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Kriegsperfektion Libyen 2011: Der Westen bestreitet, daß es bei NATO-Angriffen zivile Opfer gab. Von Knut Mellenthin Wanderzirkus Mitt Romney gewann die ersten Vorwah- len der US-Republikaner für die Präsidentschaftswahlen 2012 Dumpinglöhne Lufthansa will am neuen Airport Leihar- beiter als Flugbegleiter einsetzen. Von Johannes Schulten Kreuzfeuer Syrische Exilopposition droht mit Gue- rillakrieg. Friedensakivisten rufen zur Solidarität auf 3 6 4 Verzicht ohne Ende General Motors will bei Opel weitere Lohnkürzungen durchsetzen. IG Metall sieht keinen Spielraum, Betriebsrat fordert Sicherheiten. Von Daniel Behruzi G eneral Motors (GM) fordert von den Beschäftigten seiner deutschen Tochter Opel erneut Gehaltsverzicht. Wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung am Mittwoch be- richtete, soll ein Teil der den Opelanern in diesem Jahr zustehenden »üppigen Lohnerhöhung« gestrichen werden. Dabei handelt es sich aber vor allem um die Rücknahme vorübergehender Einkommenskürzungen aus den ver- gangenen beiden Jahren. Die im soge- nannten Master Agreement von 2010 vereinbarte Streichung der im April 2011 fälligen Tarifsteigerung von 2,7 Prozent sowie die Halbierung des Ur- laubs- und Weihnachtsgeldes laufen aus. Die IG Metall scheint nicht bereit zu sein, erneut eine Unterschreitung des Flächentarifvertrags zuzulassen. Um etwa 10,8 Prozent würden die Einkommen der rund 22 000 Opelaner nach FAZ-Berechnungen in diesem Jahr steigen, wenn keine neuen Einschnitte vereinbart werden. Denn neben einer Rücknahme der Kürzungen steht eine Lohnerhöhung im Rahmen der dem- nächst beginnenden Tarifverhandlun- gen für die Metallindustrie an. Insge- samt geht es der Zeitung zufolge um eine Summe von rund 1,1 Milliarden Euro, die das Opel-Management gerne reduzieren würde. »Ich kann bestäti- gen, daß das Unternehmen an uns her- angetreten ist, um zu eruieren, ob wir zu Verhandlungen bereit sind«, wird der Frankfurter IG-Metall-Bezirkslei- ter Armin Schild am Mittwoch vom Onlineportal Automobil-produktion.de zitiert. »Wir haben geantwortet, daß wir keine Veranlassung zu Verhandlungen sehen«, so das Opel-Aufsichtsratsmit- glied weiter. Es gebe einen bis 2014 geltenden Vertrag, der auch vom GM- Management unterzeichnet sei. Die Crux an der Sache ist allerdings, daß in der jW vorliegenden Vereinba- rung ein Lohnverzicht von deutsch- landweit 176,8 Millionen Euro pro Jahr festgeschrieben ist – und zwar bis 2014. Um die Ende Januar auflaufende Tarifabsenkung zu kompensieren, ist darin eine »Sprechverpflichtung« ent- halten. »Uns ist klar, daß Gespräche geführt werden müssen«, erklärte denn auch Bochums Betriebsratsvorsitzen- der Rainer Einenkel am Mittwoch auf jW-Nachfrage. Bislang sei aber kein Verhandlungstermin vereinbart wor- den. Die IG Metall habe aber bereits klargestellt, daß sie weitere Einschnit- te in den Flächentarif nicht zulassen werde, weil sich diese auf die gesamte Autoindustrie auswirken würden. »Oh- ne Zustimmung der IG Metall geht da nichts, denn außer Rüsselsheim sind die Opel-Standorte mittlerweile auf Flächentarifniveau, und teilweise dar- unter«, so Einenkel. Ohnehin müsse GM zunächst ein- mal die Zukunft der Werke garantieren. Für Bochum hieße das die Produktion eines zweiten Fahrzeugs neben dem gerade angelaufenen Zafira. »Wenn es keine verbindlichen Zusagen für eine weitere Modellreihe gibt, kann ich der Belegschaft nicht vermitteln, wofür sie weitere Einsparungen mittragen sollte«, betonte der Betriebsratschef. »Sonst würden wir damit ja nur unsere eigenen Beerdigungskosten bezahlen.« Heftig kritisierte er, daß GM Opel den Zugang zu wesentlichen Märkten blok- kiere und zugleich Opel-Modelle in Südkorea und Mexiko fertigen lasse. Aus Sicht von Klaus Leymann, Er- satzbetriebsrat der Bochumer Opposi- tionsgruppe »Offensiv«, haben all die Zugeständnisse nichts gebracht. »Wir haben weder das neue Modell noch sichere Arbeitsplätze«, sagte er gegen- über jW. »Daher ist die einhellige Mei- nung unter den Vertrauensleuten und in der Belegschaft: Kein Verzicht mehr.