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Jordi de Sant Jordi: Der letzte Trobador Eine Anthologie herausgegeben und übersetzt von Hans-Ingo Radatz

Jordi de Sant Jordi: Der letzte Trobador€¦ · Jordi de Sant Jordi (* vor 1400, † 1424) ist außerhalb der katalanischen Länder bzw. der Katalanistik ein wenig bekannter Name

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Jordi de Sant Jordi:Der letzte Trobador

Eine Anthologieherausgegeben und übersetzt von Hans-Ingo Radatz

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Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 2 von 66

Proemi: Der (wirklich) letzte Trobador . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 4 von 66Ein Dichter, für den sich niemand zuständig fühlte . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 4 von 66Die Zweisprachigkeit der katalanischen Literatur im Mittelalter . . . . . Seite 5 von 66Trobadorlyrik – Katalanische Trobadors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 6 von 66Das Fortleben der Trobadorlyrik nach 1292 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 8 von 66

Vida: Jordi de Sant Jordi und seine Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 10 von 66Die „Aragonesische Krone” – ein komplexes mittelalterliches Staatsgebilde

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 12 von 66Jordis mittelalterliche Prägung: am Hofe der Königin Margarita . . . . Seite 14 von 66Jordis Renaissance-Prägung: am Hofe König Alfons’ des Großmütigen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 17 von 66

Razo: Das überlieferte Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 19 von 66Gedichte an die Reyna d’onor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 19 von 66

I. Tanzlied und Abbitte [So groß ist der Schmerz, den ich leide ...]II. Herrin, den ganzen Tag fleh ich Euch an ...III. Die Belagerung durch Amor [Versammelt sehe ich Amors gesamte Streitmacht ...]IV. Abschied [Oft seufze ich von fern um Euretwegen, Herrin ...]V. So wie auf dem Astrolabium die Sternzeichen angeordnet sind ...VI. Dass sie den Namen und den geraden Wuchs der Geliebten hätten ...VII. Der Wettstreit zwischen Ehre und Liebe [Niemand kann etwas von Wert sagen oder tun...]VIII. Hört, ihr Frauen, was ich euch verkünde ...IX. Hinter meiner Stirn trage ich Euer holdes Bild ... (Estramps)

Gedicht an Amors, Amors ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 21 von 66X. Unter eine üble Herrschaft und gar an einen üblen Ort ...

Gedichte an Na Ysabel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 21 von 66XI. Eine edle Frau hat mir mein Herz und meine Augen ...XII. Sehnsucht, Leiden, Schmerz und Begehren

Vermischte Gedichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 22 von 66XIII. Einzelstrophe (Cobla esparsa)XIV. Ohne Freunde, Güter und ohne meinen Herrn ...XV. Jeden Tag lerne und verlerne ich zugleich ...XVI. Der Geldwechsler [Da Ihr, wie es scheint, im Wechseln so erfahren seid ...]XVII. Die Ärgernisse [Der Ärger, Feind der Jugend ...]XVIII. Pacio amoris secundum Ovidium [Wenn ich sehe, wie das Wetter umschlägt und sich

verdunkelt ...]

Zur Edition & Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 24 von 66

Cançoner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 26 von 66

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I. Tanzlied und Abbitte [So groß ist der Schmerz, den ich leide ...] . . . . Seite 27 von 66

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II. Herrin, den ganzen Tag fleh ich Euch an ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 28 von 66

III. Die Belagerung durch Amor [Versammelt sehe ich Amors gesamte Streitmacht ...]. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 30 von 66

IV. Abschied [Oft seufze ich von fern um Euretwegen, Herrin ...] . . . . . . Seite 32 von 66

V. So wie auf dem Astrolabium die Sternzeichen angeordnet sind ... . . . Seite 34 von 66

VI. Dass sie den Namen und den geraden Wuchs der Geliebten hätten .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 36 von 66

VII. Der Wettstreit zwischen Ehre und Liebe [Niemand kann etwas von Wert sagen oder tun...] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 38 von 66

VIII. Hört, ihr Frauen, was ich euch verkünde ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 41 von 66

IX. Hinter meiner Stirn trage ich Euer holdes Bild ... . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 43 von 66

X. Unter eine üble Herrschaft und gar an einen üblen Ort ... . . . . . . . . . . Seite 45 von 66

XI. Eine edle Frau hat mir mein Herz und meine Augen ... . . . . . . . . . . . . Seite 47 von 66

XII. Sehnsucht, Leiden, Schmerz und Begehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 49 von 66

XIII. Kein Mann gefällt mir, der nicht in allen Dingen ... . . . . . . . . . . . . . . Seite 51 von 66

XIV. Ohne Freunde, Güter und ohne meinen Herrn ... . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 52 von 66

XV. Jeden Tag lerne und verlerne ich zugleich ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 54 von 66

XVI. Der Geldwechsler [Da Ihr, wie es scheint, im Wechseln so erfahren seid ...]. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 56 von 66

XVII. Die Ärgernisse [Der Ärger, Feind der Jugend ...] . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 58 von 66

XVIII. Pacio amoris secundum Ovidium [Wenn ich sehe, wie das Wetter umschlägt und sichverdunkelt ...] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 63 von 66

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1 Proemi, „Proömium” – so wäre eine solche Einleitung in einer alte romanische Liederhandschriften wohlgenannt worden.

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Proemi:1 Der (wirklich) letzte Trobador

Ein Dichter, für den sich niemand zuständig fühlte

Jordi de Sant Jordi (* vor 1400, † 1424) ist außerhalb der katalanischen Länder bzw. derKatalanistik ein wenig bekannter Name. Dass dies so ist, liegt gewiss nicht an seinertatsächlichen literarischen Qualität und kulturgeschichtlichen Bedeutung und muss sogarüberraschend anmuten für einen Autoren, der wie kaum ein anderer als Bindeglied zwischen dermittelalterlichen Ideenwelt der Trobadore und derjenigen der italienisch vermitteltenRenaissance gelten könnte.

Ein wichtiger Grund für dieses Aufmerksamkeitsdefizit ist gewiss die Tatsache, dass ervon keiner der großen Nationalphilologien für sich beansprucht worden ist und damit auch nichtin den Genuss früher Anthologisierung, Integration in den schulischen Bildungskanon undgesellschaftlicher Würdigung kommen konnte. Die einschlägigen Geburts- oderTodesjahrfeiern, Briefmarkenmotive, Straßennamen und andere vergleichbare öffentlicheSymbole, die den etablierten Nationaldichtern gern zugedacht werden, blieben ihm damitverwehrt.

Jordi ist ein Autor, dessen moderne Rezeption lange Zeit dadurch behindert worden ist,dass er von der Parzellierung der philologischen Vorgärtchen schwer zu erfassen war und damitden meisten einschlägigen Forschern als bloßes Randphänomen ihres jeweiligenForschungsinteresses erscheinen musste. Es gibt mehrere Kriterien, nach denen Philologen ihrenwissenschaftlichen Zuständigkeitsbereich definieren, doch sind es typischerweise vor allem dieSprachen und die jeweiligen damit assoziierten Nationalstaaten, die diese Grobeinteilung derZuständigkeiten regeln. Ein Autor wie Jordi de Sant Jordi, bei dem sowohl die Sprache als auchdie Zuordnung zu einem modernen Staat problematisch ist, fällt da leicht durch die Maschen derPhilologennetze.

Der verwendeteten Sprache nach dürfte der Autor jedenfalls wohl in den Bereich derOkzitanistik gehören, auch wenn selbst diese, grundsätzlichste, Einordnung nicht unumstrittengeblieben ist. Da nun der größte Teil des altokzitanischen Sprachgebiets im Territorium desmodernen Frankreich lag, hat es sich eingebürgert, die Erforschung dieser Literatur als einUntergebiet der Frankoromanistik zu betrachten: Kenntnisse des Altokzitanischen erwartet manin der Romanistik vor allem bei Spezialisten der französischen Philologie. Was aus der Sichteiner effizienten Forschungsorganisation durchaus sinnvoll sein mag, birgt zugleich aber leiderauch die Gefahr, die Gegebenheiten der modernen Nationalstaatengrenzen bzw. der heutigenSprachenlandschaften ahistorisch in die Vergangenheit zu projizieren und dabei unbewusstEinteilungen vorzunehmen, die den Zeitgenossen Jordis fremd erschienen wären.

Im Falle Jordi de Sant Jordis hat diese Einteilung der Zuständigkeiten dazu geführt, dassdie eigentliche Trobadorlyrikforschung ihn schon allein deshalb nicht genauer untersucht hat,da er als Valencianer nicht in den engeren Kernbereich der okzitanischen Lyrik zu rechnen war– ganz davon zu schweigen, dass er erst über hundert Jahre nach dem „offiziellen” Ende derTrobadorepoche geboren wurde. Für einen „Spanier”, der zudem noch viel zu spät aufOkzitanisch schrieb, zeigte man in der Franzistik wenig Interesse. Die Hispanistik ihrerseitsfühlte sich zwar für „spanische” Autoren zuständig – allerdings primär für solche, die dazu auchdie spanische Sprache verwenden. Von hispanistischer Seite war also ebenfalls nicht der volle

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2 Dieses Phänomen kann man im Mittelalter auch anderenorts beobachten. Vergessen wir z.B. nicht, dass derkastilische König Alfons X. „der Weise” zwar als Begründer einer vereinheitlichten kastilischen Sprache in diespanische Geschichte eingegangen ist, für seine eigene lyrische Produktion, die Cantigas de Santa María, aberdas Altgalicische bzw. Altportugiesische verwendete.

3 Die früher übliche Bezeichnung „Provenzalisch” bleibt heute dem okzitanischen Dialekt der Provencevorbehalten.

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Enthusiasmus zu erwarten. Nun ist Jordi de Sant Jordi aber ein Autor, dessen Mutterspracheeindeutig Katalanisch gewesen sein muss – genauer: der westkatalanische Dialekt desdamaligen Königreichs València –, sodass sich eigentlich die katalanische Philologie ex officiofür unseren Autor zuständig fühlen musste und tatsächlich stammen auch die meistenForschungs- und Editionsbeiträge zu Jordi de Sant Jordi von Katalanisten. Doch selbst in derKatalanistik, einer kleinen Philologie zwischen den beiden großen Nationalphilologien derFranzistik und der Hispanistik, ist das Werk Jordis nicht hundertprozentig zuhause, was vorallem an der literarischen Sprachwahl des Dichters liegt. So unstreitig seine Spontan- undAlltagssprache nämlich auch das Valencianische gewesen sein mag, so schwierig ist zugleichdie Frage zu beantworten, in welcher Sprache seine Gedichte auf uns gekommen sind; denn aufGrundlage der überlieferten Handschriften lässt sich praktisch nicht entscheiden, ob es sichdabei um valencianisches Katalanisch voller Okzitanismen oder um spätes literarisches Koinè-Okzitanisch voller Valencianismen handelt. Auch sprachlich sitzt Jordi de Sant Jordi damitzwischen allen Stühlen. Man kann das Rezeptionsproblem also zusammenfassen in der Formel„zu spanisch für die Okzitanistik, zu katalanisch für die Hispanistik – und sogar ein wenig zuokzitanisch für die Katalanistik”.

Die Zweisprachigkeit der katalanischen Literatur im Mittelalter

Aus heutiger Perspektive in einem Europa fertig ausgebauter Literatur- und Nationalsprachenmag man sich nun fragen, wie es überhaupt zu einer solchen poetischen Mischsprache kommenkonnte. Der Grund dafür liegt in dem Phänomen, dass in den katalanischen Ländern bis weit ins15. Jahrhundert hinein volkssprachliche Literatur in zwei verschiedenen Sprachen verfasstwurde, wobei die Sprachenwahl nicht den persönlichen Vorlieben der einzelnen Autorengehorchte, sondern weitgehend textsortenabhängig war:2 Sprache der Prosa war von denfrühesten Anfängen an fast ausschließlich das Katalanische, während in der Dichtung ebensoausnahmslos das Okzitanische verwendet wurde. Diese Funktionsteilung geschah völlig bewusstund wird zuweilen sogar thematisiert. Es sind zahlreiche Belege dafür überliefert, dass ein undderselbe Autor je nach Textsorte die eine oder die andere Sprache verwendete; so sind z.B. vonRamon Llull, Ramon Muntaner oder Bernat Metge sowohl katalanische Prosawerke als auchokzitanische Gedichte überliefert.

Es gibt mehrere Gründe für diese frühe Zweisprachigkeit der katalanischen Literatur.Der vielleicht wichtigste unter ihnen ist gewiss die überregionale Ausstrahlung derokzitanischen Trobadorlyrik, die im 12. und 13. Jahrhundert von Okzitanien aus (dem heutigenSüdfrankreich) auf weite Teile Süd- und Mitteleuropas ausstrahlte. Durch ihren Übergang vomMittellateinischen zur Volkssprache wurde die Trobadorlyrik zum Ursprung und Vorbild allerspäteren abendländischen Kunstlyrik. Die Trobadors schreiben ihre Werke auf Okzitanisch,einer romanischen Sprache, die dem Katalanischen näher steht als dem Französischen.3 Schonin den frühesten Werken des ausgehenden 11. Jahrhunderts zeigt das Altokzitanische die Gestalteiner literarischen Koinè ohne dialektale Merkmale.

Entstanden aus der höfischen Kultur der Fürstenhöfe war die Trobadorlyrik nicht zur

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4 Vgl. Rieger, Dietmar (1980): Mittelalterliche Lyrik Frankreichs I: Lieder der Trobadors (Provenzalisch/Deutsch), Stuttgart: Reclam, S. 272-274.

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Lektüre bestimmt, sondern wurde, zumeist mit instrumentaler Begleitung, gesungen.Charakteristisch für die Trobadorlyrik war die Arbeitsteilung zwischen dem Trobador alsDichter und Komponisten und dem Joglar (frz. jongleur), dem Vortragskünstler. Nicht zuletztdieser Arbeitsteilung muss man wohl den erstaunlichen überregionalen Erfolg der Trobadorlyrikzuschreiben. Ihr Einfluss auf die europäische Lyrik ist kaum zu überschätzen; die sizilianischeDichterschule, Petrarca und Dante inspirierten sich ebenso an ihr wie die französischenTrouvères oder die deutschen Minnesänger.

Trobadorlyrik – Katalanische Trobadors

Für eine Weile wurde das Okzitanische dadurch in weiten Teilen Westeuropas dieDichtungssprache schlechthin. Wegen der Ähnlichkeit der romanischen Sprachen konnte mandiese Dichtung fast überall im Original verstehen, versuchte aber auch, sie in der eigenenSprache nachzubilden. In den unmittelbar ans Okzitanische angrenzenden romanischenNachbarländern ging diese Begeisterung über die reine Rezeption hinaus, sodass Norditalienerund Katalanen die okzitanische Trobadorsprache für ihre eigene literarische Produktionübernahmen. Von den Norditalienern ist es vor allem Sordello, der unter seinem okzitanischenNamen Sordels in den klassischen Kanon der Trobadorlyrik einging. Noch stärker ist abereindeutig der katalanische Beitrag zu diesem Kanon: Insgesamt 15 katalanische Trobadors sinduns namentlich überliefert, darunter so bekannte wie Cerverí de Girona, Guillem de Berguedàoder Guillem de Cabestany. Selbst im katalano-aragonesischen Hochadel pflegte man dasDichten auf okzitanisch: Wie die Tenzone Be me plairia, senh’en reis dokumentiert, konnte sichder Trobador Guiraut de Bornelh im Jahre 1170 an König Alfons II. mit einer okzitanischenFrage-Strophe wenden und erhielt von diesem höchstpersönlich eine gedichtete Antwort inderselben Sprache.4

Gerade den Katalanen erschien das Okzitanische als quasi natürliche Sprache der Lyrik,denn der überwiegende Teil Okzitaniens gehörte während der gesamten Blütezeit derTrobadorlyrik in den politischen Einflussbereich der katalanisch-aragonesischen Krone und lagdamit unmittelbar vor der eigenen Haustür. Neben der unmittelbaren politischen Nähe spieltaber auch die unübersehbare sprachliche Nähe zwischen Katalanisch und Okzitanisch einewichtige Rolle für die Erklärung der literarischen Zweisprachigkeit. Im Mittelalter waren diesebeiden romanischen Sprachen echte Schwestersprachen, die von ihren Sprechern wohl eher alsverschiedene Dialekte ein und derselben romanischen Volkssprache empfunden wurden. Diekatalanischen Trobadors mussten also nicht wirklich eine Fremdsprache erlernen, sondernkonnten sich weitgehend auf die Intuitionen ihrer Muttersprache verlassen.

Zumindest das passive Verständnis war jedenfalls problemlos möglich, ohne die andereSprache im eigentlichen Sinne erlernen zu müssen. Für die Dichter selbst entstanden baldeinschlägige Traktate und Dichtungslehren; so veranlasste das Anliegen, seinen dichtendenLandsleuten die Feinheiten des Okzitanischen näher zu bringen, den katalanischen TrobadorRamon Vidal de Besalú zu Beginn des 13. Jahrhunderts zur Abfassung seines Traktats Rasos detrobar, d.h. „Regeln des Dichtens”, der allgemein als erste Grammatik einer romanischenSprache gilt. Weder politische noch wirtschaftliche Interessen standen also als Motiv hinter derersten romanischen Grammatik, sondern vielmehr der Wunsch, in einer fremden Spracheliterarische Kunstwerke zu schaffen. Auch der zweitälteste grammatische Traktat einer

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5 „Las Flors del Gay Saber” 1355, zitiert nach Aramon i Serra, Ramon (1973): “Problèmes d’histoire de lalangue catalane”, in: La linguistique catalane, Colloque international organisé par le Centre de Philologie etde Littératures Romanes de l’Université de Strasbourg du 23 au 27 Avril 1968, Paris: Klincksieck, 42.

6 Cerverí de Girona, nach Manuskript CR zitiert in Aramon i Serra 1973, loc. cit.7 Köhler, Erich (1992): “Die altprovenzalische Literatur” in: Kindlers Neues Literatur Lexikon Band 19,

München: Kindler, S. 1012.8 Übers. aus Siviero, Donatella (Hg.) (1997): Jordi de Sant Jordi: L’amoroso cerchio, poesie dell’ultimo

trovatore, Milano: Luni (Biblioteca Medievale; 6), S. 11.

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romanischen Sprache behandelt übrigens das Okzitanische, nämlich der Donatz proenzals desOkzitanen Uc Faidit; dieser wandte sich allerdings nicht an katalanische, sondern annorditalienische Trobadors.

Es überrascht natürlich nicht, dass die Muttersprachler des Okzitanischen an denDichtkünsten der angelernten katalanischen Trobadors zuweilen etwas auszusetzen hatten. Sokritisieren z.B. die Flors del Gay Saber die Katalanen dafür, dass sie im Reim offene undgeschlossene ‚e’ und ‚o’ verwechseln:

Li Catala so gran dictayre,pero d’aysso no sabon gayre,qar de petit fan plenier so.

