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F ür den 12. und 13. März dieses Jahres hatten die Marx-Engels-Stiftung Wup- pertal und die Tageszeitung junge Welt zu einer Konferenz in die jW-Laden- galerie eingeladen. Die Veranstaltung trug den Titel »Lenins und unserer Imperialismus« und widmete sich vor allem den ökonomischen Ent- wicklungen der letzten Jahrzehnte im Weltkapi- talismus. Etwa 80 Interessenten verfolgten die neun Referate, von denen fünf in dieser Beilage – zum Teil erheblich gekürzt – veröffentlicht werden. Jörg Miehes Beitrag basiert auf ei- nem von ihm an die Referenten der Konferenz vorab versandten Positionspapier, das für die Publikation redaktionell ebenfalls stark gekürzt wurde. Längere Fassungen wird die Zeitschrift Marxistische Blätter veröffentlichen. Wichtig erscheint der Hinweis, daß alle Texte vor Be- ginn der neusten imperialistischen Feldzüge gegen Libyen und Cote d’Ivoire (Elfenbeinkü- ste) entstanden sind. Diese Kriege sind auf ihre Weise eine Bestätigung von manchem, das hier formuliert wurde. Beide Aggressionen erhärten: Was beim Un- tergang der Sowjetunion als »Friedensdividen- de« propagiert wurde, als »Ende der Geschich- te« in einer Welt des Liberalismus und der parlamentarischen Demokratie, ist umgeschla- gen in eine Anzettelung von Kriegen weltweit und in Permanenz. Erdacht, propagandistisch vorbereitet und befohlen werden sie fast aus- schließlich in den Hauptstädten jener Staaten, die sich selbst als Hüter von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit preisen. Was diese Staaten vom Völkerrecht halten, de- monstrieren sie seit 1989, als wenige Tage nach der Grenzöffnung in Berlin Panama von den USA überfallen wurde: Sie pfeifen darauf. Im Innern dieser Länder folgt eine Maßnah- me zur Beseitigung demokratischer Standards, zur Einschränkung persönlicher Freiheiten und zur Unterbindung von Opposition auf die an- dere. Nirgendwo gelang es in den vergangenen 20 Jahren, die Massenarbeitslosigkeit in nen- nenswertem Maße einzuschränken, im Gegen- teil. Die Finanzkrise, die 2007 in den USA begann und in eine Weltwirtschaftskrise mün- dete, war offenbar Auftakt zu einer längeren Depressionsperiode der kapitalistischen Welt- wirtschaft. In zahlreichen Ländern erreichte die Erwerbslosigkeit neue Rekordhöhen, selbst der sogenannte Aufschwung der deutschen Wirt- schaft war allein möglich durch die Etablierung eines Niedriglohnsektors und einer immensen Ausdehnung von Leiharbeit. Wirtschaftlich und politisch geht es um ein Ziel: Senkung des Werts der Ware Arbeitskraft. Wobei kein In- dustrieland über Jahrzehnte die Reallöhne so senken konnte wie die Bundesrepublik. Beglei- tet wird das alles durch eine neue Blüte irratio- naler, imperialistischer Ideologie – Stichwort Sarrazin. Politökonomische Hintergründe dieser Er- scheinungen werden in den Beiträgen dieser Beilage ausgeleuchtet. Der Zwang zur Akku- mulation immenser Finanzbeträge, um in der weltweiten Konkurrenz bestehen zu können, die dadurch gegebene erhöhte Krisenanfällig- keit, der Aufbau von Spannungen – sozialen im Innern und geostrategischen Konfrontationen gegenüber den sogenannten Schwellenländern, insbesondere China – führt unmittelbar zur Akkumulation von sozialem und politischem Sprengstoff in der Welt. Zugespitzte Widersprüche bedeuten aber auch, daß die Grenzen dieses Systems immer wieder deutlich, d. h. bewußt werden. Die Bi- lanz seit 1991 besagt daher auch: Rascher als zu erwarten war, ist der heutige Imperialismus an vielen Stellen der Welt wieder in seinen Handlungsmöglichkeiten beschränkt. Von La- teinamerika über Afrika bis nach Asien hat er sich mit Veränderungen im internationalen Kräfteverhältnis auseinanderzusetzen, die nicht auf seiner Tagesordnung standen. Das »Schöne am Imperialismus« sei, so for- mulierte es bei der Konferenz im März der Vor- sitzende der Marx-Engels-Stiftung, Lucas Zeise: »Es knackt im Gebälk.« Der Verlauf der jüng- sten Krise zeige aber auch, daß er nicht von allein stürze, man müsse etwas dafür tun. Dieser Maxime folgen die hier veröffentlichten Texte. Die Aktualität der Leninschen Imperialismustheorie für revolutionär-marxistische Politik. Von Hans-Peter Brenner Seite 2 Epochen, Stadien, Formationen, Regulierungsformen – wie man den Kapitalismus analysiert und periodi- siert.Von Georg Fülberth Seite 4 Ära heißer Ressourcenkriege. Neue Züge in der Entwicklung des staatsmonopolistischen Systems. Von Gretchen Binus Seite 6 Besondere Krisenanfälligkeit. Der Finanzsektor als Herrschaftsform im staatsmonopolistischen Kapita- lismus.Von Lucas Zeise Seite 19 junge W elt Die Tageszeitung lenins Tageszeitung junge Welt Mittwoch, 13. April 2011, Nr. 87 Akkumulation von Sprengstoff Den heutigen Imperialismus charakterisieren erhöhte Krisenanfälligkeit und neue Kriegsbereitschaft. Die entscheidende Ursache liegt in seiner ökonomischen Spezifik. Von Arnold Schölzel und unser imperialismus SASCHA SCHUERMANN/DAPD »Fördern und Fordern gehören zusammen.« Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel (FDP) am 29. März auf dem Weg nach Afghanistan. Niebel machte deutlich, daß die deutsche Unterstützung an die Bedingung geknüpft sei, daß es in Afghanistan konkrete Reformen gebe und sich die Regierungsführung verbessere

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Für den 12. und 13. März dieses Jahres hatten die Marx-Engels-Stiftung Wup-pertal und die Tageszeitung junge Welt zu einer Konferenz in die jW-Laden-

galerie eingeladen. Die Veranstaltung trug den Titel »Lenins und unserer Imperialismus« und widmete sich vor allem den ökonomischen Ent-wicklungen der letzten Jahrzehnte im Weltkapi-talismus. Etwa 80 Interessenten verfolgten die neun Referate, von denen fünf in dieser Beilage – zum Teil erheblich gekürzt – veröffentlicht werden. Jörg Miehes Beitrag basiert auf ei-nem von ihm an die Referenten der Konferenz vorab versandten Positionspapier, das für die Publikation redaktionell ebenfalls stark gekürzt wurde. Längere Fassungen wird die Zeitschrift Marxistische Blätter veröffentlichen. Wichtig erscheint der Hinweis, daß alle Texte vor Be-ginn der neusten imperialistischen Feldzüge gegen Libyen und Cote d’Ivoire (Elfenbeinkü-ste) entstanden sind. Diese Kriege sind auf ihre Weise eine Bestätigung von manchem, das hier formuliert wurde.

Beide Aggressionen erhärten: Was beim Un-tergang der Sowjetunion als »Friedensdividen-de« propagiert wurde, als »Ende der Geschich-te« in einer Welt des Liberalismus und der parlamentarischen Demokratie, ist umgeschla-gen in eine Anzettelung von Kriegen weltweit und in Permanenz. Erdacht, propagandistisch vorbereitet und befohlen werden sie fast aus-schließlich in den Hauptstädten jener Staaten, die sich selbst als Hüter von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit preisen. Was diese Staaten vom Völkerrecht halten, de-monstrieren sie seit 1989, als wenige Tage nach der Grenzöffnung in Berlin Panama von den USA überfallen wurde: Sie pfeifen darauf.

Im Innern dieser Länder folgt eine Maßnah-me zur Beseitigung demokratischer Standards, zur Einschränkung persönlicher Freiheiten und zur Unterbindung von Opposition auf die an-dere. Nirgendwo gelang es in den vergangenen 20 Jahren, die Massenarbeitslosigkeit in nen-nenswertem Maße einzuschränken, im Gegen-teil. Die Finanzkrise, die 2007 in den USA

begann und in eine Weltwirtschaftskrise mün-dete, war offenbar Auftakt zu einer längeren Depres sionsperiode der kapitalistischen Welt-wirtschaft. In zahlreichen Ländern erreichte die Erwerbslosigkeit neue Rekordhöhen, selbst der sogenannte Aufschwung der deutschen Wirt-schaft war allein möglich durch die Etablierung eines Niedriglohnsektors und einer immensen Ausdehnung von Leiharbeit. Wirtschaftlich und politisch geht es um ein Ziel: Senkung des Werts der Ware Arbeitskraft. Wobei kein In-dustrieland über Jahrzehnte die Reallöhne so senken konnte wie die Bundesrepublik. Beglei-tet wird das alles durch eine neue Blüte irratio-naler, imperialistischer Ideologie – Stichwort Sarrazin.

Politökonomische Hintergründe dieser Er-scheinungen werden in den Beiträgen dieser Beilage ausgeleuchtet. Der Zwang zur Akku-mulation immenser Finanzbeträge, um in der weltweiten Konkurrenz bestehen zu können, die dadurch gegebene erhöhte Krisenanfällig-keit, der Aufbau von Spannungen – sozialen im

Innern und geostrategischen Konfrontationen gegenüber den sogenannten Schwellenländern, insbesondere China – führt unmittelbar zur Akkumulation von sozialem und politischem Sprengstoff in der Welt.

Zugespitzte Widersprüche bedeuten aber auch, daß die Grenzen dieses Systems immer wieder deutlich, d. h. bewußt werden. Die Bi-lanz seit 1991 besagt daher auch: Rascher als zu erwarten war, ist der heutige Imperialismus an vielen Stellen der Welt wieder in seinen Handlungsmöglichkeiten beschränkt. Von La-teinamerika über Afrika bis nach Asien hat er sich mit Veränderungen im internationalen Kräfteverhältnis auseinanderzusetzen, die nicht auf seiner Tagesordnung standen.

Das »Schöne am Imperialismus« sei, so for-mulierte es bei der Konferenz im März der Vor-sitzende der Marx-Engels-Stiftung, Lucas Zeise: »Es knackt im Gebälk.« Der Verlauf der jüng-sten Krise zeige aber auch, daß er nicht von allein stürze, man müsse etwas dafür tun. Dieser Maxime folgen die hier veröffentlichten Texte.

Die Aktualität der Leninschen Imperialismustheorie für revolutionär-marxistische Politik. Von Hans-Peter Brenner Seite 2

Epochen, Stadien, Formationen, Regulierungsformen – wie man den Kapitalismus analysiert und periodi-siert. Von Georg Fülberth Seite 4

Ära heißer Ressourcenkriege. Neue Züge in der Entwicklung des staatsmonopolistischen Systems. Von Gretchen Binus Seite 6

Besondere Krisenanfälligkeit. Der Finanzsektor als Herrschaftsform im staatsmonopolistischen Kapita-lismus. Von Lucas Zeise Seite 19 jungeWelt

Die Tageszeitung

l e n i n s Tageszeitung junge Welt Mittwoch,13. April 2011, Nr. 87

Akkumulation von SprengstoffDen heutigen Imperialismus charakterisieren erhöhte Krisenanfälligkeit und neue Kriegsbereitschaft. Die entscheidende Ursache liegt in seiner ökonomischen Spezifik. Von Arnold Schölzel

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»Fördern und Fordern gehören zusammen.« Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel (FDP) am 29. März auf dem Weg nach Afghanistan. Niebel machte deutlich, daß die deutsche Unterstützung an die Bedingung geknüpft sei, daß es in Afghanistan konkrete Reformen gebe und sich die Regierungsführung verbessere

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Mittwoch, 13. April 2011, Nr. 87 junge Welt 2 le n i n s u n d u n s e r i m p e r i a l i s m u s

1. Was besagt eigentlich die Leninsche Imperialismustheorie?

Man kann bei Karl Marx im ersten Band des »Kapital« eine für das Verständnis der Differenziertheit und

Dynamik der kapitalistischen Gesell-schaftsformation sehr eingängige Meta-pher finden – nämlich, »daß die jetzige Gesellschaft kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus« ist. (Karl Marx: Das Kapi-tal, Band 1, Marx/Engels Werke Band 23, Seite 16) Die wichtigste Kapitalismus-Variante ist der Monopolkapitalismus; darum geht es beim Thema »Imperialis-mus«. Nach einem abgewandelten Hork-heimer-Wort möchte ich sagen: »Wer vom Kapitalismus redet, darf nicht über den Imperialismus schweigen.«

Dazu Lenins folgende Aussage: »Der Imperialismus erwuchs als Weiterentwick-lung und direkte Fortsetzung der Grundei-genschaften des Kapitalismus überhaupt. Zum kapitalistischen Imperialismus aber wurde der Kapitalismus erst auf einer be-stimmten, sehr hohen Entwicklungsstufe, als einige seiner Grundeigenschaften in ihr Gegenteil umzuschlagen begannen, als sich auf der ganzen Linie die Züge ei-ner Übergangsperiode vom Kapitalismus zu einer höheren ökonomischen Gesell-schaftsformation herausbildeten und sicht-bar wurden. Ökonomisch ist das Grundle-gende in diesem Prozeß die Ablösung der kapitalistischen freien Konkurrenz durch die kapitalistischen Monopole. Die freie Konkurrenz ist die Grundeigenschaft des Kapitalismus und der Warenproduktion überhaupt; das Monopol ist der direkte Ge-gensatz zur freien Konkurrenz, aber diese begann sich vor unseren Augen zum Mo-nopol zu wandeln, indem sie die Großpro-duktion schuf, den Kleinbetrieb verdräng-te, die großen Betriebe durch noch größere ersetzt, die Konzentration der Produktion und des Kapitals so weit trieb, daß daraus das Monopol entstand und entsteht, näm-lich: Kartelle, Syndikate, Trusts und das

mit ihnen verschmelzende Kapital eines Dutzends von Banken, die mit Milliarden schalten und walten.« (W. I. Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Lenin Werke Band 22, Seite 269f)

Kapitalismus und »kapitalistischer« Im-perialismus sind demnach nicht von an-dersartiger »Grundqualität.« Die »Grund-eigenschaft« bzw. »Grundqualität« des Imperialismus ist das kapitalistische Mo-nopol, das aus der freien Konkurrenz einer-seits erwächst und diese zugleich aufhebt und objektiv den ökonomischen Übergang Sozialismus einleitet. Horst Heininger schreibt dazu: »Im Vergleich zu anderen imperialismustheoretischen Arbeiten müs-sen vor allem zwei wesentliche Momente hervorgehoben werden. Zum einen enthält Lenins Schrift den wohl umfassendsten theoretischen Ansatz vor allem in der öko-nomischen Analyse des Imperialismus. Die Betonung liegt hier auf ›umfassend‹; denn in wesentlichen Grundfragen haben andere Autoren eine tiefer gehende theore-tische Analyse vorgelegt (Hilferding beim Finanzkapital, Bucharin bei den weltwirt-schaftlichen Beziehungen, Kautsky bei der imperialistischen Politik, Otto Bauer bei der Nationalitätenfrage u. a.). Zum ande-ren muß berücksichtigt werden, daß diese Arbeit Lenins als Kampfschrift zur Orien-tierung der bolschewistischen Partei auf den Sturz des Kapitalismus in Rußland ge-dacht war, wobei eine schonungslose Aus-einandersetzung mit dem Opportunismus und dem Sozialchauvinismus der Zweiten Internationale ein unbedingtes Anliegen des Verfassers war.« (Horst Heininger: Zur Geschichte der Imperialismustheorie (bis 1945); in: Marxistisches Forum, Heft 40/41)

Ich gebe Genossen Heininger Recht, wenn er vom umfassenden Charakter der Leninschen Imperialismus-Analyse ausgeht. Die Arbeiten anderer wichtiger Autoren, wie die der oben genannten, unterscheiden sich jedoch nicht nur in der begrenzteren Thematik, sondern auch in der für mich alles entscheidenden Frage: Tragen diese Analysen zur Formierung ei-

ner sozialen und politischen Kraft bei, die den Imperialismus nicht nur theoretisch erfassen will, sondern hilft die Analyse bei der Entwicklung einer revolutionären Strategie und Taktik oder nicht?

Lenins Imperialismus-Schrift ist mehr als ein agitatorisches Pamphlet. Für das Hauptwerk der marxistischen Imperialis-mus-Theorie, eben die von Lenin 1916 erarbeitete Schrift »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus«, verarbeitete er 148 Bücher, Broschüren, Dissertationen und statistische Sam-melbände sowie 232 Artikel aus 49 ver-schiedenen periodischen Druckschriften. Lenin verwertete auch die Arbeiten bür-gerlicher und reformistischer Ökonomen wie des Engländers John Atkinson Hob-son und des reformistischen Sozialde-mokraten Rudolf Hilferding. Es handelt sich daher bei diesem Klassikertext um weit mehr als um eine schmale politische »Propagandabroschüre für die Tagespo-litik«, wie von manchen linken Lenin-Kritikern heute behauptet wird. Band 39 der Lenin-Werke, die »Hefte zum Impe-rialismus«, dokumentiert den Umfang der wissenschaftlichen Vorstudien zu dieser Arbeit. Diese Lenin-Schrift ruht auf ei-nem wissenschaftlich fundierten, breiten Fundament.

2. Die marxistisch-leninistische Monopoltheorie und die Realität von heute

Der Imperialismus weist nach der kurz gefaßten und nicht vollständigen (!) klas-sischen Definition Lenins insgesamt fol-gende Hauptmerkmale auf: »Würde eine möglichst kurze Definition des Imperia-lismus verlangt, so müßte man sagen, daß der Imperialismus das monopolistische Stadium des Kapitalismus ist. Eine sol-che Definition enthielte die Hauptsache, denn auf der einen Seite ist das Finanz-kapital das Bankkapital einiger weniger monopolistischer Großbanken, das mit dem Kapital monopolistischer Industri-ellenverbände verschmolzen ist, und auf der anderen Seite ist die Aufteilung der

Welt der Übergang von einer Kolonialpo-litik, die sich ungehindert auf noch von keiner kapitalistischen Macht eroberte Gebiete ausdehnt, zu einer Kolonialpoli-tik der monopolistischen Beherrschung des Territoriums der restlos aufgeteilten Welt.« (W.I. Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, a. a. O., Seite 270)

Lenin spricht dann von fünf grundle-genden Merkmalen des Imperialismus: »1. Konzentration und Produktion des Ka-pitals, die eine so hohe Entwicklungsstu-fe erreicht hat, daß sie Monopole schafft, die im Wirtschaftsleben die entscheiden-de Rolle spielen; 2. Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis dieses ›Finanzkapitals‹; 3. der Kapitalexport, zum Unterschied vom Wa-renexport, gewinnt besonders wichtige Bedeutung; 4. es bilden sich internationa-le monopolistische Kapitalistenverbände, die die Welt unter sich teilen, und 5. die territoriale Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Großmächte ist beendet.« (W. I. Leninin, a.a.O., Seite 270/271)

Diese Merkmale der Leninschen Impe-rialismus-Theorie sind uneingeschränkt auch heute noch gültig. Dabei ist es fast unnötig zu sagen, daß seit Lenins Zeiten der Imperialismus natürlich mancherlei Veränderungen durchlaufen hat.

Dazu einige Belege: Das Merkmal fünf zum Beispiel – Ende der territori-alen Aufteilung der Welt – bezog sich auf das damalige Kolonialsystem. Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt ist aber nicht zu Ende. Im arabischen Raum und auch etlichen Regionen Afrikas zeigt der moderne Imperialismus, daß er nichts von seinen kolonialistischen Traditionen und Machtrankünen vergessen hat. Auch die innerimperialistische Konkurrenz in der Frage der Beherrschung von Roh-stoffquellen und deren Zugangswegen ist quicklebendig.

Ich bringe aus Platz- und Zeitgründen nur ein weiteres Beispiel dafür, wie sich im Verhältnis zum Anfangsstadium des Imperialismus die Dimensionen des Mo-

Teil der FormationstheorieDie Aktualität der Leninschen Imperialismustheorie für revolutionär-marxistische Politik und Programmatik. Von Hans-Peter Brenner

Hans-Peter Brenner ist Mitglied des Partei-vorstands der DKP und Mitherausgeber der Marxistischen Blätter.

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Mit »traditioneller« Gebirgsjägermütze aus seiner Zeit bei der Bun-deswehr auf dem Weg nach Masar-i-Scharif: Dirk Niebel

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junge Welt Mittwoch, 13. April 2011, Nr. 87 3le n i n s u n d u n s e r i m p e r i a l i s m u snopolkapitals konkret weiterentwickelt haben: den US-Konzern General Electric GE). GE wurde in der Lenin-Schrift als Beispiel eines der neuen großen Monopo-listen vorgestellt. 1910 gehörten ihm rund 12 000 Beschäftigte an. Sein Umsatz be-trug 298 Millionen Reichsmark. Mitte der 80er des vergangenen Jahrhunderts be-schäftigte GE 330 000 Mitarbeiter in 50 Ländern. Der ausgewiesene Netto-Profit betrag 1984 2,29 Milliarden US-Dollar bei einem Gesamtumsatz von 27,9. Milli-arden Dollar (Vergleiche: Sozialismus in der DDR. Berlin 1988, Seite 275). Heute

liegt GE laut der »Fortune Global 500«- Liste auf Platz 13 der weltweit umsatz-stärksten Unternehmen. Der Umsatz be-läuft sich auf 156,8 Milliarden Dollar. Der Nettogewinn liegt bei 11,025 Milliarden, die Zahl der Beschäftigten bei 304 000 (minus 26 000 im Vergleich zu 1984.) Auf der von der Financial Times veröf-fentlichten Liste »Global 500« nimmt GE unter den börsennotierten Unternehmen weltweit sogar den neunten Platz ein. Mit Stand vom 31. März 2010 belief sich sein Wert auf 194,2 Milliarden Dollar.

