirtschaftliche Anforderungen der Technikbedienung –

Tippen in Word, Zahlen in Excel und, als kritisches Bildungsziel, Funde aus der Google-Recherche bewerten.

Die KMK möchte die von ihr verkürzt und einseitig definierte IT-Bildung immerhin nicht an ein Fach delegieren, sondern sieht dies als Aufgabe aller Fächer und fordert deshalb eine Akzen-tuierung in der Lehreraus- und -fortbildung. Doch der fromme Wunsch hat kein Curriculum, das dem digitalen Dispositiv nur annährend gerecht würde.

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Im Sog des BilderstromsAlgorithmische Choreografien des Bildes im digitalen Dispositiv

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mit der von Apple intuitiv ausgestatteten Oberfläche expandier-te die mobile Kommunikation, die das Leben nun bestimmt. In großformatigen Anzeigen im alten und doch reputierten Medi-um Zeitung feierte Apple im Frühjahr 2009 – gerade 18 Monate nach der Einführung des IPhones – die 100 000. App. Heute sind es geschätzt 30 Millionen, die uns durch den Alltag navigieren. Ob es die Katzenbilder im Chat mit der Freundin sind, die rasch erledigten Bankgeschäfte, die Teilhabe am Weltgeschehen mit Infohäppchen – stets und inzwischen überall, im Restaurant oder beim Warten an der Ampel dominiert die Zerstreuung als Ge-schäftigkeit der sich selbst Antreibenden.

Das wälzt nicht nur unsere Vorstellung völlig um, wie wir mit Daten umgehen. Das Smartphone bringt Chancen auf Partizipa-tion und Demokratie in eine Welt, die an vielen Enden brüchig scheint und doch gleichzeitig gegen mächtige Interessen zu-sammenfindet – auch für einen Augenblick des Widerstandes. Dennoch ist der zu zahlende Preis nicht zu bagatellisieren. Neben einer schwindenden Fokussierung, der durch eine wachsende Präsenz von Achtsamkeitsseminaren Einhalt geboten werden soll, fördert die Übertragung vom realen in den virtuellen Raum ein neues Wertesystem und modifiziert das Sozialverhalten.

Es war für die Datenschützer ein großer Erfolg, als 2011 Face-book die biometrische Gesichtserkennung und die genaue Zu-ordnung zu den Profilen aufgegeben hat. Doch inzwischen ha-ben sich die Datenströme vervielfacht und die algorithmischen Korrelationen generieren ganz eigene Datenprofile. Das schafft machtvolle Setzungen und intransparente Verwirrungen.

Schlaglichter zum digitalen Dispositiv

Der Begriff Dispositiv folgt Michel Foucault, der damit u. A. das so-ziale Verhalten infolge eines unsichtbaren Regelwerkes in einem Netz von Verbindungen und Knoten als Metapher umschrieb. All dies konfiguriert in seiner strukturalen Gesamtheit eine normati-ve Ordnung, die außerhalb demokratisch legitimierter Strukturen sichtbar und – noch mehr – unsichtbar Macht ausübt.

Das Smartphone ist das am weitesten verbreitete Gerät im Ensemble all der Werkzeuge von Big-Data, ergänzt um Fitness-bänder, um Sensoren und Steuerungsgeräte der Haustechnik, um biometrische Scanner, um Überwachungskameras. Sie alle regeln und steuern als zusammenwirkende Instrumente im digi-talen Dispositiv die leitenden Denk- und Handlungsstrukturen. Sie geben Weisung und Orientierung in einer Gesellschaft, die ihren Mitgliedern in der tagtäglichen Identitätskonstruktion die höchsten Freiheitsgrade im fortwährenden Auswählen aus den Multioptionen gewährt. Gegenüber den einzelnen Instrumenten von Big-Data vereint das Smartphone geradezu omnipotente Funktionen: Es dient der Bildgenerierung und Bildverteilung, es ist Interface zum Internet und damit an viele unmittelbar bewuss-te und noch mehr unbewusste Kontroll- und Steuerungsapparate auf der Hinterbühne der listigen und bequemen Daseinsfürsorge gekoppelt.