Die Katalanen sind begeistete Dichter, verstehen davon aber nicht viel, denn aus geschlossenen Vokalen machen sie offene.5

Der katalanische Trobador Cerverí de Girona stellt sich solchen Vorwürfen allerdings vollerSelbstvertrauen, wie die folgende Strophe zeigt:

Don catalan son represque no sabon prim filarmots ne rimas afilare filan d’autre repres

per lors dictatzgays gençar; no"m desplay,

c’autr’an assatzja pres de lors esplay.

Den Katalanen wird vorgeworfen,sie wüssten die Worte nicht fein zu setzenund die Reime nicht exakt zu verwenden,und sie dichteten auf eine andere Art und Weise

um ihre frohenGesänge zu verzieren; das missfällt mir nicht,

denn sie haben (stattdessen) genügendandere Vorzüge auf ihrer Seite.6

Zusammenfassend kann man sagen, dass die katalanische Beteiligung an der klassischenTrobadorlyrik des 12. und 13. Jahrhunderts also keineswegs nur eine Randnotiz derLiteraturgeschichte war. Bis zum Ende der eigentlichen Trobadorperiode, die Erich Köhler imZeitraum von ca. 1100-1300 ansiedelt,7 gehörten die katalanischen Dichter vielmehr fraglos mitzur okzitanischsprachigen Literaturnation der Trobadors – und zwar als Vollmitglieder, wieDonatella Siviero zu Recht einklagt:

Die katalanische Lyrik des 14. und frühen 15. Jahrhunderts folgt demnach der Linie einer alten undlokal weiterhin lebendigen Tradition, die über Jahrhunderte von den aragonesischen Königengefördert wurde und deren natürliche Fortsetzung sie darstellt; sie hat daher nichts mit spätenRevival-Versuchen wie der Gesellschaft des Gay Saber in Toulouse zu tun, mit der sie nurchronologisch, nicht aber in ihrem kulturellen und ideologischen Gehalt vergleichbar ist.8

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9 Vgl. dazu die beiden deutschen Übersetzungen Radatz, Hans-Ingo (1993): Ausiàs March -- Gedichte, Frankfurtam Main Domus Editoria Europaea (9 Gedichte, metrisch) und derselben Reihe, wie das vorliegende Bucherschienene Ausgabe: Müller, Isabel (2009) Ausiàs March -- Gedichte, Barcelona / Berlin: Barcino / LIT (32Gedichte, Prosa).

10 Köhler, Erich (1992): „Die altprovenzalische Literatur” in: Kindlers Neues Literatur Lexikon Band 19,München: Kindler, S. 1014.

11 In diesem Sinne äußert sich beispielsweise auch Costanzo Di Girolamo (1995: 9), der von einer „linea poeticacatalana di una continuità” spricht, „chi va dai trovatori del XII-XIII secolo fino ai poeti del XV secolo” (DiGirolamo, Costanzo (1995): “L’eredità dei trovatori in Catalogna”, in: Filologia antica e moderna 9, 7-27).

12 Z.B. Bohigas, Pere (1969): „La llengua de Jacme i Pere March”, in: Mélanges Rita Lejeune, Liège: Duculot,S. 350; Aramon i Serra, Ramon (1973): „Problèmes d’histoire de la langue catalane”, in: La linguistiquecatalane, Paris: Klincksieck, S. 46; Riquer, Martí de/ Badia, Lola (1984): Les Poesies de Jordi de Sant Jordi,València: Tres i Quatre, S. 304ff.

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Das Fortleben der Trobadorlyrik nach 1292

Diese katalanisch-okzitanische Diglossie in der Literatur endete nach herrschender Meinung erstmit dem Valencianer Ausiàs March (ca. 1397-1459) in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts,9

dessen Gedichte eindeutig auf Katalanisch und mit nur noch geringen okzitanischen Einflüssenverfasst sind. So unbestritten dieser Sachverhalt in der Katalanistik auch ist, so steht er dochzugleich in radikalem Widerspruch zur traditionellen Periodisierung der Trobadorlyrik durch dieFrankoromanistik und Okzitanistik, derzufolge diese Literaturtradition bereits über hundertJahre zuvor mit dem sogenannten „letzten Trobador” Guiraut Riquier im letzten Jahrzehnt des13. Jahrhunderts ihr Ende gefunden habe. Erich Köhler beschreibt das Ende der höfischen LyrikOkzitaniens wie folgt:

Es erklärt sich wohl aus den Folgen der Albigenserkriege (1209-1229), dem Verlust der politischenUnabhängigkeit des Südens, dem Rückgang des höfischen Mäzenatentums und der Erschöpfungeiner an sich schon begrenzten Thematik und Formenkunst, dass die Trobadorpoesiealtprovenzalischer Sprache um 1300 in die keiner überragenden Leistung mehr fähige, imFormalistischen erstarrende Reimkunst des städtischen Bürgertums (Zentrum Toulouse) einmündete;und dies trotz der verzweifelten Bemühungen der späten Trobadors, vor allem des ‚letzten’Trobadors, Guiraut Riquier (vor 1254-1292), die epigonal gewordenen dichterischen Traditionen zuneuer Blüte zu führen.10

Damit reduziert Köhler, wie dies oft zu geschehen pflegt, die Trobadorpoesie auf das Gebiet derfranzösischen Krone und verkennt so, dass westlich der Pyrenäen auch lange nach 1300durchaus noch ein Nährboden höfischer Kultur erhalten blieb und dass die Trobadorpoesie dort,besonders in den Ländern der Aragonesischen Krone, noch über hundert Jahre länger alslebendige, also keineswegs nur epigonale Kunstform fortbestand.11 Der stets mit dem Beinamen„der letzte Trobador” versehene Guiraut Riquier mag in der Tat „der letzte TrobadorOkzitaniens” gewesen sein; global betrachtet besitzt dagegen sein über hundert Jahre älterervalencianischer Kollege Jordi de Sant Jordi einen berechtigteren Anspruch auf diesen Titel. Erist der letzte Vertreter einer lebendigen Dichtungstradition und empfand sich gewiss nicht alshistorisierender Revival-Künstler.

Was seine Sprache angeht, so ist dagegen von philologischer Seite eingewendet worden,dass sie, im Vergleich zu derjenigen der „klassischen” Trobadore, viele „Fehler” undKatalanismen enthalte.12 Dieser Einwand scheint sowohl linguistisch wie auch literarischunangemessen. Linguistisch ist es gewiss verfehlt, das Okzitanische eines Autors aus der erstenHälfte des 15. Jahrhunderts mit demjenigen der klassischen Trobadorlyrik aus dem 12. und 13.Jahrhundert zu vergleichen und jede Abweichung davon einfach als „Fehler” eines Ausländers

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zu werten; die angeblichen Kasusfehler Jordis entsprechen beispielsweise durchaus demzeitgenössischen Sprachgebrauch in Okzitanien selbst, wo das Kasussystem zu dieser Zeitebenfalls weitgehend abgebaut worden war. Noch bedenkenswerter ist aber das literarischeArgument, das eine grundsätzliche Okzitanität der verwendeten literarischen Sprachformnahelegt: Der Dichter selbst ist offensichtlich überzeugt davon, dass er auf Okzitanisch schreibt,er sieht sich in der trobadoresken Tradition und orientiert sich an den Metren, Formen undthematischen Versatzstücken der Trobadorlyrik. Wir tun gewiss gut daran, diese kulturelleSelbstverortung ernst zu nehmen und die vereinzelten sprachlichen Abweichungen vomtrobadoresken Altokzitanisch entweder als Merkmale des innerokzitanischen Sprachwandelsoder aber auch als ungewollte Interferenzen durch Jordis Muttersprache zu behandeln. Martí deRiquers Versuch aus dem Jahre 1982, Jordi de Sant Jordi durch eine populäre und starkkatalanisierende Neuedition zu einem „katalanischen Dichter” im vollen Sinne zu machen, wardaher gewiss ein Irrtum.

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13 Vida ‚Leben(sbericht)’ hießen in den klassischen Trobadorhandschriften die Prosatexte mit den Biographiender jeweiligen Autoren.

14 Ein klassisches Werk zu Jordi de Sant Jordi ist Martí de Riquers richtungweisende Edition aus dem Jahre1955: Riquer, Martín de (1955): Jordi de Sant Jordi. Estudio y edición, Granada: Universidad de Granada, dieim franquistischen Spanien natürlich nur auf spanisch erscheinen konnte. Dreiunddreißig Jahre späterpublizierte de Riquer zusammen mit seiner (ehemaligen) Schülerin Lola Badia eine stark erweiterte,überarbeitete und ins Katalanische übertragene Neufassung dieses Werks, die lange als definitive undautoritative Edition galt: Riquer, Martí de / Badia, Lola (1984): Les Poesies de Jordi de Sant Jordi, València:Tres i Quatre. Die meisten faktuellen Informationen zu Jordi in diesem Kapitel und generell in der gesamtenvorliegenden Anthologie stammen aus dieser Edition. Im Jahre 2005 erschien schließlich eine neue,umfängliche und philologisch vorbildliche Edition, die den seit 1984 fortgeschrittenen Forschungsstand miteinbezieht und den Lesungen von Riquer / Badia vielfach gut begründete und belegte Alternativenentgegenstellt und als die derzeit gültige Edition betrachtet werden muss: Fratta, Aniello (2005): Jordi de SantJordi: Poesies, Barcelona: Barcino. Der okzitanische Originaltext der vorliegenden Ausgabe ist aus FrattasEdition übernommen und die Übersetzung folgt generell seinen Lesungen, wo diese von Badia / Riquerabweichen.

15 Übers. nach dem Original, das sich bei Fratta (2005:11) findet.

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Vida:13 Jordi de Sant Jordi und seine Zeit

Den Geburtsort und das Geburtsjahr des Dichters kennen wir nicht.14 Die frühestenSchriftzeugnisse, in denen sein Name auftaucht, stammen aus dem Jahre 1416 und weisen ihnbereits als Leibkämmerer des Königs aus, so dass wir seine Geburt mit einer gewissenWahrscheinlichkeit ins letzte Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts datieren können. Bezüglich seinerHerkunft tappten die Philologen lange Zeit völlig im Dunkeln, wenn auch bereits seitebensolanger Zeit der Verdacht in der Luft lag, dass es sich bei Jordi de Sant Jordimöglicherweise um einen Konvertiten gehandelt haben könnte. Erstaunlich sind jedenfalls dieUmstände, unter denen Jordi 1416 versucht, seine Schwester Isabel als Nonne im prestigiösenZisterzienserkloster La Saïdia unterzubringen. Aus lange Zeit nicht eindeutig geklärten Gründenweigerte sich die Äbtissin, Isabel aufzunehmen, selbst nachdem der König höchstpersönlich zuihren Gunsten interveniert hatte und Jordi auch mit großzügigen Finanzmitteln zu diesem Zweckausgestattet hatte. Fratta (2005:9ff.) argumentiert überzeugend, dass es sich unter diesenUmständen schon um einen schwerwiegenden Ausschlussgrund gehandelt haben müsse.

Die Entdeckung eines neuen Dokuments löst nun dieses Rätsel nun zwar nichtabschließend, liefert aber doch eine solide Grundlage für eine Hypothese, die mehrere andereFragen im Zusammenhang mit Jordis Biographie befriedigend zu lösen vermag. Das betreffendeDokument vom 27. April 1416 nennt zwar nicht ausdrücklich die Namen Jordi und Isabel deSant Jordi, bezieht sich aber mit großer Wahrscheinlichkeit auf genau diesen Fall. Dort heißt es:

Was die ehrwürdige Äbtissin des Klosters La Saïdia in dieser Stadt angeht, so hat man uns berichtet,dass seine Majetät der König sie angewiesen hat, eine Frau, die Schwester von Jordiet (von dem esheißt, er sei sein Kämmerer), bei sich aufzunehmen und ihr das Habit ihres Klosters zu überreichen,wobei sie in ihrem Bericht die Meinung äußert, der besagte hohe Herr habe diese Anordnung inUnwissenheit der Tatsache getroffen, dass die Frauen, die als Nonnen zu dem besagten Klosterzugelassen werden, allesamt Jungfrauen hohen Standes sind, also Töchter von Edelleuten, Rittern undstädtischen Würdenträgern. Der besagte Jordiet aber und seine Schwester sind, nach unserenInformationen, die Kinder eines Maurensklaven, der später zum Christentum konvertierte undfreigelassen wurde und dass zudem die besagte Frau ihre Leib zur Schau gestellt habe, so dassbesagte Äbtissin und alle Nonnen des besagten Klosters darin übereinstimmen, dass sie dasselbe ehergemeinsam verlassen wollten, als dass eine solche Person Zutritt zu ihrem Konvent erlangte.15

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Dass der König in ebendiesem Jahr in zwei problematischen Fällen einer Aufnahme in diesesKloster hätte interveniert haben können, ist äußerst unwahrscheinlich und so dürfte sich mit anSicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hinter dem Diminutiv Jordiet unser Dichterverbergen, der demnach der Sohn eines maghrebinischen Konvertiten wäre.

Wie aber haben wir uns Jordis Lebensweg dann vorzustellen? Fratta (2005:11f.)berichtet, dass König Alfons vom Beginn seiner Herrschaft an eine große Anzahl von Gauklern,Tänzern und Musikern an seinem Hof aufnahm, von denen viele maurischer Herkunft waren.Seiner Hypothese zufolge wäre der Vater Jordis und Isabels ein maurischer Joglar am Hofe desKönigs gewesen, ein professioneller Musiker und Sänger. Diese Hypothese würde mehrereDinge erklären: Die Ablehnung, Isabel trotz Intervention von höchster Stelle ins Kloster LaSaïdia aufzunehmen, ergäbe sich durch den damals weit verbreiteten Rassismus gegenüber dem„unreinen Blut” der Maghrebiner; der Hinweis des oben zitierten Dokuments, demzufolge Isabelihren Körper zur Schau gestellt habe, wäre dadurch erklärt, dass Isabel als Tochter eines Joglarsbei Hofe als Tänzerin angestellt gewesen war. Was Jordi selbst betrifft, würde so verständlich,wie er es bereits in so jungen Jahren schaffen konnte, das unverbrüchliche Vertrauen des Königsund ein so ehrenvolles Hofamt zu gewinnen; denn als Sohn eines Joglars bei Hof könnte er mitdem König zusammen aufgewachsen sein. Auch eine weitere Facette von Jordis Persönlichkeitließe sich so gut erklären, nämlich die für Zeitgenossen bemerkenswerte Tatsache, dass er einbegabter Musiker war und sich zu seinen Liedern selbst begleiten konnte. Diese Fertigkeitenwurden im Rahmen der Trobadorlyrik mit den Berufsmusikern und Joglars assoziiert, so dassdie Vermutung nahe liegt, dass Jordi seine musikalischen Fähigkeiten ebenso wie auch seinevirtuose Vertrautheit mit dem Repertoire der Trobadorlyrik durch seinen Vater erworben habenkönnte. Von König Alfons jedenfalls ist bekannt, dass er in Bezug auf jüdische und muslimischeMitglieder an seinem Hof Zeit seines Lebens eine sehr offene Einstellung hatte und denallgemeinen Rassismus seiner Zeit nicht teilte:

Aus dem, was wir wissen, lässt sich also rekonstruieren, dass Jordi de Sant Jordi einvalencianischer Edelmann war, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach der Sohn einesfreigelassenen und konvertierten Maurensklaven war, dass er wohl in den letzten Jahren des 14.Jahrhunderts geboren wurde und dass er gegen Ende des Jahres 1424 gestorben sein muss. Seinkurzes Leben hat sich damit in einer Phase des Umbruchs vom Mittelalter zur Renaissanceabgespielt. Was immer diese Epochenbegriffe in jedem einzelnen Land und für jeden einzelnenKünstler auch bedeutet haben mögen – im Fall Jordi de Sant Jordis lassen sich die beidenElemente recht klar herausarbeiten, wie wir im Weiteren sehen werden.

Jordi war ein Adliger, der den größten Teil seines Lebens in unmittelbarem Kontakt mitseinem König verbrachte, dessen Leibkämmerer er auch war. Es ist daher unverzichtbar zumVerständnis unseres Autors, auf diesen König, seinen Hof und sein Reich etwas nähereinzugehen, da sich nahezu das gesamte Erwachsenenleben Jordi de Sant Jordis an diesem Hofoder zumindest in engstem Kontakt mit ihm abgespielt hat. Der König, von dem hier die Redeist, war der aragonesische König Alfons V. el Magnànim (1396-1458), also Alfons „derGroßmütige”, dessen vollständiger Titel bereits erahnen lässt, dass das von ihm regiertepolitische Gebilde ungewöhnlich komplex gewesen sein muss: Alfons war nämlich (bzw. wurdeim Verlauf seines Lebens) in Personalunion König Alfons V. von Aragonien, König Alfons III.von València, König Alfons I. von Neapel, Sizilien und Mallorca, König Alfons II. vonSardinien sowie Graf Alfons IV. von Barcelona, dem Rosselló und der Cerdanya. DieGesamtheit dieses in Personalunion regierten Staatsgebildes aus Königreichen und Grafschaftennennt man seit dem 14. Jahrhundert Corona d’Aragó, auf deutsch Aragonesische Krone – eineBezeichnung, die geeignet ist, zur weiteren Verwirrung beizutragen, da ein Teilkönigreich desGesamtgebildes eben das Königreich Aragonien war und so der Verwechslung zwischen dem

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16 Vgl. Cahner, Max (1980): „Llengua i societat en el pas del segle XV al XVI: Contribució a l’estudi de lapenetració del castellà als Països Catalans”, in: Bruguera, J. / Massot i Muntaner, J. (Hg.): Actes del CinquèColAloqui Internacional de Llengua i Literatura Catalanes (Andorra, 1-6 d’octubre 1979), Barcelona:Publicacions de l’Abadia de Montserrat, S. 186f.

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Gesamtreich und dem Teilkönigreich Tür und Tor geöffnet ist. Wie hatte ein derart komplexesGebilde entstehen können?

Die „Aragonesische Krone” – ein komplexes mittelalterliches Staatsgebilde

Im Jahre 1137 ergab sich im Königreich Aragonien eine Thronvakanz, die der aragonesischeAdel löste, indem die noch minderjährige Prinzessin Petronella mit dem Grafen RaimundBerengar IV. von Barcelona verlobt wurde. Dies war der Beginn einer jahrhundertelangenkatalano-aragonesischen Konföderation, die schließlich im 14. Jahrhundertz zur Coronad’Aragó ausgebaut werden sollte. Bei dieser dynastischen Union handelte es sich um dieVereinigung zweier recht ungleicher Territorien, die da unter der Personalunion einesgemeinsamen Herrschers zusammengefunden hatten. Aragonien war ein agrarisch geprägtes,bergiges Reconquista-Reich ohne Zugang zum Mittelmeer, dessen romanisches Idiom, dasAragonesische, dem Kastilischen sehr nahe stand, in dem es später schließlich völlig aufgehensollte. Die Grafschaft Barcelona dagegen, die Keimzelle des späteren Katalonien, war alstranspyrenäischer Ausläufer des Frankenreichs um das Jahr 1000 de facto von diesemunabhängig geworden, hatte aber weiterhin enge Kontakte mit dessen okzitanischsprachigemSüdteil. Die Sprache Kataloniens, das Katalanische, stand im Mittelalter dem benachbartenOkzitanischen noch viel näher als dem ebenfalls benachbarten Aragonesischen und erst rechtdem fernen Kastilischen. Zudem war die Grafschaft eine wichtige Handelsmacht im Bereich deswestlichen Mittelmeers und damit eine Seefahrernation.