Das sind natürlich gewaltige Unterschie-de gegenüber 1910. Man wäre ein Idiot, ignorierte man diese Veränderungen. Na-türlich ist dies ein willkürlich herausgegrif-fenes Beispiel, aber es belegt exemplarisch nicht nur das quantitative Wachstum der Monopole, sondern gibt auch eine Ahnung davon, wie sehr mit dieser Potenzierung ökonomischer Macht auch der weltweite politische Einfluß solcher Kapitalgiganten gewachsen sein muß und auch ist.

GE ist als Lieferant der Planungs- und Konstruktionsunterlagen für die Katstro-phenreaktoren von Fukushima I eng verwoben mit dem nach Tschernobyl größtem Destaster in der Geschichte der Atomwirtschaft. Auch die in Deutschland bestehenden Siedewasserreaktoren gehen auf GE-Konzepte zurück, die die AEG in den 70 Jahren kaufte. Und auch in unseren Nachbarländern Österreich und Schweiz wird Atomstrom durch Siede-wasserreaktoren erzeugt, die auf Pläne von GE zurückgehen. Dieser von Lenin bereits analysierte Konzern ist also bis heute auf eine verhängnisvolle Weise mit dem Schicksal von Millionen Menschen verbunden, die nun in Japan und in den Anrainerstaaten akut von der radioakti-ven Verseuchung bedroht sind.

3. Vertiefte Internationalisierung: das transnationale oder multinationale Monopolkapital besetzt die ökono-mischen und politischen Kommando-höhen

Lenin sprach damals von 100 Trusts, die

die Welt beherrschen. 1992 ging Ernest Mandel von 400 weltbeherrschenden multi- und transnationalen Konzernen aus (Marxistische Blätter Nr. 3/1992).

Heute beherrschen zirka 500 Großkon-zerne den Weltmarkt. Sie sind die Loko-motiven der Weltmarktentwicklung – als nationale, multinationale oder auch als transnationale Konzerne. Und es kommt unter ihnen zu einer aktuell sehr wichti-gen Umstrukturierung: In der Bewerbung einer im Handelsblatt Verlag erschiene-nen Neuerscheinung »Die Herausforde-rer – 25 neue Weltkonzerne, mit denen wir

rechnen müssen« heißt es: »Es sind nicht mehr nur die großen westlichen Konzer-ne, die die Internationalisierung der Wirt-schaft dominieren. Neben die traditio-nellen Multis wie Nestlé und Shell sind die Newcomer aus den Schwellenländern getreten, die Globalisierung nach eige-nen Regeln spielen. Gestützt auf schnell wachsende Heimatmärkte, billige Ar-beitskräfte und eine hervorragende Aus-stattung mit Rohstoffen lehren die jun-gen Herausforderer die alteingesessenen Konzerne das Fürchten. Das ist spätestens klargeworden, seit mit Mittal und Tata zwei Konzerne mit indischen Wurzeln den Weltmarkt für Stahl aufmischen und Gazprom uns jeden Tag spüren läßt, wie abhängig wir von russischem Gas sind. Wer weiß, daß Cemex die Nummer zwei weltweit unter den Zementkonzernen ist oder die indische Reliance die größte Raf-finerie der Welt baut, wer ist sich bewußt, daß hinter den Staubsaugern von Hoover die chinesische TTI steht?«

Die von Lenin untersuchte Internatio-nalisierung der Produktion hat ebensol-che rasanten Veränderungen durchlaufen wie das Wachstum der Konzerne selbst. Zu welcher »neuen Qualität« führen diese strukturellen Veränderungen?

Beate Landefeld schreibt dazu: »Über 70 Prozent der 82 000 transantiona-len Konzerne (TNK) kommen aus den reichen kapitalistischen Ländern, nur 28 Prozent aus den Entwicklungs- und Schwellenländern. Von den 500 größten Konzernen der Welt kamen 2008 mehr als drei Fünftel (313) aus den fünf Län-dern USA, Japan, Deutschland, Frank-reich und GB. Nur China war mit 37 unter die ersten fünf vorgedrungen. Vergleicht man diese Verteilung der TNK mit 1980 so zeigen sich starke Verschiebungen in den ökonomischen Stärkerelationen: zu Lasten der USA und GB, starkes Schwan-ken bei Japan, Stabilität bei Deutschland und Frankreich und der Aufstieg Chinas auf Platz fünf (= große Ungleichmäßig-keit im Tempo der Entwicklung).« (Beate Landefeld: Imperialismusdiskussion in der DKP. Synopse zu fünf Streitfragen,

Seite 5. Im Internet: http://www.alice-dsl.net/maschessen/Texte.html)

Diese Ungleichmäßigkeit der Ent-wicklung des Imperialismus muß uns zu einem genaueren Hinsehen anhalten. Der moderne Imperialismus weist di-verse Spielarten auf. (Vergl. Hans-Peter Brenner: Hegemonialmacht USA, »Glo-balisierung« und die Leninsche Lehre von den unterschiedlichen Imperialis-mustypen, in: Marxistische Blätter, 5/2003)

4. Imperialismus als formationslo-

gische Kategorie; sein »historischer Platz«

Lenins Imperialismustheorie kann nicht nur mit seiner Arbeit »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus« gleichgesetzt werden. Wenn man über sei-ne Imperialismustheorie spricht, gehören folgende Arbeiten unbedingt dazu: a) »Die drohende Katastrophe und wie man sie überwinden soll« vom September 1917b) Über die Losung der »Vereinigten Staa-ten von Europa«c) Lenins Referat zum Parteiprogramm der KP Rußlands von 1919 d) seine Referate auf den ersten drei Kom-intern-Kongressen.

Ich verweise in diesem Zusammen-hang auf einen sehr schönen Aufsatz von Wolf-Dieter Gudopp, den er aus Anlaß des 80. Jahrestags des Erscheinens der Lenin-Schrift über den Imperialismus pu-bliziert hatte. Gudopp begründet u.a. aus der Feindseligkeit der Bourgeoisie gegen-über dem Leninschen Begriff (nicht dem Wort) des »Imperialismus«, worin dessen Gefährlichkeit für die Herrschenden ei-nerseits liegt und warum es absolut unzu-lässig für eine auf radikale Gesellschafts-veränderung setzende Linke ist, auf diese Kategorie zu verzichten. Er schreibt: »Die Imperialismustheorie gehört … zu den wenigen Theoremen, die die bürgerliche Apologetik mit Macht zu unterdrücken sucht. Da diese Theorie der Angelpunkt des Leninschen Denkens ist, schließt das Verdikt den Begriff des Marxismus-Le-ninismus ein. Ich rede vom Begriff, nicht vom Wort ›Imperialismus‹ …

Was macht den Begriff für die Reakti-on gefährlich? Das ist zunächst generell sein ökonomischer und klassenpolitischer Kerngehalt. Vor allem aber ist es sein Charakter als geschichtstheoretischer Be-griff. Er begreift die allgemeine Krise des Kapitalismus ebenso wie die Notwendig-keitstendenz zum Sozialismus. Aus der Analyse des sich entwickelnden Kapita-lismus bestimmt er die kritische Phase, in der sich die Epoche des Übergangs

vom Kapitalismus zum Sozialismus ak-tuell verdichtet und konzentriert. Wer ernsthaft vom Imperialismus spricht, sagt nicht nur, daß entgegen dem Augenschein der Kapitalismus endlich ist, sondern sich bestimmbar in seinem Endstadium be-findet.« [Wolf-Dieter Gudopp: Über den Imperialismus und »die Periode der Welt-kriege« (Rosa Luxemburg). In Marx-En-gels-Stiftung (Hrsg.): Großmachts- und Kriegspolitik heute. 80 Jahre nach Lenins Imperialismuskritik«. Wuppertal 1997, Seite 87 f]

Der Imperialismus muß also als Be-standteil der marxistischen Formations-theorie betrachtet werden. Sie ist die Grundlage zum Verständnis des modernen Monopolkapitalismus als einer Epoche des »Übergangs zum Sozialismus« oder auch des »Vorabends der proletarischen Revolution«, wie Lenin formulierte. Das erfordert mehr als ein laufendes Update von Konzern- und Konjunkturdaten oder von Einzelanalysen.

5. »Höchstes« oder nur »jüngstes« Stadium des Kapitalismus?

Ich kann deshalb nicht Auffassungen fol-gen, die selbst von führenden Vertretern meiner Partei, der DKP, geäußert werden, wonach Lenin vom Imperialismus nur als dem »jüngsten« Stadium des Kapitalis-mus gesprochen hätte. Erst in den 30er Jahren hätte die Komintern (unter Stalins Einfluß?) den Titel – und damit auch die Charakterisierung des Imperialismus selbst – geändert in »höchstes« Stadium des Kapitalismus.

Lenin selbst hat aber diesen uns be-kannten Titel bestimmt. Die Erstauflage seiner Imperialismus-Schrift mußte je-doch aus Rücksicht auf die zaristische Zensur an vielen Stellen in einer »Skla-vensprache« formuliert werden. Dadurch kam es in den ersten Auflagen zur Titel-variante »jüngstes Stadium« des Kapita-lismus.

In Band 39 der Lenin-Werke läßt sich genau nachvollziehen, welche Gedanken Lenin sich über den Titel dieser Schrift gemacht hatte. So heißt es in Heft »Be-ta« unter der Überschrift »Zur Frage des Imperialismus« wörtlich und doppelt umrandet (Lenin Werke, Band 39, Seite 184): »Der Imperialismus als das höchste (moderne) Stadium des Kapitalismus«. Auf Seite 219 desselben Bandes steht ìn Heft »Gamma« wörtlich unter der fettge-druckten Überschrift: »Plan zu dem Buch ›Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus‹ (Gemeinverständlicher Abriß)«

Danach folgt in eckigen Klammern der erläuternde Satz: »[Für die Zensur: etwa: ›Die grundlegende Bedeutung des mo-dernen (neuesten) Kapitalismus (seines neuesten Stadiums)]«.

Dies ist kein Streit unter buchstaben-gläubigen Schriftgelehrten. Es geht um eine revolutionstheoretisch und strate-gisch sehr entscheidende Frage, nämlich: In welcher objektiven Beziehung steht der Imperialismus zur nächsthöheren For-mation, dem Sozialismus? Muß eine re-volutionäre Strategie nicht von der immer deutlicher werdenden objektiven Mach-barkeit und Notwendigkeit des revolutio-nären Bruchs mit diesem längst historisch »überreifen« Kapitalismus ausgehen?

Das ist die Position der DKP und ihrer antimonopolistischen Strategie, die auf diesem formationslogischen und histori-schen Verständnis des Imperialismus auf-baut und deshalb in einer dialektischen Verbindung von Tages-, Abwehr- und Reformkämpfen mit dem sozialistischen Ziel eine Strategie der konkreten näch-sten Schritte zum revolutionären Bruch mit dem Kapitalismus und zum Übergang zum Sozialismus vertritt.

Die Leninsche Imperialismustheorie ist also ein Prüfstein für das Selbstver-ständnis von revolutionären Marxisten und Kommunisten.

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2. April: Besichtigung einer Lehrwerkstatt des UNHCR in Dschuba (Südsudan). Bei einem Referendum am 9. Janu-ar hatten sich rund 99 Prozent der Abstimmen-den für die Gründung eines eigenen Staates im Süden des Landes ausge-sprochen.

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Mittwoch, 13. April 2011, Nr. 87 junge Welt 4 le n i n s u n d u n s e r i m p e r i a l i s m u s

Im 14. Jahrhundert entbrannte in der Theologie und neu beginnenden Philosophie der sogenannte Uni-versalienstreit zwischen Realisten

und Nominalisten. Erstere – die »Reali-sten« – hielten die allgemeinen Begrif-fe (die »universalia«) für eine Realität (»universalia sunt realia«), Letztere – die Nominalisten – nur für austauschbare Namen (»universalia sunt nomina«). Die Nominalisten waren die modernere Richtung und bereiteten den neuzeitli-chen Naturwissenschaften den Weg.

An sie sollte sich halten, wer der Frage nachgeht, ob wir heute noch oder schon wieder im Imperialismus leben.

Für Lenin war das eine feststehen-de Tatsache und deshalb auch nicht ei-ner erneuten Nachfrage wert. Daß man 1916/17 – da entstand bzw. erschien seine klassische Schrift zum Thema – sich im Imperialismus befand, war Gemeingut der Zeitgenossen (auch der bürgerlichen), nicht aber, daß es sich um die höchste (bei Lenin übrigens nicht zwingend: die letzte) Phase des Kapitalismus handelte – mit der Betonung auf dem Wort Kapi-talismus. Die Zeitgenossen faßten den Imperialismus nämlich keineswegs alle als eine Variante des Kapitalismus, son-dern z. B. affirmativ als Beweis für die Dynamik und Überlebensnotwendigkeit der je eigenen Nation. Lenin ging es dar-um, die verschiedenen Erscheinungen des Imperialismus – koloniale Expansion, Waren- und Kapitalexport, Kriegstendenz und innere Repression – auf eine zentrale und letzte Ursache zurückzuführen, den Kapitalismus. Auf den Begriff Imperia-lismus kam es also gar nicht so sehr an, er wäre ersetzbar gewesen, hätte er sich als Anknüpfungspunkt aufgrund der damals herrschenden Terminologie nicht ange-boten.

Wir sind heute in einer anderen Situa-tion. Der gängige Modebegriff, der an die Stelle des Terminus Imperialismus getre-ten ist, ist die sogenannte Globalisierung. Sie ist – was die internationale Ebene angeht – die jüngste Phase des Kapitalis-mus. Wer sie analysiert, wird versucht sein zu untersuchen, ob die von Lenin referier-ten Merkmale des Imperialismus noch zutreffen. Man findet die Stecknadel im Heuhaufen dann dort, wo man sie vorher hineingesteckt hat und lernt nichts. Neh-men wir einmal an, die Frage werde mit »ja« beantwortet, dann ergibt sich doch nicht unbedingt, daß der Imperialismus noch derselbe sei wie 1916/17. Und selbst falls man dies annimmt, folgt daraus nicht automatisch, daß ein im Vergleich zu da-mals unveränderter Imperialismus noch im gleichen Maße ein dominantes Phäno-men ist oder nur eines unter anderen.

Seien wir also Nominalisten. Ana-lysieren wird die Realität ohne die Be-griffsvorgaben »Imperialismus« hier oder »Globalisierung« dort und sehen wir zu, was dabei herauskommt.

Historisches VerfahrenUnter den verschiedenen Arten, wie man sich dieser Aufgabe annehmen kann, wird hier die historische gewählt: der Versuch, den Kapitalismus in seiner nun schon über fünfhundertjährigen Geschichte zu periodisieren. Hierzu benötigen wir Kriterien. Sehr geeignet sind dafür die bislang großen industriellen Revolutio-nen (um 1780, um 1900, seit 1960) und die drei oder vier systemischen Krisen: 1873, 1929, 1975, vielleicht auch 2007 bis 2009.

Diese Auswahl übergeht die erste und zugleich längste Phase in der Geschichte des Kapitalismus: den Agrar- und Han-delskapitalismus von circa 1500 bis 1780. Dabei waren auch ihm technologische Re-volutionen vorausgegangen: die Durch-setzung der Nockenwelle (wichtig für die Tuchproduktion), die schließliche Aus-breitung und dauerhafte Etablierung der schon aus dem Frühmittelalter bekann-ten Dreifelderwirtschaft im 13. Jahrhun-dert und die »militärische Revolution« (Einführung der dann für die Eroberung von Kolonien so wichtigen Feuerwaffen), Neuerungen im Bau hochseetüchtiger Schiffe und der auf der Astronomien be-ruhenden Nautik. Es fehlen noch die zy-klischen Krisen, die für den Industrieka-pitalismus ab 1780 deshalb typisch sind, weil sie sich aus der Akkumulation und der unter den Bedingungen der Konkur-renz unvermeidlichen Überakkumulation ergeben. Wir beginnen also mit der Ersten Industriellen Revolution. Seitdem haben wir eine Abfolge von zyklischen und sy-stemischen Krisen.

Eine kleine KrisenkundeKapitalismus ist Akkumulation von Kapi-tal aus Gewinnen, die aus der Anwendung von Lohnarbeit gezogen werden. (Eine Ausnahme stellt laut Marx die sogenann-te ursprüngliche Akkumulation dar: die Verwandlung von zunächst nichtkapita-listischen Ressourcen in kapitalistische.) Sie ist immer zugleich auch Spekula-tion – gleichgültig, ob in der Produktion oder in der Zirkulation. Wer z.B. in eine Fertigungsanlage investiert, tut dies in der Erwartung (gleich Spekulation), daß das hierfür eingesetzte Kapital nicht nur beim Verkauf der dort erzeugten Güter wieder hereinkommt, sondern daß es auch vermehrt werden kann. Diese im Kapitalismus auf Spekulation gegründe-te Akkumulation wird immer wieder zu Überakkumulation führen, die in Krisen abgebaut wird: Lohnsenkungen, Abbau von Arbeitskräften, Schwächung der Ge-werkschaften und Stärkung des Kapita-lismus als Ganzen, mögen viele einzelne Kapitalisten dabei auch Schaden leiden.

So viel zu den 1. zyklischen Krisen.2. Die ökonomischen Systemkrisen des

Kapitalismus unterscheiden sich davon dadurch, daß in ihnen nicht nur Überak-kumulation abgebaut, sondern der Kapi-talismus selbst transformiert wird.

Es gibt noch eine dritte Krisenform: die 3. politische Krise. Von dieser sehen wir im Folgenden ab. Sondern sprechen ausschließlich vom Krisentyp Nr. 2: von ökonomischen Transformationskrisen. Bislang kennen wir drei oder vier solcher Systemkrisen: 1873, 1929, 1974/75 und – vielleicht! – 2007 ff.

1780 bis 1873: Kapitalismus der unge-hemmten Konkurrenz. Die erste Phase des Industriekapitalismus begann mit der klassischen Industriellen Revolution circa 1780 und endete mit der »Großen Depres-sion« der Jahre 1873 bis 1895/96.

Dies war der Kapitalismus der frei-en Konkurrenz, der »Manchesterkapita-lismus«. Die führenden Branchen waren zunächst die Textil-, dann die Montan-industrie, die entscheidenden Techno-logien waren in den mit Wasser-, dann mit Dampfkraft betriebenen Spinn- und Webmaschinen, schließlich in den Eisen-bahnen eingesetzt worden. Der typische Kapitalist war der Einzelunternehmer, oft ein »Gründer«. Die Eisenbahnen ent-standen auf Aktienbasis und waren somit

auch Objekt der Spekulation, überdies der Überakkumulation. Beide brachen 1873 zusammen.

1873 bis 1929: Organisierter Kapi-talismus und Imperialismus. Aus der »Großen Depression«, die von 1873 bis 1895/96 dauerte, ging der Organisierte Kapitalismus hervor. An die Stelle der von Einzelnen geleiteten Unternehmen traten Aktiengesellschaften, Kartelle, Trusts und Monopole, die aber immer noch von dominanten individuellen Kapi-talisten (Rathenau, Siemens, Rockefeller) beherrscht wurden. In der Zweiten Indu-striellen Revolution (um 1900) traten die Chemie- und die Elektroindustrie neben die Montanindustrie, beide wirkten durch die Raffinierung von Erdöl und den Ein-satz der Zündkerze (Bosch) auch in einem Zukunftszweig des 20. Jahrhunderts zu-sammen: der Automobilbranche.

Im Aufschwung seit 1896 entstand wie-der Überakkumulation. Abhilfe schien Kapitalexport zu schaffen, insbesondere in die Kolonien, wo das dort angelegte Kapital politisch und militärisch gesichert wurde. So bildete sich der Imperialismus heraus, in dem die großen Industrienatio-nen ihre Einflußsphären vergrößerten, in Konkurrenz zueinander traten und ihren Konflikt schließlich im Ersten Weltkrieg austrugen. Er war für die Menschen eine Katastrophe, für das Kapital eine Wohltat: Massenhaft konnten Militärgüter erzeugt und gleich anschließend zerstört und er-setzt werden: Überakkumulation gab es da nicht. Die entstand allerdings in den zwanziger Jahren in den USA, die als die größte Wirtschaftsnation aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen waren. Die von dort ausgehende Weltwirtschaftskrise von 1929 führte zu einem neuen Formwechsel des Kapitalismus.