« u Siehe Kommentar Seite 8 Wulff bringt erneut Medien gegen sich auf Exklusivinterview des Bundespräsidenten für ARD und ZDF erbost Privatsender B undespräsident Christian Wulff denkt offenbar nicht an Rücktritt – und läßt schon wieder kein Fettnäpfchen aus. Offen- bar auf Drängen von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hin hatte er sich zu einem Gespräch mit Journa- listen bereit erklärt, das am gestri- gen Mittwoch abend von ARD und ZDF ausgestrahlt werden sollte. Das Exklusivinterview führte zu heftigen Protesten des Deutschen Journalisten- Verbandes sowie von Privatsendern. Im Laufe des Mittwochs hatte Wulff allerdings noch Rückendek- kung sowohl von Merkel als auch von CSU-Chef Horst Seehofer erhalten. Das Staatsoberhaupt steht wegen Mauschelei um einen Hauskredit so- wie wegen des Versuchs in der Kritik, einen ihm negativ erscheinenden Arti- kel mit Drohungen gegen Journalisten zu verhindern. Statt eines Exklusivinterviews für ARD und ZDF müsse sich der Prä- sident den Fragen aller Journalisten der Hauptstadtmedien stellen, erklär- te der Vorsitzende des Deutschen Journalisten-Verbandes (DJV), Mi- chael Konken, am Mittwoch in Ber- lin. Nur so könne er glaubhaft den Dissens zwischen seinen öffentlichen Bekenntnissen zur Pressefreiheit und seinen Interventionen gegen unliebsa- me Berichterstattung aufklären. Auch die private Konkurrenz von ARD und ZDF protestierte gegen das Interview der beiden öffentlich-recht- lichen Sender. Wulffs Entscheidung, es nur diesen zu gewähren, sei eine enorme Benachteiligung für die pri- vaten Anbieter, erklärte der Chefre- dakteur des Nachrichtensenders n-tv, Volker Wasmuth. »Herr Wulff fügt den gemachten Fehlern einen weiteren hinzu«, sag- te die Sprecherin des Senders N 24, Kristina Faßler, der Frankfurter Rundschau (Donnerstagausgabe). Seine Erklärung sei von breitem öf- fentlichen Interesse. Deshalb sei die Entscheidung, nur ARD und ZDF zu bedienen, nicht nachvollziehbar und werde dem Amt nicht gerecht. (jW) u Siehe Interview auf Seite 2 4 198625 901300 40001 > junge Welt wird herausgegeben von 1 196 Ge- nossinnen und Genossen (Stand21.Dezember2011). Informationen: www.jungewelt.de/lpg junge W elt Die Tageszeitung www.jungewelt.de Befreiung von Moskau Ende 1941 war der »Barbarossa«-Plan gescheitert. Die Rote Armee befreite in ihrer ersten siegreichen Offensive die sowjetische Hauptstadt aus der tödlichen Umklammerung (Teil 1). Von Dietrich Eichholtz Seiten 10/11 Gegründet 1947 · Donnerstag, 5. Januar 2012 · Nr. 4 · 1,30 Euro · PVSt A11002 · Entgelt bezahlt Gespräche zwischen Israel und Palästina AmmAn. Die nach 15 Monaten wie- deraufgenommenen direkten Ge- spräche zwischen Israel und den Palästinensern sollen am Freitag fortgesetzt werden. Ort des Tref- fens unter Teilnahme des Nahost- Quartetts werde erneut die jorda- nische Hauptstadt Amman sein, hieß es aus palästinensischen Ver- handlungskreisen. Demnach gab es im ersten Anlauf am Dienstag keinen Durchbruch in inhaltlichen Fragen. An dem Treffen hatten der palästinensische Chefunterhändler Sajeb Erakat und der israelische Sondergesandte Jizchak Molcho teilgenommen. Beide Seiten hatten im Vorfeld betont, daß es sich um Vorgespräche und nicht um eine Rückkehr an den Verhandlungs- tisch handle. (AFP/jW) Bahn AG enttäuscht Polizeipräsidenten StuttgArt. Der Stuttgarter Polizei- präsident Thomas Züfle (Foto) ist enttäuscht von der Informations- politik der Deutschen Bahn AG. Diese habe seine Behörde nicht über das weiterhin bestehende Baumfällverbot für »Stuttgart 21« informiert. Die Polizei hat die Pla- nungen für einen Polizeieinsatz zur Räumung des Schloßgartens ge- stoppt, nachdem bekannt geworden war, daß nach wie vor ein Verbot zur Fällung der Bäume im Schloß- garten besteht. »Wir schützen nur rechtmäßige Arbeiten«, begründete Züfle den Schritt am Mittwoch. Ursprünglich wollte die Poli- zei, den Einsatz beim Abriß des Südflügels und die Räumung des Schloßgartens zusammen durchzu- führen. Die Bahn rechnet dennoch nicht mit Verzögerungen, da der Abriß des Südflügels, der ab Mon- tag beginnen soll, nicht betroffen ist. (dapd/jW) 7 Warnstreik bei Opel in Rüsselsheim im November 2009 RALPH ORLOWSKI / REUTERS MICHAEL LATZ/DAPD