Innerhalb der frühen katalano-aragonesischen Konföderation war Aragonien als Königreich der Grafschaft Barcelona zwar formal übergeordnet, die realen Machtverhältnissewaren dagegen aber eher umgekehrt. Im 12. Jahrhundert war die Grafschaft Barcelona demKönigreich sowohl militärisch als auch wirtschaftlich überlegen. Zudem entstammten die aufRaimund Berengar IV. folgenden sogenannten comtes-reis (Grafkönige) allesamt dem Haus derGrafen von Barcelona und waren damit Katalanen. Diese katalanische Dominanz dauerte an biszum Ende des 14. Jahrhunderts und spiegelte sich nicht zuletzt auch im Sprachgebrauch wider:Bis zum Ende des 15. Jahrhunderts war Katalanisch, neben Latein, die normale Sprache desHofs und der königlichen Kanzlei, während das Aragonesische ausschließlich derKommunikation mit dem Teilkönigreich Aragonien vorbehalten blieb.16 Insofern ist dieBezeichnung „katalano-aragonesische Krone” zwar ahistorisch, vermittelt aber einenrealistischeren Eindruck von den tatsächlichen Verhältnissen als die historisch korrekteDenomination Corona d’Aragó.

Die engen Bindungen der Grafschaft Barcelona an die okzitanischen Grafschaften undTerritorien östlich der Pyrenäen sorgten dafür, dass die dort aufkommende Trobadordichtungsich auch in der katalano-aragonesischen Konföderation früh etablierte. Es ist sicher nichtübertrieben, wenn man die damit verbundenen Vorstellungen von Höfischkeit und Ritterlichkeitals konstitutiv für das katalano-aragonesische Königtum bezeichnet. Könige und hohe Adligelauschten nicht nur den Gesängen der Trobadors und Joglars, sondern verfassten selbst Gedichteund Melodien. König Alfons II. (ca. 1152-1196) erwarb sich gar den Beinamen „der Trobador”,indem er diese Dichtkunst nicht nur nach Kräften förderte, sondern auch aus eigener FederBeiträge dazu lieferte.

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17 Zit. nach Montoliu, Manuel de (1957): La llengua catalana i els trobadors, Barcelona: Alpha, S. 38.

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In die Herrschaft König Peters II. mit dem Beinamen „der Katholische” fiel dersogenannte Albigenserkreuzzug (1209-1229), in dessen Verlauf das bis dahin de factoweitgehend unabhängige bzw. unter katalano-aragonesischem Einfluss stehende Okzitanien, vorallem die Grafschaft Toulouse, unter die Kontrolle der französischen Krone geriet. König Peterselbst starb 1213 in der Schlacht von Muret bei dem Versuch, seine hegemonialen Ansprüchegegenüber den französischen Kreuzfahrern durchzusetzen. Für die katalano-aragonesischeKrone bedeutete der Tod König Peters II. und die französische Besetzung des Languedok dasendgültige Ende ihrer transpyrenäischen Orientierung. Von nun an konzentrierte sich dieStoßrichtung ihrer Expansionsbestrebungen auf die Iberische Halbinsel und das westlicheMittelmeer. Unter Peters Sohn, König Jakob I. „dem Eroberer” (1208-1276) fügte sich dieKrone ein in das große paniberische Gesamtprojekt der Rückeroberung der Iberischen Halbinselvon den Mauren. Unter Jakobs Führung wurden die Balearen (1229-1235) und València (1238)von den Mauren zurückerobert und der Krone hinzugefügt – kurioserweise (und aufgrund derinternen Konflikte zwischen Aragonesen und Katalanen) aber nicht, indem diese Territorienformal der Grafschaft Barcelona oder dem Königreich Aragonien angegliedert worden wären,sondern vielmehr als zwei neue Teilkönigreiche, die ebenfalls in Personalunion vom katalano-aragonesischen König regiert wurden.

Für die okzitanische Trobadorlyrik bedeutete die Niederlage der Okzitanen undKatalanen im Albigenserkrieg, dass die dortigen Adelshöfe zusehends verschwanden bzw. ihreBedeutung verloren und dass damit der soziale Nährboden für diese komplexe Kunstformlangsam verschwand. Zur Verfolgung der Katharer, die den Vorwand für den Kreuzzug gebildethatten, wurde der Dominikanerorden und damit die Inquisition eingerichtet, die bald auch die„gottlose” Trobadordichtung zu verfolgen begann. Viele Okzitanen, und darunter auch vieleTrobadors, flohen vor der Okkupation ihres Landes durch die französischen Kreuzfahrer insbenachbarte Katalonien, wo Trobadordichtung weiterhin hoch angesehen war. Die folgendeStrophe Guiraut Riquiers belegt diese Tendenz:

Quar domneys, pretz e valors,jois e grats e cortesia,sens e saber et honors,belhs parlars, bella paríae larguesa et amors,conoyssensa e cundiatroban mantents e secorsen Cataluenha a tria,entre’ls catalans valentse las donas avinens.17

Denn Frauendienst, Vorzüglichkeit und TapferkeitFreude und Huld und Höfischkeit, Vernunft und Weisheit und Ehre,gepflegtes Sprechen, gepflegte Gesellschaft, und Freigebigkeit und Liebe,Bildung und Eleganzfinden Unterstützung und Hilfein ganz Katalonien,bei den tüchtigen Katalanenund ihren huldvollen Frauen. (Guiraut Riquier , 13. Jh.)

Dieses hohe Ansehen der okzitanischsprachigen Dichtung war eng mit der Tatsache verknüpft,dass die katalano-aragonesischen Könige des Hauses Barcelona alle Katalanisch alsMuttersprache hatten und das literarische Okzitanische der Trobadors mehr oder weniger alspoetische Variante ihrer eigenen Sprache empfanden. So erklärt sich das bereits weiter obengeschilderte Phänomen der Sprachentrennung in der frühen katalanischen Literatur, die dasKatalanische der Prosa vorbehielt und Lyrik ausschließlich auf Okzitanisch zuließ. Solange diearagonesische Krone in der Händen des katalanischen Herrschergeschlechts der Grafen vonBarcelona lag, lebte die Trobadortradition westlich der Pyrenäen als quasi staatstragende

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Kunstform fort.Das änderte sich grundlegend, als Anfang des 15. Jahrhunderts mit Martin I. der letzte

König aus dem Geschlecht der Grafen von Barcelona starb, ohne einen Erben hinterlassen zuhaben. 1409, ein Jahr vor seinem Tode, hatte der frisch verwitwete König noch in zweiter EheMargarida von Prades geheiratet, in der Hoffnung, so noch einen Thronerben zeugen zu können,doch wurde diese Hoffnung mit seinem frühen Tod 1410 zunichte. Mit dem Aussterben derkatalanischen Königslinie sollten sich die politischen und kulturellen Verhältnisse derAragonesischen Krone bald deutlich ändern. Im Ringen um die Oberherrschaft gelang es demaragonesischen Adel, sich gegen den katalanischen durchzusetzen und den kastilischenThroprätendenten Ferdinand von Antequera aus dem Hause Trastámara auf den Thron zu heben.Als dieser 1416 starb, fiel die Krone an seinen Sohn Alfons, eben den Alfons V. „denGroßmütigen”, mit dessen Regentschaft das Leben Jordi de Sant Jordis so eng verknüpft seinsollte.

Eine offensichtliche Veränderung, die durch die neue Herrscherdynastie aufkam, war dieTatsache, dass der König nun nicht mehr Katalanisch, sondern vielmehr Kastilisch alsMuttersprache sprach. Die so sehr mit dem Haus Barcelona und der katalanischen Spracheassoziierte Trobadorlyrik hörte damit auf, bei Hof als konstitutives identitäres Kulturelementwahrgenommen zu werden. Hinzu kam, dass Alfons der Großmütige relativ früh in seinerRegentschaft die Herrschaft über seine iberischen Besitztümer seiner Gattin überließ, währender selbst zu militärischen Abenteuern nach Süditalien aufbrach, wo er unter anderem dasKönigreich Neapel hinzugewann. Das Zentrum seines politischen Interesses war eindeutigItalien, wo er auch die letzten Lebensjahrzehnte bis zu seinem Tod 1458 zubrachte, ohne nocheinmal auf die Iberische Halbinsel zurückzukehren.

Der literarische Geschmack bei Hofe war damit innerhalb von 50 Jahren gekippt voneiner spätmittelalterlichen Perpetuierung der höfischen Trobadorlyrik unter den Königen desHauses Barcelona zu einer begeisterten Rezeption literarischer Modelle der italienischenRenaissance. Damit ging im Bereich der Aragonesischen Krone auch ein Wechsel derbevorzugten literarischen Sprache einher: Das Okzitanische und, in geringerem Maße, auch dasKatalanische erschienen nun als Erinnerungen an die überlebten Literaturmodelle desMittelalters, wogegen das Italienische und vor allem das Kastilische die Sprachen der neuenLiteratur wurden.

Jordis mittelalterliche Prägung: am Hofe der Königin Margarita

Riquer / Badia haben in ihrern Archivrecherchen ingesamt fünfzig Schriftstücke aufgetan, indenen sich datierbare und konkrete Informationen über das Leben Jordi de Sant Jordis finden.Diese Dokumentation beginnt allerdings erst im Jahre 1416 mit dem Regierungsantritt KönigAlfons V. und dem Eintritt Jordis in dessen Dienste, sodass wir über die Zeit davor nur indirektund hypothetisch etwas wissen können. Es gelingt Riquer / Badia allerdings durch Analysenliterarischer Zeugnisse und anderer Quellen sehr überzeugend, einen zentralen Aspekt in Jordiskünstlerischem Werdegang zu rekonstruieren, der vor dem Beginn der offiziellen Dokumenteliegt und daher nicht abschließend beweisbar ist.

Dieser Hypothese zufolge hat Jordi de Sant Jordi, bevor er 1416 in die Dienste Alfons’V. trat, am Hofe der Königin Margarita von Prades verkehrt und dort wohl auch den größerenTeil der von ihm überlieferten Gedichte verfasst. Wir erinnern uns, dass die besagte Margaritajene Adlige war, die Martí I. l’humà („der Menschliche”) kurz vor seinem Tode noch geehelichthatte, um für seine Dynastie noch einen Thronfolger zeugen zu können. Nach dem frühen TodMartins und dem Aussterben des Hauses Barcelona war seine Witwe zwar keine Regentin mehr,

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18 Das Zitat umfasst die Verse 33-48 des Gedichts Nummer 18 „Es fuegt sich”, zitiert nach: Wachinger, Burghart(Hg.) (1964): Oswald von Wolkenstein. Eine Auswahl aus seinen Liedern, herausgegeben, übersetzt underläutert von Burghart Wachinger, Ebenhausen: Langewiesche-Brandt, S. 44 ff.

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doch behielt sie ihren Königinnentitel bis zu ihrem Tode im Jahre 1429 und pflegte eineHofhaltung, die in vielen Aspekten den okzitanischen Adelshöfen der klassischen Trobadorärageähnelt haben muss.

Zu den zentralen Versatzstücken der trobadoresken fin’amor gehörte die Konstellationdes Dichters, der eine in jeder Hinsicht vortreffliche, sozial höherstehende und unerreichbareDame umwirbt, wobei deren prinzipielle Unerreichbarkeit nicht so sehr als Nachteil, sondernvielmehr als Chance für den Dichter verstanden wurde, durch Entsagung und spirituelleVertiefung in die Vorzüge seiner Dame eine Vergeistigung und Veredlung seines Charakters zubewirken. Dabei war die tatsächliche physische Anziehung durch die Dame das ständigeGegengewicht zu dieser Spiritualisierung, und das lustvolle Auskosten dieser unauflöslichenSpannung hat einen Gutteil des emotionalen Brennstoffs geliefert, der diese Kunstform amLaufen hielt.

Königin Margarita scheint nun allen zeitgenössischen Zeugnissen zufolge alleEigenschaften mitgebracht zu haben, um das Interesse dichtender Ritter auf sich zu ziehen. AlleZeugen bescheinigen ihr außergewöhnliche und makellose körperliche Schönheit und Anmut;zum Zeitpunkt ihrer Verwitwung war sie gerade einmal vierunzwanzig Jahre alt, wohlhabend,unabhängig, kunstsinnig – und eine echte Königin! Es nimmt also nicht Wunder, dass alles, wasin der Ritterschaft Rang und Namen hatte, sich bemühte, durch Ritterlichkeit und Dichtkunstihre Gunst zu erringen. Vergessen wir dabei nicht, dass Maragrita der höfischen Kultur derKönige aus dem Hause Barcelona entstammte, in der sich die trobadoreske Kultur einschließlichihres ritualisierten Frauendienstes hatte lebendig erhalten können. Zu den zahlreichen Dichtern,die sie besungen haben, zählten nicht nur große Namen wie der Marqués de Santillana, sondernauch solche wie Arnau March, Ramon Roger d’Erill, Pedro de Santa Fe und so unerwartete wieOswald von Wolkenstein, der sie 1416 auf einer Reise im Gefolge Kaiser Sigismunds inPerpignan kennengelernt hatte und sich, ihren Reizen erliegend, sogleich von ihr einen Ohrringeinsetzen ließ:

Ain künigin von Arragun was schön und zart,dafür ich kniet zu willen raicht ich ir den part,mit hendlein weiss pand si darin ain ringlein zartlieplich und sprach: ‚non maiplus disligaides.’Von iren handen ward ich in die oren meingestochen durch mit ainem messin nädelein,nach ir gewonhait sloss si mir zwen ring darein,die trueg ich lang, und nent man si racaides.Ich suecht ze stunt künig Sigmunt, wo ich in vant.De mund er spreutzt und macht ain kreutz, do er mich kant;der ruft mir schier: „du zaigest mir hie disen Tand?”freundtlich mich fragt: „tuen dir die ring nicht laides?”Weib und auch man mich schauten an mit lachen so;neun personier künklicher zier die waren doze Pärpian, ir pabst von Lun, genannt Petro,der römisch künig der zehent, und die von Praides.18

Am literarischen Hof dieser Königin ließ sich Ehre erringen – aber auch verspielen. Das UrteilMargaritas war fachkundig und wurde offenbar allenthalben respektiert. So finden wir bei derNiederschrift eines an sie gerichteten Liebesgedichts aus der Feder Arnau Marchs, einem

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Streitgespräch zwischen Kopf und Herz, in den Liederhandschriften den Hinweis, dass dieauflösende Schlussstrophe nicht aufgezeichnet werden durfte, da die Königin dies in ihremUrteil so verfügt hatte. Ein anderer Dichter, Ramon Roger d’Erill, wird wiederum dafürverspottet, dass er sich an Maragritas Dichterhof als Autor zwar mächtig aufgeplustert, dabeiaber eine ziemlich klägliche Figur abgegeben habe.

Wir besitzen kein direktes Zeugnis dafür, dass auch Jordi de Sant Jordi an diesemTrobadorhof verkehrt hätte. Die Indizien, die Riquer / Badia dafür anführen, sind allerdingsziemlich überzeugend. Sie können anhand der vorhandenen Dokumentation zeigen, dass sichJordi und Margarita wiederholt am selben Ort aufgehalten haben müssen. Sie können weiterhinzeigen, dass der Marqués de Santillana zumindest an Margaritas Hof war und ihr auchKompositionen widmete; da Jordi de Sant Jordi und der kastilische Markgraf enge Freundewaren und später am Hofe Alfons’ V. als Kämmerer (Jordi) und Mundschenk (Santillana)zeitgleich hohe Ämter bekleideten, ist es sehr wahrscheinlich, dass die beiden sich schon in derZeit bei Margarita kennen- und schätzen gelernt hatten. Als gewichtigstes Argument wertenRiquer / Badia aber Elemente, die sich unmittelbar den überlieferten Gedichten Jordisentnehmen lassen.

Der alten Tradition folgend verbirgt nämlich auch Jordi de Sant Jordi in seinenLiebeskanzonen den Namen der besungenen Dame hinter einem poetischen Verstecknamen,dem sogenannten senhal. Es fällt nun auf, dass sieben seiner insgesamt achtzehn überliefertenKompositionen (die Nummern II-VIII) einer Dame namens Reyna d’onor gewidmet sind, alsoeiner „Königin der Ehre”. Riquer / Badia argumentieren nun, dass ein Adliger wie Jordi, dersein ganzes Leben im persönlichen Umgang mit echten Königen verbracht hat, die Bezeichnung„Königin” kaum metaphorisch verwendet haben wird, sondern dass diese Lieder vielmehr einerechten Königin gewidmet sein dürften – eben der besagten Margarita. Dafür spricht unteranderem, dass andere Autoren nachweislich ebenfalls das senhal „Königin der Ehre” verwendethaben, wenn sie ihre Dichtungen Margarita gewidmet haben. Die betreffenden Gedichte Jordislegen im Übrigen auch nahe, dass die darin besungene Dame hochadelig, extrem attraktiv undfür den Dichter objektiv unerreichbar war. Folgt man Riquer / Badia im Gang ihrerArgumentation und akzeptiert man außerdem, dass die zwei anderen Verstecknamen Castelhd’onor (in Nr. I) und Mos rics balays (in Nr. IX) der selben Adressatin gelten, dann gelangt manzu dem Ergebnis, dass mehr als die Hälfte der überlieferten Gedichte Jordis an die KöniginMargarita de Prades gerichtet sind.

Am Hofe dieser charismatischen jungen Frau ergaben sich augenscheinlich zum letztenMal die sozialen Umstände, innerhalb derer das trobadoreske Liebes- und Literaturideal sichentfalten konnte und innerhalb derer Jordi de Sant Jordi zum letzten Trobador werden konnte.Der regierende König gehörte breits einer neuen Dynastie und einer neuen Zeit an. Als Jordi inseine Dienste trat, brachte er aber aus dem Umfeld Margaritas eine feste kulturelle Prägung inder aleten mittelalterlichen Dichtung mit. Nun sollte der neue König ihn mit nach Italiennehmen, wo er mit der neuen Dichtkunst im Stil der Renaissance in Berührung kam, die invielen seiner Lieder neben allen trobadoresken Elementen ebenfalls deutlich spürbar wird.