1929 bis 1975 Staatsmonopolistischer Kapitalismus und Keynesianismus. Die neue Formation trat ab 1933 deutlicher hervor: Big Business, Big Labour und Big Government kooperierten. Diese Art ihrer Zusammenarbeit wurde von einem Teil der marxistischen Theorie als staats-monopolistischer Kapitalismus bezeich-net. (Andere sprechen vom »Korpora-tismus«.) Die typischen Repräsentanten der Kapitalistenklasse waren jetzt nicht mehr die Einzelunternehmer, sondern die Manager: Leitende Angestellte der Akti-engesellschaften. Keynes schien das rich-tige Rezept gefunden zu haben: staatliche Investitionen, Deficit spending, Steige-rung der Massenkaufkraft. Der größte Effekt kam durch die Rüstung. Weil Hit-ler-Deutschland damit anfing, überwand Deutschland die Rezession zuerst. In den USA war sie letztlich erst am Vorabend ihres Eintritts in den Zweiten Weltkrieg vorbei, der sich – wie schon der Erste – zwar als eine humanitäre Katastrophe, aber erneut als ein Segen für das Kapital erwies.

Die Periode 1929 (bzw. 1933) bis 1975 läßt sich in zwei Phasen unterteilen:1. den staatsmonopolistischen Kriegska-pitalismus bis 1945,2. den staatsmonopolistischen Wohl-fahrtskapitalismus 1945 bis 1975.Insgesamt dominierten In den Jahrzehnten 1933–1975 (neben der Rüstung) Produkti-on und Absatz langlebiger Konsumgüter, deren Basis in der Zweiten Industriellen Revolution gelegt worden war (Automo-bile, Elektrogeräte).

Bis 1945 eskalierten die Konflikte des von Lenin analysierten Imperialismus. Für die Jahre bis 1975 war er durch die Systemauseinandersetzung eingedämmt

und nahm im Verhältnis der kapitalisti-schen Länder zueinander kooperative Zü-ge an.

1975 ff. Finanzmarktgetriebener Kapi-talismus. Seit Anfang der fünfziger Jah-re bereitete sich die Dritte Industrielle Revolution mit dem Einsatz numerisch gesteuerter Werkzeugmaschinen vor. Sie setzte sich Ende der sechziger/Anfang der siebziger Jahre dann mit dem brei-ten Verwendung von Mikroelektronik in der Produktion durch. Nicht sofort, aber auf längere Sicht bedeutete das Entwer-tung bereits vorhandener Anlagen und gab den Unternehmern die Möglichkeit, Arbeitskräfte einzusparen.1 Dies wurde angesichts der gewachsenen Kampfstärke der Gewerkschaften zunehmend zu einer Option zwecks Verschiebung des Kräf-teverhältnisses zu Lasten der Arbeit und zugunsten des Kapitals.

1973 endete das 1944 errichtete Wäh-rungssystem von Bretton Woods mit sei-nen festen Wechselkursen. Damit wur-de das Geld zu einer Ware für ständige Spekulation an den Börsen. Kapital ist der produktiven Arbeit und der Auseinan-dersetzung mit den starken Gewerkschaf-ten entzogen und zu seiner spekulativen Vermehrung an den Finanzmärkten ein-gesetzt worden. Damit fragte es weni-ger nach Arbeitskraft nach, wodurch eine steigende Arbeitslosigkeit einsetzte.

Die Weltwirtschaftskrise 1975 brachte die Transformation vom staatsmonopoli-stischen Kapitalismus in den finanzmarkt-gesteuerten Kapitalismus.2 Als seine zen-tralen ökonomischen Akteure sind die bisherigen Industriemanager durch die Investoren und Geldsammler der Finanz-dienstleistungsbranche abgelöst worden. Letztere wuchs schneller als alle anderen Wirtschaftszweige.

Die dominanten Akteure des Finanz-marktkapitalismus in Ökonomie und Po-litik verfolgten drei Strategien: Spekula-tion, Druck auf die Unternehmen und Be-legschaften, Ausschlachtung des Staates und der Kommunen durch Privatisierung.

Durch die 1975 einsetzende Massenar-beitslosigkeit wurden die Gewerkschaf-ten geschwächt und die Löhne gedrückt. In den achtziger Jahren sind durch Bör-senspekulation hohe Gewinne erzielt worden. Danach kehrten große Kapital-massen wieder aus der Zirkulation in die Produktion zurück: die Dritte Industrielle Revolution hatte inzwischen den Kon-sumgütermarkt erreicht, wo das Angebot an Mobiltelefonen, Heimcomputern, Lap-tops auf eine starke Nachfrage stieß. 2001 endete dieser Boom mit einem Einbruch. Anlage suchendes Kapital fand jetzt ein neues Aktionsfeld in der zunächst von den USA ausgehenden Spekulation mit Immobilienkrediten.

Die Finanz-, Banken- und Wirtschafts-krise 2007 bis 2009 beendete den ihr vorangehenden Hypotheken- und Kredit-Boom. Sie ist die Nachfolgekrise der Kri-se von 1975: diese war auf lange Sicht ihre Voraussetzung und ist insofern wichtiger als der Crash von 2007 ff. Der Arbeits-markt war bereits 1975 durch ein hohes Maß an Erwerbslosigkeit charakterisiert. Anders als 1929 bis 1933 und 1975 kam es mit Einsetzen der Krise 2007/2008 zunächst nicht zu einem Einbruch der Beschäftigung – den hatte es lange vorher schon gegeben.

Systemische Krise?Von einer systemischen Krise 2007 ff. könnte man sprechen, wenn der Kapitalis-

Georg Fülberth ist eme-ritierter Professor für Politikwissenschaften der Universität Mar-burg. Im März erschien von ihm: »Das Kapital« kompakt. PapyRossa Verlag , Köln 2011, Reihe Basiswissen, 123 Seiten, 9,90 Euro

Gegen BegriffsfetischismusEpochen, Stadien, Formationen, Regulierungsformen – wie man den sich wandelnden Kapitalismus möglichst treffend analysiert und damit auch periodisiert. Von Georg Fülberth

1 Katzenstein, Robert: Die Investitionen und ihre Be-wegung im staatsmonopo-listischen Kapitalismus. Zu einigen Fragen der Repro-duktion des fixen Kapitals, der zyklischen Bewegung der Gesamtproduktion und des technischen Fortschritts in Westdeutschland nach dem Kriege. Berlin 1967; Katzen-stein, Robert: Technischer Fortschritt – Kapitalbewe-gung – Kapitalfixierung. Eini-ge Probleme der Ökonomie des fixen Kapitals unter den gegenwärtigen Bedingungen der Vergesellschaftung der Produktion im staatsmono-polistischen Kapitalismus. Berlin 1974.

2 Hierzu und zum Folgenden siehe Huffschmid, Jörg: Hin-ter der Bühne. Kapitalmarkt-getriebener Kapitalismus und Krise. In: Pfeiffer, Hermannus (Hg.): Land in Sicht? Die Krise, die Aussichten und die Linke. Köln 2009. S. 18–30.

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junge Welt Mittwoch, 13. April 2011, Nr. 87 5le n i n s u n d u n s e r i m p e r i a l i s m u s

mus nach ihr eine neue Gestalt annehmen würde. Dabei sind immerhin zwei Mög-lichkeiten denkbar:

1. eine Regulierung der internationalen Finanzmärkte, die die Spekulation nicht beseitigt, aber im Interesse der Vermö-genden kanalisiert.

2. Langfristig könnte ein neuer Typ des Kapitalismus auch durch eine Ver-änderung bestimmt werden, für die seit Obama – rasch aufgegriffen u. a. von der grünen Partei in Deutschland – der Be-griff »Green New Deal« aufgekommen ist. Im Kern handelt es sich um Schutz des konstanten Kapitals. Dies kann so erklärt werden: Seit Mitte des 19. Jahr-hunderts war unverkennbar geworden, daß der Kapitalismus der freien Konkur-renz drauf und dran war, seine spezifische

Grundlage zu ruinieren: die Arbeitskraft, in die Kapital in Form von Lohn investiert wurde. Marx bezeichnete diese Kapital-sorte als »variables Kapital«. Auf seinen Schutz liefen objektiv die Bemühungen der Arbeiterbewegung, des Sozialkatho-lizismus und des Sozialkonservativismus seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-derts hinaus.

Erhöhten sich auf diese Weise die Lohnkosten, so sollten die Ausgaben für Rohstoffe, Halbzeug, Energie und Ma-schinen (Marx bezeichnet alle diese Pro-duktionsvoraussetzungen als »konstantes Kapital«) gesenkt werden, um das, was auf der einen Seite verlorenging, auf der anderen zu kompensieren. Mittel dafür waren und sind u. a. der Bezug wohlfeiler Rohstoffe aus in Abhängigkeit gehalte-

nen Gebieten (früher: Kolonien, heute: politisch postkoloniale, ökonomisch aber noch den Zentren ausgelieferte Länder) sowie die Externalisierung von Kosten: Belastung von Boden, Wasser und Luft mit Abgasen und Abstoffen. Raubbau und die Überforderung von Senken kann auf Dauer jedoch die Reproduktion des konstanten Kapitals erschweren – wenn z. B. durch Erwärmung der Atmosphäre, Überfischung oder sonstige Plünderung der Meere, Kontaminierung des Bodens die materialen Voraussetzungen der Pro-duktion nur nach umfangreichen und kostspieligen Reparatur- und Renaturie-rungsmaßnahmen erhalten werden kön-nen. Umweltschutz ist dann eine Politik zur Förderung des konstanten Kapitals.

Konfrontativer oder kooperativer Impe-

rialismus? Aggressiver Waren- und Kapi-talexport, die Sicherung des Zugriffs auf Rohstoffquellen und Zugang zu diesen in Konkurrenz der kapitalistischen Län-der untereinander: diese Merkmale des klassischen (bis 1945) Imperialismus sind seit dem Ende des realen Sozialismus wieder relevant geworden. Setzen sie sich durch, wird die Regulierung der Finanz-märkte und des stofflichen Haushalts, die nur international zu bewerkstelligen sind, unmöglich. Beide Varianten – Rückkehr zum klassischen Imperialismus oder ein neues internationales Regime – wären ein Bruch mit der Politik der vergangenen Jahrzehnte (sowohl 1945 bis 1973 als auch 1973 bis 2007), und insofern wäre die Kri-se der Jahre 2007 bis 2009 in jedem Fall eine systemische gewesen.

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Internationale Postulate für eine linke Politik heute: Die Briefe aus der Ferne zeigen, wie global diese Welt auch den Feminismus gemacht hat. 49 Feministinnen aus 13 Ländern auf 6 Kontinenten liefern Bestandsaufnah-men der politischen Lage an verschie-denen Orten, Erörterungen möglicher Politikformen und fl ammende Plädo-

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Es schreiben Elfriede Jelinek, Sami Naïr, Etienne Balibar, Raul Zelik, W. F. Haug, Karl Marx, Bernd Rüthers, David Salomon, Timm Ebner, Jörg Nowak, Wolfram Adolphi, Ursula Schröter, Peter Mayo, Inez Hedges, Sigrid Asamoah, Cynthia Cockburn, Lisa S. Price, Frigga Haug, Jane Kilby, Judith Butler, Durs Grünbein, Vesa Oittinen, Christian Sig-rist, Klaus Meschkat.

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Immer unterwegs im In-teresse deutscher »Ent-wicklungshilfe«: Niebel im September 2009

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Mittwoch, 13. April 2011, Nr. 87 junge Welt 6 le n i n s u n d u n s e r i m p e r i a l i s m u s

Mit der jüngsten Weltwirt-schaftskrise und dem staat-lichen Krisenmanagement tauchte der Begriff des

staatsmonopolistischen Kapitalismus in der Öffentlichkeit wieder auf. Für alle wurde s, daß der Staat in allen führen-den kapitalistischen Ländern zur Bewäl-tigung der Krisenprozesse direkt mit all seiner ökonomischen und politischen Po-tenz in den Wirtschaftsprozess eingreift, um die Existenz dieses Systems, in erster Linie aber die monopolistische Macht zu sichern. Es zeigte sich, daß im Verhält-nis von Politik und Wirtschaft das enge Beziehungsgeflecht von Monopolen und Staat zum entscheidenden Knotenpunkt für die Entwicklung des heutigen Ka-pitalismus und seines Funktionsmecha-nismus geworden ist. Ohne Beachtung dieses Fakts in der konkreten Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus ist es deshalb auch nicht möglich, Alternativ-projekte und antikapitalistische Strategi-en zum heutigen Gesellschaftssystem zu entwerfen.

Lenin hat in seiner Imperialismusana-lyse das ökonomische Monopol »als Kern der ganzen Sache« bezeichnet und den inneren Zusammenhang zwischen dem aus dem Konzentrationsprozeß des Ka-pitals erwachsenden Monopol einerseits und den gesellschaftlichen Grundeigen-schaften des imperialistischen Systems andererseits gezeigt. Bis in die heutige Zeit sind die Monopole nach wie vor das wesentliche Strukturelement des Ka-pitalismus und haben vor allem durch die außerordentliche hohe ökonomische Machtkonzentration wachsenden poli-tischen Einfluß auf die Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft. Sie sind in riesigen Banken-, Industrie-, Handels-, Medienkonzernen organisiert, im hohen Grad international ausgerichtet und struk-turiert und bilden bei gleichzeitiger Exi-stenz eines großen Sektors an kleinen und mittleren Unternehmen die entscheidende sozialökonomische Grundlage der Ent-wicklung dieses Gesellschaftssystems.

Das zeigt sich in verschiedenen Pro-zessen:

Erstens: Es ist ein bisher nie gekann-ter Grad der monopolistischen Herrschaft festzustellen. Das betrifft den Umfang des bei wenigen Konzernen im nationalen und internationalen Rahmen konzentrier-ten ökonomischen Potentials sowie seine finanzkapitalistische Ausprägung.

Es sind Monopole in ganz neuen Grö-ßenordnungen, die mit ihren riesigen, international strukturierten Wirtschafts-komplexen in der Entwicklung des heu-tigen Kapitalismus eine Rolle spielen.Sie verfügen über die entscheidenden Produktionsbedingungen und Reproduk-tionszusammenhänge, nehmen in den industriellen Schlüsselbereichen und im Finanzwesen überragende Positionen ein. Ihre ökonomische Machtkonzentration schlägt sich vor allem im Ausbau ihrer Führungspositionen in der Weltwirtschaft nieder.

So sind die Vermögenswerte der größ-ten 100 nicht-finanziellen transnationa-len Konzerne führender Industrieländer allein zwischen 2003 und 2008 von 5,6 Billionen auf 8,5 Billionen Dollar ange-stiegen, die der 50 größten internationa-len Finanzgiganten haben sich von 2006 bis 2008 von 45,5 Billionen US-Dollar auf 53,6 Billionen US-Dollar erhöht. Überaus stark hat sich der Internationali-sierungsgrad der mächtigsten Monopole erhöht. Für die hundert führenden nicht-finanziellen Konzerne ergibt sich entspre-chend den Angaben der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung UNCTAD ein durchschnittlicher Internationalisie-rungsgrad (TNI) von 64 Prozent, für die 50 mächtigsten Finanzkonzerne in Inter-nationalisierungsindex (II) von durch-schnittlich 69 Prozent.

Diese Konzerne sind Träger des Kapital-exports – nach Lenin »das«Kennzeichen

der Herrschaft der Monopole. Ihre auslän-dischen Direktinvestitionen weisen neue Maßstäbe auf, denn sie sind maßgebend für die weitere Machtexpansion der Kon-zerne im Kampf um Einflußsphären und hohe Profitraten. Das gesamte Volumen an ausländischen Direktinvestitionen in der Welt betrug 2007 3,8 Billionen US-Dollar und wurde zu 70 Prozent aus den großen wirtschaftlichen Machtzentren des Kapitals gesteuert.

InfrastrukturZweitens: Charakteristisch für die neue Stufe der Monopolmacht ist die Expan sion des Großkapitals in neue Anlagesphären auf der Grundlage der Monopolisierung neuer wissenschaftlich-technischer Er-kenntnisse und ihrer ökonomischen An-wendungsgebiete.

Neben der Informations- und Kommu-nikationsindustrie betrifft das z. B. den gesamten Bereich der Infrastruktur. Dazu zählen jene Bereiche, die bisher nicht der Profitlogik unterworfen waren, wie die öffentliche Daseinsvorsorge, das Ge-sundheitswesen, die Altersvorsorge, die Energie- und Wasserwirtschaft und eine Vielzahl öffentlich-rechtlicher Einrich-tungen der Wissenschaft, Bildung und Kultur. Daneben sind es aber auch die sich neu formierenden Märkte der In-frastruktur im Zusammenhang mit dem wissenschaftlich-technischem Fortschritt und den globalen Problemgebieten wie Umwelt, Klima und Ernährung, die ma-terielle Lösungen auf einem hohen ver-gesellschafteten Niveau erfordern. Das

privatmonopolistische Kapital erschließt sich diese neue Anlagesphären, die über die bisherige industriell geformte Real-wirtschaft hinausgehen, aber mit deren Entwicklung im engen Kontext stehen und vor allem international geprägt sind.

Als eine solch neue internationale Kapi-talanlagesphäre hat sich die Infrastruktur-industrie herausgebildet. Sie ist bereits zu einem Kampfplatz um Machtpositionen der großen transnationalen Konzerne und ihrer Staaten geworden und entwickelt sich zu einem äußerst profitablen Markt für Kapitalanlagen im Zusammenhang mit dem raschen wissenschaftlich-tech-nischen Fortschritt und in Kombina tion von Teilbereichen der Elektroenergie, der Telekommunikation, des Transports, der Wasser- und Erdgaswirtschaft. Die Expan-sion in diese Sektoren nutzen die mächti-gen internationalen Konzerne zur Aneig-nung neuer Bedingungen der Profitpro-duktion und zugleich zur Erweiterung der Verfügung über materielle Ressourcen. So hat sich der Bestand an ausländischen Investitionen in den großen Teilbereichen dieses Sektors in Afrika, Lateinamerika und Asien im Zeitraum von 1995 bis 2006 um mehr als das Zehnfache von 15,4 auf 158,9 Milliarden US-Dollar erhöht. Die 100 größten Infrastrukturkonzerne der Welt – darunter 53 Konzerne der EU und 14 aus den USA – beherrschen diesen Markt. Besonders in den Entwicklungs-ländern und den Schwellenländern haben sie die entscheidenden Bereiche dieses Sektors monopolisiert. Und sie nutzen diese Positionen – vor allem in Afrika – zugleich für ein verstärktes Engagement im Rohstoffsektor. Das macht auch deut-lich, welch ein Gewicht gerade politische Veränderungen in diesen Ländern für die entwickelten Industriestaaten haben.

Neue QualitätDrittens: Die Finanzkapitalmacht ist zum überragenden Akteur der Monopo-lisierung geworden und befördert jene für Erhalt und Weiterentwicklung des Kapi-talismus notwendige Struktur monopo-listischen Eigentums. In seiner heutigen Funktion als Hebel für die Wirksamkeit des gesamten ökonomischen Poten-tials eines Landes ist der Finanzsektor zugleich auch existentiell für die Kapi-talverwertung und Expansion der mäch-tigen Monopole, denn es geht hier um die notwendige Kapitalmobilisierung in neuen Dimensionen, um Vermittlung und Steuerung der riesigen Kapitalströme, um Risikoabsicherung von immensen Kapitalanlagen zur Erweiterung mono-polistischer Wirtschaftsstrukturen in ei-ner zunehmend international geprägten Wirtschaft. Der Finanzmarkt ist somit ein entscheidender Faktor der Konzentration und Zentralisation des Kapitals in den Händen relativ weniger Großkonzerne und Monopolgruppierungen.

Das ist eine wesentlich neue Qualität in der kapitalistischen Entwicklung ge-genüber der Zeit Anfang des vergangenen Jahrhunderts, obgleich hier bereits der Be-ginn dieser Entwicklung lag. Erinnert sei an Rudolf Hilferdings Analyse des Finanz-kapitals. In ihr hat er die Abhängigkeit der Industrie von den Banken als Folge der Eigentumsverhältnisse charakterisiert.

Lenin hob in seiner Imperialismusanaly-se »das Übergewicht des Finanzkapitals über alle anderen Formen des Kapitals« hervor. Und dies bedeutet, so schreibt er, die Vorherrschaft der Finanzoligarchie, bedeutet die Aussonderung weniger Staa-ten, die finanzielle »Macht« besitzen. Pe-ter Hess, der sich vor mehr als zwanzig Jahren mit diesen Trends in der finanz-kapitalistischen Entwicklung befaßt hat, schrieb: »Die Monopolisierung des kapi-talistischen Eigentums, relativ losgelöst von seiner produktiven Anlage, in Ge-stalt des Finanzkapitals ist die notwendi-ge Form der verdeckten Enteignung von Kapitalisten durch Kapitalisten unter den heutigen Bedingungen. Die Verschmel-zung von Industrie- und Bankkapital – Inhalt der Leninschen Definition des Fi-nanzkapitals – ist die Verschmelzung des Eigentums, nicht der Institutionen und institutionellen Verflechtungen. Sie bein-haltet gerade die Trennung von Eigentum und Funktion, aber auch ihren notwen-digen Zusammenhang. Man kann sagen, die Trennung von Eigentum und Funktion ist die Voraussetzung dafür, daß unter den Bedingungen einer hohen Vergesellschaf-tung der Produktion der Zusammenhang von modernem Produktionsprozeß und kapitalistischem Eigentum überhaupt noch gewährleistet werden kann.« (Peter Hess: Das Finanzkapital – Eigentums-form der Produktivkraftentwicklung im gegenwärtigen Kapitalismus. In: IPW- Berichte 9/89, Seite 20)

GroßfusionenFür die außerordentlich gewachsene Rolle des Finanzmarkts in der jüngsten Zeitperiode bildet die langfristige Ak-kumulation riesiger Finanzvermögen die ökonomische Grundlage. Sie gibt der Kapitalzentralisation, der zentrali-sierten Verfügung über fremdes Kapital zugunsten des Großkapitals einen ge-waltigen Schub. Man braucht sich nur die milliardenschweren Transaktionen der privaten Großbanken oder Hedge-fonds der letzten Jahre anzusehen, über die zu einem großen Teil die Super-großfusionen von Unternehmen im na-tionalen und internationalen Rahmen realisiert wurden. So gab es bei den grenzüberschreitenden Fusionen und Übernahmen von Unternehmen in einer Größenordnung mit je einem Transakti-onswert von über einer Milliarde Dollar im Zeitraum von 2005 bis 2008 – also bis zum Ausbruch der Finanzkrise – 967 derartige Zusammenschlüsse. Sie umfaßten laut UNCTAD einen Wert von insgesamt 33 Billionen Dollar.

