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36 Lebensmittel Zeitung LZ 5 3. Februar 2012 JOURNAL W ozu Ehrenpräsident und Mitgründer, wenn sich beim 50. MMM-Kongress nicht die Erinnerung übermächtig zu Wort melden würde! Unsere fünfzig Jahre sind zwar nur ein Teil einer unge- wöhnlichen Entwicklung in Handel und Wirtschaft, aber doch ein sehr sig- nifikanter. Das Wirtschaftswunder hatte begonnen. Seinem Erfinder, dem Bundeswirtschaftsminister Lud- wig Erhard, saß ich 1952 zu einem In- terview gegenüber. Seine Botschaft vom Wettbewerb war noch recht be- fremdend für meine Leser im Lebens- mittelhandel. Für die wachsende Güterfülle wa- ren ihre Läden viel zu klein, 30 bis 60 Quadratmeter die Regel, 180000 Ver- kaufsstellen im damaligen Bundesge- biet. Ihre Inhaber folgten nur zögernd und unwillig dem Zug der Zeit: Um- stellung auf Selbstbedienung. Noch 1958 beriefen sie sich auf eine Mei- nungsbefragung, wonach 85 Prozent der Hausfrauen diese neumodische Art des Einkaufens ablehnten. Dabei gab es in der benachbarten Schweiz längst ein Vorbild, die Migros mit ih- rem Gründer Gottlieb Duttweiler. Freier, ungehinderter Zugang zur Ware in ungewohnter Fülle, dafür gab es 1955 erst 738 Selbstbedienungsge- schäfte. Drei Jahre später waren es schon fast 10000, weitere vier Jahre danach 40 000. Bis Ende 1967 verdop- pelte sich die Zahl auf 80314 bei im- merhin noch fast doppelt soviel Le- bensmittelverkaufsstellen. Für Selbst- bedienung begann dann gegen Ende der 50er-Jahre die NCR (National Cash Registers) in Augsburg kräftig zu wer- ben. Erfüllt vom Geist ihrer amerika- nischen Muttergesellschaft, die an ih- rem Stammsitz in Dayton/Ohio ein in- ternationales MMM-Seminar betrieb, und, naheliegend, interessiert an den Checkouts von SB-Läden, sammelte und stärkte sie die fortschrittlichen Kräfte des Handels. Ihrer Initiative ist die Gründung des MMM-Clubs e.V. zu verdanken, dem Träger künftiger MMM-Kongresse, immer Anfang Fe- bruar, immer in München. Fortschrittliche Kräfte am Werk Jenes MMM-Seminar mit seinem fas- zinierenden Bernardo Trujillo in Day- ton/Ohio war die Keimzelle der welt- weiten Supermarkt- und SB-Waren- haus-Entwicklung. Was in Schweden, Frankreich oder Belgien entstand, be- rief sich darauf. Die NCR hatte1962 ei- ne stattliche Delegation aus dem bun- desdeutschen Handel zur Studienreise in die USA eingeladen. Höhepunkt: Vier Tage MMM-Seminar in Dayton. Zu den Teilnehmern gehörten Karl Schmitz-Scholl, der Tengelmann-In- haber (Großonkel von Karl Erivan Haub), Peter Wehrhahn, Filialbetrieb Schätzlein, Edeka-Verbandsdirektor Erich H. Diederichs mit zahlreichen Geschäftsführern der Edeka-Genos- senschaften, Christian Metzen, Kon- sum Duisburg, Rudolf Wanzl, der da- nach den kleinen Schlossereibetrieb seines Vaters in Leipheim zum inter- nationalen Hersteller von SB-Körben, bald danach von SB-Wagen machte. Ich war auch dabei, meine erste USA-Reise, sieben Stunden Flug nach New York mit der Super Constellation, vier Propeller. Großes Erstaunen ob der Dimensionen amerikanischer Su- permärkte und Discountwarenhäuser. Neben mir der kleine Dr. Brinkmann, Filialbetrieb Ww. Kremenz, Euskir- chen: „Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Wenn das bei uns soweit ist, bauen andere und wir mieten.“ Als un- ser Mitglied Kurt Dohle, ebenfalls Teilnehmer jener Studienreise, auf unserem 25. MMM-Kongress über sei- ne HIT-Märkte berichtete, sagte er: „Begonnen hat das alles mit dem le- gendären Bernardo Trujillo, dem Papst der modernen Marktmethoden, wie man ihn vor 25 Jahren in den USA nannte. Er begeisterte uns mit seinen Vorträgen und war voller Beispiele da- für, wie man mit unkonventioneller Vertriebspolitik hohe Umsätze mach- te. Inseln der Verluste zu bilden im Meer der Gewinne, war seine Empfeh- lung.“ Der erste MMM-Kongress trug denn auch noch ganz die Handschrift der NCR. Ihr Generaldirektor, Wil- helm Leo Rohm, sprach über „Revolu- tion und Evolution im Handel“, Fried- rich Wilhelm Seitz, Direktor der Krupp-Konsum-Anstalt in Essen, über „Entwicklung und Stand des Super- marktes“, Franz Staudacher, NCR, über „Wandlungen des US-Discount- hauses“ und Clemens Bette aus Her- ford über „Moderne Verkaufsmetho- den eines Textilkaufhauses (Klingen- thal)“. Alles schön und gut, aber der Mo- derator, der alles präsentieren und für Große Nachfrage: Der MMM-Kongress in München erfreut sich größter Wert- schätzung. Schon früh sind die Plätze vergeben. Theo Werdin erinnert an die ebenso spannende wie wechselvolle Geschichte des MMM-Clubs. „Es gab wenig, wo wir nicht hineinschauten“ Theo Werdin, der Autor dieses Bei- trages, leitete die Redaktion der Lebensmittel Zeitung von1966 bis 1984. In dieser Zeit prägte er eine Grundhaltung, die die Redaktion im Bemühen um eine unabhängi- ge und eigenständige Beobach- tung und Interpretation der Bran- chenwirklichkeit noch heute lei- tet. Der Lebensmittel Zeitung und dem Deutschen Fachverlag blieb Werdin auch nach seiner Zeit als Chefredakteur verbunden, zu- nächst als Herausgeber, danach als Ratgeber und Kommentator, schließlich als langjähriger Präsi- dent und heutiger Ehrenpräsident des Münchner MMM-Clubs. Wer- din, der im vergangenen Jahr sei- nen 90. Geburtstag feierte und bei München lebt, hat den seit 1962 bestehenden „Club für Moderne Markt Methoden“ zu einer wichti- gen Kommunikationsplattform der Konsumgüterbranche ausge- baut. lz 05-12 THEO WERDIN Vielseitiger Kommunikator Werdin: Stets am Puls der Zeit FOTO: LZ-ARCHIV FOTO: MATTHIAS RICHTER