Jordis Renaissance-Prägung: am Hofe König Alfons’ des Großmütigen

Am 2. April 1416 starb König Ferdinand I. von Aragonien und hinterließ den katalano-aragonesischen Thron seinem Sohn Alfons, der sich in seiner langen Regentschaft als KönigAlfons V. den Beinamen „der Großmütige” erwerben sollte. Von Anfang an finden wir Jordi deSant Jordi in seiner Stellung als Kämmerer an der Seite des neuen Königs, die er bis zu seinemTode nicht mehr verlassen sollte. Aus den überlieferten Dokumenten geht hervor, dass der

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König und Jordi ein exzellentes Verhältnis gehabt haben müssen – ein Vertrauensverhältnis, dasschon länger zurückreichte. Jordis Eltern gehörten dem niederen Adel an und waren nichtbesonders wohlhabend. Es gelang ihnen aber, ihren Sohn an den Hof des nahezu gleichaltrigenKronprinzen Alfons zu vermitteln, wo er eine höfische Erziehung erhielt.

Die Vetrautheit der gemeinsamen Kindheit und Jugend blieb auch nach der KrönungAlfons’ erhalten. Wiederholt setzt sich der König für seinen Kämmerer inRechtsangelegenheiten ein und lässt ihm immer wieder größere Geldsummen auszahlen. Am 15.Oktober 1418 werden Jordi gar die gesamten Zolleinnahmen des Weizenexports aus Sizilienübertragen. Im März 1420 erhält er erneut eine größere Geldsumme als Entschädigung, weil erdie ihm angetragene Kastellanei der Burg von Penàguila ablehnt, um im Dienste des Herrschersbleiben zu können.

Im selben Jahr begleitet Jordi seinen König auf einen Kriegszug nach Sardinien undKorsika. Die Liste der Teilnehmer an dieser Expedition liest sich teilweise wie ein Who is Whoder zeitgenössischen Literatur, denn wir finden hier den bereits alternden Andreu Febrer –Lyriker und Übersetzer der Divina Commedia ins Katalanische –, den Dichter Lluís deVilarrasa, den großen Ausiàs March (der zu diesem Zeitpunkt allerdings literarisch wohl nochnicht aktiv war) und den Kastilier Marqués de Santillana.

Jordi nimmt an der Expedition mit vier auf eigene Kosten bezahlten und ausgerüstetenMännern teil, trägt aktiv zur Einnahme von Calvi bei und ist bei der Belagerung von Bonifacioauf Korsika mit dabei. Dabei schlägt er sich offenbar nicht schlecht, denn Alfons verleiht ihmals Dank für seine Dienste nicht nur die Kastellanei Vall d’Uixó im Königreich València,sondern schlägt ihn zudem, noch während die Kampagne andauert, zum Ritter. Von nun anfindet sich Jordis Name in den Dokumenten nur noch mit dem Titelzusatz mossèn „Junker”,zuweilen auch als cavaller, „Ritter”. Im folgenden Jahr finden wir Jordi an der Seite des Königsin Sardinien, Sizilien und in Neapel, von wo Alfons erst Ende 1423 nach Barcelonazurückkehren sollte. Am 7. Januar des Jahres 1423 empfängt Jordi de Sant Jordi erneut einegroßzügige Schenkung aus den Händen des Königs: die Kastellanei Polop im KönigreichValència einschließlich der umliegenden Orte la Nucia und Xirles.

Am 30. Mai desselben Jahres hatte ihn sein Glück dagegen verlassen, als derSöldnerführer Francesco Sforza di Stadt Neapel in Abwesenheit des Königs im Handstreicheinnahm und die besiegten katalanischen und aragonesischen Edelleute einkerkerte, um dafürein exorbitantes Lösegeld zu erpressen. Dies ist eines der Ereignisse, in denen Leben und WerkJordis eng miteinander verknüpft sind, denn der Dichter verarbeitet die Erfahrung derKerkerhaft in seinem Gedicht „Im Kerker” (XIV), einem poetischen Appell an den königlichenFreund, ihn und die Seinen nicht im Stich zu lassen und das Lösegeld zu zahlen. Der Appellmuss gewirkt haben, denn schon am 21. Juni ist Jordi wieder in Freiheit und auf einerdiplomatischen Mission im Auftrag des Königs. Damit endet die Dokumentation auch schonwieder. Am 12. Juni 1424 machte Jordi sein Testament und aus einem Dokument vom 30.Januar 1425 geht hervor, dass der Dichter zu diesem Zeitpunkt bereits gestorben war. Wasdaneben noch bleibt, sind die 18 überlieferten Gedichte seines literarischen Werks.

Von Anbeginn herrschte am Hofe Alfons’ eine rege literarische Aktivität und die bereitsgenannten Dichter unterschiedlicher Sprache versahen hohe Ämter bei Hofe. Neben demKämmerer Jordi de Sant Jordi war beispielsweise Ausiàs March Leibfalkner des Königs und derMarqués de Santillana königlicher Mundschenk. Dem Letzteren verdanken wir auch das einzigepersönliche Zeugnis über Jordi de Sant Jordi. Im Jahre 1445, über 20 Jahre nach dessen Tod,schreibt er:

En estos nuestros tienpos floresçio mosen Jorde de Sanct Jorde, cauallero prudente, el qual

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19 „In diesen unserern Zeiten wirkte auch Junker Jordi de Sant Jordi, ein gebildeter Ritter, der sehr schöneGedichte verfertigte, die er selbst vertonte und vortrug, denn er war ein ausgezeichneter Musiker”. Zit. nachRiquer, Martí de / Badia, Lola (Hg.) (1984): Les Poesies de Jordi de Sant Jordi, València: Tres i Quatre, S.314.

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çiertamente conpuso asaz fermosas cosas, las quales el mesmo asonaua, ca fue musico exçellente.19

Wir erfahren damit nicht nur, dass Jordi, nach alter Trobadortradition, keine Gedichte, sondernvielmehr Lieder schrieb und diese auch selbst öffentlich vortrug; indirekt erfahren wir zugleich,dass diese Tatsache seinem kastilischen Zeitgenossen bereits ausdrücklich mitteilenswerterschien und damit keinesfalls mehr den Normalfall, sondern vielmehr einen auffälligen undunterhaltsamen Archaismus darstellte.

Alfons der Großmütige sollte sich in späteren Jahren in seiner neuen Wahlheimat Neapelzu einem echten Renaissancefürsten entwickeln, an dessen Hof die Künste und Wissenschaftenstarke Förderung erfuhren. Als Mäzen unterstützte er bedeutende Humanisten und Literaten.Nach dem Fall Konstantinopels gewährte er 1453 zahlreichen griechischen Exilgelehrten Asylund wurde so zu einem wichtigen Förderer des Humanismus. Jordis Aufenthalt an seinem Hofhat diesen tief in der mittelalterlichen Trobadortradition verwurzelten Autor nicht nur inKontakt mit Italien gebracht, wo er viele Jahre seines Lebens zusammen mit dem König verbrachte, sondern ihnauch in Kontakt mit den neuen künstlerischen Strömungen der Renaissance gebracht haben,deren Reflexe man in seinem Werk an vielen Stellen durch die Patina des Minnesangsherausleuchten sieht.

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20 Razo ‚Erklärung’ hießen in den klassischen Trobadorhandschriften die Prosatexte, in denen Informationen zuInhalt und Entstehungsumständen eines bestimmten Gedichts gegeben wurden.

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Razo:20 Das überlieferte Werk

Die Edition von Riquer und Badia umfasst insgesamt 18 Kompositionen, die nach Ansicht derHerausgeber mehr oder weniger sicher Jordi de Sant Jordi zugeschrieben werden können. Vonden darin behandelten Themen dominiert die Liebesthematik bei weitem über alle anderenAspekte: Nur in den Gedichten XIII „Esparsa”, XIX „Im Kerker”, XVI „Der Geldwechsler” undXVII „Die Ärgernisse” werden andere Themen behandelt.

Man geht davon aus, dass neun der insgesamt 13 Liebesgedichte an die verwitweteKönigin Margarita von Prades gerichtet sind. Dieser Zusammenghörigkeit ist in dertraditionellen Nummerierung der Gedichte dadurch Rechnung getragen, dass die betreffendenKompositionen als Nr. I-IX einen geschlossenen Block bilden. So attraktiv, nobel undkunstsinnig die Königin auch gewesen sein mag – es ist schwer vorstellbar, dass Jordi sichwirklich in diese Frau verliebt haben könnte bzw. dass er sich ernsthaft Chancen ausgerechnethätte. Jordi gehörte nicht dem Hochadel an und war 1416 gewiss noch nicht wohlhabend; dassseine physischen Reize auch nicht über jeden Zweifel erhaben waren, deutet er an verschiedenenStellen seiner Dichtungen selbst an: So nennt er sich in VI, v. 36 „klein und von gedrungenerGestalt”, spricht in VI, v. 40 von seiner „unscheinbare[n] Erscheinung”, in VIII, v. 35 erfahrenwir, dass der Dichter „dick geworden” ist und (v. 36) dass er sein Äußeres vernachlässigt. DasWerben um Margarita wird man wohl eher als ein im trobadoresken Verhaltenskodex sozialverankertes ästhetisierendes Spiel verstehen müssen, bei dem verschiedene Sänger und Dichteram Hofe im Wettkampf miteinander öffentlich um die Gunst der Königin buhlten, wobei dasZiel wohl weniger ein privates Schäferstündchen als vielmehr prestigeträchtige öffentlicheAnerkennung gewesen sein dürfte.

Gedichte an die Reyna d’onor

I. Tanzlied und Abbitte [So groß ist der Schmerz, den ich leide ...]

Gedicht Nr. I wird in modernen Editionen Dansa i Escondit genannt, zwei trobadoreskeFachtermini, von denen der erste einen formalen und der zweite einen inhaltlichen Aspektbetrifft. Katalanische Trobadors bevorzugten in ihren Liebesliedern die Form der sogenanntenCançó, charakterisiert durch zehnsilbige Verse mit einer regelmäßigen Zäsur nach der viertenSilbe – einen Vers, den auch Jordi in der Mehrzahl seiner Gedichte praktiziert. In diesemGedicht verwendet er dagegen ausnahmsweise den leichteren Achtsilber, wodurch aus derCançó eine Dansa wird. Escondit ist dagegen eine Gattungsbezeichnung und bezeichnet einGedicht, in dem der Dichter sich gegenüber der Dame für eine Verfehlung entschuldigt bzw.sich gegenüber der Verleumdung eines lauzengier (‚neidischer Lästerredner’) rechtfertigt.

II. Herrin, den ganzen Tag fleh ich Euch an ...

Auch Gedicht II. „Herrin, den ganzen Tag fleh ich Euch an ...”trägt Züge eines Escondit, dochist das Hauptthema die durch nichts zu erschütternde Liebe und Treue des Dichters, wie dieRegeln der fin’amor sie fordern.

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III. Die Belagerung durch Amor [Versammelt sehe ich Amors gesamte Streitmacht ...]

Gedicht III. „Die Belagerung durch Amor” basiert ganz auf einer einzigen konzeptuellenMetapher: LIEBE IST KRIEG. Das lyrische Ich präsentiert sich in dieser Allegorie als belagerteStadt, die durch Amor in Gestalt der Geliebten angegriffen wird. Die Metapher geht mindestensauf Ovid zurück, bei dem es in Amores 1.9.1 heißt: „Militat omnis amans, et habet sua castraCupido”. Dass diese Metapher unter den Trobadoren beliebt war, ist nicht erstaunlich, dennviele unter ihnen – einschließlich Jordi de Sant Jordi – waren schließlich professionelle Soldatenund in diesem Sujet mehr als zuhause. Diese unmittelbare Vertrautheit des Autors mit denDetails mittelalterlicher Kriegsfürhung und Belagerungstechnik verleiht dem Gedicht einePlastizität, die über das reine Nachexerzieren eines alten Topos spürbar hinausgeht.

IV. Abschied [Oft seufze ich von fern um Euretwegen, Herrin ...]

Der Titel von Gedicht IV. „Abschied” findet sich bereits in den Rubriken mehrer Handschriftenund ist demnach kein moderner Zusatz. Die Trennung von der Geliebten ist ein klassischesThema der Trobadorlyrik und aktiviert eine ganze Reihe konventioneller Reaktionen wie z.B.das Seufzen, der nahende Verlust des Verstands oder die Todessehnsucht, die alle auch in JordisCançó auftauchen. In diesem Lied wird der Moment des Abschieds thematisiert, während in Nr.XII die Trennung bereits vollzogen ist.

V. So wie auf dem Astrolabium die Sternzeichen angeordnet sind ...

Dieses Gedicht trug traditionell den Titel Midons, ein Schlüsselbegriff der Trobadorlyrik, mitdem die geliebte und besungene Herrin bezeichnet wurde. Etymologisch handelt es sich dabeium ein Maskulinum, MEUS DOMINUS, was sich dadurch erklärt, dass die trobadoreskeLiebesbeziehung in vielen Aspekten analog zu einem Feudalverhältnis konzipiert war, in demdie Frau die Rolle des Lehnsherren übernahm, in deren Dienst – und Hände – sich der Dichterbegab (vgl. die frouwe des mittelhochdeutschen Minnesangs). Das Gedicht ist ein panegyrischesLoblied auf seine Dame mit deutlichen Ankängen an das Frauenlob des Dolce Stil Nuovo.

VI. Dass sie den Namen und den geraden Wuchs der Geliebten hätten ...

Der traditionelle Titel dieses Gedichts lautete Aymia, ein Fachbegriff der trobadoreskenLiebeskasuistik, der nicht einfach die „Geliebte” als solche meint, sondern vielmehr innerhalbder höfischen Liebe eine Frau bezeichnete, die der Liebe würdig ist. Die körperlichen Vorzügeder Besungenen werden durch das rhetorische Mittel der Selbsterniedrigung durch den Dichternoch stärker betont.

VII. Der Wettstreit zwischen Ehre und Liebe [Niemand kann etwas von Wert sagen odertun ...]

Die aus heutiger Sicht nicht recht verständliche Gegenüberstellung der Begriffe ‚Ehre’ und‚Liebe’ verdeutlicht einmal mehr, dass die trobadoreske Liebeskonzeption weit entfernt ist vonunserer modernen Vorstellung von Liebe als einer ganz persönlichen, intimen emotionalenDisposition zwischen zwei Menschen. Nach Riquer / Badia geht es in diesem Gedicht um: „dieVorzüge des Liebens mit dem Ziel, im Leben bei Hofe eine ehrenvolle Stellung einzunehmen”.Die doppelten Widmungen dürften sich im Falle des princeps nauts auf König Alfons beziehen;

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im Falle der Reyna d’onor nennt Jordi hier sogar den echten Namen, der sich hinter demVerstecknamen verbirgt: die Königin Magarita von Prades.

VIII. Hört, ihr Frauen, was ich euch verkünde ...

Diese Lied zeigt die Merkmale der trobadoresken Gattung des maldit, also eines Fluchgedichts,in dem der zurückgewiesene Dichter – typischerweise im zornigen Abschied (comiat) – dieLieblosigkeit, Wankelmütigkeit oder sonstigen charakterlichen Fehler der Dame thematisiert.Hier ist das Thema in das Bild ist das eines öffentlichen Ausrufers gekleidet, wie er imMittelalter Erlasse, Gesetze oder Fahnungsaufrufe verkünden mochte. Nur wenige Frauenentgehen hier dem misogynen Rundumschlag. Originell ist die rhetorische Volte, durch die dieKritik letztlich nur die anderen Frauen betrifft und hier vor allem die rhetorische Funktion hat,die Vortrefflichkeit der Reyna d’onor noch klarer hervortreten zu lassen.

IX. Hinter meiner Stirn trage ich Euer holdes Bild ... (Estramps)

Das Gedicht wird meistens mit dem Titel Estramps bezeichnet, ein terminus technicus, derreimlose Elfsibler bezeichnet, bei denen die Wörter in Reimposition aber oft auf Lieder andererTrobadore verweisen und damit eine subtile Intertextualität herstellen – in diesem Falle unteranderem zu Andreu Febrer und der Divina comedia. Ob der Versteckname mos richs balaystatsächlich auf Maragrita von Prades verweist, oder aber eine andere Frau bezeichnet, ist in derForschung umstritten.

Gedicht an Amors, Amors ...

X. Unter eine üble Herrschaft und gar an einen üblen Ort ...

Dieses Gedicht ist wieder ein maldit, ein Schmähgedicht das Motive des Trobadors Bernat deVentadorn aufnimmt, eine misogyne Tirade gegen die Unzuverlässigkeit der Frauen. Angerufenwird hier kein spezifischer, menschlicher Adressat, sondern vielmehr der Liebesgott selbst.

Gedichte an Na Ysabel

XI. Eine edle Frau hat mir mein Herz und meine Augen ...

„Die Debatte zwischen Augen, Herz und Verstand”. Dieses und das folgende Gedicht wendetsich an eine Adressatin, die offen benannt ist und die der Dichter mit ihrem Vornamenanspricht: Ysabel. Das Gedicht, formal eine Kanzone aus gereimten Elfsilblern, hat inhaltlichdie Form einer cançó tençonada bzw. einer Tenzone, das traditionelle Streitgedicht, in dernormalerweise zwei Trobadore in strophenweiser Wechselrede ein Problem debattieren. Indiesem Fall ist diese Wechselrede allerdings fiktiv zwischen den Teilnehmer Augen, Herz undVerstand aufgeteilt, die miteinander darum wetteifern, wer von ihnen Ysabel am aufrichtigstenliebt.

Das Verhältnis zwischen Jordi und Ysabel ist offensichtlich ein völlig anderes, als daszu seiner Hauptadressatin, der Königign Margarita von Prades. Ysabel ist keine unerreichbareIdealgestalt, sondern scheint die Gefühle des Dichters zu erwidern. So scheint denn im Kehrversdie Liebe der Dame auch als selbstverständlich vorausgesetzt; die Frage ist lediglich noch, obAugen, Herz oder Verstand am ehesten dieser Liebe würdig sind.

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XII. Sehnsucht, Leiden, Schmerz und Begehren

Wie auch schon Gedicht IV wird auch in XII der Trennungsschmerz thematisiert – hierallerdings bereits aus der Entfernung. Bei aller trobadoresken Konventionalität vermittelt diesesGedicht viel überzeugender den Eindruck, dass tatsächlich zwei Liebende durch eine Reise voneinander getrennt wurden und wie der Dichter in Erinnerung und Träumen Trost sucht. Formalist diese Kanzone genauso aufgebaut, wie Nr. XI.

Vermischte Gedichte

XIII. Einzelstrophe (Cobla esparsa)

Von dieser cobla esparsa, also „alleinstehenden Strophe”, ist nicht bekannt, ob sie einmalBestandteil einer größeren Komposition war, oder tatsächlich als in sich geschlossenes Gedichtkonzipiert wurde. Inhaltlich handelt es sich um ein desplazer, eine der sekundären Gattungender Trobadorlyrik; es geht dabei typischerweise um den Unmut des Dichters über Dinge, diegegen den höfischen Kodex verstoßen.