Es bestätigt sich darin die Tendenz, daß nur mit der finanzkapitalistischen Konzentration des Eigentums in seinen vielen neuen Formen und der spezifi-schen Eigendynamik der Finanzmärk-te das Kapital die erforderliche Größe, Beweglichkeit und Elastizität erreicht, um sich national und international zu verflechten, sich neue Märkte und Ka-pitalanlagesphären zu erschließen. Der Finanzsektor ist, so gesehen, die »kapi-talistisch-rationelle« Form Erhalt und zur Erweiterung des heutigen Kapitalis-mus – und das ist er, obgleich er durch seine großen unkontrollierten Finanzge-

Ära heißer RessourcenkriegeNeue Züge in der Entwicklung des staatsmonopolistischen Systems. Von Gretchen Binus

Gretchen Binus ist eme-ritierte Professorin für Politische Ökonomie des Kapitalismus an der Martin-Luther-Universi-tät in Halle-Wittenberg und Mitherausgeberin der Marxistischen Blätter. Im Juni 2010 erschien ih-re Studie »Europäische Union: Konzernentwick-lung und EU-Außenpoli-tik«, herausgegeben von der Fraktion Die Linke im Bundestag.

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junge Welt Mittwoch, 13. April 2011, Nr. 87 7le n i n s u n d u n s e r i m p e r i a l i s m u s

schäfte und riesigen Finanzspekulatio-nen zum bedeutendsten ökonomischen Destabilisierungsfaktor geworden ist.

Funktionsgarant StaatDie jüngsten Monopolisierungstendenzen haben eine weitaus engere und intensivere Verknüpfung mit staatlichen Aktivitäten zur Voraussetzung als je zuvor. Ohne die Entfaltung des »Staatsmonopols«, wie Le-nin es nannte, funktioniert überhaupt kei-ne Richtung der Monopolisierung mehr, können die Existenzgrundlagen des Ka-pitalismus nicht gesichert werden. Daraus ergibt sich, daß damit auch immer neue Funktionen den Inhalt der ökonomischen Staatstätigkeit erweitern. Zwar resultiert der Staat aus dem politischen Kräftever-hältnis der verschiedenen Klassen und Schichten, er ist aber stets in seiner Funk-tion aus den Produktions- und Eigen-tumsverhältnissen herzuleiten. In jeder Gesellschaft, in der das Kapital über die gesellschaftlichen Produktionsbedingun-gen herrscht, ist der Staat Ergebnis ihrer wirtschaftlichen Machtverhältnisse und damit politische Klassenherrschaft. Ent-sprechend seiner heutigen Grundstruktur mit der Dominanz der Großkonzerne und

ihres überragenden wirtschaftlichen Po-tentials garantiert der Staat das Funktio-nieren des Kapitalismus in erster Linie zugunsten der marktbeherrschenden Kon-zerne. Zur effektiven Verwertung ihres Kapitals werden neue staatliche Institu-tionen und Mechanismen geschaffen. Vor allem aber werden heute die Interessen der Monopole viel direkter als je zuvor in Staatspolitik umgesetzt und zudem noch ideologisch als gesamtgesellschaftliche Interessen ausgegeben.

Die Abhängigkeit staatlicher Politik von den herrschenden Wirtschaftseliten hat in den entwickelten Ländern einen besonders hohen Grad erreicht. Vor allem ist heute die gesamte Bewegungsweise des Kapitalismus bis hin zu seinen impe-rialistischen Tendenzen durch das enge Beziehungsgeflecht zwischen Staat und Monopolen bestimmt. Dies hängt in er-ster Linie mit der bedeutenden Zäsur in der Entwicklung des Kapitalismus, sei-nen veränderten Existenzbedingungen in der Welt zusammen. Die viele Jahrzehnte den Kapitalismus zähmende Systemkon-kurrenz gibt es nicht mehr. Der Kapita-lismus konnte seine ureigenste Gestalt wieder annehmen. Es zeigt sich eine neue Stufe des Konkurrenzkampfes der inter-

nationalen Monopole und Staaten sowie Staatengruppierungen um die Neuauftei-lung der Welt, vor allem angesichts der Brisanz der Energie- und Rohstoffpro-bleme. Und dies vollzieht sich vor dem Hintergrund eines bedeutenden Wandels in den Machtkonstellationen zwischen den Großmächten, der Verlagerung des Gravitationszentrums der Weltpolitik von den USA nach Asien sowie des Aufstiegs neuer regionaler Mächte im politischen Weltsystem.

Dies spiegelt sich in verschiedenen Entwicklungstrends wieder:

Erstens sind Staatsinterventionen un-abdingbare Voraussetzung der Kapitalex-pansion des Großkapitals in neue Anla-gesphären und Märkte.

So ist der volkswirtschaftlich bedeut-same Bereich der Infrastrukturindustrie durch die Komplexität vieler arbeitstei-liger Gebiete als lukrativer Markt für Kapitalanlagen der Konzerne nur auf Grundlage von staatlichen Interventio-nen zu beherrschen. Und in der Tat ist für diesen zukunftsträchtigen Bereich der Wirtschaft eine generelle Zunahme staat-licher Maßnahmen zugunsten der Expan-sion des Großkapitals in diese Sphäre festzustellen. Sowohl in den entwickelten

Industriestaaten als auch in den Entwick-lungsländern, in denen eine ungeheure Kluft zwischen den verfügbaren Ressour-cen und eine dem neuesten Stand von Wissenschaft und Technik entsprechende Infrastruktur besteht, wurden zahlreiche Maßnahmen zur Verbesserung der Mark-terschließung und Kapitalverwertung für die Unternehmen der Infrastrukturindu-strie ergriffen. Sie betreffen vorrangig die staatliche Förderung technologischer In-novationen und von Know-how auf diesen Gebieten, die Liberalisierung der Märkte, die umfangreiche Privatisierung öffentli-chen Eigentums im Energie- und Wasser-bereich und Investitionsbegünstigungen zugunsten der führenden Monopole die-ser Branchen.

Vor allem aber ist der Finanzmarkt in seiner gegenwärtigen Verfaßtheit ohne Staatsinterventionen kaum noch denkbar. Gerade mit seinen direkten Maßnahmen hat der Staat die Gewichtung des finanz-kapitalistischen Bereiches wesentlich befördert. Insbesondere mit dem neoli-beralen Wirtschaftskonzept der Libera-lisierung und Deregulierung des inter-nationalen Kapitalverkehrs verschafften die kapitalistischen Staaten den Akteuren auf den Finanzmärkten die Freiräume für

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Imperialismus verstehen die Autoren als »offene oder latente Gewalt-

politik zur externen Absicherung eines internen Regimes« und als Kern-

element der territorialen Reproduktion des Kapitalismus. Sie diskutie-

ren die klassischen sowie wichtige aktuelle Imperialismustheorien. Ei-

ner Analyse des US-Imperialismus folgen Überlegungen zu Euro-

imperialismus und zeitgemäßem Antiimperialismus.

ihre weltweite monopolistische Expan-sion, für ihre riesigen Spekulationsge-schäfte und hohen Renditen. So wurde im Rahmen der EU im letzten Jahrzehnt mit der »Finanzmarktintegration« ein politisches Instrument zur gegenseitigen Öffnung der Finanzmärkte und für eine freie Kapitalmobilität geschaffen, die die Machtpositionen der Finanzinvestoren und ihren politischen Einfluss bedeutend vergrößerten.

Aggressivere ZügeZweitens. Besonders in der Außenwirt-schafts- und Außenpolitik der führen-den Länder ist heute die Verzahnung von staatlichen Ambitionen und ökono-mischen Interessen der Monopole en-ger verknüpft als je zuvor. Sie nimmt zunehmend aggressivere Züge an, weil unter dem Druck des Monopolkapitals und seiner Verbände die staatlichen Ak-tivitäten mit sicherheits- und -militärpo-litischen Zielstellungen verbunden sind. Der Staat wird in diesem Politikbereich zum direkten Erfüllungsgehilfen bei der Umsetzung von Konzernstrategien des Großkapitals.

So ist die gesamte strategische Rich-tung der Außenwirtschaftspolitik der EU auf den Ausbau ökonomischer, po-litischer und militärischer Machtstel-lungen in dem sich wandelnden Kräfte-verhältnis ausgerichtet. Dieser Zielrich-tung entspricht z. B. die 2006 von der Europäischen Kommission verkündete neoliberale »Global-Europe-Strategie«, die »Marktzugangsstrategie der EU in einer sich wandelnden globalen Wirt-schaft«, an deren Ausgestaltung die EU-Lobbyverbände internationaler Konzer-ne großen Anteil hatten. Mit ihr sollen entscheidende Voraussetzungen für die Konkurrenzfähigkeit der EU-Großkon-zerne geschaffen und den Großunterneh-men neue profitable Märkte erschlossen werden. Aufgrund ihrer umfassenden gesellschafts- und ordnungspolitischen Orientierung kann sie generell als au-ßenwirtschaftspolitische Richtschnur innerhalb der EU-Außenpolitik gelten, denn sie umfaßt solche Bereiche wie die Öffnung der Dienstleistungsmärkte, den Abbau nichttarifärer Handelshemmnisse,

den ungehinderten und gesicherten Zu-gang zu Energie- und Rohstoffen, die Li-beralisierung öffentlicher Beschaffungs-märkte, den Schutz der Eigentumsrechte und Investitionen. Ende 2010 wurde sie durch ein neues Papier – »Global Europe – competing in the World« – ergänzt, um mit weitaus rigoroseren Maßnahmen die Außenhandelsinteressen der Europa-Konzerne effektiver durchzusetzen.

Drittens. Auf dem Energie- und Roh-stoffgebiet ist der Staat heute unmittel-barer Akteur der Monopolinteressen. Die Verfügung über diese Ressourcen ist für die Großkonzerne notwendige Expan-sionsbedingung, und sie ist von beson-derer politischer Sprengkraft, weil die Energie- und Rohstoffressourcen in der Welt regional ungleich verteilt sind, der Verbrauch besonders solcher bedeuten-der Länder wie China und Indien steigt und die Knappheit an Ressourcen zu-nimmt. Die meisten Staaten in der Welt sind auf Energie- und Rohstoffimporte angewiesen, so daß mit wachsender Im-portabhängigkeit der industriell entwik-kelten Staaten die Rohstoffproblematik zu einem erstrangigen Schwerpunkt ihrer Politik geworden ist. Mit der Feststellung » Energiepolitik ist auch Außenpolitik« betont die EU-Kommission, daß Energie-fragen »zu einem zentralen Bestandteil der außenpolitischen Beziehungen der EU werden müssen«, denn die weltweit wichtigsten Erdöl- und Ergasreserven be-finden sich in Regionen, »die aus Sicht der Europäer politisch und wirtschaftlich instabil sind«. Mit dem Kampf um die Zugriffsmöglichkeiten auf die begehrten Rohstoffe hat die Ära »heißer Ressour-cenkriege« bereits begonnen.

Im Zusammenhang damit gestaltet sich das Verhältnis zwischen Staat und Monopolen in den außenpolitischen Stra-tegien der EU aufs engste. Es nimmt zu-dem einen äußerst aggressiven Charakter an, weil die politischen Machtambitio-nen der Europäischen Union sich mit der Interessenlage der Großkonzerne der Wirtschaft eng verfilzen. Schwerpunkte und Richtungen der außenwirtschaftli-chen und außenpolitischen Aktivitäten sind deckungsgleich mit den Schwer-punkten und Richtungen der Expansions-strategien der Konzerne. Ganz offen wird

von den Konzernverbänden gefordert, die Außenpolitik auf Ziele auszurichten, die längerfristig den ungehinderten Zu-griff auf internationale Märkte und stra-tegische Ressourcen garantieren. Diesen Anforderungen an eine zielgerichtete Rohstoffpolitik wird weitgehend Rech-nung getragen. So wurden 2008 die er-sten Ergebnisse der Rohstoffstrategie auf europäischer und internationaler Ebene vorgestellt und diese vom Unternehmer-verband BDI als eine wichtige Ergän-zung zur Rohstoffstrategie Deutschlands betrachtet. Parallel dazu plant dieser Ver-

band gegenwärtig eine »Rohstoff AG« als ein Konglomerat von Großkonzernen und staatlicher Beteiligung, um die Ver-sorgung mit knappen Ressourcen zu si-chern, d. h. eine neue staatsmonopolisti-sche Institution, die den Anforderungen der Großkonzerne zur Absicherung ihrer Existenzgrundlagen gerecht werden soll.

RivalitätenDer staatsmonopolistische Kapitalis-mus ist nach wie vor eine wesentliche und sich entwickelnde Existenzform des Kapitalismus. Er stellt deshalb keine ei-gene, selbständige Phase oder Etappe in seiner Entwicklung dar und ist auch nicht begrenzt, solange der Kapitalismus seine Anpassungsfähigkeit an neue Her-ausforderungen adäquat über die immer engere Verzahnung von Staat und Mo-nopolen nutzen kann. Dabei wirkt ge-rade dieses Beziehungsgeflecht auf den kapitalistischen Funktionsmechanismus in äußerst widerspruchvoller Weise ein. Auf der einen Seite verstärkt sich das Bemühen zwischen den beiden Polen um Gemeinsamkeiten in der politischen Aus-richtung zu Erhalt und Ausdehnung die-ses gesellschaftlichen Systems. Auf der anderen Seite stehen dieser »kollektiven Richtung« die durch das Konkurrenzsy-stem hervorgerufenen explodierenden Ri-valitäten gegenüber. Gegenwärtig haben diese Rivalitäten aufgrund der gesamten Weltsituation, der Kräfteverschiebungen, des Entstehens neuer Machtzentren und Konfliktherde an Gewicht gewonnen Es kollidieren auf zwischenstaatlicher und multilateraler Ebene die unterschiedli-chen Interessen der Staaten, wobei die mächtigsten Konzerne eines Landes über »ihre« politischen Vertreter auf die Rea-lisierung ihrer strategischen Vorhaben drücken und Großmächte ihre Führungs-ansprüche geltend machen wollen. Dies zeigt sich an den Auseinandersetzungen um die Regulierungsmechanismen und bei den Konflikten zur Lösung globaler Probleme. Aber es zeigt sich heute be-sonders in der Häufung imperialistischer Konfliktfelder und Kriege, die aus einem ökonomischen Hintergrund, der monopo-listischen und politischen Machtstruktur erwachsen.

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junge Welt Mittwoch, 13. April 2011, Nr. 87 9le n i n s u n d u n s e r i m p e r i a l i s m u s

Nicht wenige Linke und sogar nicht wenige, die sich Mar-xisten nennen, vertreten die Ansicht, die 2007 begonnene

Finanz- und globale Wirtschaftskrise for-dere uns ganz besondere theoretische An-strengungen ab, um den Kapitalismus zu erklären. Mir scheint, daß Anstrengungen, um diese sonderbare und immer noch aktu-elle Produktionsweise zu erklären, immer angebracht sind. Die große Krise, mit der wir es hier zu tun haben, ist aber eigentlich die leichteste Übung. Erklärt werden muß meiner Meinung weniger, wie es zu einer solch massiven Störung des kapitalistischen Wirkungszusammenhangs kommen konn-te, sondern viel eher, weshalb diese große Krise so lange auf sich hat warten lassen.

Marxisten und andere kluge Ökonomen hatten eine solche Krise schon viel früher erwartet. Wenn man den Neoliberalismus seinem eigenen Programm gemäß als Re-gime begreift, das die Profitrate im jeweils eigenen imperialistischen Lager auf direk-tem Wege über die Steigerung der Mehr-wert- oder Ausbeutungsrate, also durch ganz gemeinen Lohndruck zu erhöhen ver-sucht, müßte der oben skizzierte Wider-spruch zwischen hohen Profiten und hohen Investitionen einerseits und zurückbleiben-den Lohneinkommen andererseits die typi-sche Überproduktionskrise noch schneller als ohnehin zum Ausbruch bringen.

Drei wichtige Entwicklungen im Kapita-lismus der letzten dreißig Jahre haben den Ausbruch einer solchen großen Überpro-duktionskrise verhindert:– Die technische Revolution der Mikro-elektronik/Informationstechnik hat die Profite gesteigert und einen neuen Investi-tionszyklus eröffnet, der die Profite absor-bieren konnte.– Die Niederlage des Sozialismus in Eu-ropa und der Sowjetunion sowie die Ein-beziehung Chinas in den Kapitalismus hat

viele Millionen, nein fast zwei Milliarden Menschen in das System der Mehrwert-produktion neu einbezogen. – Drittens entwickelte das neoliberale Re-gime einen enorm aufgeblähten Finanz-sektor, der die Profitmassen absorbierte, von der gemeinen Mehrwertproduktion scheinbar unabhängige Profitquellen er-schloß und zugleich durch die Verschul-dung nicht nur der Kapitalisten und des Staates, sondern auch vorübergehend die Kaufkraft der Lohnabhängigen erhöhte und so die eigentlich fällige Überproduk-tionskrise verzögerte.

Die überproportionale Ausweitung des Finanzsektors ist ein wesentliches Kenn-zeichen des Neoliberalismus. Es ist deshalb nicht falsch, wenn man für diese Periode, die mit der Krise der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts einsetzt und deren Ende von der aktuellen Krise eingeläutet wird, von einem »finanzmarktgetriebenen« Kapita-lismus spricht. Der Finanzsektor spielt in diesem System in vielfacher Hinsicht eine wichtige Rolle. Sein ungeheures Wachstum ist einerseits Resultat der beschleunigten Umverteilung des erarbeiteten Reichtums von unten nach oben. Zugleich dient der Finanzsektor als wichtiger Hebel, um diese Umverteilung von Arm nach Reich zu be-schleunigen.

GewinnumverteilungDoch bleibt das Rätsel der dauerhaft ho-hen Gewinne im Finanzsektor. In jedem Wirtschaftsmodell, ob klassisch, neoklas-sisch oder neokeynesianisch, findet ein Ausgleich der Profitraten statt. Bei Marx heißt der Prozeß explizit auch so. Nur über eine solche Anpassung der Gewinnraten verschiedener und verschieden profitabler Branchen kommt der Preismechanismus im Gesamtsystem zur Geltung. Die An-passung der hohen Profitraten nach unten

und der niedrigen nach oben vollzieht sich über den Kapitalmarkt. Kapital strömt von wenig profitablen Branchen in hochpro-fitable. Die beschleunigte Akkumulation in letzteren führt dort zu höherer Produk-tion, zu sinkenden Preisen und damit zu geringeren Profiten. Tatsache ist aber, daß sich der Finanzsektor über drei Jahrzehnte lang diesem Ausgleichmechanismus ent-zogen hat. Zwar saugte die Finanzbranche Kapital aus anderen Wirtschaftszweigen ab, zwar war die Akkumulationsrate im Finanzsektor höher als in der übrigen Wirt-schaft, dennoch blieben die Gewinne per Saldo in diesen 30 Jahren hoch.

Die einfache und zunächst etwas grobe Erklärung für das Rätsel bietet die Theorie vom staatsmonopolistischen Kapitalismus, kurz Stamokap genannt. Sie besagt – etwas vereinfacht –, daß massive ökonomische und systematische Eingriffe des Staates die erhöhte Rendite des monopolistischen (= machtvollen) Kapitals erst gewährleisten oder herstellen. Es findet eine vom Staat organisierte Umverteilung der Gewin-ne zugunsten der besonders großen und mächtigen Kapitalgruppen statt. Heute wirkt die Rettungsaktion für die deutschen Banken vom Herbst 2008 in Höhe von 480 Milliarden Euro, die von den Bankern und ihrem Verband ausgestaltet wurde, wie die klassische und zugleich spektakuläre Illu-stration der Stamokap-Theorie. Wer heute noch an der grundsätzlichen Richtigkeit dieser Theorie zweifelt, muß einfach blind sein.