JOURNAL LZ 5 „Esgabwenig,wowir nichthineinschauten“ · Theo Werdin erinnert an die ebenso spannende wie wechselvolle Geschichte des MMM-Clubs. ... an„wahreSternstunden“.Joachim

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Page 1: JOURNAL LZ 5 „Esgabwenig,wowir nichthineinschauten“ · Theo Werdin erinnert an die ebenso spannende wie wechselvolle Geschichte des MMM-Clubs. ... an„wahreSternstunden“.Joachim

36 Lebensmittel Zeitung LZ 5 3. Februar 2012J O U R N A L

Wozu Ehrenpräsident undMitgründer, wenn sich beim50. MMM-Kongress nicht

die Erinnerung übermächtig zu Wortmelden würde! Unsere fünfzig Jahresind zwar nur ein Teil einer unge-wöhnlichen Entwicklung in Handelund Wirtschaft, aber doch ein sehr sig-nifikanter. Das Wirtschaftswunderhatte begonnen. Seinem Erfinder,dem Bundeswirtschaftsminister Lud-wig Erhard, saß ich 1952 zu einem In-terview gegenüber. Seine Botschaftvom Wettbewerb war noch recht be-fremdend für meine Leser im Lebens-mittelhandel.

Für die wachsende Güterfülle wa-ren ihre Läden viel zu klein, 30 bis 60Quadratmeter die Regel, 180000 Ver-kaufsstellen im damaligen Bundesge-biet. Ihre Inhaber folgten nur zögerndund unwillig dem Zug der Zeit: Um-stellung auf Selbstbedienung. Noch1958 beriefen sie sich auf eine Mei-nungsbefragung, wonach 85 Prozentder Hausfrauen diese neumodischeArt des Einkaufens ablehnten. Dabeigab es in der benachbarten Schweizlängst ein Vorbild, die Migros mit ih-rem Gründer Gottlieb Duttweiler.