Datenströme konstruieren Profile

Während die frühen Datenströme überwiegend aus Maschinen und Objekten resultierten, sind heute die Menschen die Daten-quellen. Die Datenströme werden zu Profilen verdichtet. Und diese Profile geben Auskunft über unsere Beziehung zu anderen Menschen, Vorlieben, unser Freizeitverhalten; die Profile bün-deln, was wir tun und noch mehr, was wir lassen.

Smartphones und andere tragbare digitale Dienstleister („Wearables“) eignen sich prächtig als Messgeräte der Effizienz. Leistungsmessung ist der Motor des Kapitalismus. Es gehört zum genetischen Code der Digitalisierung, dass wesentliche Sequen-zen des Alltagshandelns entweder in die digitale Sphäre verscho-ben oder mit dieser – möglichst online – verknüpft werden.

Die digitale Sphäre steht für Automatisierung und Virtualisie-rung; dabei regieren algorithmische Prozesse, die zu Recht unter dem Stichwort der künstlichen Intelligenz auch mit selbstlernen-den Systemen gleichgesetzt werden. Das führt in der sachlogi-schen Konsequenz zu Annehmlichkeiten, z. B. von stets besseren Spracherkennungssystemen und Simultanübersetzungen in Echtzeit. Dies führt aber auch zu sich selbst steuernden Systemen, die sich in ihrer Komplexität selbst der Kontrolle ihrer ingeniösen Schöpfer entziehen.

Das World Wide Web entfaltete seine volle Durchschlagskraft erst mit den Smartphones als den mobilen Prothesen einer no-madisierenden Arbeitsgesellschaft. Bis das erste IPhone 2007 das Licht der Welt erblickte, gab es unhandliche Vorläufer. Erst

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ten Profilen, die umfänglich und oft nach Zufällen selektiv aus den Datenströmen resultieren. Das fordert Handlungswissen in der IT. Die dies ergänzenden Freiräume eines „unplug yourself“ und die Fähigkeit zur Selbstreflexion sind daneben immanente Ziele einer Kunstdidaktik, die vom Subjekt als Ziel und Ausgang aller Bildung ausgeht (vgl. Koska 2015). Auch die Methoden auf dem Weg zu den Bildungszielen entstammen einem komplementären Werkzeug-kasten der Kunstpädagogik: Handlung mit Material, Berührung, Taktiles, Zeichnung, Irritation durch Kunst und Orientierung durch hermeneutisches Umkreisen im Abseits der Geschäftigkeit (Kirsch-enmann 2003). So gehören beispielsweise die Gestaltungs- und Wirkungsanalyse der ästhetischen Struktur einer App – und dann die Untersuchung mit der ganzen Lerngruppe, auch arbeitsteilig, zur gelenkten Steuerung und den Folgen für das Verhalten – zu einer Semantik und Pragmatik des digitalen Bildes.

Neue KommunikationskanäleDemokratie, Gesellschaft und Politik sind ohne Kommunikation nicht denkbar – und Kommunikation ist heute ohne Google und Facebook, nachrangig ohne Twitter, Snapchat und Whatsapp kaum vorstellbar. Das hat vielfältige Konsequenzen!

Die politische Kommunikation wird über rasch agierende Gruppen und automatisierte Bots umgeschrieben. Die klassi-schen Parteien als Organe der Willensbildung haben die Kon-trolle über ihre Kommunikationskanäle weitgehend verloren, es dominieren immer mehr die sich selbst verstärkenden Mei-nungstrends. Darauf sind die Algorithmen von Facebook & Co auch ausgerichtet. Sie verstärken Aktivitäten im Netz, die den Er-regungszustand jenseits inhaltlicher Bedeutung und faktischer Wahrheit maximieren. Dabei verschaffen affirmative Trends des „Liken“ weitaus mehr Zustimmung und Selbstverstärkung als der Widerspruch. Rasches Agieren, Posten und Reagieren drängen Differenzierung und Reflexivität zurück.

Hanno Rauterberg bezeichnet die Smartphone-Kamera als drittes Auge, die neben Mündlichkeit und Schriftlichkeit einen neuen Kommunikationsweg anbahnt, den der „Äuglichkeit“. Das ständige Bildermachen und Kommunizieren mit Bildern ist nicht gebunden an Ort und Zeit. Diese Entwicklungen prägen auch das Kunstsystem mit Produktion, Ausstellung und Distribution nachhaltig – das Museum wird Identifizierungsapparat für Kunst (Zeit Nr. 46/2015).