XIV. Ohne Freunde, Güter und ohne meinen Herrn ...

Dieses Gedicht mit dem traditionellen Titel Presoner ‚Der Gefangene’ ist vor allem deswegenberühmt, weil es recht eindeutig mit einem datierbaren und konkreten Ereignis im Leben Jordide Sant Jordis in Verbindung gebracht werden kann. Am 27. Mai des Jahres 1423 nahm dercondottiere Muzio Attendolo Sforza die Stadt Neapel mit einer Söldnertruppe im Handstreich,überwältigte deren überraschte katalano-aragonesische Garnison und nahm alle Adligen unterden Verteidigern in Geiselhaft. Auch Jordi de Sant Jordi gelangte bei dieser Gelegenheit ineinen sehr realen und überhaupt nicht metaphorischen Kerker, aus dem der Weg in die Freiheitder damaligen Kriegstradition entsprechend nur über ein gesalzenes Lösegeld führen konnte.Das Gedicht ist eine künstlerisch geformte Bitte an den König, ihn selbst und die mit ihminhaftierten Edelleute durch Zahlung dieses Lösegelds zu befreien. Dass Jordi seine Bitte an denKönig in die Form eines Gedichts bettet, ist keineswegs eine individuelle Schrulle des Dichters,sondern war am katalano-aragonesischen Hof ein durchaus üblicher Bestandteil des höfischenUmgangs zwischen dem König und seinen Vasallen. Eine solche gedichtete petició war einebesonders höfische Art und Weise, den Anspruch des Lehnsmanns auf die largueza(‚Freigebigkeit, Großzügigkeit’) des Herren zum Ausdruck zu bringen. Dass König Alfons dieseArt der Bitte schätzte, lässt sich an der Jahrzehnte später verfassten Bitte seines LeibfalknersAusiàs March ersehen, der in seinem Gedicht CXXIIb den König um einen Falken bittet: „Meinguter Herr, da das Sprechen in Prosa / mir bei Euch nichts fruchtet, um einen Falken zu erhalten,/ erbitte ich ihn in Reimen, ohne Sorge, dass Ihr nein sagen könntet”.

XV. Jeden Tag lerne und verlerne ich zugleich ...

Dieses Gedicht hat die Tradition Cançó d’opòsits (‚Lied der Gegesätze’) genannt, eineBezeichnung, die auf einen Brief des Marqués de Santillana zurückgeht, in dem er einige Werkeseines Jugendfreunds Jordi de Sant Jordi aufzählt. Das Thema der paradoxen Antithese ist tiefverwurzelt in der abendländischen Literaturtradition und geht mindestens bis auf das Catullsche„Odi et amo” zurück, wobei die unmittelbare Inspiration mit größerer Wahrscheinlichkeit aufdas berühmte Sonett CXXXIV Petrarcas zurückgehen dürfte („Pace non trovo e non ho da far

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21 „Fizo la Passion de amor, en la qual copilo muchas buenas cançiones antiguas, asy destos que ya dixe, commode otros” (‚Er schrieb die Passio amoris, in der er viele gute alte Lieder zitiert, sowohl einige seiner eigenen,die ich zuvor erwähnt habe, als auch andere’). Prohemio, zit. nach Riquer / Badia 1984:314.

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guerra”). Neben dem petrarkischen Einfluss gab es diese rhetorische Figur indes auch in derTrobadortradition in Form des sogenannten devinalh oder Rätsellieds.

XVI. Der Geldwechsler [Da Ihr, wie es scheint, im Wechseln so erfahren seid ...]

Ein satirisches Gelegenheitsgedicht, das Riquer / Badia (1984:231f.) offenbar tatsächlich für dieKritik an einem inkompetenten Geldwechsler halten. Doch die Gleichgültigkeit in derVermischung wertvoller Goldmünzen mit kupfernen Scheidemünzen wäre bei einem echtenBankier ein so grober und unrealistischer Fehler, dass eine metaphorische Interpretation sichernäher liegt. In diesem Falle wäre Nr. XVI ein versteckter maldit (Fluch- und Abschiedslied), indem Jordi sich von einer Dame lossagt, die ihre Gunst allzu wahllos verteilt hätte und der er ihreUnfähigkeit zu lieben vorwirft.

XVII. Die Ärgernisse [Der Ärger, Feind der Jugend ...]

Das Gedicht orientiert sich formal am Vorbild des französischen lai, inhaltlich dagegen an einertraditionellen Gattung der Trobadorlyrik, dem enueg. Während die Übernahme desfranzösischen lai in die katalanische Literatur ein eher junges Phänomen war, ist das Thema desEnuig ur-trobadoresk. Als Gattung sind Enuigs mit ihrer oft formelhaften Auflistung alltäglichbanaler Ärgernisse zumeist wenig originell und stehen damit zumeist nicht im Verdacht, großeKunstwerke zu sein. Allerdings sollte man bei dieser Bewertung vorsichtig sein, denn es handeltsich bei Jordis Enuig um ein formal und technisch hoch anspruchsvolles Gebilde, dessenKunstfertigkeit in der Prosaübersetzung notwendigerweise völlig verloren geht. Insofern könnteman den Enuig zusammen mit der Sextine und einigen anderen Formen zu jenen Gattungenzählen, bei denen die Kunstfertigkeit in der Metrik und vor allem im Auffinden ungewöhnlicherund überraschender Reime gegenüber der Ideendisposition zurücktritt. Besonders in denviersilbigen Kurzversen spielt Jordi virtuos mit den Reimwörtern und geht damit oft an dieGrenzen des sprachlich Möglichen und die Übersetzung muss hier oft interpretierend einebnen,was ansonsten unverständlich würde. Die Gedankengänge ergeben sich hier primär aus derForm und müssen daher in der Übersetzung oft unmotiviert wirken.

XVIII. Pacio amoris secundum Ovidium [Wenn ich sehe, wie das Wetter umschlägt und sichverdunkelt ...]

Diese groß angelegte Komposition ist in mehr als einer Hinsicht bemerkenswert. Das erschienauch bereits Jordis Zeitgenossen, dem Marqués de Santillana, so zu sein, der in seinemÜberblick über Jordis Werk nur das Lied der Gegensätze und eben die Passio amoris durchausdrückliche Nennung hervorhebt.21 Auffällig ist einerseits die Form einer allegorischenTraumerzählung, die sicher dem literarischen Geschmack des 15. Jahrhunderts mehr schuldet,als der klassischen Trobadorlyrik, und andererseits die ausgeprägte Intertextualität, durch diesich Jordi in unmissverständlicher Weise selbstbewusst in diese einreiht. Die ganzeKomposition rankt sich um Zitate aus Trobadorliedern der klassischen Zeit, aber auch umSelbstzitate Jordis. Unter den Zitaten finden sich einige der echten Trobador-Evergreens, deren

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Bekanntheit durch Überlieferung in zahlreichen Handschriften dokumentiert und belegt ist,zusammen mit anderen, die aus heutiger Perspektive nur schwierig oder auch gar nichtzugeordnet werden können. Die große Vertrautheit mit dem Trobador-Kanon, der aus diesenZeilen spricht, könnte nicht zuletzt daher rühren, dass Jordi, wenn er denn tatsächlich Sohneines Joglars gewesen sein sollte, diese gewissermaßen mit der Muttermilch aufgesogen hätte.Aus „handwerklicher” Perspektive ist diese Dichtung ein Feuerwerk der Virtuosität, in dem eineVielzahl von Metren und Reimschemata die Zitate organisch in den Gesamttext einzubindensucht. Ein großer Teil des Effekts, den dieses Gedicht auf die Zeitgenossen offenbar hatte, magauch aus Jordis Vortrag entstanden sein. Insofern kann die Prosaübersetzung wohl nur einenTeil der Originalwirkung nachvollziehbar machen.

Vieles an diesem Gedicht bleibt allerdings geheimnisvoll und unbefriedigend. Das magvor allem daran liegen, dass es in nur einem einzigen Manuskript, dem cançoner Vega-Aguiló,überliefert ist – und das dazu ohne Angabe der Autorschaft. Der Text ist offenbar in vielenAspekten unvollkommen oder sogar unfertig. Die Metrik ist oft unsicher, die Reimschematauneinheitlich und es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich darin neben den zahlreichen Lückenauch die eine oder andere Interpolation findet; die gesamte allegorische Erzählung wirktvielfach inkohärent und dunkel. Das globale Thema ist die Passio des Liebenden, dessen Liebenicht erwidert wird, wobei der Titel unmissverständlich auf die Passion Christi anspielt. NachFratta (2005:200) hat der Erzählteil des Gedichts die Form eines verweltlichten Kreuzwegs.

Zur Edition & Übersetzung

Es muss jedem Leser sofort deutlich werden, dass diese Prosaversionen nicht den Ansprucherheben können, die Gedichte Jordi de Sant Jordis als vollwertige Kunstwerkewirkungsäquivalent wiederzugeben. Ihre Funktion ist es vielmehr, den sprachlichen Inhalt inmehr oder weniger lyrischer Prosa ins Deutsche zu übertragen und so bei einem Verständnis desOriginaltexts zu helfen. Ich habe beim Übersetzen vor mehr oder weniger systematisch auf dieLesweisen und Interpretationen von drei Editionen zurückgegriffen: auf Riquer / Badia (1984),Siviero (1997) und auf Fratta (2005), dessen Edition auch der hier gebotene okzitanischeOriginaltext folgt

Die wichtigsten Editionen und Übersetzungen des Jordischen Gesamtwerks sind:.

Massó Torrents, Jaume (Hg.) (1902): Obres poètiques de Jordi de Sant Jordi, Barcelona:L’Avenç.

Riquer, Martí de (Hg.) (1955): Jordi de Sant Jordi. Estudio y edición, Granada: Universidad deGranada.

Riquer, Martí de (Hg.) (1982): Gilabert de Próixita, Andreu Ferrer, Jordi de Sant Jordi: Obralírica, Barcelona: Edicions 62.

Riquer, Martí de / Badia, Lola (Hg.) (1984): Les Poesies de Jordi de Sant Jordi, València: Tresi Quatre.

Roca Ricart, Rafael (Hg.) (1994): Jordi de Sant Jordi: Obra poètica, València: Edicions Alfonsel Magnànim.

Siviero, Donatella (Hg.) (1997): Jordi de Sant Jordi: L’amoroso cerchio, poesie dell’ultimotrovatore, Milano: Luni (Biblioteca Medievale; 6).

Fratta, Aniello (Hg.) (2005): Jordi de Sant Jordi: Poesies, edició crítica d’Aniello Fratta,

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Barcelona: Editorial Barcino.Micó, José María (Hg.) (2009): Jordi de Sant Jordi: poesía, traducción y prólogo de José María

Micó, Barcelona: DVD Ediciones / Editorial Barcino.

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Cançoner

‚Liedersammlung’

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I. Tanzlied und Abbitte [So groß ist der Schmerz, den ich leide ...]

I So groß ist der Schmerz, den ich leide,weil Ihr, edle Frau, mir nicht glaubt,dass ich Euch gewiss treulich liebe,dass mir schier das Herz aus dem Leib springen will.

II An dem Tag, als ich Eure schöne Gestalt 5das erste Mal sah, begann ich gleich, Euch zu liebenund seitdem kann mein Herz sich nie mehr -- das ist gewiss --um einer andren willen auch nur um ein Jota von Euch entfernen.So glaubt mir denn, dass ich nichts anderes begehreund an nichts anderes mehr denke, 10als allein daran, wie ich Euch getreulichlieben und schätzen kann.

III Spreche ich nicht wahr zu Euch, so bitte ich Gott,dass ich solcher Verbrechen angeklagt werden möge,für die man mich durch Steinigung den Tod finden lasse, 15von der Hand eines unseligen Juden,solcherart, dass ich wegen meines Märtyrertodesvon niemand beklagt würde,sondern dass man mich vielmehr grausam verfluchteund ausspuckte in mein Angesicht. 20

IV Spreche ich nicht wahr zu Euch, so geschehe es, dass ichvor meinem Ende voll grimmen Zorns in Verzweiflung verfalleund dass meine Seele und mein Leib von Luziferund tausend Teufeln fortgeschleppt werden;und zudem soll man mich nicht bestatten können, 25sondern ich möge der ewigen Qual anheim fallenund weder Freund noch Verwandten finden,der Gutes über mich sagte, sondern alle mögen mich verfluchen.

KEHRVERS

V „Kastell der Ehre”, ich bitte Gottund alle Heiligen, dass sie mich hassen mögen, wenn ich 30nicht Euer treuer und ergebener Diener sein sollte,denn ich will Euch stets lieben ohne Fehl.

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II. Herrin, den ganzen Tag fleh ich Euch an ...

I Herrin, den ganzen Tag fleh ich Euch an,dass Ihr mich in Euren Dienst aufnehmen mögt,und Ihr sagt, ich bringe Euch nicht, wie ein treuer Liebender,wahre Liebe entgegen,

sondern ich sei heimtückisch, 5mein Trachten gehe nach anderemund ich solle nicht versuchen,

Euch Silber für Gold zu verkaufen;doch habt Ihr damit wahrlich

Ausflüchte wie ein schlechter Schuldner. 10

II Denn Ihr wisst durchaus die Wahrheitund kennt meine Absichten,so wie der Kranke, von dem der Arztdurch seine Kunst erkennt, dass er

an einer echten Krankheit leidet; 15doch von Euch kann ich nicht erkennen, so viel ich auch schwörenund mich verfluchen mag, dass Ihr mir glaubt;

statt dessen macht Ihr Euch lustigüber das, was früher war:

Tag für Tag lasst Ihr mir derlei Behandlung angedeihen. 20

III Herrin, ich liebe Euch viel mehr als ich selbst wohl weißund viel aufrichtiger, als ich mit Worten auszudrücken vermag;und wenn ich das nicht tue, so bitte ich Gott, dass Ihr michelendiglicher zugrunde gehen seht als irgendeinen Falschspieler.

Warum also lasst Ihr mich 25soviel Leid erdulden, während Ihr doch deutlich seht,dass meine treue Zuneigung Euch gilt

und mich, wenn sie mich auch quält,so in ihrem Bann hält,

dass ich an andere Frauen weder denke noch mich erinnere? 30

IV Oh, welch schöner Leib – und doch so wenig huldvoll!Warum wollt Ihr Euch nicht eingestehen,dass ich aus Liebe zu Euch verschmachteund dass man mir dennoch meine Aufrichtigkeit nicht glaubt?

Mir fällt nichts mehr ein, 35was ich Euch sagen könnte, außer dem, was ich schon gesagt habeüber meine Liebe, die Ihr ja kennt;

doch Ihr schätztall dieses,

denn mein Streben missfällt Euch keineswegs. 40

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V Doch von nun an werde ich nichts weiter sagen,sei Eure Antwort nun gut oder schlecht,wenn Ihr mir nur auf der Stelle antwortet;sondern ich werde Euch lieben, ob Ihr nun wollt oder nicht.

Denn Amor gefiel es 45und er wollte es so, dass ich ganz Euer würde,den ersten Tag, als ich Euch sah.

Dadurch leide ich Qualen,und zwar so oft,

dass ich betrübt bin und sorgenvoll. 50

KEHRVERS

VI „Königin der Ehre”, kein Liebenderhat jemals solchen Schmerz gelitten

wie diesen, der mirHerz und Verstand sprengt,

wenn ihr Euch meines Jammers nicht erbarmt. 55

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III. Die Belagerung durch Amor [Versammelt sehe ich Amors gesamteStreitmacht ...]

I Versammelt sehe ich Amors gesamte Streitmachtund über mich verhängt ist schon die mächtige Belagerung,sodass weder Stärke noch List noch Wissen mir helfen können.So bedrängt bin ich, dass ich schon fürchten muss,dabei Leib, Seele und sämtliche Güter einzubüßen, 5denn schon ertrage ich es nicht mehr, dieses eingeengte Lebenund die Nachtwachen; eine so schwere Bürde trage ich,dass ich mich schließlich werde ergeben müssen.

II Ich glaube nicht, dass irgendein Vorwerk oder Kastell je sich sovor einer großen Macht gehalten hätte, ohne vorbereiteten Rückzugund ohne fähige Leute, die es gut verteidigt hätten,und wenn es sich mit solcher Hilfe verteidigt, bleibt es im Recht.Doch ich, dessen Widerstand so schwach ist,ohne Mauer, ohne Graben, ohne Zinne oder Wehrgang,der ich meinen Leuten nicht sonderlich trauen kann,sagt selbst, ob ich nicht dem Untergang nahe bin.

III Meine Seufzer sind die Katapulte, die ich abfeuere,denn ich habe nichts besseres zur Hand;und jedes Stöhnen ist eine Bombarde, umauf jene zu schießen, die alles daransetzt, mich zu verderben. 20Und damit habt ihr das gesamte Kriegsgerät, über das ich verfügeund mit dem mein Herz mich verteidigt, in seiner Festung;doch muss ich Euch sagen, dass ich nicht glaube,mich durch ihre Macht jemals aus dieser Gefahr befreien zu können.

IV Meine fünf Sinne verunsichern mich noch weiter, 25denn sie sind meine Mannen und niemand schickt mir Entsatz;statt dessen sehe ich, wie es jedem von ihnen gefällt,dass ich all meinen Besitz verlieren möge, bis auf die Haut.So sagt denn selbst, ob sie mich wohl verraten:Ich kann gewiss nicht im letzten Moment entfliehen, 30denn ich habe sie verhandeln sehenmit dem Feind, paktierend mich zu töten.

V Ach, Gott! Wie haben meine Augen mich verraten, unglückselig,traurig, leiderfüllt, dass ich so untergehen sollte!Wie haben mich meine fünf Sinne töricht verraten; 35wie hat mein Herz mich betrogen aus Naschhaftigkeit;auf diese Weise haben sie mir den größten Schaden zugefügt,sodass ich schon nicht mehr weiß, auf welcher Seite ich stehen soll,und ich kann mir selbst kaum noch mehr schaden, denn von nun ansehe und finde ich niemand, der mir helfen oder mich verteidigen könnte. 40

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KEHRVERS

VI „Königin der Ehre”, in meiner Eigenschaft als Heerführerliefere ich mich Euch aus und kapituliere in Eurem Zelt,vorausgesetzt, Ihr schenkt mir mein Leben, ohne Heimtücke –und tut Ihr dies nicht, so entgeht Euch ein gutes Lösegeld.

ZUEIGNUNG

VII Amor, Amor, mir scheint, dass Ihr soviel nicht vollbracht habt,indem Ihr einen besiegten Mann bezwingt, der sich Euch ergibt; 45doch Jordi kapituliert und verzeiht Euch den Schaden,selbst im Tode; möge es ihm eines Tages Gewinn bringen!

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IV. Abschied [Oft seufze ich von fern um Euretwegen, Herrin ...]

I Oft seufze ich von fern um Euretwegen, Herrin,und unter Seufzern wächst meine Verrücktheitnach Eurer Liebe, die mich so sehr übermannt,dass sie mir jegliche Freude in große Melancholie verkehrt,wenn ich an die Trennung von Euch denke, 5die mir Euren schönen Anblick nehmen wird,und an den Abschied, den ich beim Aufbruch nehmen werde,so sehr, dass Traurigkeit mich überfällt und überwältigt.