Freier, ungehinderter Zugang zurWare in ungewohnter Fülle, dafür gabes 1955 erst 738 Selbstbedienungsge-schäfte. Drei Jahre später waren esschon fast 10000, weitere vier Jahredanach 40000. Bis Ende 1967 verdop-pelte sich die Zahl auf 80314 bei im-merhin noch fast doppelt soviel Le-bensmittelverkaufsstellen. Für Selbst-bedienung begann dann gegen Endeder 50er-Jahre die NCR (National Cash

Registers) in Augsburg kräftig zu wer-ben. Erfüllt vom Geist ihrer amerika-nischen Muttergesellschaft, die an ih-rem Stammsitz in Dayton/Ohio ein in-ternationales MMM-Seminar betrieb,und, naheliegend, interessiert an denCheckouts von SB-Läden, sammelteund stärkte sie die fortschrittlichenKräfte des Handels. Ihrer Initiative istdie Gründung des MMM-Clubs e.V. zuverdanken, dem Träger künftigerMMM-Kongresse, immer Anfang Fe-bruar, immer in München.

Fortschrittliche Kräfte am Werk

Jenes MMM-Seminar mit seinem fas-zinierenden Bernardo Trujillo in Day-ton/Ohio war die Keimzelle der welt-weiten Supermarkt- und SB-Waren-haus-Entwicklung. Was in Schweden,Frankreich oder Belgien entstand, be-rief sich darauf. Die NCR hatte1962 ei-ne stattliche Delegation aus dem bun-desdeutschen Handel zur Studienreisein die USA eingeladen. Höhepunkt:Vier Tage MMM-Seminar in Dayton.Zu den Teilnehmern gehörten KarlSchmitz-Scholl, der Tengelmann-In-haber (Großonkel von Karl ErivanHaub), Peter Wehrhahn, FilialbetriebSchätzlein, Edeka-VerbandsdirektorErich H. Diederichs mit zahlreichenGeschäftsführern der Edeka-Genos-senschaften, Christian Metzen, Kon-sum Duisburg, Rudolf Wanzl, der da-nach den kleinen Schlossereibetriebseines Vaters in Leipheim zum inter-nationalen Hersteller von SB-Körben,bald danach von SB-Wagen machte.

Ich war auch dabei, meine erste

USA-Reise, sieben Stunden Flug nachNew York mit der Super Constellation,vier Propeller. Großes Erstaunen obder Dimensionen amerikanischer Su-permärkte und Discountwarenhäuser.Neben mir der kleine Dr. Brinkmann,Filialbetrieb Ww. Kremenz, Euskir-chen: „Da machen Sie sich mal keineSorgen. Wenn das bei uns soweit ist,bauen andere und wir mieten.“ Als un-ser Mitglied Kurt Dohle, ebenfallsTeilnehmer jener Studienreise, aufunserem 25. MMM-Kongress über sei-ne HIT-Märkte berichtete, sagte er:„Begonnen hat das alles mit dem le-gendären Bernardo Trujillo, dem Papstder modernen Marktmethoden, wieman ihn vor 25 Jahren in den USAnannte. Er begeisterte uns mit seinenVorträgen und war voller Beispiele da-für, wie man mit unkonventionellerVertriebspolitik hohe Umsätze mach-te. Inseln der Verluste zu bilden imMeer der Gewinne, war seine Empfeh-lung.“

Der erste MMM-Kongress trugdenn auch noch ganz die Handschriftder NCR. Ihr Generaldirektor, Wil-helm Leo Rohm, sprach über „Revolu-tion und Evolution im Handel“, Fried-rich Wilhelm Seitz, Direktor derKrupp-Konsum-Anstalt in Essen, über„Entwicklung und Stand des Super-marktes“, Franz Staudacher, NCR,über „Wandlungen des US-Discount-hauses“ und Clemens Bette aus Her-ford über „Moderne Verkaufsmetho-den eines Textilkaufhauses (Klingen-thal)“.

Alles schön und gut, aber der Mo-derator, der alles präsentieren und für

Große Nachfrage: Der MMM-Kongressin München erfreut sich größter Wert-schätzung. Schon früh sind die Plätzevergeben.

Theo Werdin erinnert an die ebenso spannende wie wechselvolle Geschichte des MMM-Clubs.