Die Antwort, der Stamokap-Staat sorge systematisch für eine Aufplusterung der Gewinne der großen und mächtigen Ka-pitalgruppen, hat allgemeinen Erklärungs-wert. Aber sie ist für das hier zu lösende Problem noch zu allgemein und unsyste-matisch. Es gibt zwei Mechanismen, die zusammengenommen die dauerhaft hohen Gewinne des Finanzsektors hinreichend

erklären. Das eine ist die schrankenlose Kreditausweitung. Sie ist nur dann schran-kenlos, wenn wie unter den Bedingungen des neoliberalen Deregulierungsmodells der Staat der Kreditausweitung keine Grenzen setzt. Der zweite Mechanismus ist die Spekulation, die, vom Staat gestattet oder besser gefördert, den Finanzsektor zur Wundermaschine macht und Gewinne erscheinen läßt, die nicht der Mehrwert-produktion entstammen.

Kredit ohne GrenzenDer Verschuldungsgrad einer Volks-wirtschaft hängt nicht von der Höhe der Gewinne, der Profitrate oder der erwar-teten Profitrate ab. Er hängt von keiner volkswirtschaftlichen Eckgröße ab. Er ist vielmehr Resultat der ökonomischen Ent-wicklung, noch mehr allerdings Resultat politischer Entscheidungen. Wenn vom Verschuldungsgrad der Volkswirtschaft die Rede ist, ist die Bruttoverschuldung der ökonomisch Handelnden unterein-ander gemeint, nicht etwa die Nettover-schuldung gegenüber dem Ausland. Der Verschuldungsgrad einer Gesellschaft ist hoch, wenn die Konsumenten einerseits hoch mit Ratenkrediten und Hypotheken verschuldet sind, andererseits aber viele Lebensversicherungen, Aktien, Fonds und sonstigen Krimskrams besitzen. Er ist dann hoch, wenn die Rentenversicherung nicht umlagefinanziert, sondern kapitalge-deckt ist. Er ist dann hoch, wenn die Eigen-kapitalquote der Unternehmen niedrig ist und sie mit viel Fremdkapital die Rendite auf ihr Eigenkapital erhöhen. Er ist dann hoch, wenn es viele schuldenfinanzierte Unternehmensübernahmen gibt. Und er ist schließlich dann hoch, wenn der Staat ho-he Schulden hat. Der Verschuldungsgrad einer Gesellschaft kann also hoch sein, obwohl die Sektoren der Volkswirtschaft

Lucas Zeise ist Finanz-kolumnist der Financial Times Deutschland und Vorsitzender der Marx-Engels-Stiftung Wup-pertal. Zuletzt erschien von ihm »Geld – der vertrackte Kern des Ka-pitalismus«, PapyRossa Verlag, Köln 2010, 192 Seiten, 12,90 Euro (auch im jW-Shop erhältlich)

Eine ganz besondere KrisenanfälligkeitDer Finanzsektor als Herrschaftsform im staatsmonopolistischen Kapitalismus. Von Lucas Zeise

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Dirk Niebel spricht wäh-rend des FDP-Parteita-ges am Samstag, 7. Mai 2005, in Köln

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Mittwoch, 13. April 2011, Nr. 87 junge Welt 1 0 le n i n s u n d u n s e r i m p e r i a l i s m u sund die einzelnen Wirtschaftssubjekte net-to nicht verschuldet sind. Sogar der Staat kann hohe Schulden haben, gleichzeitig aber hohe Forderungen. Er wäre dann netto nicht verschuldet, dennoch erhöhen seine Schulden den Grad der (Brutto-)Ver-schuldung in der Volkswirtschaft.

Es gibt zwei Gründe, weshalb der Ein-zelkapitalist Kredite aufnimmt, also seine Verschuldung erhöht. Zum einen ermög-licht es ihm, mehr zu investieren, ein grö-ßeres Profitrad zu drehen und schneller zu akkumulieren. Zum anderen kann er über die wunderbare Hebelwirkung des Fremdkapitals die eigene Profitrate, auch Eigenkapitalrendite genannt, steigern. Was gegen einen hohen Fremdkapitalanteil bzw. höhere Verschuldung spricht, ist das höhere Risiko, pleite zu gehen, wenn der Absatz stockt. Rechnen die Unternehmen/Kapitalisten mit einer stetigen, konjunk-turellen Aufwärtsentwicklung, werden sie bereit sein, ihre Verschuldung tendenzi-ell zu erhöhen. Rechnen sie mit starkem Wachstum beim eigenen Absatz, bei der Konkurrenz und bei den möglichen Ge-winnen, werden sie, um schnell zu expan-dieren oder die Konkurrenzunternehmen zu kaufen, bereit sein, ihre Verschuldung zu vervielfachen. Eine Schranke für den steigenden Verschuldungsgrad stellt die Zinshöhe dar. Je höher der zu zahlende Zins, desto geringer fällt die Hebelwirkung des Fremdkapitals auf die eigene Profitrate aus, weil vom Gewinn mehr Geld an die Bank abgezweigt werden muß. Würde der Zins, wie man vielleicht annehmen sollte, mit dem höheren Verschuldungsgrad, also der höheren Kreditnachfrage steigen, wür-de die Kreditaufnahme im Zuge dessen und im selben Maße weniger attraktiv.

Tatsächlich steigt der Zins keineswegs mit der höheren Kreditnachfrage. Der Grund dafür ist, daß das Kreditangebot mit steigender Nachfrage nach Kredit mü-

helos mitwächst. Ein intaktes, nicht lädier-tes Bankensystem zaubert Kredit in jeder Größenordnung hervor, sofern nur das zu finanzierende Projekt mit einiger Sicher-heit genügend Ertrag verspricht. Die Zen-tralbank wiederum kennt keine Schranken bei der Kreditvergabe, sofern die Banken Sicherheiten hinterlegen können. Nach herrschender Lehre und Praxis steuert die Zentralbank die Kreditvergabe (sowie Konjunktur und Preise) über den Zins. Wird er (künstlich) angehoben, macht das die höhere Verschuldung künstlich unat-traktiv. Nach ebenfalls herrschender Praxis erhöht die Zentralbank den Leitzins aber nicht etwa, um die Kreditvergabe oder den Verschuldungsgrad zu begrenzen, sondern nur, wenn sie Inflation vermutet und sie be-kämpfen will. Wie die letzten beiden Jahr-zehnte gezeigt haben, müssen steigende Verschuldung und höhere Kreditvergabe keineswegs immer und überall zu inflatio-nären Tendenzen führen.

Ein höherer Verschuldungsgrad der Volkswirtschaft führt dazu, daß ein höherer Anteil der Profite in Richtung Banken oder generell in Richtung Finanzsektor fließt. Das ist nicht anders als bei einem Einzel-unternehmen. Das eingesetzte Fremdka-pital muß bedient werden. Je höher sein Anteil am eingesetzten Gesamtkapital, desto höher ist unter ansonsten gleichen Umständen der Anteil, der vom »Gewinn vor Zinsen« an die Bank abgedrückt wird. Je höher also die Konsumenten mit Raten-krediten und Hypotheken verschuldet sind, je mehr Lebensversicherungen, Aktien, Fonds und sonstigen Krimskrams sie be-sitzen, desto mehr Geld fließt in Richtung Finanzsektor. Es fließt in den Finanzsektor mehr Geld, wenn die Rentenversicherung nicht umlagefinanziert, sondern kapital-gedeckt ist. Es fließt mehr Geld in den Finanzsektor, wenn die Eigenkapitalquo-te der Unternehmen niedrig ist, wenn sie mit viel Fremdkapital die eigene Profitrate zu erhöhen versuchen, und wenn es viele schuldenfinanzierte Unternehmensüber-nahmen gibt. Viel Geld fließt schließlich in den Finanzsektor, wenn der Staat hohe Schulden hat. Niemand wird von diesen Schlußfolgerungen besonders überrascht sein. Denn es wirkt ja von vornherein plau-sibel, daß mit dem steigenden Anteil des Finanzsektors in einer Volkswirtschaft auch sein Anteil am gesamten Unterneh-mensprofit zunimmt. Die Schrankenlosig-keit der Kreditvergabe erklärt für sich al-lein recht befriedigend, daß es zu dauerhaft hohen Renditen im Finanzsektor kommt.

SpekulationsgewinnDer Spekulationsgewinn wird vorneh-mer auch Vermögenspreiseffekt genannt. Mit diesem Effekt verfügt der Finanzsek-tor über ein geradezu magisches Mittel, Reichtum zu erzeugen, der nicht aus der Arbeit stammt, sondern buchstäblich aus dem Nichts entspringt. Der Grundmecha-nismus ist allen bekannt. Er findet am au-genfälligsten am Aktienmarkt der Börse statt. In Hausse-Phasen, wenn die Preise für Wertpapiere steigen, profitieren alle, die an einem solchen Wertpapiermarkt be-teiligt sind. Es kommt bei diesem Effekt nicht darauf an, daß sich die Wertpapiere oder die Unternehmen, auf die sich die Wertpapiere beziehen, wertvoller werden. Der Markt vollzieht durchaus unabhängig davon kurze oder auch lange Aufwärtspha-sen. Die längste Hausse des internationa-len Aktienmarktes in jüngerer Zeit dauerte vom August 1982 bis zum März 2000, also volle 18 Jahre.

Die beteiligten Spekulanten gewinnen in einer Hausse-Phase nicht auf Kosten der anderen Spekulanten, sondern sie werden allesamt reicher. Jedem gelingt es, teurer zu verkaufen, als er gekauft hat. Die Differenz zwischen relativ billigem Einkaufspreis und relativ teurem Verkaufspreis streicht der Spekulant ein. Der andere Spekulant, der von ihm relativ teuer eingekauft hat, verkauft das Papier ein Weilchen später

noch teurer und streicht ebenfalls die Dif-ferenz ein. Das ist das Schöne an steigen-den Vermögenspreisen. Sie tun nieman-dem weh, alle profitieren. Steigende Preise anderer Waren sind normalerweise über-haupt nicht populär. Diese Preissteigerung aber ist es. Tatsächlich ist der Reichtum der Spekulanten nur fiktiv. Denn die reale Welt hat sich nicht verändert. Wenn die Bör-sentendenz kippt und die Kurse purzeln, verschwindet der fiktive Reichtum meist schneller, als er entstanden ist. Finanzjour-nalisten schreiben dann – ausnahmsweise einmal treffend – soundso viele Milliarden Dollar oder Euro seien in diesem oder jenen Crash »vernichtet« oder »verbrannt« worden. In der Tat, was vorher – fiktiv – da war, ist nun tatsächlich weg.

Ist dies schon ein Wunder, so ist noch wundersamer, daß der fiktive Reichtum aus der Spekulation realen, wirklichen Reichtum schafft. Der Grund ist einfach. Die Spekulanten, die in der Aufwärtsphase der Börse mehr Geld in der Tasche haben, stecken nicht alle Erlöse wieder in die Spe-kulation. Sie kaufen auch mehr Güter, mehr Brötchen, mehr Porsches und gelegentlich auch mehr Fabriken. Die Folge ist: Die Produktion von Brötchen und Porsches wird angeregt. Es werden mehr davon pro-duziert. Die Fabriken erhöhen ihrerseits die Produktion von nützlichen und weni-ger nützlichen Dingen. Jedenfalls bewirkt der fiktive Reichtum der Spekulanten, daß die Gesellschaft, in der das stattfindet, re-al mehr Reichtum produziert und konsu-miert. Die Gesellschaft wird durch fiktiven Reichtum real reicher. Leider gilt auch hier das Umgekehrte. Brechen Spekulation und Vermögenspreise ein, sackt auch die Nachfrage nach Brötchen, Porsches und Fabriken wieder in sich zusammen. Der verschwindende fiktive Reichtum löst eine Rezession aus.

WirkungsketteSteigende Vermögenspreise können nicht nur den Konsum anregen sondern vor al-lem die Investitionen der Unternehmer. Steigende Aktienpreise erhöhen nominal den Wert der Kapitalunternehmen. Der Ka-pitalist erhält deshalb von der Bank mehr Kredit und das zu günstigeren Konditio-nen. Sind Aktien teuer, kommt der Kapita-list zudem durch Emission neuer Papiere direkt über die Börse billig an Geld. Es wird für ihn in jedem Fall billiger zu inve-stieren oder andere Unternehmen zu kau-fen. Ganz ähnlich ist die Wirkungskette bei steigenden Immobilienpreisen. Fabrik- und Grundbesitzer erhalten mehr Kredit. Schließlich sei noch der Wirkungskette gedacht, die eine wesentliche Rolle bei der Herausbildung der großen Finanzkrise 2007 f. gespielt hat. Es ist der eher seltene Fall, daß breite Bevölkerungsschichten in die Spekulation einbezogen waren. Diese Kette lief über den Immobilienmarkt – nicht den für Gewerbeimmobilien, son-dern den Immobilienmarkt für einfache Wohnungen und Ein- und Zweifamilien-häuser in den USA (und einigen anderen Ländern). Über viele Jahre hinweg steigen-de Preise vermittelten den Eigentümern solcher einfachen Immobilien den Ein-druck oder die Illusion wachsenden Reich-tums. Das führte – keineswegs zwangsläu-fig, sondern weil es Banken und Politiker so wollten – zu steigender Verschuldung der einfachen, zumeist lohnabhängigen Bürger. Nur durch Kreditaufnahme (oder Verkauf) ließ sich schließlich der höhere Wert des eigenen Häuschens in tatsäch-lichen Reichtum umsetzen. Die Jahr für Jahr steigende Verschuldung der einfachen US-Hausbesitzer hat schließlich den Kon-sum und damit die Konjunktur des Landes in munterem Tempo gehalten und dann seinerseits Aktien- und Immobilienmarkt befeuert.

Die Regierungen der kapitalistischen Staaten und ihre Notenbanken haben den anregenden Effekt der Spekulation mit Vermögenswerten zielbewußt geför-

dert. Zu besonderer wirtschaftspolitischer Meisterschaft brachten es dabei die Ver-einigten Staaten. Unter Präsident William Clinton, seinem Finanzminister Robert Rubin und Fed-Chairman Alan Greenspan erhielt dieses Ziel unter der Überschrift vom »starken Dollar« auch ideologische Weihen. Tatsächlich beruhte die von Ro-nald Reagan und seinem Fed-Chairman Paul Volcker betriebene Politik des star-ken Dollar in den frühen 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts auf demselben Ge-danken. Nur wurde das damals von vielen Akademikern als »Voodoo-Economics« abgetan. Heute gehört es zum guten Ton, dem Finanzmarkt Opfer der Unterwerfung zu bringen, um die Spekulation nicht erlah-men und die Preise für Vermögenswerte nicht fallen zu lassen. Denn ein Crash am Aktienmarkt wie 2000 bis 2003 oder am Immobilienmarkt wie 2007 f. hat einen Konjunktureinbruch der Realwirtschaft zur Folge.

Die Spekulationsgewinne aus dem Nichts kommen zwar indirekt und vor-übergehend der Volkswirtschaft insgesamt zugute. Zunächst aber treten sie vorwie-gend im Finanzsektor selber auf. Dabei ist es fast egal, ob die spekulativen Preisstei-gerungen am Immobilien-, Aktien-, Roh-stoff- oder Bondmarkt stattfinden. In allen Fällen profitiert zunächst der Finanzsektor. Dort treten die Spekulationsgewinne zuerst auf. Steigende Vermögenspreise regen die Kreditvergabe an. Ohne Kreditausweitung sind langgezogene Aufwärtsphasen bei den Vermögenspreisen gar nicht denkbar. Auf diese Weise wirken Spekulationsef-fekt und Kreditausweitung sich ergänzend und gegenseitig fördernd zusammen, um den Finanzsektor groß und bei aller Größe dennoch profitabel zu machen. Die beiden Effekte erklären aber auch befriedigend, warum dem neoliberalen Regulierungsmo-dell, das den hypertrophen Finanzsektor braucht, um zu funktionieren, eine ganz besondere Krisenanfälligkeit anhaftet. Die schiere Wucht der seit Sommer 2007 wü-tenden Finanzkrise, die den international wirkenden Finanzsektor fast komplett er-faßt hat, deutet darauf hin, daß es sich hier um eine finale Krise dieses Regulierungs-modells handelt. Ohne radikale politische Veränderungen in den kapitalistischen Metropolen wird ein Ausweg aus diesem Modell allerdings nicht zu finden sein.

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junge Welt Mittwoch, 13. April 2011, Nr. 87 1 1l e n i n s u n d u n s e r i m p e r i a l i s m u s

Vor knapp zehn Jahren veröffent-lichten wir – Fred Schmid und Leo Mayer – einen Artikel, in dem wir entwickelten, daß sich

im Imperialismus unserer Zeit die koope-rative Tendenz als dominierende durchge-setzt habe. Die Marx-Engels-Stiftung hat auf ihrer Tagung am 12./13. März 2011 die Frage erneut aufgeworfen. Und tatsächlich ist es an der Zeit, zu überprüfen, ob die These vom kollektiven/kooperativen Impe-rialismus auch in Zeiten der Krise noch Bestand hat. Ende des Jahres wird das isw eine gründliche Untersuchung zu diesem Thema veröffentlichen. Beim folgenden Beitrag handelt es sich deshalb mehr um Fragestellungen und ein Arbeitsvorhaben, als die endgültigen Antworten.

EinleitungDie Beachtung der Eigenständigkeit politi-scher Prozesse und der relativen Selbstän-digkeit des Staates empfiehlt sich gerade angesichts der aktuellen Entwicklungen:

1. Das weltwirtschaftliche und politische Gewicht der Schwellenländer, deren Kern die BRIC-Länder (Brasilien, Rußland, In-dien, China – d. Red.) bilden, ist in den zurückliegenden Jahren rasant gestiegen. In einigen Schwellenländern haben sich eigene transnationale Konzerne von welt-wirtschaftlicher Bedeutung entwickelt. Die chinesischen Banken zählen zu den größten der Welt. China wurde zur Werkbank der Multis aus aller Welt und zum größten Kre-ditgeber der USA. Alle diese Länder sind vollständig in die globale ökonomische Struktur des Kapitalismus integriert.

2. Die imperialistischen Zentren versu-chen, die Schwellenländer in einer unter-geordneten Stellung in ihre globalen poli-tischen Herrschafts- und Machtstrukturen einzufügen. Mit dem Argument, China und Rußland müßten Verantwortung für die glo-bale Sicherheit und Stabilität übernehmen, ist diese Strategie in einem gewissen Um-fang erfolgreich.

3. Aber gleichzeitig vertreten China und Rußland, aber auch Brasilien, offen ihre ökonomischen und politischen Interessen, die zumindest zum Teil in schroffem Wi-derspruch zu denen der imperialistischen Zentren stehen. Sie entwickeln sich aus

einer untergeordneten, abhängigen Position zu realen Konkurrenten der alten Machtzen-tren, insbesondere auch im Kampf um En-ergiequellen, Rohstoffe und Absatzmärk-te. Die VR China zeigt ein wachsendes Interesse an internationaler Stabilität und übernimmt – auf die wirtschaftliche Stärke ihrer Konzerne und Banken bauend – zu-nehmend die Rolle einer wirtschaftlichen und politischen Macht, die die Hegemonie der USA herausfordert. Trotzdem ist es zumindest fragwürdig, ob es sich bei China um eine – wie die Kommunistische Par-tei Griechenlands meint – imperialistische Macht handelt und eine imperialistische Politik betreibt.

Es spricht also einiges dafür, daß die ökonomische Struktur des globalen Kapi-talismus nicht mit dem »kollektiven/ko-operativen Imperialismus« identisch ist. Hauptkomponenten des »kollektiven Im-perialismus« bilden die USA, EU-Europa, und Japan.

Demzufolge muß die Untersuchung auf zwei sich gegenseitig bedingenden Ebenen erfolgen:

1. Die Entwicklung des Monopols, denn »das ökonomische Monopol – das ist der Kern der ganzen Sache«. (W.I. Lenin: Über eine Karikatur auf den Marxismus, Werke Band 23, Seite 34),

2. Die Transnationalisierung von Politik und Staat im Sinne des »integralen Staates«, d. h. die internationalen Staatsapparate, die Transnationalisierung der Nationalstaaten wie auch die gesellschaftlichen Akteure (in-formelle Treffen wie in Davos oder Münch-ner Sicherheitskonferenz, Netzwerke von Unternehmen, Denkfabriken und Medien, Ratingagenturen, aber auch internationale Netzwerke oppositioneller Kräfte, etc.), die

wichtige Elemente des »erweiterten Staa-tes« bzw. der Zivilgesellschaft darstellen.

Im folgenden werden dazu einige Thesen aufgestellt.

These 1In der Geschichte des Imperialismus gab es immer Phasen mit einer vorherrschend »kollektiven« Tendenz, die durch Phasen der imperialistischen Konfrontation abge-löst wurden. Heute macht sich die Tendenz zum »allgemeinen Bündnis der Imperia-listen aller Länder (…) mit unwidersteh-licher Kraft geltend« (W.I. Lenin: Bericht über die Außenpolitik …, Werke Band 27, Seite 358 und folgende, 14. Mai 1918).

Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand aus der Systemkonkurrenz der Zwang, die zwischenimperialistischen Widersprü-che ohne Krieg zu lösen. Diese Zeit war nicht nur eine zeitweilige Unterbrechung des konfrontativen Austragens zwischen-imperialistischer Widersprüche. Unter dem Druck der Systemkonkurrenz und in ihrem Schatten vollzog sich ein globaler Struk-turwandel. Es bildeten sich Strukturen ei-nes transnationalen Kapitalismus heraus, dessen Kern die transnationalen Konzerne und Finanzgruppen – das transnationa-le Finanzkapital – bilden. Es begann als vorherrschende Entwicklungs tendenz der Übergang vom nationalen Staatsmonopoli-stischen Kapitalismus zum transnationalen Monopolkapitalismus.