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KriegsperfektionLibyen 2011: Der Westen bestreitet,

daß es bei NATO-Angriffen zivile Opfer gab. Von Knut Mellenthin

WanderzirkusMitt Romney gewann die ersten Vorwah-

len der US-Republikaner für die Präsidentschaftswahlen 2012

DumpinglöhneLufthansa will am neuen Airport Leihar-

beiter als Flugbegleiter einsetzen. Von Johannes Schulten

KreuzfeuerSyrische Exilopposition droht mit Gue-

rillakrieg. Friedensakivisten rufen zur Solidarität auf3 64

Verzicht ohne EndeGeneral Motors will bei Opel weitere Lohnkürzungen durchsetzen. IG Metall sieht keinen Spielraum, Betriebsrat fordert Sicherheiten. Von Daniel Behruzi

General Motors (GM) fordert von den Beschäftigten seiner deutschen Tochter Opel erneut

Gehaltsverzicht. Wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung am Mittwoch be-richtete, soll ein Teil der den Opelanern in diesem Jahr zustehenden »üppigen Lohnerhöhung« gestrichen werden. Dabei handelt es sich aber vor allem um die Rücknahme vorübergehender Einkommenskürzungen aus den ver-gangenen beiden Jahren. Die im soge-nannten Master Agreement von 2010 vereinbarte Streichung der im April 2011 fälligen Tarifsteigerung von 2,7 Prozent sowie die Halbierung des Ur-laubs- und Weihnachtsgeldes laufen aus. Die IG Metall scheint nicht bereit zu sein, erneut eine Unterschreitung des Flächentarifvertrags zuzulassen.

Um etwa 10,8 Prozent würden die Einkommen der rund 22 000 Opelaner nach FAZ-Berechnungen in diesem Jahr steigen, wenn keine neuen Einschnitte vereinbart werden. Denn neben einer Rücknahme der Kürzungen steht eine Lohnerhöhung im Rahmen der dem-nächst beginnenden Tarifverhandlun-gen für die Metallindustrie an. Insge-samt geht es der Zeitung zufolge um eine Summe von rund 1,1 Milliarden Euro, die das Opel-Management gerne reduzieren würde. »Ich kann bestäti-gen, daß das Unternehmen an uns her-angetreten ist, um zu eruieren, ob wir zu Verhandlungen bereit sind«, wird der Frankfurter IG-Metall-Bezirkslei-ter Armin Schild am Mittwoch vom Onlineportal Automobil-produktion.de zitiert. »Wir haben geantwortet, daß wir keine Veranlassung zu Verhandlungen sehen«, so das Opel-Aufsichtsratsmit-glied weiter. Es gebe einen bis 2014 geltenden Vertrag, der auch vom GM-Management unterzeichnet sei.

Die Crux an der Sache ist allerdings, daß in der jW vorliegenden Vereinba-rung ein Lohnverzicht von deutsch-landweit 176,8 Millionen Euro pro Jahr festgeschrieben ist – und zwar bis 2014. Um die Ende Januar auflaufende Tarifabsenkung zu kompensieren, ist darin eine »Sprechverpflichtung« ent-halten. »Uns ist klar, daß Gespräche geführt werden müssen«, erklärte denn auch Bochums Betriebsratsvorsitzen-der Rainer Einenkel am Mittwoch auf jW-Nachfrage. Bislang sei aber kein Verhandlungstermin vereinbart wor-den. Die IG Metall habe aber bereits klargestellt, daß sie weitere Einschnit-te in den Flächentarif nicht zulassen

werde, weil sich diese auf die gesamte Autoindustrie auswirken würden. »Oh-ne Zustimmung der IG Metall geht da nichts, denn außer Rüsselsheim sind die Opel-Standorte mittlerweile auf Flächentarifniveau, und teilweise dar-unter«, so Einenkel.