„Es gab wenig, wo wirnicht hineinschauten“

Theo Werdin, der Autor dieses Bei-trages, leitete die Redaktion derLebensmittel Zeitung von1966 bis1984. In dieser Zeit prägte er eine

Grundhaltung, die die Redaktionim Bemühen um eine unabhängi-ge und eigenständige Beobach-tung und Interpretation der Bran-chenwirklichkeit noch heute lei-tet. Der Lebensmittel Zeitung unddem Deutschen Fachverlag bliebWerdin auch nach seiner Zeit alsChefredakteur verbunden, zu-nächst als Herausgeber, danachals Ratgeber und Kommentator,schließlich als langjähriger Präsi-dent und heutiger Ehrenpräsidentdes Münchner MMM-Clubs. Wer-din, der im vergangenen Jahr sei-nen 90. Geburtstag feierte und beiMünchen lebt, hat den seit 1962bestehenden „Club für ModerneMarkt Methoden“ zu einer wichti-gen Kommunikationsplattformder Konsumgüterbranche ausge-baut. lz 05-12

THEO WERDIN

VielseitigerKommunikator

Werdin: Stets am Puls der Zeit

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Kluge Köpfe: Die Weiträumigkeit derMMM-Themenwelten ermöglichteBegegnungen mit außergewöhnlichenPersönlichkeiten. Werdin erinnert sichan „wahre Sternstunden“. JoachimGauck, Meinhard Miegel, HelmutMaucher und Kurt Biedenkopf (v.l.)

schweifender Fülle vermittelte, sozu-sagen eine Orgie der Möglichkeiten,was da alles lockte. Das meiste wollteund brauchte man ja nicht. Aber alleindie Möglichkeit dieser Vielfalt stimmteirgendwie heiter, leichter, lockerer.Das Leben schien reicher, verführe-rischer, vielfältig aufgefächert im Su-permarkt…“ Horst Krüger kam, wieman so sagt, ausgezeichnet an, weil je-dem das Milieu gespiegelt wurde, indem er zuhause war. Er musste danachseine Lesung auf zahlreichen Tagun-gen und Jahresversammlungen vonHandelsgruppen wiederholen.

Münchner Sternstunden

Viele Begegnungen mit den Referen-ten unserer Kongresse gerieten zuwahren Sternstunden. Im Anfang hießes ja noch, von Amerika lernen. Zuuns kam Alfred Eisenpreis, kleiner un-garischer Flüchtling jüdischer Her-kunft, unter abenteuerlichen Umstän-den in die USA, dort Karriere als Vice-Präsident im WarenhausunternehmenAllied Stores mit 135 Filialen. Er sollteden ersten und am zweiten Tag denletzten Vortrag halten, simultan über-setzt, und fand eine so freundlicheAufnahme, dass er sich noch in derNacht hinsetzte und seinen zweitenVortrag in deutsch umschrieb, eineSprache, die er schon fast verlernt hat-te. Wenig später hieß es dann, von Ja-pan lernen. Auf dem CIES-Kongress1984 in Tokio lernte ich Dr. RobertBallon, SJ, kennen, Professor für Eco-nomics an der Sophia-Universität inTokio und seit 1949 in Japan. Ichkonnte ihn für eine Reise nach Europagewinnen. „Wandel und Traditionsind keine Widersprüche“ hieß seintemperamentvoller Bericht über Ja-pans Aufbruch in die moderne Indus-triegesellschaft.

Ganz in meiner Nähe in Starnberggab es das Max-Planck-Institut für die

Erforschung der Lebensbedingungender technisch-wissenschaftlichenWelt. Sein Direktor, der Physiker undPhilosoph Carl Friedrich von Weizsä-cker, konnte nicht ermöglichen, zum15. MMM-Kongress zu sprechen. Eskamen stattdessen im Januar 1977 zueiner fünfstündigen Gesprächsrundemit 34 Club-Mitgliedern, zu unserenFragen aus allen Lebensbereichen sei-ne ausführlichen Stellungnahmen.Aus dem nach wie vor lesenswertenProtokoll: „Das sinkende Wachstumder Industrieländer wird zu einer qua-litativen Umstrukturierung ihrer Wirt-schaften führen. Sozial unnütze, um-weltschädliche und im Weltmarktnicht konkurrenzfähige Produktionenwerden eingestellt…“ – bedenkens-werte Perspektiven für eine Entwick-lung, die uns erst jetzt so recht klar ge-worden ist.