These 2Das strukturbestimmende Kapitalverhält-nis des heutigen Kapitalismus bilden die transnationalen Monopole. Seinem Wesen

nach stellt das Monopol ein Macht- und Herrschaftsverhältnis dar, »das darauf ge-richtet ist, über fremdes Kapital, fremden Profit, fremdes Einkommen und damit über fremde Arbeit zu verfügen«. (Was ist Stamokap?, Marxistische Blätter 2/1973). Das Monopol kann Monopolprofit erzielen, weil es im kapitalistischen Reproduktions-prozeß »entscheidende Positionen« (Jörg Huffschmid, in: Das Argument, Argument Sonderband 6, 1975, Seite 45) besetzt.

Der Verwertungskreislauf des transna-tionalen Kapitals ist im Unterschied zum nationalen Monopolkapital in allen seinen Phasen G – W – W’– G’ international. Diejenigen Kapitale, die in diesem globa-len Reproduktionsprozeß »entscheidende Positionen« besetzen, bilden das transna-tionale Monopol und können sich Mono-polprofit aneignen. »Entscheidende Posi-tionen« besetzen diejenigen Konzerne, die über die Möglichkeit des »global sourcing« verfügen. Diese transnationalen Konzer-ne organisieren den gesamten Prozeß der Wertschöpfung in einem integrierten glo-balen Entwicklungs- und Produktionsnetz. Über die Welt verteilt, kombinieren sie in einem konzerninternen Netzwerk die fort-schrittlichste Technologie mit günstiger Arbeitskraft und billigen Rohstoffen. Zu-lieferungen und Produktion erfolgen über verschiedene Unternehmen in der ganzen Welt. Tochterunternehmen stellen ein Zen-trum von Produktionskomplexen mit einem Netzwerk von Zulieferern dar. Das gibt die Möglichkeit, die Zulieferer im globalen Maßstab gegeneinander auszuspielen und damit schwächere Kapitalien in ihren Pro-fit- und Eigentumsansprüchen zusätzlich stärker zu reduzieren, als dies bei nationa-lem Wirkungsrahmen der Fall wäre.

1 »Es ist aber klar, daß die Ak-kumulation, die allmähliche Vermehrung des Kapitals durch die aus der Kreisform in die Spirale übergehen-de Reproduktion, ein gar langsames Verfahren ist im Vergleich mit der Zentralisa-tion, die nur die quantitative Gruppierung der integrie-renden Teile des gesellschaft-lichen Kapitals zu ändern braucht.« (Karl Marx: Das Kapital Bd. I, Marx/Engels Werke Band 23, Seite 656)

Zunehmende VerteilungskämpfeDie These vom kollektiven Imperialismus. Von Leo Mayer

Leo Mayer ist stellver-tretender Vorsitzender der DKP

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Entwicklungshilfemini-ster Dirk Niebel (FDP, l.) posiert am 31. März in Kabul in Afghanistan im Hauptquartier der Inter-nationalen Schutztruppe fuer Afghanistan (ISAF) mit dem ISAF-Komman-deur, US-General David Petraeus. Nach zwei Ta-gen im Norden Afghani-stans ist Niebel in Kabul zu politischen Gesprä-chen eingetroffen.

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Mittwoch, 13. April 2011, Nr. 87 junge Welt 1 2 le n i n s u n d u n s e r i m p e r i a l i s m u sZum ersten Mal in der Geschichte ist

die Produktion von Mehrwert selbst – das Wesen der kapitalistischen Akkumulation – international organisiert. Für die Herausbil-dung einer grenzüberschreitenden, die Län-der durchziehenden Wertkette spricht auch die Tatsache, daß auf den konzerninternen Handel mehr als ein Drittel des gesamten Welthandels entfällt.

Der gnadenlose Konkurrenz- und Ver-drängungskampf um Marktanteile wird überwiegend mit dem »Monopol der ver-besserten Produktionsweise« (Karl Marx: Das Kapital Band III, Marx/Engels Werke Band 25, Seite 325) ausgetragen. Die Kon-zerne mit den kürzesten Entwicklungszei-ten, den fortgeschrittensten Technologien, den niedrigsten Produktionskosten und Preisen, dem verzweigtesten Vertriebs-system und den größten Kapitalreserven verdrängen ihre Konkurrenten vom Markt. Ohne Abschirmung durch Handelsbarrie-ren und bedroht von der internationalen Konkurrenz, sind sie gezwungen, den tech-nischen Fortschritt im Produkt, aber auch im Produktionsverfahren permanent anzu-treiben. Um so wichtiger wird für sie eine internationale politische Instanz, die das »geistige Eigentum« der transnationalen Konzerne global vor Raubkopien auch mit der Androhung von Gewalt schützen kann. Konkurrenz und freie Konkurrenz verkno-ten sich auf eine neue Weise.

These 3Für den möglichst schnellen Aufbau welt-umspannender Großkonzerne reicht das »langsame Verfahren«1 der Akkumulation, des Aufbaus von Kapazitäten durch Inve-stitionen auf der grünen Wiese nicht aus. Mit Fusionen und Übernahmen von Un-ternehmen wird aufs Tempo gedrückt. Die Kapitalkonzentration als ein Grundprozeß der kapitalistischen Produktionsweise ge-schieht hauptsächlich durch die transna-tionale Zentralisation des Kapitals mittels Auslandsdirektinvestitionen (FDI). Damit erweitert sich nicht nur die globale Reich-weite dieser Konzerne, sondern auch die Eigentumsstruktur erhält transnationalen Charakter; mit der Folge, daß das Kapital in jedem beliebigen Nationalstaat üblicher-weise (in unterschiedlicher Zusammenset-zung) sowohl aus nationalem als auch trans-nationalem Kapital besteht.

Daß die Krise des US-Bankensystems zu einer Krise des Weltbankensystems wurde, hängt auch damit zusammen, daß 2008 ein Viertel der Bilanzsumme aller Banken in den USA auf Töchter ausländischer Ban-ken entfiel, 21,8 Prozent auf europäische Banken. Unter den 15 größten Banken in den USA waren Ende Juni 2008 drei Toch-tergesellschaften europäischer Banken, u. a. der Deutschen Bank. Die Deutsche Bank wiederum befindet sich wie eine Vielzahl »deutscher« Großkonzerne wiederum mehrheitlich in ausländischem Besitz.

Im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts gab es bis zum Beginn der Krise einen enormen Aufschwung der Auslandsdirekt-investitionen. Diese wuchsen schneller als die Inlandsinvestitionen und wiesen ein

mehrfach höheres Wachstum im Vergleich zu Produktion und Welthandel auf. Quelle und Ziel der FDI waren im wesentlichen die kapitalistischen Zentren, ihr Zweck der Aufkauf oder die Beteiligung an Unterneh-men.

FDI stellen nur eine Form des Kapital-exports dar, in ihrem Volumen weit über-troffen von Finanzinvestitionen in Aktien, Kreditvergabe an private oder staatliche Schuldner.

Durch diese Entwicklung hat die »Ver-netzung der Volkswirtschaften in der Welt einen neuen Stand erreicht« (Gretchen Binus: Europäische Union – Konzernent-wicklung und EU-Außenpolitik. Eine Stu-die zu Entwicklungstrends in wirtschaftli-chen Schlüsselbereichen der EU. Die Linke im Bundestag, Juni 2010, Seite 8) und die wechselseitige ökonomische Abhängigkeit hat enorm zugenommen. Diese wechsel-seitige Kapitalverflechtung hat zu einem festen Sockel der wechselseitigen ökono-mischen Abhängigkeit geführt, der beson-ders ausgeprägt ist für die EU und für das Verhältnis USA – EU.

Die Unternehmen der materiellen Pro-duktion investierten in den zurückliegen-den Jahren einen sinkenden Anteil ihrer Gewinne in die Aufrechterhaltung bzw. Erweiterung der Produktion. Selbst die Konzerne mit dem höchsten technischen Stand und relativ schnellem moralischem Verschleiß der Produktionsmittel verfügen über einen wachsenden Anteil von Finan-zinvestitionen, weil es ihnen unmöglich ist, ihr gesamtes Kapital rentabel in der Produktion zu reinvestieren. Diese liqui-den Mittel drängen ebenso wie die an die Aktionäre ausgeschütteten Dividenden auf die internationalen Finanzmärkte, um dort – in der Sphäre der Finanzzirkulation – Ge-winne zu erzielen. Bei der externen Unter-nehmensfinanzierung fand eine deutliche Verschiebung vom Bankkredit zur Ausgabe von Beteiligungskapital (Aktien) oder Un-ternehmensanleihen statt. Auch damit wird die Transnationalisierung der Eigentümer-struktur beschleunigt.

Die an den Finanzmärkten erzielbare Rendite wird zum entscheidenden Steue-rungselement global agierender Unterneh-men und führt dazu, daß alle strategischen und operativen Entscheidungen des Un-ternehmens unter dem Gesichtspunkt ge-troffen werden, eine Rendite oberhalb der Verzinsung auf den internationalen Finanz-märkten zu generieren. Vor jeder Investition wird ein in der Tendenz weltweiter, un-ternehmens- und branchenübergreifender Renditevergleich vorgenommen. Die Fort-führung von Betrieben wird damit ständig grundsätzlich zur Disposition gestellt. Mit der Folge, daß der Finanzmarkt als Motor ständiger Reorganisation wirksam wird. Typisch ist die permanente Zerschlagung, Restrukturierung, Abspaltung, Neugruppie-rung und Auslandsverlagerung von Unter-nehmen und Unternehmensteilen.

These 4Nach dem historischen Höhepunkt im Jahr 2001 ist der Zu- und Abfluß von Direktinve-

stitionen der entwickelten Länder in Folge der Wirtschafts- und Finanzkrise in den Jah-ren 2008/2009 scharf eingebrochen. 2010 erholte sich das Volumen der weltweiten FDI auf den Stand von 2005.

Es haben sich jedoch gravierende Verän-derungen vollzogen. Erstens: Mit Ausnah-me der USA, Frankreich und Deutschland sind die FDI-Zuflüsse in die kapitalisti-schen Zentren weiter rückläufig gewesen. Deutschland hat seine Stellung als Produk-tionsstandort der transnationalen Konzerne aus aller Welt verteidigt. Zweitens: Mehr als die Hälfte aller FDI-Zuflüsse und ein Viertel der FDI-Abflüsse gehen auf das Konto der Entwicklungs- und Transforma-tionsländer. Unter den Empfängerländern steht China nun an zweiter Stelle hinter den USA. Eine der Folgen: In China ist nun mit 16 Millionen Arbeitern die größte Zahl von Beschäftigten in Auslandsfilialen transna-tionaler Konzerne zu finden; 20 Prozent der gesamten, weltweit Beschäftigten in Auslandsfilialen.

Bei Direktinvestitionen ins Ausland steht China/China Hongkong nun ebenfalls an zweiter Stelle hinter den USA und vor Ja-pan. Chinesische Konzerne, Banken und Staatsfonds expandieren ins Ausland.

These 5Zwar werden immer wieder spektakuläre Fälle protektionistischer Abwehrmaßnah-men – vor allem gegen Staatsfonds und im Rüstungsbereich angeführt, aber dies bringt nicht die Haupttendenz zum Ausdruck. Denn trotz hoher Arbeitslosigkeit gibt es im Unterschied zu früheren Krisenphasen keine Zunahme des Protektionismus. So-wohl bei Investitionen wie auch im Han-del von Gütern und Dienstleistungen sind die weitere Liberalisierung und der Abbau von Investitions- und Handelshemmnissen charakteristisch. Die Mehrzahl der neuen bi- und multilateralen Regelungen und die Politik würden weiterhin in Richtung »Öff-nung bisher geschlossener Sektoren, Libe-ralisierung von Landinbesitznahme (Anm. Leo Mayer: für Finanzinvestoren zum Landkauf für den Anbau von Agrosprit), Demontage von Monopolen und Privatisie-rung staatlicher Betriebe« gehen, stellt die UN-Konferenz für Handel und Entwick-lung UNCTAD fest. Und weiter. »Dies be-stätigt, daß das globale wirtschaftliche und finanzielle Durcheinander bis jetzt nicht zu erhöhtem Investmentprotektionismus geführt hat.« (UNCTAD, World Investment Report 2010, Overview)

Für den Handel von Waren und Dienstlei-stungen kommen die Organisation für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung OECD, die Welthandelsorganisation WTO und UNCTAD in einer gemeinsamen Untersuchung zu dem Ergebnis, daß Be-schränkungen sogar zurückgegangen sind. Waren im Zeitraum Oktober 2008 bis Okto-ber 2009 noch 0,8 Prozent der Welthandels von Importbeschränkungen betroffen, so hat sich dieser Anteil im Zeitraum Septem-ber 2009 bis Februar 2010 auf 0,4 Prozent halbiert. Für die Erleichterung internationa-ler Investitionen und Finanzflüsse, sei »eine substantielle Anzahl von Maßnahmen ein-geführt worden«, heißt es weiter.

Damit ist nicht gesagt, daß es keine pro-tektionistischen Tendenzen gäbe. In den »Politischen Thesen des Sekretariats des

Parteivorstandes der DKP« vom 25. Janu-ar 2010 wird darauf aufmerksam gemacht, daß die transnationalen Monopole der Herausforderung gegenüberstehen, pro-tektionistische Tendenzen einzudämmen und die globale Freizügigkeit von Kapital, Gütern und Dienstleistungen, die Öffnung der Märkte und die Verfügbarkeit über das globale Reservoir an Arbeitskräften und Ressourcen weiter voranzutreiben und den Zugriff auf Ressourcen und Transportwege zu sichern.

Zumindest bisher ist das transnationa-le Kapital erfolgreich in der Lage, diese Widersprüche so zu bearbeiten, daß der bisherige Prozeß der Globalisierung fortge-führt und das bisherige Wachstumsmodell des globalen Kapitalismus (die USA als »Konsument der letzten Instanz«, während China immer mehr zum Kreditgeber letzter Instanz wird) – wenn auch mit wachsenden Schwierigkeiten, Widersprüchen und ge-sellschaftlichen Verwerfungen – aufrechter-halten werden kann.

These 6Natürlich kann die Bearbeitung der im Pro-zeß der Globalisierung auftretenden Wider-sprüche, die Fortführung des Globalisie-rungsprozesses und die Durchsetzung und Aufrechterhaltung des Wachstumsmodells des globalen Kapitalismus nicht alleine dem Markt überlassen werden. Dazu ist der Staat erforderlich, der den transnationalen Machtblock organisiert und dessen Hege-monie vermittelt, der Konflikte zwischen den widersprüchlichen Interessen sowohl innerhalb der transnationalen Kapitalfrak-tionen wie auch Konflikte mit den nationa-len Kapitalfraktionen bearbeitet.

»Die zwingende Forderung der transna-tionalen Finanzbourgeoisie ist der Aufbau eines transnationalen Staates, der fähig ist, die politische Macht auf regionaler Ebe-ne und, als Tendenz, auf globaler Ebene zu sichern«, schrieben kubanische Auto-ren. (Transnacionalización y Desnaciona-lización, La metamorfis del capitalismo monopolista de Estado. Autorenkollektiv, Havanna 1998, Seite 45). Im Programm der DKP wird diese Entwicklung als beginnen-der Aufbau eines transnationalen »ökono-misch-politisch-militärischen Machtappa-rates« und als »Keimform eines globalen staatsmonopolistischen Regulierungssy-stems« charakterisiert.

Elemente dieses »transnationalen Staa-tes« bilden alte und neue internationale In-stitutionen im wirtschaftlichen, politischen, juristischen und im militärischen Bereich. Das Hauptelement dieser transnationalen Macht bilden jedoch die Nationalstaaten mit ihrer Kompetenz zur Gesetzgebung und -durchsetzung. Dazu mußten sie grundle-gendem Funktionswandel unterworfen werden. Die Nationalstaaten müssen nun-mehr die Interessen aller führenden Kapita-le, sowohl der internen nationalen als auch die der ausländischen Kapitale, wahren. Die Staaten werden von den transnationalen Konzernen in einen gegenseitigen Wettbe-werb um die günstigsten Bedingungen für »Investoren« versetzt. Die Staaten nehmen immer mehr transnationale Attribute an, um die Reproduktion des weltweit agierenden Kapitals zu sichern.

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junge Welt Mittwoch, 13. April 2011, Nr. 87 1 3le n i n s u n d u n s e r i m p e r i a l i s m u sZentrum, insbesondere also in den USA, der EU und Japan interessiert, die die Profit-wirtschaft international durch eine entspre-chende Rechtsordnung und die militärische Macht absichern, während sie staatliche Strukturen dort zu schwächen bemüht sind, wo sie das Agieren der transnationalen Un-ternehmen aus den USA, EU-Europa und Japan und den ungehinderten Kapitalver-kehr und Profittransfer behindern.

Die Widersprüchlichkeit dieses Pro-zesses ist auch dadurch bedingt, daß die Nationalstaaten das Hauptelement dieser transnationalen Machtapparates darstellen, und dadurch eben auch die Konkurrenz der Staaten untereinander gefördert wird. Die gemeinsamen ökonomischen Interessen der transnationalen Finanzoligarchie aller im-perialistischen Länder, die transnationalen Organisationsformen dieser Klassenfrakti-on, das Netz internationaler Organisationen und ihre hegemoniale Position in den na-tionalen Machtblöcken tragen jedoch dazu bei, Konflikte frühzeitig zu entschärfen.

These 7Diese Transformation ist den Staaten der kapitalistischen Peripherie durch die Strukturanpassungsprogramme von Inter-nationalem Währungsfonds und Weltbank aufgezwungen worden. Die Staaten der ka-pitalistischen Zentren haben diese Trans-formation aktiv betrieben. Der Hintergrund sind die nachhaltige Verschiebung des Kräf-teverhältnisses durch die Schwächung der Arbeiterklasse sowie die dominant gewor-dene Position der transnationalen Finanz-bourgeoisie im herrschenden Machtblock.

Die Staatsverschuldung und die Macht der internationalen Finanzmärkte werden als Mittel eingesetzt, um diesen Transfor-mationsprozeß voranzutreiben und abzu-sichern. Mit der Übernahme der Schulden der Banken durch die Staaten und der dar-aus resultierenden Explosion der Staatsver-schuldung werden die Macht der internatio-nalen Finanzmärkte (Banken, Finanzinve-storen, Ratingagenturen) gestärkt und die Transnationalisierung der Nationalstaaten abgesichert.

These 8In der Krise zeigt sich, daß je größer die Selbstzerstörungskräfte des Marktes wer-den, desto stärker wird das Interesse nach regulierenden Eingriffen, nach Spielregeln, die die kapitalistische Profitwirtschaft sta-bilisieren. Schritt für Schritt bilden sich in einem widersprüchlichen Prozeß weitere Elemente einer transnationalen, einer glo-balen Staatlichkeit heraus.

Nicht nur, daß es in der Krise keinen Rückschlag in Richtung Protektionismus gab – Institutionen wie die G 20 wurden zu einem wichtigen Forum für die imperialisti-schen Zentren, um ihre Ziele konsensfähig zu machen. Die G 20 machten eine Reihe wesentlicher Vorschläge zur Schließung von Steueroasen, zur Koordinierung der Aktionen der Zentralbanken, für neue Re-gulierungen der Finanzmärkte …

Die Rolle des Internationalen Währungs-fonds IWF wurde aufgewertet. Die G 20 ha-ben ihn beauftragt, bis April 2011 Leitlinien für die vereinbarten Kriterien zur Messung globaler Ungleichgewichte auszuarbeiten. Er ist an den Stabilisierungsprogrammen in einer Reihe osteuropäischer Länder betei-ligt. Ohne unabwendbare finanzielle Not-wendigkeit wurde der unter Dominanz der USA stehende IWF in den Euro-Rettungs-schirm EFSF (European Financial Stability Facility) eingebunden.

Es scheint, daß die EU im Ergebnis der Euro-Krise viel schneller als erwartet ihrer wirtschaftlichen und politischen Einheit entgegengeht.

These 9Die Hauptkomponenten des »kollektivem/kooperativen Imperialismus« bilden die USA und EU-Europa – neben Japan, und

ihr Verhältnis ist eines von Übereinstim-mung der Interessen und Konkurrenz inner-halb des Gefüges.

Die zentralen westlichen Staaten bzw. die Multis aus diesen Ländern sind alle-samt auf die imperiale Struktur der USA angewiesen, in die sie durch den Prozeß der kapitalistischen Globalisierung integriert sind. Dabei entspricht es dem Interesse des transnationalen Kapitals, die USA als ei-ne Art Gesamtdienstleister für die globale Umstrukturierung und Kontrolle wirken zu lassen. Die USA entfalten ihre staatlichen und hegemonialen Kräfte zum Aufbau und zur Sicherung eines globalen Kapitalismus. Differenzen und Widersprüche ergeben sich schon alleine daraus, daß die USA gleichzeitig ein »Nationalstaat« sind. Aber nur die militärische Supermacht USA ist zu einer globalen Ordnungsfunktion im Sinn der transnationalen Konzerne überhaupt in der Lage.