II Gewiss, nur zu gut weiß ich, dass ich lieber sterben sollte,so wie der heilige Petrus oder Johannes der Täufer, 10einen grausamen Tod, als zu diesem Punkt zu gelangen,dass ich eine derart traurige Zeremonie sähe,denn bei dem Gedanken verlassen mich Wissen und Verstandund ich benehme mich wie ein Wahnsinniger, im Wahn mit mirselbst sprechend; und sagt mir jemand, ich solle vernünftig sein, 15so antworte ich ihm in unverständlicher Rede.

III Doch nun bedrängt mich treue Liebe dergestalt,dass ich, bevor wir uns trennen, meinen Blick nicht mehr aufdiese Bedrängnis wenden will, denn weder Verstand,Kunst noch Wissen helfen mir; doch da es mein Schicksal ist, 20dass ich mich unter solchem Zwang von Euch entfernen muss,nehme ich nun ein für alle Male Abschiedvon Eurer schönen und unvergleichlich edlen Personund lasse mein Herz zurück bei Euch in Quartier.

IV Oh, Gott! Und wie soll ich dem Tode entfliehen, 25wenn ich mich allein sehe, mit verwirrtem Geist,in einem hölzernen Schiff inmitten der See,von Euch getrennt und entfernt von diesem Land?Wenn ich daran denke, dass ich so weit entfernt sein werdevon dem holden Land, in dem Ihr wohnt, 30dann wünschte ich zu sterben, wie ein Lebensmüder,mich selbst, die Vorsehung und das Unglück verfluchend.

V Euren Liebreiz empfehle ich Gottes Schutz, meine Schöne,Eure Art, die alles Übel vertreibt.Euch selbst empfehle ich Gott, die Ihr die Welt adelt 35und die Ihr in der Mitte des Herzens „Ehre” eingeschrieben tragt.Gott empfehle ich Euren lieblichen Blick,mit dem Ihr mir das Herz dort herausrisst, wo es sich trennt.Gott überlasse ich Euch nun, denn ich muss fortvon der Allerbesten, die je ein Gewand getragen hätte. 40

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KEHRVERS

VI „Königin der Ehre”, wo immer ich auch sein mag,ob lebendig oder tot, werde ich in jeder Lage Euer sein;und ich bitte Gott, er möge mich vor keinerlei Übel mehr schützen,wenn ich von der Liebe abweiche, die ich unter dem Herzen berge.

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V. So wie auf dem Astrolabium die Sternzeichen angeordnet sind ...

I So wie auf dem Astrolabium die Sternzeichen angeordnet sind,um die weisen Sternenkundigen zu belehren,so zeigt meine Herrin sämtliche vorzüglichen Tugenden,wie sie manch ein Theologe beschrieben haben mag;diese verlieh ihr Gott, der ein Altarbild schuf, 5auf dass jeder, der ihre schöne Gestalt sähe,Kopf, Füße, Hände und Schultern der Ehre erblickteund beim Gedanken an sie niemals sündigte.

II So wie Gott dem Moses die Tafeln gab,um sein Volk davor zu bewahren, zu sündigen, 10so hat er uns nun ohne Lügen oder Fabelnzu unserem Wohl ihre edle Person gesandt;denn sie ist so, dass ihr Ruhmdie ganze Welt umspannt, so würdig und tugendsam ist sie;weshalb ich sie „Archiv und Barke der Trefflichkeit” nenne, 15Frucht der Wonne, von der niemand kostet.

III So wie Noah in der Arche alles rettete,was er während der Sintflut darin barg,so rettet meine Herrin sich selbst und alle, die ihr ergeben sindmit ihrer Klugheit vor dem schändlichen Fluss, 20der die Welt durchfließt, in dem ich ob meines Rufs untergehen werde;denn sie ist von einer Natur, die keinerlei Makel zulässt,weder in Worten, noch in Taten noch auch im Ruf,denn ihren eigenen Wert knüpft sie an den Preis der Ehre.

IV So wie Gott von der Frucht am Ast verbot, 25dass von ihr äße unser aller Urvater,so setzt meine Herrin für alle in ihrem Dienste fest,dass sie weder in Taten noch in Worten etwelche Niedrigkeiten zeigenund sich nicht scheuen, ihr Leben einzusetzen,für ihre Ehre, sei es im freien Feld oder auf dem Kampfplatz; 30und diesen schenkt sie ihre Huldund die Feiglinge bedroht sie mit Verachtung.

V Und so – wie jemand, der verzweifeltund sich ins Meer stürzt, weil er sieht, dass das Schiff verloren gehtund zu Gott betet, er möge ihn retten aus den Wogen – 35so ergebe ich mich jener, in der viele Tugenden zusammentreffen,indem ich sie anflehe, mich von den Lastern fernzuhalten,durch die ich meine Ehre in dieser Welt verlieren könnte,denn ich sehe, wie meine Künste an einem Punkt angelangt sind,dass ich in Gefahr schwebe, wenn ich ihr nicht folge. 40

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KEHRVERS

VI „Königin der Ehre”, töricht scheint mir jeder,der Euch um Liebe anfleht oder bittet,denn man findet bei Euch keinerlei Anzeichen,dass Ihr solcherlei dulden würdet.

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VI. Dass sie den Namen und den geraden Wuchs der Geliebten hätten ...

I Dass sie den Namen und den geraden Wuchs der Geliebten hätten –derer sind gewiss nur wenige, die dies so wohl nachweisen könnten,wie Ihr es tut, Dame, um den Sieg davonzutragen:Schöne mit schönem Leib, vortrefflich ohnegleichen.Gelobt sei Gott, der der Natur befahl, 5Euch so zu formen, dass ich Euch dienenund loben, Euch fürchten und hoch schätzen muss,wofür ich meinen Gott und mein Los segne.

II Denn Eure Haltung zeigt so große Würde,dass es Euch gebührt, die gesamte Welt zu regieren; 10und schlecht bekommt es jeder, dieEure Nähe sucht um Euch Gesellschaft zu leisten –umso mehr, wenn sie von kleinem Wuchs ist.Und den Liebenden will ich widersprechen:Man besitzt nicht, was die Geliebte ausmacht und soll es auch nicht aussprechen, 15wie Ihr es tut, mit Maß und aufrechter Haltung.

III Manche werden sagen, ich verbreitete große Torheiten,weil ich über die Herzen anderer richten will,denn ein jeder liebt so, wie es ihm seine Kräfte erlauben,eine holde Frau, sei es welche es sei. 20Dagegen habe ich nichts, doch begehen sie eine große Dummheit,nennen sie „König” einen Vasallen, der dies nicht verdient;denn Ihr zeigt, dass Euch alle zu Diensten sein müssen,die Großen und die Geringen, wenn sie Eure Gestalt sehen.

IV So wie der Hühnerhabicht mit Recht die Oberherrschaft hat 25über den kleinen Merlin, der sich mit ihm nicht vergleichen kann,so habt ihr hundert Mal größeres Recht, ein jegliches Herzderer zu unterwerfen, von denen ich gesprochen habe;denn es verstößt gegen besseres Wissen,wer den Jaspis einen klaren Saphir nennt, 30oder den Klatschmohn auf dem Feld Lilie,denn Gott schuf uns nicht alle gleich.

V Zudem werden manche Frauen mich fragen, aus welchem Grundeich von derlei habe sprechen wollen,worüber ich, bei Gott, besser weise geschwiegen hätte, 35denn ich selbst bin klein und von gedrungener Gestalt.Das gestehe ich ihnen zu: Die schlechte Frau sinnt stets darauf,wie sie den Mann beherrschen könne;danach strebe ich nicht; Ihr seid Gebieter und ich Knecht,weshalb ich meiner unbedeutenden Erscheinung nicht achte. 40

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KEHRVERS

VI „Königin der Ehre”, wer auch immer sichEuren wohlgestalten Leib vorstellt, kann leicht erkennen,dass Ihr ohne Lüge die Haltung einer Geliebten zeigt,und dass alle Vortrefflichkeit sich in Euch versammelt.

ZWEITER KEHRVERS

VII Oh, edle Damen, möge es euch wohl ergehen. 45Für das, was ich gesagt habe, verflucht mich nicht,denn vielerlei Verschiedenes bereichert jegliche Sache;so wird auch durch euch diejenige noch besser, die ich liebe.

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VII. Der Wettstreit zwischen Ehre und Liebe [Niemand kann etwas vonWert sagen oder tun ...]

I Niemand kann etwas von Wert sagen oder tun,sofern er nicht von Liebe erfüllt ist;darum denke ich, dass jeder vom Pfade der höfischen Liebe abweicht,der sich von Liebesabenteuern entfernt, solange sein Harnisch noch hältund er körperlich noch fähig ist, ritterliche Taten zu vollbringen, 5denn er ist tüchtiger und ehrgeizigerund spürt seine Jugend später schwindenund weiß in der Welt stets das Beste zu wählen.

EHRE

II Und damit dieses Argument besser verständlich wird,bitte ich Euch, die zu betrachten, denen die Liebe verwehrt ist, 10und ihr werdet sehen, wie sie ihr Herz an Reichtümer hängenund zugleich an Tüchtigkeit und persönlichem Wert sinken,und nie geben sie gern, es sei denn, es brächte ihnen Profit,und unter verdienstvollen Leuten werdet ihr sie selten antreffen;ihr einziges Vergnügen besteht im Kaufen und Verkaufen 15und es misslingt ihnen, wenn sie von etwas anderem sprechen wollen.

LIEBE

III Doch derjenige, den die Liebe als ihren Vasallen annimmt,wendet all sein Streben darauf, zu echtem Verdienst aufzusteigen,und ihr werdet ihn nie sehen, wie er sich zu Geschwätz herab ließe, um nichts in der Welt, oder dass er hässliche Taten vollbrächte; 20nichts sonst tut er und auf nichts verwendet er Geschick und Sorgeals allein darauf, wie er sich bei allen beliebt macht;es gefällt ihm zu schenken und im Übermaß zu geben,auf dass jedermann nur Gutes über ihn sage.

EHRE

IV Und er fürchtet weder Armut noch Bedürftigkeit 25und sorgt sich nicht, dass es ihm eines Tages schlecht gehen könnte,denn sein Herz ist reich an reiner Liebe,sodass er niemals arm werden kann,sondern es lässt ihn vielmehr ohne Unterbrechungan so erhabene Dinge denken, dass er dadurch 30seinen Zustand aufrecht erhalten kann und er fürchtet weder Kampfnoch Krieg noch Streit, um diese hochzuhalten.

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LIEBE

V Er braucht weder Harnisch noch Ross oder sonstige Hilfe,weder Gold noch Silber, die einem Mann üblichweise Geltung verschaffen,denn die Liebe, die ihn unter ihrer liebevollen Knute hält, 35lässt ihm entweder alles zukommen, was er benötigt,oder aber sie verleiht ihm die Schläue, mit der er sich leichtund ohne Tadel selbst helfen kann, weshalb er im Überflussan Gütern und Glück lebt, mehr als irgendein König oder Kaiser,und all das, solange er verliebt ist. 40

EHRE

VI Und noch seltener werdet ihr erleben, dass er seineedle und angenehme äußere Erscheinung vernachlässigte,und er wird alt werden und nicht sonderlich darunter leiden,wenn es gilt, den Harnisch zu tragen oder in sich gekehrt zu leben.Ich weiß, dass er die Freundschaft vieler gewinnen wird, 45weshalb es mir scheint, dass er das Beste der Welt wählte,denn er lebt bewundert, in Ehren und Pracht,und die anderen, die dieser Berufung nicht folgen, sind wie tot.

LIEBE

VII Und so, wer sich auf einer so hohen Waage wiederfindet,wie es die Liebe ist, die ihn aufsteigen lässt, 50bis er sich bereits in der alten Verbindung sieht,der sollte sich davon nicht entfernen, denn sonst verwirrt er sich,gerät in Bedrängnis, altert und verwandeltall sein Gutes in Übles und seine Tugenden verfallenund er bemerkt es nicht, bis er sein Haar ergraut findet 55und sich selbst dick und plump, so wie es den Damen missfällt.

EHRE

VIII Und daher gehe ich noch weiter: Wer eine Dame verloren hat-- keinesfalls durch eigene Schuld oder weil er ihr nicht gefiele --,auf dass er die Liebe in sich bewahre,soll sich umgehend eine andere Dame suchen; 60denn tut er das nicht, wird er Gefallen daran finden, üble Nachredezu betreiben, wie jemand, dessen Liebe brach liegt,und es ist gewiss besser, dass seine Niedrigkeit aufgeschrieben wird,als dass er denjenigen, die richtig geliebt werden, lästig fiele.

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ZUEIGNUNG

IX Dem hohen, mächtigen Fürsten, in dem 65Adel und Tüchtigkeit sich vereinen, da er mit Ehren gerüstet ist,übersende ich mein Gedicht, das weder dem Einsiedler,noch dem Priester noch dem Laien gefällt, wenn Liebe sie nicht berührt hat.

KEHRVERS

X „Königin der Ehre”, treffliche Margarita,ich bin überzeugt, Ihr mögt weder mich noch sonst jemand lieben; 70denn ich habe Euch über alle anderen geschrieben,ich werde Euch lieben, solange Ihr bleibt so wie Ihr seid.

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VIII. Hört, ihr Frauen, was ich euch verkünde ...

I Hört, ihr Frauen, was ich euch verkünde,egal, was euer Familienstand oder Religion auch sein mag:Glaubt mir kein Wort, wenn ich euch meine Liebe beteuere,denn ich schwöre euch, bei Gott, dass ich dabei nur heuchele.Ihr seid zur Liebe so wenig geneigt, 5dass ich darüber alles Begehren und Wollen vergessen habe;doch damit ihr nicht sagen könnt, ihr hättet davon nichts gewusst,will ich euch warnen mit dieser öffentlichen Warnruf.

II Zuerst will ich euch allen zeigen,dass ich im Recht bin, wenn ich dies verkünde, 10denn ich glaube nicht, dass ihr mir unter hundert eine zeigen könntet,die das Gesetz des sittsamen Lebens zu befolgen bereit wäre.Sie mögen wohl schön und würdig sein,ehrlich, vortrefflich und von edler Gestalt,doch ihre Herzen in ihrer Natur so verdreht, 15dass Treue sich darin nicht einstellen mag.

III Und darum will ich mich nun weise verhalten,denn es wäre zu große Torheit, seine Zeit zu verschwenden.Natürlich weiß ich, dass manch einer nun sagen mag,dass ich allein aus verschmähter Liebe spreche. 20Das ist wohl wahr, doch mangelt es mir nicht an der einen oder anderen,die mir, auf meine Kosten, ein wenig Freundschaft zeigen wollte;doch mag ich nicht mit einem solchen Missklang leben,denn ich will mich nicht wegen einer Torheit dem Vorwurf der Sünde aussetzen.

IV Auch will ich euch, in meinem Kummer, wissen lassen, 25dass ich nicht glaube, die Liebe würde dadurch besser, dass man sie praktiziert,denn sie logiert nun in einem derart üblen Hafen,dass man nichts Gutes mehr von ihr erwarten darf.Drum sei gewarnt, wer eine Warnung braucht,denn ich will nun die Augen stets offen halten; 30doch kann ich euch wohl versichern, dass es mir missfällt,wenn ich schweigen soll, um diese Tatsachen nicht zu benennen.

V Ich kann nicht anders handeln, denn mein Schmerz ist zu groß,weil ich von der Liebe Peitsche gequält werde;dick bin ich geworden, in kurzer Zeit, 35und ich laufe ungepflegt herum, beschmutzt mit Stroh.Doch weiß ich genau: Wenn eine nurihren Verstand wiedergewönne und mich Gutes über sie sagen ließe,so wüsste ich nichts auf der Welt, das mich glücklicher machen könnte,denn wer nicht liebt, der kann, bei Gott, auch keinem anderen helfen. 40

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KEHRVERS

VI „Königin der Ehre”, die Beste, die je geboren wurde:da Ihr verlässlich, treu und schön seid,habe ich beschlossen, mich an Euch zu halten,falls es Euch beliebt, mir ein Licht in meiner Zelle zu sein.

KEHRVERS

VII Es ziemt sich, einer Frau wie Euch 45Tag und Nacht zu dienen und Euch Hand und Gewand zu küssenund keiner anderen, ob es ihnen nun gefällt oder nicht,denn ich kenne keine, die Euch gliche oder auch nur ähnelte.

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22 Der Titel, der dem Gedicht traditionell gegeben wird, lautet „Estramps”. Estramp ist ein Fachbegriff derTrobadorlyrik und bezeichnet den Verstyp des reimlosen weiblichen Zehnsilblers.

23 Zu Jordis Zeit konnte man Rubine noch nicht sicher von roten Granaten und Spinellen unterscheiden, sodassman all diese Steine als „Karfunkelsteine” bezeichnete. Als die Unterscheidung möglich wurde, geriet dieseBezeichnung außer Gebrauch.

24 Der Merlin oder Zwergfalke (Falco columbarius) ist ein kleiner Greifvogel aus der Familie der Falkenartigen.

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IX. Hinter meiner Stirn trage ich Euer holdes Bild ...22

I Hinter meiner Stirn trage ich Euer holdes Bild,aus dem ich mir Tag und Nacht große Freude schöpfe,denn, während ich mir Eure schöne Gestalt wieder vor Augen führte,hat sich mir das Abbild Eures Gesichts so eingeprägt,dass nicht einmal der Tod es wieder auszulöschen vermöchte; 5wenn ich diese Welt einst endgültig verlasse,werden die, die meinen Leib zu Grabe tragen,noch Euer Zeichen auf meinem Gesicht erkennen können.

II So wie das Kind, wenn es das Altarbild siehtund das Gemälde mit den Bildern betrachtet, 10und sie es mit seinem reinen Herzen kaum davon losreißen können– so sehr erfreut es sich an dem Gold, das es umgibt –,gerade so ergeht es auch mir vor dem Liebeskreis,der Euren Leib umgibt, aus dem so viel Gutes entspringt:in seinem Bann versenke ich mich mehr darin, als wenn ich Gott selbst schaute; 15ein solches Glück erfasst mich durch die Liebe, die mich durchdringt.

III So hält mich glühende Liebe in ihrem Kerker gefangen und gebunden,als wäre ich in einer Kiste eingesperrt,mit einem Schloss verriegelt, mein ganzer Leibso eingeengt, dass ich mich nirgendwohin rühren könnte; 20denn so groß ist die Liebe, die ich für Euch empfinde, und fest,dass mein Herz sich aus Furcht nicht einen Schritt von Euch zu entfernen wagt,meine Schöne, sondern fest zu Euch steht, wie ein Wehrturm,um Euch allein zu lieben, meine weiße Taube.