PartizipationAuch Museen entdecken zunehmend den virtuellen Raum und die Schwarmintelligenz, um Wissen zu generieren, den Rezipien-tenkreis zu erweitern und partizipativ einzubinden. Häufige Me-thode ist das Crowdsourcing – das wohl bekannteste Alltagsbei-spiel ist die Internet-Enzyklopädie Wikipedia: Rohdaten werden so in ein groß angelegtes, digitales Wissensnetz eingearbeitet, das durch keine automatisierte Maschine ersetzt werden kann (Dunn/Hedges 2014). Bei dem Projekt Art Maps der Tate wird die Bevölkerung dazu aufgerufen, die in den Werken der Sammlung dargestellten Orte in einer App zu kartieren und zu kommen-

Algorithmische Choreografien

Die totalitäre Gängelung des chinesischen Staates gegenüber seiner Bevölkerung ist ein expansives Exempel der Datenvernet-zung und Überwachung. Doch dieser Staat macht wenig Geheim-nis aus seiner Überwachung und Sanktionierung.

Subtiler, aber kaum weniger wirkmächtig, sind die Scores in der Konsumentenbewertung – und die Algorithmen im Hinter-grund unserer Netzaktivitäten, die die Person am Interface prä-zise konturieren und in das Reich der vermeintlichen Wünsche hinübergeleiten. Die Summe der Datenverwebungen zu einem in seinem Profil identifizierbaren Individuum hinterlässt dieses nicht als Subjekt, sondern als ein aus Datenströmen ganz unter-schiedlicher Quellen konstruiertes Objekt.

Wer in den USA kein Facebookprofil vorweisen kann, von dem also nicht bekannt ist, wie gesund oder riskant sie oder er lebt, zahlt bei Versicherungen einen ordentlichen Aufschlag. Sport-liches Alltagsverhalten und überwachtes Autofahren können auch in Europa zu Rabatten führen – vorerst. Harmlos ist das Beispiel, wenn nach einem verweigerten Konsumentenkredit der Bankberater am Telefon etwas von hervorragender Bonität erzählt, jedoch seien die Ablehnungsgründe des Systems zwar nicht nachvollziehbar, aber allein entscheidend.

Mit den Interfaces von Big Data wird das Subjekt zum Ob-jekt in einer langen Kette miteinander verknüpfter Daten. Das Smartphone ist wie jedes andere digitale Endgerät immer we-niger ein isoliertes Werkzeug, sondern ein vielfältig vernetztes Element in einem sozio-technischen System. Der Medienwis-senschaftler Michael Seemann formuliert dies anschaulich: „Daten, von denen wir nicht wussten, dass es sie gibt, finden Wege, die nicht vorgesehen waren, und offenbaren Dinge, auf die wir nie gekommen wären.“ (Seemann 2014, S. 38) Dies gilt für sensible Daten genauso wie für die Bildpostings der letzten Party.

Was undurchschaubar bleibt und ein verunsicherendes Gefühl von Chaos und Ohnmacht zurücklässt, kann als das machtvolle Regime der Algorithmen aus den Firmenrechnern der digitalen Ökonomie bezeichnet werden. Offensichtlich und nachvollzieh-bar wird dies mit der individualisierten Werbung, die beim alltäg-lichen Blick auf den Bildschirm das schauende Subjekt manifest zu den Momenten seines identifizierten Wünschens und Begeh-rens leitet. Bildschirme filtern und ordnen, ihr Objektiv erfasst nicht die Totale, sondern sehr unmerklich den gesteuerten Fokus. Der Medienwissenschaftler Lucas Introna spricht zu Recht von der „algorithmischen Choreografie des beeindruckbaren Subjekts“ (2017, S. 41 ff.). Hier setzen die ersten Überlegungen zu einer di-gitalen Bildungsidentität an.