Aber – darauf hat Zbigniew Brzezinski (Exsicherheitsberater – d. Red.) seit Jahren hingewiesen – die Kraft der USA reicht immer weniger aus, um diese dominante Rolle im Alleingang aufrechtzuerhalten. Die USA »braucht Partner, und mehr als alle anderen braucht es Europa als Partner.« (Zbigniew Brzezinski, in: Handelsblatt, 28. Januar 2003)

Überdies unterliegt die Stärke der USA

den Mechanismen der internationalen Geld- und Kapitalzirkulation und muß dann instabil werden, wenn das Vertrauen in die ökonomische und militärische Kraft der USA untergraben wird. Darin liegt ein un-geheures Krisenpotential, dessen Entschär-fung aber im Interesse aller kapitalistischen Zentren – und Chinas – liegt. Nicht zuletzt ist die NATO das Feld, auf dem die Ko-operation organisiert und Differenzen so bearbeitet werden, daß sie nicht zum Bruch führen.

Gleichzeitig führt die relative Schwä-chung der USA dazu, daß es zur Kräftever-schiebung innerhalb dieser Konstellation kommt.

These 10Auf einer anderen Ebene als das Verhältnis USA – Europa – Japan bewegt sich das Verhältnis zu den BRIC-Staaten. Je nach politischer Konjunktur schwankt es zwi-schen »strategischem Partner« und »stra-tegischem Rivalen« – mit Übergewicht des letzteren, zumindest gegenüber China und Rußland.

Chinas wachsende Bedeutung und Ruß-lands Erholung schaffen eine neue geopoliti-sche Machtausrichtung. Als größte Heraus-forderung gilt dabei China, denn China for-dert die Hegemonie der USA heraus. Auch wenn gerade die USA und China in hohem Maße von einander abhängig sind, so sind wegen des Energie- und Rohstoffhungers von China zunehmende Verteilungskämpfe um Ressourcen programmiert.

Die heutige kapitalistische Produkti-onsweise schließt aus, daß die Mehrheit der Weltbevölkerung an der Nutzung der Naturressourcen gleichberechtigt beteiligt wird. Die kapitalistischen Zentren können gar nicht zulassen, daß die nachholenden Länder und die Mehrheit der Weltbevölke-rung die Ressourcen auf die gleiche Weise nutzen.

Vor diesem Hintergrund erhält die Fra-ge der Energieversorgung für den Impe-rialismus eine noch größere Bedeutung als bisher. Öl ist die Schlüssel-Ressource der »oil-based economy«. Ohne Öl wäre nicht einmal der Krieg um Öl führbar.

China, Indien und die Schwellen- und Entwicklungsländer insgesamt benötigen diese Ressourcen, aber ebenfalls für ihre Entwicklung. Die kapitalistischen Zentren müssen den Zugriff dieser Länder jedoch begrenzen. Das geht nur durch politischen, wirtschaftlichen und letztendlich militäri-schen Druck; d.h. durch militärische Inter-vention und Krieg.

Für das Funktionieren der Ökonomie des Imperialismus sind der ungehinderte Zu-griff auf fremdes Öl und die Sicherung der Transportrouten zwingend erforderlich. So verflechten sich konkrete Ölinteressen mit den großen Strategien des Imperialismus zum Aufbau eines globalen politisch-mili-tärischen Machtapparates.

These 11Die imperialistischen Staaten stehen Her-ausforderungen gegenüber, die von einer einzelnen imperialistischen Macht auf Dau-er nicht bewältigt werden können. Darin liegt – neben der gemeinsamen Interessen-lage – der Zwang für das gemeinsame und gleichgerichtete Handeln. Es sind im we-sentlichen folgende politischen Herausfor-derungen, die dem gemeinsamen Interesse der kapitalistischen Metropolen zugrunde liegen:– die Garantie der grenzenlosen Bewe-gungsfreiheit des Kapitals,– die »polizeiliche« Absicherung des glo-balen Produktions- und Verwertungsnetz-werkes,– die Eindämmung der regionalen und sek-toralen Krisen, denn diese partiellen Krisen sind Ausdruck eines gewaltigen Krisenpo-tentials, das im Inneren des heutigen Welt-kapitalismus schlummert und sich zu einer universellen Krise des kapitalistischen Sy-stems entwickeln könnte,

– Eindämmung Chinas und Rußlands und Eingliederung in die politischen Strukturen des transnationalen Monopolkapitalismus in einer untergeordneten Rolle,– Eindämmung und Zurückrollen emanzi-patorischer Entwicklungen,– Bürgerkriege in verschiedenen Teilen der Welt, die zumeist mit Staatszerfall im Ge-folge neoliberaler Ausbeutung und Eliten-konflikten in den Ländern und Regionen zu tun haben, die ihrerseits mit den Weltmärk-ten und Wirtschaftsinteressen der USA und Westeuropas verbunden sind,– Steuerung und Kontrolle der Migrations-tröme in Folge von Kriegen, wirtschaftli-cher Misere und Klimawandel,– Dazu kommt, daß der kapitalistische Glo-balisierungsprozeß an seine Grenzen und zunehmend auf Widerstand stößt: an die Grenzen des Weltmarktes, der Ressour-cen, der Ökologie und der Duldsamkeit der Menschen. Insgesamt gerät die neoliberale Globalisierung in eine wachsende Akzep-tanzkrise, ihre Legitimität schwindet. Der Widerstand nimmt zu.

These 12Zur Verteidigung der Dominanz der impe-rialistischen Zentren werden die Militär-strategien angeglichen. Neben der militäri-schen Absicherung des weltweiten Zugriffs auf Ressourcen, der Sicherung der Handels- und Transportwege und der Eindämmung Chinas geht es auch darum, »die globalen Reichen von den Spannungen und Pro-blemen der Armen abzuschotten« (What ambitions for European defence in 2020. European Union Institute for Security EU-ISS, 2009).

Dies ist auch der Hintergrund für die Anpassung von NATO- und EU-Militärstra-tegie bis zu den Verteidigungspolitischen Richtlinien der Bundeswehr und der neuen, im Dezember 2010 beschlossenen Militär-strategie Japans, die die Allianz mit den USA stärkt und sich offener denn je gegen China richtet. Die erhebliche Aufwertung der Europäischen Union als »strategischer Partner« der NATO in deren neuem strate-gischen Konzept deutet auf eine noch stär-kere künftige Verzahnung beider Organisa-tionen hin.

Um der EU eine globale Reichweite in einer zunehmend krisenhaften und multi-polaren Welt zu geben, werden deren mili-tärische Kooperation und die militärischen Kapazitäten ausgebaut. Damit verschafft sie sich die Möglichkeit, selbständig oder in Kooperation mit anderen Ländern weltweit militärisch zu intervenieren.

Aber neben dem permanenten Krieg an der Peripherie ist die Gefahr eines »gro-ßen« Krieges auch nach dem Wegfall der Systemkonkurrenz durchaus nicht aus der Welt. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Kräfteverschiebung von Europa und USA nach Asien nicht in einem allmählichen Prozeß erfolgt, sondern daß der kollektive Imperialismus seine Vormacht militärisch verteidigen will und dabei die ganze Welt in einen Strudel der Vernichtung reißt.

Hegemonie wird im wesentlichen na-tionalstaatlich vermittelt, aber gleichzeitig werden transnationale Ebenen genutzt, um die neoliberale Hegemonie national abzusichern – z. B. die internationalen Fi-nanzmärkte und Ratingagenturen für die Vermittlung von »Legitimität« und »Orien-tierung«, die Institutionen der EU und des IWF zur Durchsetzung der Sparprogram-me auf nationaler Ebene. Damit werden aber auch die transnationale Ebene und die internationalen Institutionen zu einem Feld des Kampfes um Hegemonie und der Klassenauseinandersetzungen – von der Europäischen Zentralbank über IWF und Weltbank bis zur G 20.

Mit dem Prozeß der Transnationalisie-rung haben sich internationale Netzwerke von Unternehmen, Unternehmensverbän-den, Medien, Denkfabriken etc. entwickelt. Parallel dazu vernetzen sich auch oppo-sitionelle Kräfte (globalisierungskritische Bewegung, Klimabewegung).

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IMPERIALISMUS 3.0Imperialismus heute – Alte undneue Formen der imperialistischenStruktur des Weltkapitalis musWinfried Wolf | Neue Züge imheutigen staatsmonopolistischenSystem Gretchen Binus | Theo re -tische Probleme der Ideo logie imImperialismus Erich Hahn | DieAktualität der Lenin schen Imperia -lismus theorie für revolutionär-marxistische Politik und Program -matik Hans-Peter Brenner | Zurhistorischen Perio disierung desKapitalismus Georg Fülberth | DieThese vom kollektiven Imperialis -mus Leo MayerWeitere Themen: Krieg gegenLibyen sofort stoppen! PeterStrutynski und Lühr Henken | DieDDR wurde in den härtesten inter-nationalen Klassenkampf hineingeboren Interview mit MargotHonecker | Gewerk schaften alsSäule der Protest bewegung im IrakJoachim Guilliard | Die PariserKommune 1871 und ihre Lehren –damals und heute Uwe Jens Heuer

Einzelheft: 128 Seiten, 9,50 € Jahresabo: 48,00 € Ermäßigt: 32,00 €

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Mittwoch, 13. April 2011, Nr. 87 junge Welt 1 4 le n i n s u n d u n s e r i m p e r i a l i s m u s

Vor einiger Zeit sprach der dama-lige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg den Zu-sammenhang von Aufgaben der

Bundeswehr und Wirtschaftsinteressen der BRD an. Nach Zeitungsmeldungen sagte er u. a.: »Die Sicherung der Handelswege und der Rohstoffquellen sind ohne Zweifel unter militärischen und globalstrategischen Gesichtspunkten zu betrachten«.

Als »unverklemmte« Offenlegung der politischen Wahrheit wurden diese Äuße-rungen von linken Kritikern bewertet, so von Peter Strutynski in Unsere Zeit vom 19. November 2010 und von Herbert Schui in jW vom 3. Dezember 2010. Beide warn-ten vor einem Rohstoffimperialismus mit deutscher Beteiligung.

Wenn man sich darüber klar werden will, ob es sich bei den skandalisierten Äuße-rungen Guttenbergs, sowie dem tatsäch-lichen gezielten Umbau der Bundeswehr für Auslandseinsätze wirklich um die An-meldung deutscher imperialistischer Roh-stoffambitionen handelt, dann sind dreierlei Erkundungen erforderlich: ökonomische Interessen der Beteiligten, geographisch-geologische Erkundungen der Verteilung der Rohstoffe und politisch-militärische der Interessenlagen und Kräfteverhältnisse.

RohstoffinteressenUnter welchen Umständen sollten Liefe-ranten von Rohstoffen, seien es Staaten mit ihren Staatskonzernen oder private Kapital-gesellschaften und ihre Eigentümer, ein In-teresse daran entwickeln, ganz bestimmten Käufern, einzelnen Konzernen oder Grup-pen bestimmter fremder Staaten, ihre Roh-stoffe nicht zu verkaufen, wenn die Preise stimmen? Der cash aus dem Verkauf und der Gewinn daraus, bisher in US-Dollar, ist doch das zentrale ökonomische Interesse der Lieferanten.

Von seiten der Lieferanten ist ein Em-bargo beim Erdöl und auch beim Erdgas auf absehbare Zeit nicht zu erwarten. Dafür fehlen sowohl die Einzelinteressen als auch deren Gemeinsamkeit bei den beteiligten Lieferanten, den Konzernen und Staaten. Das gilt auch für Hartkohle. Bei allen ande-

ren Massenrohstoffen sieht es ähnlich aus. Denkbares Ziel eines Embargos könnten vor allem die entwickelten kapitalistischen Länder Europas sowie Japan, Südkorea und Taiwan als Standorte der Industrieverbrau-cher sein, die kaum über eigene Rohstoffe verfügen. Die USA und Kanada, in Maßen Mexiko, China, Rußland, Brasilien, Austra-lien und Südafrika haben jeweils ein großes Spektrum an eigenen Rohstoffen, aus denen sie sich versorgen können oder die sie im Austausch anbieten könnten. Für Indien ist die Lage differenziert – bisher aber ist der Verbrauch noch gering und die Eigenversor-gung teilweise ausreichend – bei Erdöl oder Erdgas bisher jedoch nicht.

Aneignungsinteressen von Staaten au-ßerhalb der Förderländer zu eigenen poli-tischen, ökonomischen oder militärischen Zwecken, die nicht nur im eigenen Ver-brauch liegen müssen, kann man nicht prin-zipiell ausschließen. Aneignungsinteressen könnten sich auf die Sicherung der Versor-gung für die eigene Industrie, die eigene Bevölkerung oder das eigene Militär bezie-hen – was unterstellt, daß es eine unzurei-chende Versorgung oder eine Bedrohung dafür geben könnte.

Vielen Imperialismuskritikern scheint dieses Szenario im Zusammenhang mit den Ölreserven, die durch den Verbrauch drastisch geringer werden, vor Augen zu stehen. Und es gewinnt noch Gewicht mit dem Hinweise auf das Fördermaximum – Peak-Oil – das entweder schon da war oder demnächst eintreten wird.

MarktmachtEin Aneignungsinteresse von kapitalisti-schen Konzernen, Förderern, Eigentümern von Reserven, Verarbeitern, Transporteuren oder kommerziellen Verbrauchern liegt auf der Hand: Vergrößerung des Geschäftsfel-des und damit der Profitmassen sowie der Marktmacht bei Ein- und Verkauf, und da-mit auch der Profitrate. Kurz, es ginge um die Gewinnung von Monopolmacht und Monopolprofiten (Monopol, auf den Markt bezogen, strukturell und nicht absolut ver-standen, also die üblicherweise vorhande-nen Oligopole einschließend).

Die kommerzielle Durchsetzung einer Monopolstellung für Monopolprofite bei Rohstoffen setzt ökonomische Bedingun-gen voraus, die weltpolitisch durchgesetzt sein müssen: die freie kommerzielle Verfüg-barkeit der Förderung und der Lagerstätten in den entsprechenden Ländern und der Stoffe auf dem gesamten Weltmarkt. Das haben die USA teils schon vor und dann mit dem Zweiten Weltkrieg zu erreichen versucht. Aber trotz vieler Putsche, einiger Militärinterventionen und Kriegen konn-ten sie die schrittweise Nationalisierung des Erdöls im Nahen Osten und auch in Lateinamerika nicht verhindern – ob ihnen die Reprivatisierung im Irak gelungen ist, bleibt noch unklar. Auf jeden Fall mißlang in den 90er Jahren der Versuch, durch die innere Zersetzung des Staates in Rußland unter Präsident Boris Jelzin, russisches Öl für die anglo-amerikanischen Konzer-ne verfügbar zu machen – sichtbares Zei-chen war die Abservierung des Ölmagnaten Michail Chodorkowski und die Auflösung des Yukos-Konzerns unter der Präsident-schaft Wladimir Putins.

Für die ökonomische Monopolisierung, für die Durchsetzung von Monopolpreisen, ist die Verfügung über die Hauptmasse der Förderung im jeweiligen Rohstoffzweig er-forderlich. Dagegen ist für die Aneignung eines großen Teils der Rente aus der För-derung von Rohstoffen nur die Aneignung eines großen Teiles jener Förderungen er-forderlich, die mit der größten Rentenspan-ne erfolgt – als Quelle für Extraprofite. (Rente ist kein Monopolpreis, sondern die Differenz zwischen niedrigen und hohen Förderkosten in Relation zum Marktpreis).

Militärische KalküleVoraussetzung für alles ist allerdings ei-ne hinreichend große weltweite Militär-macht, die nicht erfolgreich bekämpft werden kann. Es liegt auf der Hand, daß so etwas heute und in absehbarer Zeit nur von den USA allein, unter Duldung oder Mithilfe ihrer Verbündeten in Eu-ropa und Asien und dem Stillhalten vor allem von Rußland und China ins Werk zu setzen wäre. Eine staatlich-militärisch

unterstützte Monopolisierung von Roh-stoffförderungen oder auch die Aneig-nung der Förderungen und Lagerstätten mit den größten Rentenspannen für Ge-schäftsinteressen müssen genügend Pro-fitmasse und sehr große Profitraten ver-sprechen, damit der politische Apparat in den USA in diese Richtung dirigiert werden kann, d. h. die »Think-Tanks«, die Medien und die Parteien müßten für die entsprechende Stimmungsmache bezahlt und die Wahl entsprechender Präsidenten und die passenden Mehrheiten im Kon-greß organisiert werden können.

Praktisch gewendet, bleibt die Frage, welche ökonomischen Interessen oder welches geostrategische Kalkül die USA mit den drei Kriegen (Irak gegen Iran und die zwei gegen Irak) am Persischen Golf verfolgt haben: Billiges Öl, Versor-gungssicherheit, Embargo, kommerziel-le Monopolisierung oder Aneignung der großen Ölrenten. Auf jeden Fall ist das Öl mit den Kriegen teurer geworden – und daher die Profite der Konzerne größer. (...)

Der jetzige Nahosteinsatz kann al-so keinem vernünftigen geopolitischen Kalkül der Versorgungssicherheit oder günstigen Preisen für knapp werdendes Öl entsprechen – wobei Unvernunft und Kurzsichtigkeit der US-Regierungsappa-rate natürlich nicht ausgeschlossen wer-den können.

Halten wir also fest, daß es im allge-meinen keine ökonomischen Motive für die Produzenten von Rohstoffen gibt, ihre Produkte dem Weltmarkt oder einzelnen Nachfragern vorzuenthalten, es sei denn für den eigenen, politisch abzusichern-den Bedarf. Entsprechend gibt es auch bei den Abnehmern keine ökonomischen Gründe, ihren Bedarf am Weltmarkt vor-bei mit militärischen Mitteln zu befrie-digen. Es sei denn, sie könnten daraus Monopolprofite erlangen. Das könnte bei Rohstoffen entweder nur aus der Beherr-schung des größten Teils der Förderun-gen und Lagerstätten und daraus zu dik-tierenden Monopolpreisen resultieren, oder aus der großen Rentenspanne sogar nur einer einzigen sehr großen Lagerstät-

Jörg Miehe ist Soziologe. Zusammen mit Ekke-hard Lieberam gab er soeben den Band heraus: Arbeitende Klasse in Deutschland. Macht und Ohnmacht der Lohnar-beiter. Pahl-Rugenstein, Bonn 2011, 210 Seiten, 19,90 Euro (im jW-Shop erhältlich).

Rohstoffimperialismus?Über imperialistisches Posieren und antiimperialistische Aufregung. Von Jörg Miehe

Der Entwicklungsmi-nister bei seinem fünf-tägigen Aufenthalt in der Mongolei im August 2010 in der Kohlegrube Tavan Tolgoi, etwa 540 Kilometer südlich der Hauptstadt Ulan Bator, an der Grenze zu China. Die Mongolei gehört zu den rohstoffreichsten Ländern der Welt. Trotz-dem leben mehr als ein Drittel der 2,7 Millionen Einwohner in Armut. C

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te, die schon allein sehr große Gewinne verspräche. (...)

Gigantische ExtraprofiteBeim ökonomischen Interesse der Aneig-nung der Rente aus der Erdölförderung liegen die Verhältnisse ziemlich einfach. Dafür ist keine Monopolisierung eines sehr großen Anteils der Förderung erforderlich. Es reicht die praktische Verfügung über eine einzelne große Förderung und die Si-cherung der zugehörigen Reserve, wenn sie eine große Rentenspanne bieten. Natürlich müßte die absolute Größe immerhin ausrei-chen, um den Anreiz für die Investoren und den Aufwand für die politischen Kosten lohnenswert erscheinen zu lassen.

Die Rente aus Bergbauprodukten ergibt sich aus dem Weltmarktpreis abzüglich der Kosten für Förderung und Transport. Wenn der Weltmarktpreis für Rohöl zwischen 60 und 90 US-Dollar liegt (Saudisches Öl ist etwas billiger, weil nicht so rein) und die Förderkosten maximal etwa fünf Dollar pro Barrel betragen, dann beläuft sich die Höhe der Rente auf 55 bis 85 Dollar pro Barrel. Über die Transportkosten kann hier nichts Genaues gesagt werden, aber sie werden bei den Riesentankern mit 300 000 Tonnen Ladefähigkeit auf der Route um Südafrika nur ein bis zwei Dollar pro Barrel ausma-chen.

Wenn die laufende Förderung von Saudi- Arabien jährlich bei 3,7 Milliarden Barrel liegt, dann beträgt die Summe der jährli-chen Rente daraus zwischen 207 und 319 Milliarden Dollar. Wenn wir davon nur den exportierten Anteil (71 Prozent) anrechnen, haben wir eine jährliche Rentensumme zwischen 147 und 227 Milliarden Dollar und je nach dem Weltmarktpreis des Erdöls zwischen 60 und 90 Dollar pro Barrel. Wenn man dies mit den 40 Milliarden Ge-winn in Dollar von Exxon Mobil in einigen der letzten Jahre vergleicht, dann weiß man, welche Extraprofite in Saudi-Arabien auch nur bei der Übernahme der laufenden För-derung winken.