Sehr erfreut waren wir auch überdie Zusage von Professor Hans Küng,SJ, dem Direktor des Instituts für öku-menische Theologie an der Universi-tät Tübingen. Sein Thema, „Von derErfolgsethik zur Verantwortungs-ethik“ spricht für sich. Aus seinem Re-ferat nur diesen Satz: „Für zukunfts-fähig halte ich eine bloße Erfolgsethiküberhaupt nicht. Ein Handeln, für dasder Zweck alle Mittel heiligt, und fürdas gut ist, was einfach funktioniert,was Profit, Macht, Geld und Genussbringt, das ist Erfolgsethik. Mit Ver-antwortungsethik ist gemeint, dass ichpersönliche Entscheidungen nach be-stimmten Gesichtspunkten fälle unddie Konsequenzen einkalkuliere.“ Dasforderte auf zur Unterscheidung. Wo-zu wollte man gehören? Und waren dieZwänge, in denen man sich im Wett-bewerb befand, eine hinreichendeEntschuldigung?

Zu einem besonderen Ereigniswurde 1972 die Begegnung mit ViktorE. Frankl, dem berühmten WienerPsychotherapeuten und Begründer der

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die rechte Atmosphäre sorgen sollte,fehlte: im letzten Moment hatte derdafür umworbene Geschäftsführer derHauptgemeinschaft des deutschenEinzelhandels abgesagt. Man legte mirnahe, diese Rolle zu übernehmen, wasauch so schön zu der des Chefredak-teurs der Zeitschrift „modernermarkt“ mit Sitz in München passte.Damit war meine nachfolgende Aufga-be als „geschäftsführendes Präsidial-mitglied“, später Präsident und heuti-ger Ehrenpräsident des MMM-Clubsvorgezeichnet.

Thematische Weitläufigkeit

Die folgenden MMM-Kongresse zeig-ten denn auch die thematische Weit-räumigkeit, wie es dem redaktionellenKonzept von „moderner markt“ ent-sprach, kennzeichnend dafür etwa dasThema „Humanität in der Wirtschaft“,für das ich Professor Hans Zbindenaus Bern, Autor eines gerade erschie-nenen gleichnamigen Buches, gewon-nen hatte. Künftig sollte das Pro-gramm eine Mischung aus erfolgrei-chen Machern und klugen Denkernbieten. Selbstbedienung, Supermarktund Verbrauchermarkt lösten ja eineRevolution im Handel aus, die vielfäl-tige gesellschaftliche Auswirkungenhatte und Raum bot für viele Themenwie Standortpolitik, das Verhältnis Ci-ty/Grüne Wiese, Kundennähe und

Unternehmenskultur.Das alles spiegelte sich hinfort in

den Programmen der MMM-Kongres-se. Wer dazu Wichtiges zu sagen hattein Deutschland, in der Schweiz, inSchweden, in USA, in den Niederlan-den, ja in Tokio, wurde zu unserenKongressen gebeten. Das waren Un-ternehmer und Manager, die eben mo-derne Markt-Methoden in hervorra-gender Weise verwirklichten, aberauch Städteplaner, Betriebswirtschaft-ler, Philosophen oder Regisseure. Esgab (und gibt) wenig, wo wir nicht hi-neinschauten, um unsere Position inMarkt und Gesellschaft besser zu ver-stehen und gestalten zu können.

Bezeichnend für diese thematischeVielfalt war der Auftritt von Horst Krü-ger, einem damals recht bekanntenSchriftsteller, beim 11. MMM-Kon-gress 1973. Ich hatte ihn im Radio an-lässlich des Dürer-Jahres mit einemwunderbaren Essay über Nürnberg ge-hört und dachte, mit diesem Mannmüsste man mal durch einige Super-märkte und Verbrauchermärkte gehenund ihn dann reflektieren lassen. Undso kam es. Wir besuchten Latscha inFrankfurt, toom in Friedberg. HorstKrüger hielt einen wunderbaren Vor-trag über „Ich im Paradies der Verbrau-cher“. Daraus nur diese paar Sätze: „Esbestach zunächst die Größe, die Weit-räumigkeit der Gesamtanlage, die einGefühl grenzenloser Vielfalt, aus-

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„Wenn Sie schonstehen, könnte manja noch Einigkeitund Recht undFreiheit singen.“Herbert Wagner

185 Gäste: Der 1. MMM-Kongress in München imJahre 1963 konnte nochalle Teilnehmer im klei-nen Saal unterbringen.

Geschlossener Auftritt: Das MMM-Präsidium arbeitet konstruktivzusammen. Thomas Bruch, Globus,Michael Durach, Develey, KarlStefan Preuß, WEZ, Simone Krah,MMM, Gerd Kaiser, MMM, Prof. Dr.Utho Creusen und Andreas Land,Griesson de Beukelaer (v.l.).