IV Schöne ohne Gleichen mit dem edlen Auftreten, 25Euren schönen Leib schuf Gott schöner als alle anderen,freudig und herrschaftlich strahlt er mehr als ein Edelstein,lieblich, schön und durchdringender als ein Stern;und so kommt es, dass ihr im Umkreis anderer Frauenalle anderen überstrahlt, gerade so, wie der Karfunkel23, 30der in seinem Wert alle anderen Edelsteine übertrifft:Ihr seid unter ihnen wie der Habicht unter Merlinen24.

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25 Einem mittelalterlichen Topos zufolge ließ sich der Philosoph Aristoteles von der schönen Hetäre Phyllis alsReittier benutzen; wohl ausgehend vom Gedicht „Le Lai d’Aristote” des normannischen Dichters Henrid’Andeli finden sich viele bildliche Darstellungen dieser Szene.

26 Der Spinell ist ein seltener Edelstein, der in verschiedenen Farben auftritt. Die roten Exemplare ähnelnRubinen.

27 Penthesilea, Königin der Amazonen, ist eine Gestalt aus dem Umkreis der Sagen um den Trojanischen Krieg.Achilles erschlägt sie, verfällt aber ihrer Schönheit, als er der Sterbenden den Helm abnimmt und bereut seineTat.

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V Die Liebe, die ich für Euch empfinde, spaltet mich durch und durch,denn kein Mann liebte jemals mehr von Herzen;so starke Liebe wie die, die mir das Herz öffnet, 35gab es noch nie in Leib oder Seele irgendeines Mannes.Ich bin verwirrter als selbst der liebeskranke Aristoteles25

von einer Liebe, die mich durchglüht und mir die fünf Sinne trübt;wie der gut Mönch, der seine Zelle nicht verlässt,so trennt sich auch mein Herz von Euch so wenig, wie der Nagel vom Finger. 40

VI Oh edles Geschöpf, frei von Heimtücke und Fehlern!Erbarmt Euch meiner, schöne Frau,und lasst nicht zu, dass ich aus Liebe zu Euch verschmachte,denn ich liebe Euch mehr, als irgendein anderer zu behaupten wagte;weshalb ich Euch anflehe, die Ihr der prächtige Baum seid 45voll guter Früchte, in dessen Schatten höchster Wert sich findet,dass Ihr mich in Eurer würdigen Kammer empfangen wollt,denn Euer bin ich und werde ich bleiben, solange ich lebe.

KEHRVERS

VII „Mein prächtiger Spinell”26, Euch gebührt ohne Zweifel die Kroneunter all den Frauen auf der Liste dieser Welt, 50denn täglich erstehen und wiederholen sich in Euch aufs Neuemehr Vorzüge und Tugenden als selbst in Penthesilea27.

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28 Enoch, der Vater Methusalems, lebte 365 Jahre gottgefällig und wurde dann von Gott zu sich geholt, um ihmden Tod zu ersparen (vgl. Genesis 5:22-29).

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X. Unter eine üble Herrschaft und gar an einen üblen Ort ...

I Unter eine üble Herrschaft und gar an einen üblen Orthabe ich mein Herz und meinen schwachen Sinn gestellt,indem ich Amor mit seinen törichten Launen gefolgt bin,wie einer, der in seiner Blindheit das erstrebt, was wenig wert ist;ein rechter Narr nur sucht sich gemein zu machen 5mit einer geringen Frau voll verräterischer Tücken;noch närrischer aber ist, der Amor selbst dienen wollte,um in aller Treue seinem Weg zu folgen.

II Und darum sage ich, dass es die Wahrheit ist und kein Spiel:So wie jemand, den man der Folter unterwirft 10und den man durch die schweren Martern dazu bringtin großer Hast Dinge zu sagen, die nicht wahr sind;so rede auch ich Übles, das ich nicht sagen wollte,da ich sehe, wie Amor die Ehrlichen betrügt und hintergeht,indem er sie alsbald zum Lügen zwingt, 15während er die Spitzbuben, Täuscher und Lügner belohnt.

III Über soviel Ungerechtigkeit gerate ich außer mirmit großem Zorn, der mich durchschüttelt und quält,weil Amor allenthalben in die Irre geht,und die einen erhebt, während er die anderen verdirbt; 20sodass ich nun sage, dass das Unheil seinen Lauf nimmt,und kein Gesetz, keine Tugend und keine höfische Zucht hilft dagegen,egal ob einer tadellos kühn, ehrlich oder tapfer ist,seht ihr doch den Fuchs und den Falschherzigen triumphieren.

IV Es wäre besser für mich, wenn ich als Koch dienen müsste, 25dort unten in der Hölle, und diese Tortur ertrüge,als einer undankbaren Dame zu dienenund dass ich so lebte, wie es einst Enoch28 tat;denn von einer Frau, die auf Geschacher aus ist,bitte ich Gott, dass der Tod sie alsbald fällen möge, 30denn sie sorgt dafür, dass auch über die anderen allzuviel Schlechtes geredet wirdund dass manch ein Mann den Geschmack an der Liebe verliert.

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V Keine Frau auf der Welt kann mir von nun annoch Gelb für Weiß verkaufen, und wäre sie auch noch so weise,sondern ich bin nun fast soweit, einen Schwur zu leisten, 35dass ich mich von allem fernhalte, was auch nur mit ihr in Verbindung stünde,wenn es so sein sollte, dass sie alle derlei Waren feilhalten;doch das glaube ich nicht und wollte es auch nicht glauben,noch glaube ich, dass alle Frauen das Böse wollen;die meisten aber sündigen, davon bin ich überzeugt. 40

KEHRVERS

VI Amor, Amor, ein Tor ist, wer Euch vertraut;Euch, oder sonst irgendeiner Frau, die sich nach Worten wandelt;wer am wenigsten Euch sucht und liebt, gewinnt Eure Gunst,und der, der bereit ist, Euch allezeit zu dienen, verliert sie.

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XI. Eine edle Frau hat mir mein Herz und meine Augen ...

I Eine edle Frau hat mir mein Herz und meine Augenund meinen treuen Verstand so sehr in ihren Liebesbann geschlagen,dass sie nun Tag und Nacht darüber debattieren,wer von den Dreien sie am treuesten lieben wird;und ich sehe, dass jeder dieser Drei derart entflammt ist, 5dass all mein Wissen mir nicht dabei hilft, sie zu befrieden.Und seht, in was für ein Spiel sie mich verwickelt hat,dass ich schwacher Mensch es kaum noch werde ertragen können.

Augen:II Die Augen sagen, dass es nichts zu debattieren gibt,

denn sie waren schließlich die ersten, die sie auserwählten 10und die sie, zu ihrer Lust, mehr liebten als alles andere,denn manche Nacht müssen sie weinendim Bett erwachen, weil sie von derart großem Sehnen erfasst werden,diejenige zu erblicken, für die sie leben und sterben;und darin haben sie so vollständig recht, 15dass kein Mensch auf der Welt ihnen widersprechen kann.

Herz:III Das Herz spricht ohne Zögern, dass die Augen sehr gut wissen,

wie es gleich zu Beginn durchbohrt wurdevon einem süßen Blick; von diesem ist das arme nun entbranntim Liebesfeuer, darin es ohne Unterlass sich verzehrt, 20ohne sich von irgendeiner Seite Hilfe erhoffen zu dürfen;so hat das Herz die Qual, die Augen aber die Lust;weshalb es nur recht und billig ist, dass ihm auch der beste Teil gebührt,vor den anderen – wenn sie denn gerecht sein wollten.

Verstand:IV Der Verstand spricht, mit Gottes Hilfe, 25

dass weder die Augen noch das Herz mit gutem GrundRechte beanspruchen können, denn er selbst schafft esweder am Tag, noch am Morgen, noch am Abend zu verhindern,dass er sich, sei es schlafend oder wachend, fragen muss,was sie tut, wo sie ist und ob sie ihn noch liebt; 30und dass er von ihnen Dreien die größten Qualen leidet;weshalb er ihr ganz allein und ohne die anderen huldigen wird.

V So seht ihr denn, in welcher großen Notich jeden Tag lebe durch eine schöne Frau:Zum einen sehe ich die Augen, wie sie weinen; 35zum anderen das Herz voll Furcht, dass es vergeht;und den Verstand, der sich in Grübelei ergeht.So sehr, dass ich nicht wüsste, wer mir in dieser Angelegenheit helfen könnte,

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als nur wenn diejenige selbst, die sie in diesen Zustand versetzt hat,mir helfen wollte in der Qual, die ich durchleide. 40

KEHRVERS

VI Frau Isabel, wenn Euch mein Wohl am Herzen liegt,so bitte ich Euch um Euer klares Urteil darüber,welcher der Drei von Euch geliebt werden sollte,denn ihr habt sie kräftig aus dem Takt gebracht.

ZWEITER KEHRVERS

VII Denn ich schwöre, ich bin so völlig aufgelöst, 45seit ich Euch nicht mehr sehe, dass die Drei mir rundheraus gesagt haben,falls Ihr Euch nicht bald erklärt,werden sie mich in Kürze in den Sarg bringen.

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XII. Sehnsucht, Leiden, Schmerz und Begehren

I Sehnsucht, Leiden, Schmerz und Begehrenhaben mich überfallen, seit ich mich von Euch entfernt habe,so sehr, dass nichts mehr sonst mein Interesse wecktund alles Schöne, das ich sehe, mir widerlich erscheint.So sehr hat Euer Abschied mich verletzt, 5dass ich wehmütig werde, Euch nicht mehr wie sonst zu sehen,und wegen des großen Schmerzes entringt sich mir manch Seufzer,dass ich schon fürchte, das Sehnen könnte mich töten.

II Ach edle Frau, als ich von Euch schiedund Euch oben auf Eurem Turm sah, 10glaubte ich zu sterben, so großen Schmerz empfand ich:so sehr bedrängte mich Amor mit seiner Macht.Doch, selbst ein Bezwungener, bezwang ich da mein Wollenund nahm Abschied von Euch, Freude meines Lebens,klagend, weinend und mit großer Verzweiflung, 15den Tag meines traurigen Aufbruchs verfluchend.

III Wenn ich seitdem auch voll Missmut gelebt habeüber die Neider, die Euch von mir entfernten,so musste ich Euch doch nur wiedersehenund sofort hatte ich alles andere vergessen; 20doch nun sehe ich mich aller Freude beraubt,beladen mit Liebe und arm an Glück,da ich Euch nicht sehe, die ich treulich liebe,und ich werde daran zugrunde gehen, wenn es noch lange so weitergeht.

IV Wenn ich mich an den Abschied erinnere 25und an Euch denke, so meine ich Euch klar zu sehen;in diesem Moment läuft mir eine Trauerdurch den ganzen Körper, die mir die Augen tränen lässt.Dann wende ich mich an mein Herz und es fragt michmit rauher Stimme: „Ach, wo ist meine Herrin? 30Wo ist mein Glück? Warum sterbe ich vor Sehnen,sie zu sehen?” So sehr vermisst es Euch!

V Auch sehe ich Euch des Nachts in meinen Träumen,woraus mein Leib ein wenig Erquickung schöpft;und den Tag darauf bin ich ganz fröhlich und denke, 35dass ich zusammen gewesen bin mit Eurem schönen Leib.Daher flehe ich Euch an, Euer Herz jeden Tagfür eine Stunde auf mich zu wenden, in alter Vertrautheit;denn ich liebe Euch mehr und mehr, bei meinem Glauben,und entflamme immer mehr durch Eure Gunst. 40

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KEHRVERS

VI Isabel, eine solche Macht habt Ihr über mich,dass ich in schlimmen Qualen lebe, wenn ich Euch nicht erblicke;doch sobald und so schnell wie ich kann,will ich gehen und schauen, wie Eure Haltung ist.

KEHRVERS

VII Denn mein Leib ist so erzürnt mit mir 45und so empört über Eure Abwesenheit,dass er mich töten will, und er sagt, bei seinem Glauben,dass er mir nicht mehr wohlgesonnen sein wird, bis er Euch erneut erblickt.

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XIII. Kein Mann gefällt mir, der nicht in allen Dingen ...

I Kein Mann gefällt mir, der nicht in allen Dingentreu und rein ist wie die feine Balkenwage;noch gefällt mir der Mann, der fünf Tage die Wochelügt in seinen Worten und dann unter die Liebenden Aufnahme finden will;noch gefällt mir der Mann, der mir Federn und Stroh 5aus dem Gewand zieht oder mit Zweikämpfen prahlt;noch gefällt mir der Mann, der keine Scham kenntund alles in sich hineinschlingt wie ein Storch.

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29 Anspielung auf den condottiere Muzio Attendolo Sforza (1369-1424), bei dessen handstreichartiger Eroberungder Stadt Neapel Jordi und viele andere aragonesische Adlige in Gefangenschaft geraten waren.

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XIV. Ohne Freunde, Güter und ohne meinen Herrn ...

I Ohne Freunde, Güter und ohne meinen Herrn,an fremdem Ort und in einem fremden Land,weit entfernt von aller Freude und erschöpft von Kummer und Trauer,mein Wollen und Denken in Gefangenschaft,finde ich mich völlig einer böswilligen Macht unterworfen, 5ich sehe niemand, der sich um mich sorgte,und ich werde bewacht, eingeschlossen, in Eisen geschlagen und eingekerkert,wofür ich meinem traurigen Schicksal zu danken habe.

II Ich habe Zeiten gesehen, da nichts mir Freude machte,jetzt bescheide ich mich mit dem, das mir Trauer schafft, 10und über leichtere Ketten freue ich mich mehrals einstmals über schöne Stickerei.Nun sehe ich, wie Fortuna mir ihren Willenaufzwingt, indem sie mich hierhin gebracht hat;doch kümmert es mich nicht, denn ich habe meine Pflicht 15gegenüber all den guten Kameraden erfüllt, in deren Gesellschaft ich mich befinde.

III Denn ich schöpfe Trost daraus, dass ich für meinen Herrnin Gefangenschaft geriet, während ich ihm so treu diente, wie ich nur konnte,von Waffen überwältigt und von überlegener Macht,und nicht durch ein Versagen in meiner Ritterlichkeit. 20Und ich schöpfe Trost, da man nichts gewinnen kann,ohne dabei auch Mühen zu ertragen,doch fürchte ich andererseits, vor Trauer fast zu sterben,wenn ich sehe, wie die Welt sich mit dem Gegenteil bescheidet.

IV All diese Übel ertrage ich ohne Klagen 25angesichts dieses einen, das mir das Herz erschüttertund mich jeden Tag etwas weiter von der Hoffnung entfernt:dass ich nichts sehe, das uns auch nur eine Spanne weit voranbrächteauf dem Weg zu unserer Befreiung,und außerdem sehe ich, was Sforza29 von uns verlangt 30der auf keine Gründe hören mag,sodass meine Tugend und meine Stärke darunter leiden.

V Und darum weiß ich nicht, ob ich derzeit irgendetwas sehe,das meinen Wert auch nur um den einer Apfelsinenschale erhöhen könnte,als nur Gott allein, in dem ich meine Festigkeit suche 35und dem ich vertraue und in dem mein Herz Stärke findet;und andererseits den guten und freimütigen König,der jenem einst in seiner große Gnade zu Hilfe kam,

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der uns alle nun in dieses Übel gestürzt hat;er wird mich daraus wieder befreien, denn ich stehe in seinen Diensten. 40

KEHRVERS

VI Gerechter König und rechtmäßiger Lehnsherr,wir alle richten nur diese eine Bitte an Euch,dass Ihr Euch daran erinnern mögt, wie Euer königliches Blutnoch nie den im Stich ließ, der auf Eurer Seite stand.

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XV. Jeden Tag lerne und verlerne ich zugleich ...

I Jeden Tag lerne und verlerne ich zugleich,und lebe und sterbe und mache aus Verdruss Vergnügen,genauso mache ich auch aus schlechtem gutes Wetter,und sehe ohne Augen und weiß, ohne zu wissen,ich ergreife nichts und umarme die ganze Welt, 5fliege durch den Himmel und verlasse nicht den Boden,und was mich flieht, verfolge ich ohne Unterlass,und es flieht mich das, was mich verfolgt und festhält.

II Ich hasse das Böse und strebe oft danach,ich liebe ohne Liebe und glaube nicht, was ich weiß, 10mir scheint, dass ich all das erträume, was ich vor meiner Nase sehe,ich hasse mich selbst und wünsche anderen großes Glück,ich spreche schweigend und höre, ohne zu hören,„ja” klingt mir wie „nein”, Wahrheit scheint mir Irrtum zu sein,ich esse ohne Hunger und kratze, wo nichts juckt, 15ich taste ohne Hände und verdrehe Vernunft in Tollheit.

III Will ich nach oben gehen, steige ich hinab, ohne mich umzudrehen,und wenn ich hinabsteige, laufe ich rasch an einen hohen Ort,und lachend weine ich, Wachen ist mir Schlaf,und wenn mir kalt ist, fühle ich mich heißer als das Feuer, 20bei vollem Bewusstsein tue ich, was ich nicht will,ich verliere im Siegen und die Eile hält mich auf,ich leide häufig ohne jeden Schmerzund halte das milde Lamm für den falschen Fuchs.

IV Lege ich mich hin, so stehe ich dabei auf; beim Anziehen entkleide ich mich, 25große, schwere Last erscheint mir leicht,und wenn ich bade, werde ich nicht nass,und süßer Zucker schmeckt mir wie bittere Galle,der Tag ist mir Nacht und ich mache hell zu dunkel,die Vergangenheit ist mir stets Gegenwart 30stark ist mir schwach und weich erscheint mir hart,ohne dass ich fehlte fehlt mir, was mir bleibt.

V Ich rühre mich nicht vom Fleck und bleibe doch nie stehen,was ich nicht suche, finde ich sofort,dem ich misstraue, öffne ich mich ganz, 35das Tiefe scheint mir hoch, das Ferne nah,ich suche ständig, was man nicht finden kann,fest gegründet erscheint mir das Schwankende,das tiefe Wasserloch verwechsle ich mit einem Bergbach,und meine Tugend nützt und hilft mir nicht. 40

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VI Wenn ich singe, glaube ich, dass ich zu heulen beginne,und das Schöne scheint mir rauh und hässlich,ich kehre an Orte zurück, bevor ich sie aufsuche,und ich habe weder Frieden noch jemand, der mich bekriegte.All das widerfährt mir, wenn ich sehen muss, 45wie Welt und Natur von Widersprüchen entflammt sind,und ich bin so verwickelt in all ihr Wirken,dass ich nicht anders kann, als maßlos zu leben.

KEHRVERS

VII Ein jeder nehme sich das, was ihm am besten gefälltvon meinem Gedicht, dessen Verse verkehrt herum geschrieben sind: 50und wenn ihr es vorwärts und rückwärts betrachtet,könnt ihr aus dem Verqueren das Richtige erkennen.

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XVI. Der Geldwechsler [Da Ihr, wie es scheint, im Wechseln so erfahrenseid ...]