Rückeroberung der digitalen SphäreDas Ziel ist die Rückeroberung der digitalen Sphäre durch entspre-chendes Nutzerwissen. Über kollaborative Filter lässt sich z. B. ein subjektgesteuertes Interessensprofil aufbauen, das sich wider-ständig zeigt zu den hinterrücks aus den Algorithmen generier-

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Sie zielen auf das Mitfühlen aus einer suggerierten Geschich-te. Fotos – besonders Selfies – werden gemacht, um verteilt zu werden, um Likes einzusammeln. Viele der Filter von Instagram und Snapchat steigern die Ästhetisierung. Und dann beginnt das bange, neugierige Warten auf Reaktionen. Selfies gehören zu den Bildkategorien, die am stärksten dem gesellschaftlichen Postulat folgen, individuelle Attraktivität und Einzigartigkeit zu demons-trieren – und wo könnte dies besser gelingen, als in den sozialen Netzwerken.

Der Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich sieht in den Sel-fies und dem impliziten kommunikativen Aspekt eine prägende Wirkung, gestützt über Spiegelneuronen: „Tatsächlich dürfte es in der gegenwärtigen Kultur nichts geben, was genauso wir-kungsvoll wie Selfies und die ihnen zugrunde liegenden Emoti-cons zu einer Modifikation sowie Kodifizierung von Mimik und Gestik beiträgt, sind Menschen doch im Selfie-Modus bewuss-ter und konzentrierter auf ihren Ausdruck bedacht als in den meisten anderen Situationen ihres sozialen Lebens. Auch weit über Selfies hinaus trifft man daher auf Posen, die in diesen vorgegeben, konfektioniert und eingeübt sind.“ (Ullrich 2015, S. 37 f.)

SchönheitshandelnDas Selfie ist nicht Instrument der Selbstvergewisserung, diese tritt erst ein, wenn nach dem Bildposting der reziproke, hoffent-lich positive Kommentar erfolgt, denn erst das Feedback bestä-tigt. „Schönheitshandeln“ hat dies die Netzsoziologin Nina Dege-le genannt (2004, S. 10).

Was kann und muss die Kunstpä dagogik im Gegenüber zu den affirmativen und heteronormativen Selbstinszenierungen leisten?

All die Verhandlungen zum schön inszenierten Menschen durch die Funktionsbereiche und Jahrhunderte der Kunst tan-gieren die gegenwärtigen Alltags praxen. Wieder kann die Kunst das Wissen um die Möglichkeiten im Bild des Menschen für sich und seine Betrachter erweitern. Das Porträt als weit ausgreifen-des Genre führt zu den vielen und auch zu den weniger gelikten Betrachtungen des Anderen. Das fördert den Blick der Differen-zierung, das fördert Alterität als den inneren Kern von Pädagogik spätestens seit Rousseaus Entdeckung des Kindes als Eigenwe-sen in seiner Differenz zum Erwachsenen (Masschelein/Wimmer 1996, S. 11). Alterität heißt, das Fremde, z. B. das Fremde in der Kunst, durch einen radikalen Perspektivwechsel zuzulassen, der zuallererst die eigene Betrachtersubjektivität und mithin unsere Wertigkeiten vorerst suspendiert.

Gamification – Spielen im ComputerzeitalterDie bildgestützte Präsentation sozialer Attraktivität wird durch „Gamification“ als hedonistische Ausprägung fortschreitender digitaler Kontrolle begleitet. Gamification beschreibt den kultur-geschichtlich immanenten Wettbewerbscharakter eines jeden Spiels. Spielen meint die Lösung von Aufgaben und das Erreichen von Zielen in Konkurrenz zu anderen.

tieren. Einem ähnlichen Konzept, historisches und kulturelles Wissen zu generieren und zu vermitteln, folgen auch interdiszi-plinäre Projekte wie Map the Museum, Pin a Tale oder Europeana 1914 – 1918, einer Plattform, die offizielle Dokumente, Fotos und private Erzählungen zum Ersten Weltkrieg versammelt.

Aber auch globale Konzerne wie Google mischen mit und ver-sammeln unter der Schirmherrschaft des Google Cultural Institute Formate wie Google Art oder World Wonders. Der Rezipient kann per Streetview-Technik Museen oder Welterbe-Denkmäler ganz bequem auf dem Bildschirm besuchen. Eine aktive wissenkon-struierende Partizipation des Besuchers ist nicht vorgesehen – Metadaten werden wohl dennoch erfasst werden.