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40 Lebensmittel Zeitung LZ 5 3. Februar 2012J O U R N A L

Logotherapie. Ich hatte ihn im Dutt-weiler-Institut in Zürich/Rüschlikonerlebt und sofort auf den MMM-Kon-gress angesprochen. Terminlich nichtmöglich. Schließlich haben wir einFilminterview verabredet, fünf Stun-den in seiner Wiener Wohnung he-rumgefilmt, bis daraus ein Streifen von40 Minuten Aufführungsdauer wurde.Ich stellte die Fragen zu den Proble-men, die uns in einer Zeit recht großerVerwirrung bewegten. Und Frankl trafden Nerv der Zeit, indem er sagte, wir

hätten heute wohl alle etwas, wovonwir lebten, aber wüssten immer weni-ger, wofür. Der Mensch, so definierteer, sei ein Wesen auf der Suche nachSinn. Im Gegensatz zum Tier sagtendem Menschen keine Instinkte undTriebe, was er tun müsse. Und weiter:„Das, was der Mensch zutiefstbraucht, ist eine gewisse, gesundeSpannung. Auf der einen Seite derMensch, auf der anderen Seite einespezifische Aufgabe, die darauf wartet,von ihm gelöst zu werden. Das, wasder Mensch braucht, ist die Hingabean eine solche Aufgabe!“ Zufrieden-heit der Mitarbeiter hänge nicht vombloßen Gehalt ab, sondern davon, dasssie in ihrer Arbeit einen Sinn, undzwar einen sie persönlich ansprechen-den Sinn fänden. War es das, was dieneuen Marktmacher auf den Plan riefund veranlasste, auch das Verhältniszu den Mitarbeitern zu überdenken?

Größen am Vortragspult

Unmöglich, alle Persönlichkeitennoch zu nennen, die wir in 50 Jahrenals Referenten gewinnen konnten. DieListe reicht von Ralf Dahrendorf überden Historiker Michael Stürmer, Ottovon Habsburg, zweimal Prof. Mein-hard Miegel, Prof. Biedenkopf und

zweimal Prof. Graf Krockow bis hineinin unsere Tage zum Münchener Erzbi-schof Kardinal Reinhard Marx. Unver-gessen auch Götz Werner, der dm-Gründer, mit „Menschenbild und Un-ternehmenskultur“, Vater und SohnPreuß aus Minden mit „Nicht dieGrößten, aber die Besten – kundenori-entiert und den Mitarbeitern ver-pflichtet“, der Nestlé-Chef HelmutMaucher, der mit „Multinational unddezentral“ Einblick in die Führungs-grundsätze des Konzerns gab, Prof.

Bruno Tietz, Prof. Norbert Walter,Prof. Joachim Zentes als weitere Refe-renten. Sogar den sonst schweigsamenHugo Mann (Wertkauf, Mann-Mobi-lia) konnten wir ans Vortragspult bit-ten. Viele Namen sagen den heutigenTeilnehmern der MMM-Kongressekaum noch etwas. Und doch lebenund arbeiten sie in Vorstellungswel-ten, die damals geschaffen wurden.

Einzelne Kongresstitel, wie z.B.„Führen und Dienen“, „Bewahren, Be-währen, Bewegen“, „Strategie beiNull“, „Besser statt größer“, „Zwi-schen Überfluss und Mangel“ oder„Unternehmenskultur und Kunden-nähe“ gingen als ständige Aufforde-rung ins Bewusstsein ein. Das galt vorallem für „Gründerzeit ist immer“.Beim Ausklingen des Wirtschaftswun-ders dachte man mit leichter Resigna-tion an die einstigen Koryphäen zu-rück, an die Neckermanns, Borgwardoder Grundig oder gar an die histori-sche Gründerzeit. Und da kamen wirund stellten sehr gegenwärtige Grün-der vor, in den eigenen Reihen, etwamit Götz W. Werner (dm-Drogerie-markt), Helmut Aurenz (ASB-Blu-menerde), Jürgen Abraham (Schin-kenräucherei) und andere reichlichvertreten.