Aber – wer die Macht und Verfügung über die Förderung hat, dürfte sie auch über die Reserven haben. Und dann gilt Ungeheuerliches: Für die gesamten Reser-ven von 266 Milliarden Barrel, die Saudi-Arabien zugerechnet werden, ergeben sich für den insgesamt angerechneten 71pro-zentigen Exportanteil die Rentensummen zwischen zehn und 16 Billionen US-Dollar! Zur Verdeutlichung der Größenordnung: Das aktuelle Bruttoinlandsprodukt (BIP) der USA beträgt rund 15 Billionen Dollar, das der BRD 3,3 Billionen Dollar und das der Welt rund 50 Billionen Dollar.

Wer sich das Rechnen sparen will: Das würde reichen, um für Exxon Mobil 40 Milliarden Dollar Gewinn für die näch-sten 250 Jahre zu garantieren – wenn nicht bei der gegenwärtigen Förderungsrate alle Vorräte von Saudi-Arabien schon in rund 70 Jahren aufgebraucht wären. Allerdings reichen die gesamten Reserven der Welt bei der gegenwärtigen Gesamtförderung nur noch für 41 Jahre, ohne Saudi-Arabien gerechnet, noch erheblich weniger. (Dabei ist der Einfachheit halber immer angenom-men, daß das gesamte Öl eines Vorkom-mens gefördert werden kann, was technisch kaum möglich ist)

Klarer ImperialismusFür die ungeheuerlichen Summen von zehn oder 15 Billionen Dollar potentiellen Renten unter dem Wüstensand setzen die Aktionäre der Ölkonzerne und die betei-ligten Bourgeoisien auch Ungeheuerliches in Gang – von den Putschen und anschlie-ßenden Militärhilfen, über den Krieg Irak gegen Iran, dem ersten Krieg gegen Irak, den 11. September 2001 und dem zweiten Krieg gegen Irak mit dem »kleinen« pro-pagandistisch-kriegerischen Umweg über Afghanistan.

Voraussetzung dafür, daß sich die Rech-nung für die Aktionäre lohnt, ist allerdings,

daß nicht sie selbst die militärischen Kosten für die Aneignung übernehmen. Für die erste Stufe tut dies der amerikanische Steu-erzahler und mit dem Vorhalten der riesigen US-Kriegsmaschine für etwa 800 Milliar-den Dollar pro Jahr laufenden Kosten für Mannschaften, Ausrüstung, Energie und Stützpunkten, Verwaltungs- und Führungs-apparat. Für die zweite Stufe hat dies eben-falls der amerikanische Steuerzahler mit vielen hunderten Milliarden Kriegskosten für die Kriege gegen Afghanistan und den Irak getan und einige andere Länder mit sehr viel kleineren Beiträgen und Hilfstrup-pen zur Legitimation. Es fehlen noch die dritte Stufe gegen den Iran und die vierte Stufe der direkten Eroberung. Die kann aber eventuell auch in einem demokrati-schen Aufstand gegen das erzreaktionäre Saudi-Regime bestehen – ähnlich, wie es die USA und viele NGOs gegen das erheb-lich weniger reaktionäre Regime in Iran vorantreiben. Am wahrscheinlichen Ende einer Operation gegen Saudi-Arabien wäre das keine schlechte Bilanz für Exxon und die anderen Ölmonster – und eine klare Realdefinition für Imperialismus.

Ein deutscher Imperialismus schaut da-bei durch die Röhre, ein europäischer zeigt sich als Fehlgeburt – die Aktionäre von Shell und BP und vielleicht auch die von Total assoziieren sich lieber mit dem Kapi-tal der US-Ölkonzerne und lassen die USA und ihr Militär die Sache erledigen.

Wenn der Weltmarktpreis weiter steigt, die Förderkosten aber nicht oder weniger steil – dann steigt die potentielle Rente pro Barrel des ruhenden, noch nicht geför-derten Öls. Dem steht die Verminderung der Reserve durch die laufende Förderung entgegen, solange die Förderung noch den Saudis überlassen werden muß: Aber es bleibt auf lange Zeit ein goldener Schatz unter dem Wüstensand, dessen Gold mit dem Weltmarktpreis immer wertvoller, al-lerdings während der noch verbleibenden maximal 70 Jahre auch immer kleiner wird.

ÖlabenteuerDie »westlichen« Konzerne haben im-mer geringer werdende Reserven in ihren Konzessionsgebieten mit immer höheren Förderkosten. Allerdings haben sie in der letzten Zeit jeweils noch jährliche Gewinne zwischen zehn, 20 und mehr Milliarden Dollar aus den Renten abgeschöpft, allein Exxon 2008 über 45 Milliarden Dollar. Das ist mehr als die meisten Rüstungsunter-nehmen an Umsatz verzeichnen können, auch in den USA – die Rüstungsgewinne bewegen sich eher bei einem Zehntel der Ölgewinne. Wenn es also ein Interesse an imperialistischen Ölabenteuern gibt, dann ist es die Reprivatisierung der Ölproduktion und der Ölreserven am Golf mit ihren ge-ringen Förderkosten und den so gegebenen enormen Rentenspannen, sowie den immer noch riesigen potentiellen Rentensummen aus den großen Reserven. Bei solchen im-perialistischen Ambitionen geht es nicht um geostrategische Machtspielchen für die Weltherrschaft – die haben die USA mili-tärisch sowieso, außer gegenüber Rußland und China,– sondern es geht um cash aus der Differenz von Produktionskosten und Verkaufserlösen und um die potentielle Rente aus dem Öl-Vermögen unter der Erde für die Aktionäre.

Es ist völlig klar, daß die sogenannte westliche Welt, die USA und ihre entwik-kelten Vasallen, bei den Industrierohstoffen mit ihren Konzernen schon längst am Ball ist, auch bei der Kohle, mit Ausnahme von Öl und Gas – es braucht dafür also keine NATO, mit oder ohne Bundeswehr. Wenn es denn um die Aneignung von Rohstoffen geht, dann haben wir es hier schon mit ei-ner gemeinsamen Praxis des »westlichen« Kapitals zu tun – allerdings im Großen und Ganzen ohne das besondere Eingrei-fen ihrer Staaten – weder zu Hause noch in fremden Staaten. Allerdings gibt es in Südamerika wohl immer noch Reste des »Yankee-Imperialismus« – Kolumbien, Pe-

ru und bis vor kurzem Bolivien, bei Chile kann man zweifeln. Indonesien ist wohl auch mehr Opfer als Profiteur seiner Roh-stoffe. Wobei der Vorteil der unabhängigen Staaten mehr bei ihren Staatsfunktionären und Bourgeoisien und weniger oder gar nicht bei den Arbeitern der Minen und der Bevölkerungen in den Förderländer liegt.

Objektive Interessen Die Kalkulation objektiver Interessen gro-ßer potenter kapitalistischer Staaten für eine eigene Rohstoffstrategie zur Erlangung öko-nomischer Vorteile ihrer Konzerne gegen-über ihren auswärtigen Konkurrenten oder des Staates gegenüber anderen Staaten, läßt sich dahingehend zusammenfassen:

Es gibt solche objektiven Interessen auf-grund der Umstände nicht: Raub, Privile-gierung, Monopolisierung oder Erpressung mittels Boykott oder Embargo im großen Stil lohnen sich nicht oder sind militärisch nicht machbar. Das gilt sogar für die USA und auch für China, viel mehr noch für al-le sonst hochindustrialisierten Staaten, wie für Japan, Südkorea oder die europäischen Staaten. Es gilt aber auch für die EU ins-gesamt.

Nur bei der Rente aus dem Öl am Persi-schen Golf ist das anders. Und dort finden seit nunmehr etlichen Jahrzehnten auch die einzigen wirklichen imperialistischen Krie-ge um Rohstoffe statt. Und dabei spielen die anglo-amerikanischen Ölkonzerne und die USA als militärische Macht die zentrale Rolle.

Bleibt noch der zweite Teil der stehenden Formel von besorgten Antiimperialisten, Friedensfreunden und Freunden der »Drit-ten Welt«: Die militärische Sicherung der Transportwege für Rohstoffe und Handels-routen. Geostrategisch liegt es auf der Hand, daß solche Routen nur an Meerengen oder Kanälen militärisch zu unterbrechen sind – und dies nur von den Anrainern oder von militärisch überwältigend potenten Staaten. Praktisch ist nur die Straße von Hormuz im Kampf der USA gegen den Iran relevant. Es gibt wohl keine vernünftigen Kapitalisten in der BRD, die dort gerne mitmischen wollten – vor allem fehlt das Interesse. Und die Vernunft wird die BRD-Politiker hof-

fentlich davon abhalten, sich als Vasallen in ein entsprechendes imperialistisches US-Abenteuer hineinziehen zu lassen. (...)

Die Redeweise von der imperialistischen Absicherung von Transportwegen für und durch die BRD ist also reine Phantasie, was die Handelswaren, die Interessen von Betei-ligten und die politisch-geographischen Ge-gebenheiten betrifft. Für die Bundeswehr sind oder wären das allerdings Arbeits-, und für die Rüstungsindustrie Auftrags- und Profitbeschaffungsmaßnahmen. Die Rede-reien deutscher Politiker sind jedoch der Versuch, ihre diversen Hilfsdienste für die USA mit imperialistischem Posieren zu verdecken. Und leider gelingt ihnen das vor allem auch bei den linken Kräften.

Alles oben Gesagte beruht auf der Vor-aussetzung rationaler Kalkulationen durch die potentiellen Beteiligten bei der Ver-folgung ihrer eigenen Interessen. Daß es praktisch immer auch oder wieder natio-nalstaatliche oder nationalistische Antriebe und imperiale Phantasien bei Kapitalisten, Konzernführungen, Parteien, Regierun-gen und Staatsapparaten, gerade auch im Militär und bei Geheimdiensten oder in Außenministerien gibt, ist dabei nicht aus-geschlossen. Das trifft vor allem auf tradi-tionsreiche imperialistische Staatsapparate in den alten Kolonialländern, oder früheren Möchtegernimperialisten, wie Deutschland – oder auch die USA zu, den bestrittenen Weltdominator seit 1945 und den bisher noch unbestrittenen seit 1991. Aber auch solche Haltungen und Aktivitäten können auf Dauer ohne eine materielle Grundla-ge mit soliden ökonomischen Interessen keine Erfolge zeitigen und real nichts be-wegen – höchstens Katastrophen erzeu-gen. Ökonomische Grundlagen für einen deutschen Rohstoffimperialismus fehlen an allen Ecken und Enden. Diese werden auch nicht durch die relative ökonomische Überlegenheit in Europa und anderswo ge-genüber ihren ökonomischen Konkurrenten geliefert – in einigen Branchen, bei einigen Konzernen, bei einer einzelnen Bank oder dem Staat der BRD. Da gibt es auf der Welt jeweils immer noch andere, die in einer an-deren Liga spielen oder die sich zusammen tun können – ökonomisch, geographisch, politisch und vor allem militärisch.

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Mittwoch, 13. April 2011, Nr. 87 junge Welt 1 6 le n i n s u n d u n s e r i m p e r i a l i s m u s

Marxismus im trafo WissenschaftsverlagFleissner, Peter (Hg.): “Bruchstücke. Kritische An-sätze zu Politik und Ökonomie im globalisierten Kapitalismus”, 2009, 392 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-89626-837-2, 29,80 EUR

Hirschenberger, Alfred: “Die Welt, ein System von Annahmen. Eine lustvolle Hinterfragung des Systems ‚Kapitalismus‘”, 128 S., ISBN 978-3-89626-807-5, 12,80 EUR

Hörz, Herbert: “Wahrheit, Glaube und Hoffnung – Philosophie als Brücke zwischen Wissenschaft und Weltanschauung”, 476 S., ISBN 978-3-89626-696-5, 44,80 EUR

Hörz, Herbert: “Materialistische Dialektik. Aktuelles Denkinstrument zur Zukunftsgestal-tung”, 2009, 335 S., ISBN 978-3-89626-931-7, 34,80 EUR

Keßler, Mario: “Von Hippokrates zu Hitler. Über Kommunismus, Faschismus und die Totalitaris-mus-Debatte”, 235 S., ISBN 978-3-89626-795-5, 21,80 EUR

Krause, Günter (Hg.): “Kapitalismus und Krisen heute – Herausforderung für Transformatio-nen”, 2011, 200 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-89626-975-1, 29,80 EUR (erscheint im Mai)

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SoZ Sozialistische ZeitungMonatlich mit 24 Seiten Berichten und Analysen zum alltäglichenkapitalistischen Irrsinn und den Perspektiven linker Opposition

Schwerpunkte der letzten Ausgaben: Eurokrise undWiderstand gegen Sparpolitik in Europa · Die arabischeRevolution · Energiewende ist mehr als nur Atomausstieg

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Ein marxistischer Standpunkt legt nahe, die gesellschaftliche Wirk-lichkeit des Kapitalismus auf der Grundlage ihrer Widersprüche zu

untersuchen. Ein wesentlicher Widerspruch läßt sich leicht ausmachen: Die Produk-tivität der Arbeit steigt und ebenfalls die allgemeine Armut. Für Marxisten erklärt sich das aus dem Widerspruch zwischen Produktivkraft und Produktionsverhältnis-sen. Nachfrage der Kapitalisten nach Kon-sumgütern – so Marx – ist wegen ihres »Ak-kumulationsbetriebes« beschränkt, die der Arbeiter wegen der »antagoni-stischen Distributionsverhältnis-se, welche die Konsumtion der großen Masse der Gesellschaft auf ein nur innerhalb mehr oder minder engen Grenzen verän-derliches Minimum reduziert.« (Karl Marx: Das Kapital, Band 3. In: Marx/Engels Werke, Band 25, Seite 254) Wegen der »Pro-portionalität der verschiednen Produktionszweige« kann – ge-geben der technische Stand der Produktion – die beschränkte Konsumnachfrage nicht ausge-glichen durch mehr Investitions-güternachfrage. Deswegen gilt: »Je mehr sich (...) die Produk-tivkraft entwickelt, um so mehr gerät sie in Widerstreit mit der engen Basis, worauf die Kon-sumtionsverhältnisse beruhen.« (ebenda, Seite 255) Konkret fehlt es an Konsumgüternachfrage.

Keynes geht derselben Frage nach. Der Wirtschaftstheorie von John Stuart Mill und sei-nen Nachfolgern hält er vor, daß sie »die Theorien der Unterkon-sumtion« in den »Winterschlaf« versetzt hätten: »Ihre Methode war, das Problem vom corpus der Wirtschaftslehre abzuweisen, nicht in-dem sie es lösten, sondern indem sie es nicht erwähnten.« (John Maynard Keynes: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes. Berlin 2006, Seite 308)

KapitalrentabilitätKeynesianische Politik läßt sich verstehen als der Versuch, den Widerspruch zwischen Produktivkraft und Produktionsverhältnis zu lösen, wie ja grundsätzlich keynesiani-sche Theorie (das ist nicht einfach Keynes, sondern sind auch Michal Kalecki, Joan Robinson, Nicholas Kaldor und andere) un-tersucht, unter welchen Bedingungen der bei Vollbeschäftigung hergestellte Wert realisiert werden kann. (Begriffsscholastik allerdings kann mit diesem Vorschlag, mar-xistisches und keynesianisches Theoretisie-ren in ein rationales Verhältnis zueinander zu setzen, nicht einverstanden sein. Das ist nicht vereinbar mit ihrem Hang zu bloß be-grifflichen Operationen, zu Spekulationen über allgemeinste und abstrakteste Begriffe und zur Unduldsamkeit.)

Auch wenn grundsätzlich davon aus-gegangen wird, daß sich der Widerspruch zwischen Produktivkraft und Produktions-verhältnis nicht im Kapitalismus lösen läßt, ist die Frage gestellt, ob keynesianische Politik einen Prozeß einleiten kann, der der Überwindung des Kapitalismus voranhilft. Bei der Verteilungspolitik ist dies unmit-telbar einsichtig. Diese Politik senkt die

Kapitalrentabilität und trifft damit den Nerv des Kapitalismus. Keynes war sich darüber im Klaren, wenn er im Rahmen der Vertei-lungspolitik fordert, daß die Investitionen gesellschaftlich gesteuert werden müßten. Aber das allein ist nicht keynesianische Po-litik. Ein niedriger Zins und Defizitausga-ben des Staates gehören auch dazu. Beides kann die gesamtwirtschaftliche Nachfrage auch bei niedrigem Masseneinkommen und hoher Profitrate steigern. (In den Lehrbü-chern ist hiervon die Rede. Verteilungspo-litik dagegen kommt nicht vor. Eine Ver-

engung der Theorie, die Joan Robinson als Bastard-Keynesianismus kritisiert.) Aber auch dieser ausgedünnte Keynesianismus kommt in Konflikt mit der unternehmeri-schen Autonomie. Denn niedrige Zinsen eröffnen viele Möglichkeiten für risikorei-che Spekulationen. Enge Regeln für den Finanzsektor wären daher nötig, damit die Niedrigzinspolitik nicht zu einer Finanz-krise wird. Andere Fragen stellen sich bei Defizitausgaben des Staates: Wer zahlt die Zinsen? Sind die Staatsanleihen auf dem privaten Kreditmarkt untergebracht, ist die Verteilungsfrage erneut gestellt. Wer-den sie bei der Zentralbank untergebracht, muß überschüssige Liquidität mit steigen-den Mindestreserven neutralisiert werden. Faktisch sind dann die Staatsanleihen im Ausmaß der höheren Mindestreserven als Zwangsanleihe bei den Banken unverzinst untergebracht. Das muß nicht nur gegen die Orthodoxie der Zentralbanken, sondern auch gegen den Finanzsektor durchgesetzt werden.

VerteilungsfrageIst nun keynesianische Wirtschaftspolitik möglich? Eine auf den ersten Blick un-nötige Frage, denn nichts anderes war die Politik der Industrieländer, um der Krise einigermaßen Herr zu werden. Sicherlich gibt es Unterschiede: Die USA haben sehr entschieden auf Konjunkturprogramme ge-setzt, Deutschland eher auf mehr Exporte bei geringen Löhnen und einem hohen Wirt-

schaftswachstum in den neu industrialisier-ten Ländern. Die Verteilungsfrage aber ist in keinem Land angepackt worden. Könnte eine entsprechende Parlamentsmehrheit in Deutschland die Verteilungsfrage angehen, ohne daß sich diese Politik in Nebenwir-kungen verheddern müßte?

Verteilungspolitik ist in erster Linie Steuerpolitik und Lohnpolitik. In Deutsch-land werden die Einkünfte der privaten Haushalte und Kapitalgesellschaften aus Geldvermögen und den kumulierten In-vestitionen (dem Realkapital) nach An-

gaben von Eurostat im Jahr 2008 (letzte Angabe) mit 23,1 Prozent versteuert. Im Jahr 2000 waren es noch 28,4 Prozent. Das liegt unter dem Durchschnitt der Euroländer (27,2 Prozent im Jahr 2008). Eine Reihe anderer EU-Länder haben einen weit höheren Steuersatz auf diese Einkommen, so beispielswei-se Großbritannien (45,9 Prozent), Dänemark (43,1 Prozent) oder Frankreich (38,8 Prozent). Die Gegner von Verteilungspolitik be-haupten nun, daß hohe Steuern auf diese Einkommen zu Kapitalflucht führten. Demnach müßte Deutsch-land, eine Steueroase, einen enor-men Zustrom an Direktinvestitio-nen beispielsweise aus Frankreich erfahren, während Frankreich langsam deindustrialisiert würde. Davon aber ist in den Statistiken nichts zu finden.

Also läßt sich keynesianische Verteilungspolitik durchführen trotz der engen Wirtschaftsbezie-hungen innerhalb der Euro-Zone. Läge der entsprechende Steuersatz in Deutschland auf französischem Niveau, dann hätte der deutsche Staat im Jahr 2008 rund 102 Mil-liarden Euro an Steuern mehr ein-

genommen. Auch 2010 hätte mit zusätzli-chen Einnahmen von etwa 100 Milliarden gerechnet werden können. Das sind rund vier Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Auch ein gesetzlicher Mindestlohn als ein anderer politischer Eingriff in die Vertei-lung kann ohne Schwierigkeiten eingeführt werden. Allemal haben die größeren EU-Industrieländer Mindestlöhne zwischen 7,20 Euro (Großbritannien) und 8,71Euro (Frankreich).

SystemfrageDie Frage ist also nicht, daß Deutsch-land – angesichts von niedrigen Löhnen und Gewinnsteuern im Ausland – kei-nen Verteilungsspielraum hätte. Vielmehr liefert Deutschland der französischen Regierung und anderen alle Munition, die sie bei ihrer Propaganda brauchen, um die Gewinnsteuern oder die Löhne abzu-senken. Man sieht, 100 Milliarden wären leicht einzunehmen (abgesehen von an-deren Steuer- und Abgabenerhöhungen zu Lasten hoher Vermögen usw.). Bei der Verteilungspolitik läßt sich also ein Anfang machen, ohne daß die System-frage gleich gestellt wäre. Diese Frage kommt dann auf die Tagesordnung, wenn die Arbeitsproduktivität – nach Abzug aller erforderlichen Investitionen – rest-los genutzt werden soll für höhere Mas-seneinkommen, Staatseinnahmen oder Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn-ausgleich.

Den Nerv des Kapitalismus treffenKeynesianische Politik: Was ist das? Hat sie eine Chance bei intensiver internationaler Wirtschaftsverflechtung? Von Herbert Schui

Wem dienen die Abgeordneten? Niebel im Jahr 2000 im Deutschen Bundestag

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