Der hysterische Charakter und seine Bilder

Der Soziologe Bernd Heinzlmaier sieht – als versierter Analytiker der Jugendszene – einen Mainstreammenschen der Postmoder-ne mit einem schiziod-hysterischen Charakter. Es ist ein Typus der Egozentrik – bis zum Narzissmus, der die permanente Verände-rung, den steten Wandel und das Abenteuer sucht (Heinzelmaier 2016). Dem entsprechen die Algorithmen der sozialen Netzwerke hervorragend, denn sie verstärken Meinungstrends, die zu wei-teren Klicks und damit Interaktionen führen. In der Medienpräfe-renz dieses Typus sieht Heinzlmaier drei Kategorien:�� Medien, die eine Bühne bieten für die Verwirklichung narzissti-

scher Selbstdarstellungsbedürfnisse, beispielsweise Facebook, Instagram oder Tinder,

�� Medien, die das Alte beiseite räumen, um Platz für neue Sen-sationen zu schaffen, die Dauerhaftigkeit und Beständigkeit zu vermeiden helfen, die das Entstehen von Erinnerung und Tradition behindern. Medien des Vergessens, des Verschwin-dens, der Beschleunigung wie Snapchat,

�� Mediale Angebote, die den unstillbaren Hunger nach Sensa-tionen, Extravaganzen, nach dem Spektakel, nach der stän-digen Abwechslung und Veränderung zusammenhanglos befriedigen wie News Charts, 10.000 Flies, Filtr.de, heftig.de, BuzzFeed etc.“ (ebd., S. 2).

Seit 20 Jahren nimmt im Netz das Bild als Träger der Kommunika-tion eine immer prominentere Stelle ein. Ob in der öffentlichen, politischen oder der eher an eine kleine Gruppe gerichteten pri-vaten Mitteilung – das digitale Bild hat meist einen suggestiven und zugleich appellativen Charakter.

Die erste Aufgabe der online gezeigten Bilder ist es, die Akti-vität der User zu erhöhen: Das Bild soll im ewigen und rasanten Strom neuer Bildimpulse irgendwie faszinieren, irritieren, aber zumindest die Betrachter auf der Seite halten und möglichst zu den offerierten Links geleiten.

Doch während die einst meist aufwendig inszenierten analo-gen Fotos – vor allem von Menschen mit ihren Nuancen – eine Erzählung anboten, so sind die vielen Online-Fotos und Selfies auf den Augenblick konzentriert und stehen indexalisch für das vermeintlich Besondere im Alltäglichen.

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aus einem Unterricht erwachsen, der im Auge des Hurrikans aus-schließlich diesen digitalen Bildern nachtaumelt. Mit den Bildern der Kunst mag eine Pause als überraschende Ereignisstille Distanz und Reflexion ermöglichen.

Die Kunst der Renaissance war noch vom Taktilen bestimmt. Statuen sollten angefasst werden und die Malerei forderte mit zarter Haut oder samtigen Textilien den Tastsinn heraus. Bilder in Opposition digitaler Egalisierung.

Ein entlegenes, stilles Beispiel: Der venezianische Maler Se-bastiano del Piombo (1485 – 1547) stellt in seinem Bild Cardinal Bendinello Sauli mit drei Begleitern (1516) über die Farbigkeit und die suggerierte Materialität Fragen nach der Zeitlichkeit, nach dem Ewigen im Endlichen des Diesseits. Diese entrückte Welt der Nachdenklichkeit mag auch aus der Bildbetrachtung resultieren. Es passiert wenig im Bild, doch öffnet sich ein Denkraum für sehr vieles in unmittelbarer, zwischenmenschlicher Kommunikation. Zeigegesten und eine Weltkarte verführen zu Hypothesen und immer wieder wird in der Spekulation die Zeitlichkeit als Maß jeder menschlichen Existenz aufgerufen. Zu einer schwarzen Fliege auf dem reinweißen Gewand des Kardinals fluchtet der Blickpunkt: kein Begehren, kein Link, nur ein gedehntes Warten.