Ein wichtiges Datum sollte nicht

unerwähnt bleiben, der 22. September1990, zwar kein MMM-Kongress, aberdie Jahresversammlung des MMM-Clubs in Dresden. Professor SiegfriedSchiller, seit 1956 im bekannten For-schungsinstitut Manfred von Ardennein Dresden, gab einen detailliertenÜberblick über die wirtschaftliche undgesellschaftliche Hinterlassenschaftder DDR. Danach der 42-jährigeOberbürgermeister Dr. Herbert Wag-ner. Wir hatten ihn gebeten, nicht ei-nes der üblichen Grußworte abzulie-fern, sondern zu berichten, wie erganz persönlich die Wende erlebt hat.Sein Bericht wurde uns allen zu einemergreifenden Erlebnis – und ist es heu-te noch, wenn man ihn nach zwanzigJahren noch einmal liest. Wir danktenmit Standing Ovations. Und er:„Wenn Sie schon stehen, könnte manja noch „Einigkeit und Recht und Frei-heit“ singen. Ich fürchte, Sie könnenden Text nicht, wir lernen ihn aberwieder.“

Abenteuer MMM-Kongress

Die Vorbereitung eines MMM-Kon-gresses war jedes Mal ein Abenteuer.Wie sollte man Persönlichkeiten wieHans Küng, Graf Krockow, LotharSpäth oder dem WirtschaftsweisenProf. Rürup klar machen, wer der ver-anstaltende MMM-Club ist und dass essich um ihn lohnt! Hinter ihm steht jakein mächtiger Wirtschaftsverband,sondern nur ein lockerer Zusammen-schluss von Unternehmern, Managernund sonstigen Interessierten, die denErfahrungsaustausch über moderneMarkt-Methoden, eben MMM, pfle-gen wollen. Unsere Briefe mussten siegewinnen können, der Antwort zitter-ten wir entgegen. Aber mit jedem ge-lungenen Kongress wurde es leichter.Unvergessen sind auch viele vorange-hende Besprechungen mit den Refe-renten, so z.B. zusammen mit HelgaWinterer, die zu der Zeit das Sekretari-at übernommen hatte, mit dem Regis-seur Dieter Wedel, der damals geradeden Film „Der große Bellheim“ ge-macht hatte. Oder August Everding,der Münchener Generalintendant, deruns in seinem Büro im Prinzregenten-Theater empfing. Aus seinem späterenVortrag blieb das bemerkenswerteWort: „Ihr macht, was ankommt; wirmachen, worauf es ankommt.“

Anfang November gingen jeweils3 500 Programme ins Land. Dann be-gann das spannende Warten auf dieersten Anmeldungen. So ein Kongresskostet einige hunderttausend DM/Eu-ro. Würden wir sie einspielen? Ich wargegen so genannte Damenprogramme,wie sie üblicherweise bei solchen Ver-anstaltungen angeboten werden. DieHerren Unternehmer und Managersollten lieber ihre Frauen mitbringenzu den Vorträgen und zum Erleben derKongresse, damit es noch zuhause ver-ständnissinnigen Gesprächsstoff gibt.Auch die Moderation sollte von denMitgliedern des Präsidiums gemachtwerden, lieber keine Profis, aberglaubwürdig. Auch in den Jahren alsChefredakteur der Lebensmittel Zei-tung in Frankfurt von 1966 bis 1983konnte ich für MMM weiter tätig sein.Von Anfang an war mein Ziel, denMMM-Club als Veranstalter derMMM-Kongresse frei von jeglichenFirmeneinflüssen zu halten, wirt-schaftliche Unabhängigkeit zu errei-chen und zu wahren und rechtzeitigauf Verstetigung bedacht zu sein. Letz-teres, nun langsam ein Siebziger, lagmir besonders am Herzen. Und alssich Gerd Kaiser, schon einige JahreMMM-Vizepräsident, 1993 von derRewe-Zentrale in Köln verabschiedete

und sich unternehmerisch verselb-ständigte, war die Stunde gekommen.Die Jahresverswammlung des MMM-Clubs wählte ihn zum Präsidenten.Ihm zur Seite stehen als Vizepräsiden-ten Thomas Bruch, Globus Gruppe,Prof. Dr. Utho Creusen, Michael Du-rach, Develey Feinkost, Andreas Land,Griesson de Beukelaer und Karl StefanPreuß, WEZ, und im Beirat die Profes-soren Dr. Dieter Rey, Joachim Zentesund Norbert Walter.