I Da Ihr, wie es scheint, im Wechseln so erfahren seidund von jeder Münze wisst, welchen Wert sie hier hat,so habt ihr damit schon ein tüchtiges Kapital,wenn nur der Wechseltisch lange genug hält;an Kunden für gute Geschäfte wird es Euch nicht mangeln; 5von mir allerdings glaube ich nicht, dass Ihr noch etwas gewinnen könnt.Ihr werdet Euer Kleingeld nicht mehr mischenin meine Gulden mit verlässlichem Gewicht.

II Schwere Florine, Dukaten, Dobles und Escuts,halbe Florine, Kreuzer, Malles und Dinare 10mischt Ihr in Eurer Speisekammer durcheinander,denn ihr mögt es nicht, genau abzurechnen;und ich glaube, dass das an der Freiheit Eures Herzens liegt.Doch ich schwöre Euch bei Gott:Ihr werdet Euer Kleingeld nicht mehr mischen 15in meine Gulden mit verlässlichem Gewicht.

III Einen Florin weiß ich, der überallin diesem Land elf Sous wert ist, oder sein Gewicht,und ihr gebt ihn her für einen Dinar aus Jacaund schert auch nicht darum, ob er nur wenig oder sogar viel wertvoller ist. 20Gewiss macht Ihr damit nun einen Gewinn wie Hans-im-Glück,aber Eure Angelegenheiten kümmern mich nicht.Ihr werdet Euer Kleingeld nicht mehr mischenin meine Gulden mit verlässlichem Gewicht.

IV Ein feiner Dukat, was der wert ist, weiß man wohl, 25und einen Escut oder eine Dobla, die aus feinem Gold ist,wechselt ihr gegen einen mallorquinischen Kreuzerund gegen rossellonesische Pfennige oder die mit dem Königskopf.Würde jemand Euch auf Geschäftsreise nach Flandern schicken,so glaubt bei Gott nicht, dass ich dort auch nur ein Drittel davon investieren wollte. 30Ihr werdet Euer Kleingeld nicht mehr mischenin meine Gulden mit verlässlichem Gewicht.

V Doch da Ihr Euch auf das Prüfen des Metalls sehr geschicktversteht und ich von Euch andere Qualitäten nicht kenne,und Ihr die Guten schon wacker geprüft habt, 35und von solcher Art seid, dass Ihr das Beste nicht wählt,so denkt ja nicht, dass ich dies um meinetwillen sage,denn, meiner Treu, diese Ehre will ich Euch nicht erweisen.Ihr werdet Euer Kleingeld nicht mehr mischenin meine Gulden mit verlässlichem Gewicht. 40

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KEHRVERS

VI „Geldwechsler”, Ihr seid so gutgläubig,dass Gut und Schlecht Euch einerlei erscheint.Ihr werdet Euer Kleingeld nicht mehr mischenin meine Gulden mit verlässlichem Gewicht.

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XVII. Die Ärgernisse [Der Ärger, Feind der Jugend ...]

I Der Ärger, Feind der Jugend,Bekämpfer des Denkens,ärgert mich so sehr, dass ich nichts Schönes

mehr sehen kann;so viel Verdruss bereitet er mir oft, 55dass er mir das Herz aus seiner Behausung

springen lassen will.An erster Stelle ärgere ich michüber die Welt, der es gefällt, viele maßlose Dingezu ertragen, die ich in ihr 10

geschehen sehe.Darum ärgere ich michüber die Welt,mal geht sie hinauf,dann wieder herab, 15und am Endevon Ende zu Endegibt es nichts Edles,

sondern alles ist heruntergekommen und erbärmlich.

II Und deshalb ärgere ich mich auch immer mehr 20über die Liebe, die sich so übel aufführt,und über manch einen Toren, der sich selbst lobt

und doch noch nie etwas Anständiges vollbracht hat;über andere, die sich über die Liebe beklagen,obwohl ihr Herz dieses Gefühl noch nie empfunden hat, 25

oder auch nur wüsste, was es damit auf sich hat.Und es scheint mir ein großes Ärgernis,wenn ich mit der zusammen bin, die ich über alle liebe,und ihr wegen anderer Leute nichts sagen darf

von meinem Sehnen. 30Ein anderes, noch vielschlimmeres Ärgernisist es, allzu lange auf das zu warten,das nicht kommt;und mich ärgert der Langweiler 35ohne Witz,voller Blödheit,

der sich als Charmeur aufspielt.

III Ein anderer Ärger überfällt mich oft:dass mich, wenn ich irgendwo zu sprechen habe, 40einer gerade dann unterbricht, wenn ich meine Gedanken gerade

bestmöglich zu formulieren versuche.Oder auch, wenn ich etwas Kluges sage

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30 Leichtes Reisepferd, das die den Reiter schonenden Zeltgangarten Pass und Tölt beherrscht. Das eigentlicheSchlachtross des Ritters eignete sich nicht für die Reise und wurde nebenher geführt.

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in einem Kreis, wo niemand derlei versteht –das deprimiert mich –, 45

und wenn ich meine Ansicht einem darlege,der ungehobelt ist und zu allem nein sagt.Den Feinden von Schlussfolgerungen

gilt mein Ärgerund ich ärgere mich sehr. 50Ein anderes Ärgernis finde ich,worüber ich mich über die Maßen ärgere,wenn ich einen finde,den ich nicht magund der mir gegen meinen Willen 55seine Begeisterung erklärt über etwas,

das mein Herz mit großer Freude erfüllt.

IV Außerdem ärgert es mich, des Nachts zwischen zwei anderen in einem zu kleinen Bett schlafen zu müssen;und mehr noch, wenn ich dabei angezogen und in Stiefeln liege 60

und es eng ist.Noch mehr ärgert mich und macht mir Verdrussein Mann, der faul ist, schläfrig

und und ständig fröstelt.Sodann ärgert es mich, wenn ich einen privaten 65Brief mit meinen eigenen Angelegenheiten schreibe,dass ein geistloser Rüpel sich in Dinge mischt,

zu denen ich ihn nicht eingeladen habe.Dazu noch Kindergeschrei,Schlafen auf einem Tisch, 70und mich nach Sonnenuntergangunwohl zu fühlen,während ich mit einer Dame allein bin;hinter Schloss und Riegel zu sitzenoder wenn mein Schlachtross 75

Hufnägel verliert, während ich in die Schlacht reite.

V Über andere Ärgernisse will ich klagen,die mir das Herz haben altern lassen:ein Rüpel, der alles selbst sagen,

aber nicht zuhören will; 80oder wenn ich dem langen Sermon eines Toren zuhören muss;oder mit einer schmutzigen Frau zu schlafen,

wenn es sich so ergibt;oder auf einem ruppigen Zelter30 zu reiten,der kaum vorankommt und nicht vernünftig töltet; 85

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31 Der Tjost war der ritterliche Zweikampf, bei dem zwei Reiter in voller Rüstung auf Schlachtrössernaufeinander zu galoppierten, um den Gegner mit der Stoßlanze aus dem Sattel zu werfen.

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oder ein kläffender Köter in der Morgendämmerung;oder wenn ich Umgangmit einem Geizhals haben muss:Der bleibe mir vom Hals!Oder die Junisonne, 90oder der Helm, wenn ich tjoste,31

und außerdemeine Frau, die ihre Liebein alle Richtungen verteilt

und dabei alle Scham vergisst. 95

VI Außerdem ärgert es mich auf den Tod,auf offener See in einer großen Flaute zu liegenund zusammengepfercht und ohne Komfort

Unbilden zu erdulden;oder schiefen Gesang hören zu müssen; 100oder im Winter einen Pass zu erklimmen,

während es stürmt;oder wenn ein lästiger Wind weht;oder durch Sand marschieren zu müssen;oder Rauch ohne Feuer in einem Haus; 105

oder wenn man allein gehtauf einem geraden Wegund ihn dann aus dem Auge verliert;oder wenn man mich weckt,wenn ich offensichtlich gerade tief schlafe; 110oder wenn ein Mann, der beim besten Willennicht meines Gleichen ist,sich mir bei bestimmter Gelegenheit

anbiedert und sich an mich hängt.

VII Außerderm ärgere ich mich – und es ist Reden zur Unzeit –, 115wenn ich beim Würfelspiel sitze und irgendeine Nervensägemich anspricht; wenn er sich neben mich setzt,

ist mir das ein Ärgernis;oder im Hochsommer weit reisen zu müssen;oder einen zerrenden Habicht auf der Faust zu tragen, 120

der wild und unruhig ist;oder zusammen mit einem Mann zu schlafen, der Husten hat;oder einen allzu zänkischen Alten zu ertragen;oder einen neidischen Speichellecker;

oder über die Mücken, 125wenn ich des Nachtstief schlafe;

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32 „Leich” ist der (mittelhoch)deutsche Name einer mittelalterlichen Liedform, die auf den altokzitanischen bzw.altfranzösischen lai zurückgeht.

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und über den Kranken,der allzusehr jammert;keine Lanze zu tragen;oder über hartes Brot, 130das zu lange reichen muss;

oder innerhalb einer erbärmlichen Stadtmauer zu leben.

VIII Oh, wieviele Ärgernisse habe ich ertragen,die ich noch gar nicht alle habe sagen können! 135Am stärksten ärgert ein Mann mit Hummeln im Hintern,

der zugleich unwissend und blöde ist.oder Kleidung, die fadenscheinig wird;oder Matsch in Nächten mit Nieselregen,

auf dem ich ausrutsche; 140oder wenn jemand nein sagt, den ich um etwas gebeten habe;oder wenn ich meinen Schuldnern zu oft begegne;oder eine Frau mit magerem, trockenem Leib;

oder umständliche Ratschläge,um die ich nicht gebeten hatte; 145oder ganz alleine zu schlafen;oder wenn ich nur höre,[......................................]oder mit viel Vernunfteine Frau zu lieben, die zeigt, 150dass sie wenig Vernunft besitzt;

oder ein Schwächling, der einen vorwurfsvoll anschaut.

IX Von allen Ärgernissen, die ich genannt habe,kenne ich keines, das schlimmer und hochmütiger wäreals die Armut, die jedermann, Groß und Klein, 155

Furcht einflößt;oder wenn Fortuna mit ihrem Schwertzuschlägt: Wie es ihr gerade in den Sinn kommt,

erhöht sie den,der nicht mehr wert ist als ein Hackklotz, 160während sie pures, fein gewirktes Goldzu Boden wirft und verdirbt,

sie schert sich um kein Gesetz,Recht oder Gnade;wir sollten daher alle 165Gott loben, der allein ihr nichts schuldet.So ende ich denn,mein Leich32 geht zu Ende,

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möge ein jeder 170das tun, wohin seine Neigung ihn bewegt.

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33 V. 1-2 sind die Anfangsverse einer berühmten Kanzone des katalanischen Trobadors Guillem de Berguedà.34 V. 8-9: Jordi zitiert hier zwei Verse aus einem Gedicht einer unbekannten Trobairitz.35 Dieses „Zitat” besteht möglicherweise aus der Verschmelzung mehrerer Textstellen, von denen nur v. 32 als

Anfangsvers einer bekannten Kanzone von Arnaut de Maruelh identifiziert werden kann.

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XVIII. Pacio amoris secundum Ovidium [Wenn ich sehe, wie dasWetter umschlägt und sich verdunkelt ...]

Wenn ich sehe, wie das Wetter umschlägt und sich verdunkeltund wenn ich weder Vogelgesang, noch Volten oder Leichs höre,33

dann überkommt mein Herz eine große Erschütterung,wenn ich mich erinnere,wie Jesus aus Liebe den Tod empfing 5und auch die Heiligen,und ich denke an das wohlige Sehnen,das die Liebe mir bereitet,weshalb ich nun Ovid anrufen will,mit diesen Worten: 10Liebe entsteht in einem reinen Herzen,in einem wahrhaftigem,und nicht in einem falschen oder verlogenenoder wankelmütigen;und sobald es sich solcher Dinge schuldig macht, 15so kann dies nicht mehr Liebe heißen,denn dort, wo solche entsteht und wohnt,bleibt sie doch nicht.So wie die Natur die vier Winde schuf:je stärker jeder weht, umso größer wird ihre Macht,34 20so ist die Liebe Wissen und Machtbegründet in Weisheit,und wegen ihrer Vortrefflichkeitleidet sie keine Unehrlichkeit;sie pflegt völlige Offenheit 25und liebt den Geliebtenund hält ihn von Unbill fern.Außerdem will ich, dass ihr wisst,dass Liebe Freundschaft istgegenüber all denjenigen, die ich verliebt weiß 30und sie will nichts wissen von Beleidigung und Heimtücke,wie einer, der liebt, aber dessen Liebe nicht erwidert wird.35

Und darum hat sie nahe bei sicheinen Palast geschaffen,zu dem zwei Portale Einlass gewähren, 35und in der Mitte einen Wehrturm –hochgebaut, stolz und schön;dort befindet sich der Gott der Liebeund darinnen wohnt Vortrefflichkeit,

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36 Zitat der ersten beiden Verse einer berühmten Kanzone von Bernart de Ventadorn.37 Zitat der ersten beiden Verse einer weit verbreiteten Kanzone des Rigaut de Berbezilh.38 Riquer / Badia (1984:275) sind ratlos und erkennen keine inhaltliche Verbindung zwischen dem Zitat und

seiner Fortsetzung durch Jordi. Wir schließen uns ihnen darin an.39 Zitat unbekannter Herkunft.40 Selbstzitat Jordi de Sant Jordis (Anfangsverse von Gedicht Nr. IX).41 Nicht identifiziertes Zitat.

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die mit lauter Stimme ruft: 40

„Es ist kein Wunder, wenn ich bessersinge als jeder andere Sänger”.36

[.............................................]Durch das eine Portalmüsst ihr eintreten, welches sich 45Freude nennen lässt;und durch das andere tretet ihr wieder hinaus,welches sich Trauer nennt.[.............................................]Gerade so, wie der Elefant, 50der sich, wenn er fällt, nicht mehr erheben kann,37

so geht es dem, der durch die Pforte eintreten will,38

wo Freude ist,die ihn alsbald liebevoll und freudigauf seinem Weg führt, 55mit Vogelsang und MelodienUnd sie führt ihn weiterhinauf zu der höchsten Pforte,wo eine wunderschöne Stimme singt:„Garten der Liebe, wo sich die edle Pflanze findet, 60die voller Anmut sprießt und Knospen treibt”.39

Dort muss er nun bleiben,denn Freude folgt ihm von hier an nicht mehr,weil nun alsbald Begehren erscheintund ihn mit vielen Ehren in Empfang nimmt. 65[.............................................]Der Liebende spricht aus treuer Freundschaft:„Hinter meiner Stirn trage ich Euer holdes Bildaus dem ich mir Tag und Nacht große Freude schöpfe”.40

Das Begehren, mit wachem Verstand 70sagt zu dem Liebenden: „Freund,[.............................................]ich habe sagen hören als etwas, das wahr ist:Für einen Toren halte ich den, der zwar liebt, aber keine Damefür sich beansprucht und keiner vertraut.41 75Und darum will ich dich vorunseren Gott bringen, [.............................................]

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42 Die Verse 86f. und 90f. sind zwei weitere nicht identifizierbare Zitate.43 Dies sind die Anfangsverse einer Kanzone von Folquet de Marselha: „Be an mort mi e lor / mei huel galiador”.44 Nicht identifiziertes Zitat.

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denn so soll es sein.”Sobald er sich vor seiner Majestät findet, 80kniend,spricht der Gott der Liebe: „Willkommen seid mir,der Ihr neu hier eingetroffen seid.”Der Liebende antwortet freundlich,ohne ein weiteres Wort mehr: 85„Von Euch gehen die Begierden aus,die mit liebenden Seufzern in mein Herz dringen”.Und da er sich so reich beschenktund froh fühlt, wird er furchtsam,zögerlich und entschlossen, kühn und feige, 90traurig und froh, geizig und freigebig und linkisch.42

[.............................................]Schmerz entsendet daraufhin alsbaldzwei Schmeichelredner,Neid und Lästerzunge, 95und befiehlt jedem der beiden, ihn zu packenund hinauszuwerfen;und, ohne das Übel noch hinauszuzögern,wird er tatsächlich gepackt,gebunden, geprügelt und misshandelt. 100und er ruft unter Schmerzen:„Mich und sich selbst haben sie getötet,meine treulosen Augen”.43

Er wendet seine Augen dem Liebesgott zu,ob der ihn verteidigt 105oder ob Begehren ihm zur Hilfe eilt;und damit machen sich diese davonund niemand kümmert sichum sein Leid.Er spricht: „So viele Sorgen erfüllen mein Herz, 110wenn ich sehe, wie die Zeiten sich nun geändert haben,dass meine Freude sich in Traurigkeit gewandelt hatund das Glück mich immer mehr flieht”.44

Und sie tragen ihn fort in seinem erbärmlichen,hilflosen Zustand;und sie prügeln ihn hart, [.......] 115voller Verzweiflung.Er spricht, laut rufend: „O weh, o weh, Begehren!Die Liebe ist wahrlich verloren

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45 Dies sind die Verse 41 und 38 aus der Lärchenkanzone von Bernat de Ventadorn. Der „Tor auf der Brücke”spielt offenbar auf eine gängige Redensart an; die Torheit besteht wohl darin, die schwankende Brücke hochzu Ross überqueren zu wollen, statt abzusitzen und das Pferd am Zügel hinter sich her zu führen.

46 Die Verse 1-4 eines Gedichts der Trobairitz Clara d’Anduza.47 Nicht identifiziertes Zitat.48 Verse 1-4 und 13 einer Kanzone des rossellonesischen Trobadors Ponç d’Ortafà.

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und ich habe gehandelt, wie der Tor auf der Brücke”.45 120Und mit dieser Anstrengung antwortet erhin zu der Pforte,wo Schmerz wartet, der ihn entmutigtund fragt:„Tor, du hattest den Kopf voller Hochmut; 125wieso musstest dudiesen Ort betreten und was glaubtest du wohl hier zu finden?Sag mir das, ich bitte dich,und auch, warum du derart zugerichtet bist”.Er antwortet, leidend: 130„In große Bestürzung und in große Sorgehaben sie mein Herz gebracht und in großen Irrtum,die Schmeichelredner und falschen Nachschleicher,welche Freude und Jugend in den Schmutz ziehen.46

Seht, wie sie mich heimtückisch 135niedergestreckt haben [............]ich glaube, dass ein jeder verderben muss,der diesen langen Weg beschreitet.Denn es geht mir, wie der Binse,die weder Frucht, noch Blätter, noch Blüten trägt”.47 140Schmerz lässt nicht länger zu, dass er aus Furchtdort länger verweilt,um auf seine Vorrechte zu pochen.sondern er schiebt ihn heftig,grausam und voll Zorn 145zur Pforte hinaus.Und er schließt die Pforten des Palastesund verharrt dort,indem er in laute Verzweiflungsrufe ausbricht:„So sehr habe ich den Verstand verloren, 150dass ich mit Mühe noch weiß, wo ich bin,woher ich komme, wohin ich gehe,was am Tage tue und in der Nacht,denn betrogen sehe ich mich in dem, was ich geglaubt hatte”.48

Finit