Anders die Fotografien von Ingrid Burrington oder Trevor Pa-glen: Beide gehen der materiellen Basis des Internets nach. Wo findet sich die sichtbare, die notdürftig kaschierte Infrastruktur des Internets? Wo sind all die technischen Prothesen der Über-wachung? Zuerst irritieren diese Bilder ob ihrer vordergründigen Alltäglichkeit, erst im zweiten oder dritten Blick führen sie zu den oft nur kargen Spuren all der technischen Apparate, die als Datencenter, Großrechneranlagen oder Antennen den mobilen Smartphones ihre Helferdienste ermöglichen.

LiteraturChina etabliert die perfekte IT-Diktatur. In: FR, 20. 2. 2017, S. 32. Degele, Nina: Sich schön machen. Zur Soziologie von Geschlecht und Schönheits-

handeln. Wiesbaden 2004.Dunn, Stuart / Hedges, Mark: How the Crowd Can Surprise Us: Humanaties Crowd-

sourcing and the Creation of Knowledge. In: Mia Ridge (Hg.): Crowdsourcing our Heritage. Farnham u. a. 2014, S. 231 ff.

KMK: Bildung in der digitalen Welt. https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/ PresseUndAktuelles/2016/Bildung_digitale_Welt_Webversion.pdf (Zugriff 02. 07. 2017).

Introna, Lucas D.: Die algorithmische Choreographie des beeindruckbaren Sub-jekts. In: Seyfert, Robert / Roberge, Jonathan (Hg.): Algorithmuskulturen. Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit, Bielefeld 2017, S. 41 ff.

Heinzlmaier, Bernhard: Mediensozialisation in der digitalen Postmoderne. Der schizoid-hysterische Charakter und sein Medienverhalten als Phänomen un-serer Zeit. Wien 2016.

Kirschenmann, Johannes: Medienbildung in der Kunstpädagogik. Zu einer Didaktik der Komplementarität und Revalidierung. Weimar 2003.

Koska, Christopher: Zur Idee einer digitalen Bildungsidentität. In: Gapski, Harald (Hg.): Big Data und Medienbildung. Zwischen Kontrollverlust, Selbstverteidi-gung und Souveränität in der digitalen Welt. München 2015, S. 81 ff.

Masschelein, Jan / Wimmer, Michael: Alterität, Pluralität, Gerechtigkeit. Sankt Au-gustin 1996.

Rauterberg, Hanno: Unser Drittes Auge. In: Zeit Nr. 46, 15. 11.2015. http://www.zeit.de/2015/46/fotografie-smartphone-kunst-selfies-museen#comments (19. 06. 2017)

Seemann, Michael: Das Neue Spiel. Strategien für die Welt nach dem digitalen Kon-trollverlust. Freiburg 2014.

Ullrich, Wolfgang: Selfies als Weltsprache. In: Ich bin hier. Von Rembrandt zum Sel-fie, AK* Kunsthalle Karlsruhe 2015, S. 34 ff.

* AK = Ausstellungskatalog

Abgeleitet und inzwischen weit jenseits der Computerspiele hat Gamification die Steuerung des Konsumverhaltens auf vielen digitalen Plattformen durchdrungen. Produkte oder Dienstleis-tungen werden im Spiel der ernsten Jury bewertet. Fitnessbän-der protokollieren die sportliche Leistung und schrauben in bon-bonfarbenen Grafiken den selbstdefinierten Leistungsanspruch hoch. Verbunden mit den Profilseiten in sozialen Netzwerken wird die Person unter dem pädagogischen Zauberwort der Mo-tivation in ihrer psychischen und physischen Verfassung trans-parent.

Aber auch in der Kunst hält das Moment der Gamification Ein-zug. Zum siebten Mal vergibt das ZKM in Karlsruhe dieses Jahr den „App Art Award“ in den Kategorien „Game Art“, „Sound Art“ und „AppArtivism“, in der Apps mit politisch-demokratischer In-tention preisgekrönt werden.

Kunstunterricht – im Auge des Hurricans?

Das alles ruft einmal mehr die Kunstpädagogik zur Dekonstruk-tion des Bildes im Unterricht auf. Reflexionsfähigkeit und Begüns-tigung von Autonomie im Sog des Bilderstroms werden nicht

3 I … mit den Bildern der Kunst Distanz und Reflexion ermöglichen

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