Zwei tüchtige Frauen boten undbieten Gewähr dafür, dass es erfolg-reich weiterging und –geht. Nachdemich Frankfurt verlassen hatte, mussteeine neue Lösung für das MMM-Sekre-tariat getroffen werden. Welch einGlücksfall! Ganz in meiner Nähewohnte Helga Winterer, ehemalige LZ-Redakteurin, vorher in der Geschäfts-leitung zweier großer Handelsunter-nehmen tätig. Sie konnte für diese Auf-gabe gewonnen werden. Neue Adressedes MMM-Clubs: Icking nahe Starn-berger See. Es begann eine gute Zeitfür MMM. Helga Winterer war die Ma-terie vertraut, beobachtete kundig denMarkt und trug mit eigenen Ideen beizu den MMM-Kongressen. Ihr Um-gang mit Club-Mitgliedern, Kongress-

teilnehmern und Refe-renten war von gewin-nender Herzlichkeit.Hinzu kam perfekte Be-treuung unserer admi-nistrativen Belange.

Aber auch sie warnach 14 Jahren auf

Überleitung bedacht. Und wiederumbot sich ein Glücksfall in Simone Krah,die eine Karriere in der hessischenStaatskanzlei zugunsten von MMMaufgab. Neue Adresse des MMM-Clubs: Wettenberg bei Gießen. Und„ihre“ bisherigen Kongresse bezeu-gen, sie kann’s! Die Teilnehmerzahlder MMM-Kongresse wuchs unter ih-rer Regie sogar auf 700, die Zahl derClubmitglieder auf über 1000.

Bedürfnis nach Orientierung

Wie blickt man nun zurück auf diese50 Jahre? Wie hat sich ausgewirkt, wasuns an erfolgreichen Beispielen fürmoderne Marktmethoden, an sorgsa-men Analysen der jeweiligen Zeitver-hältnisse und dem Blick auf künftigeEntwicklungen geboten wurde? Im-merhin wurden die Nachfrage danachund das Bedürfnis nach Orientierungwach gehalten und mit über 500 Refe-renten immer wieder beantwortet.Kurt Dohle beruft sich zu Recht aufden Ursprung von MMM, mit dem al-les anfing. Martin Stolz, Kaufhausin-haber in Burg auf Fehmarn, stand in ei-ner Jahresversammlung in den 90ernauf und sagte, unsere Kongresse hättenihm den Mut gegeben zu seiner Expan-sion in die nun zugänglichen Städte ander Ostsee. Einer unserer Kongressehieß: „Wege nach vorn“. Aber warenwir stets so sicher, wo und was „vorn“ist? Hat sich die Philosophie von den„Inseln der Verluste im Meer der Ge-winne“ als zukunftsfähig erwiesen?Die Teilnehmer der wechselnden Kon-gresse bilden den Strukturwandel imHandel ab, dem wir viel Gedankengutgeliefert haben. Er mag unterschied-lich bewertet werden. Aber wenn es inunserer Satzung heißt: „Der Clubpflegt den Erfahrungsaustausch übermoderne Marktmethoden im Sinne ei-ner fortschrittlichen Verbraucherver-sorgung“, dann fällt die Bilanz positivaus. Und jetzt 700 Kongressteilneh-mer, die ja nicht kommen, weil siemüssen, sondern weil sie wollen, spre-chen ebenso dafür, dass das Interessedaran nicht nachgelassen hat. lz-05-12

„Ihr macht, wasankommt; wirmachen, woraufes ankommt.“August Everding

Physiker, Politiker, Philosoph undPraktiker: Carl Friedrich von Weizsä-cker, Lothar Späth, Hans Küng undKurt Dohle.

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.net Branchenforum: Fotos aus50 Jahren MMM-Club

lebensmittelzeitung.net/mmm

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Praxis-Check: Der MMM-Club organi-siert regelmäßig Studienreisen insAusland. Im Jahr 2008 nimmt eineDelegation den Globus-Markt in Pragunter die Lupe. Inhaber Thomas Bruch(Foto rechts, l.) zeigte dabei keinerleiBerührungsängste im Gespräch mitKaufland-Manager Armin Geraldy.

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