Ohnehin müsse GM zunächst ein-mal die Zukunft der Werke garantieren. Für Bochum hieße das die Produktion eines zweiten Fahrzeugs neben dem gerade angelaufenen Zafira. »Wenn es keine verbindlichen Zusagen für eine weitere Modellreihe gibt, kann ich der Belegschaft nicht vermitteln, wofür sie weitere Einsparungen mittragen sollte«, betonte der Betriebsratschef.

»Sonst würden wir damit ja nur unsere eigenen Beerdigungskosten bezahlen.« Heftig kritisierte er, daß GM Opel den Zugang zu wesentlichen Märkten blok-kiere und zugleich Opel-Modelle in Südkorea und Mexiko fertigen lasse.

Aus Sicht von Klaus Leymann, Er-satzbetriebsrat der Bochumer Opposi-tionsgruppe »Offensiv«, haben all die Zugeständnisse nichts gebracht. »Wir haben weder das neue Modell noch sichere Arbeitsplätze«, sagte er gegen-über jW. »Daher ist die einhellige Mei-nung unter den Vertrauensleuten und in der Belegschaft: Kein Verzicht mehr.«

u Siehe Kommentar Seite 8

Wulff bringt erneut Medien gegen sich auf Exklusivinterview des Bundespräsidenten für ARD und ZDF erbost Privatsender

Bundespräsident Christian Wulff denkt offenbar nicht an Rücktritt – und läßt schon

wieder kein Fettnäpfchen aus. Offen-bar auf Drängen von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hin hatte er sich zu einem Gespräch mit Journa-listen bereit erklärt, das am gestri-gen Mittwoch abend von ARD und ZDF ausgestrahlt werden sollte. Das Exklusivinterview führte zu heftigen Protesten des Deutschen Journalisten-Verbandes sowie von Privatsendern.

Im Laufe des Mittwochs hatte

Wulff allerdings noch Rückendek-kung sowohl von Merkel als auch von CSU-Chef Horst Seehofer erhalten. Das Staatsoberhaupt steht wegen Mauschelei um einen Hauskredit so-wie wegen des Versuchs in der Kritik, einen ihm negativ erscheinenden Arti-kel mit Drohungen gegen Journalisten zu verhindern.

Statt eines Exklusivinterviews für ARD und ZDF müsse sich der Prä-sident den Fragen aller Journalisten der Hauptstadtmedien stellen, erklär-te der Vorsitzende des Deutschen

Journalisten-Verbandes (DJV), Mi-chael Konken, am Mittwoch in Ber-lin. Nur so könne er glaubhaft den Dissens zwischen seinen öffentlichen Bekenntnissen zur Pressefreiheit und seinen Interventionen gegen unliebsa-me Berichterstattung aufklären.

Auch die private Konkurrenz von ARD und ZDF protestierte gegen das Interview der beiden öffentlich-recht-lichen Sender. Wulffs Entscheidung, es nur diesen zu gewähren, sei eine enorme Benachteiligung für die pri-vaten Anbieter, erklärte der Chefre-

dakteur des Nachrichtensenders n-tv, Volker Wasmuth.

»Herr Wulff fügt den gemachten Fehlern einen weiteren hinzu«, sag-te die Sprecherin des Senders N 24, Kristina Faßler, der Frankfurter Rundschau (Donnerstagausgabe). Seine Erklärung sei von breitem öf-fentlichen Interesse. Deshalb sei die Entscheidung, nur ARD und ZDF zu bedienen, nicht nachvollziehbar und werde dem Amt nicht gerecht. � (jW)

u Siehe Interview auf Seite 2 4 198625 901300

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junge Welt wird herausgegeben von 1 196 Ge-nossinnen und Genossen (Stand�21.�Dezember�2011). Informationen: www.jungewelt.de/lpg

junge WeltDie Tageszeitung

www.jungewelt.de

Befreiung von MoskauEnde 1941 war der »Barbarossa«-Plan

gescheitert. Die Rote Armee befreite

in ihrer ersten siegreichen Offensive

die sowjetische Hauptstadt aus der

tödlichen Umklammerung (Teil 1).

Von Dietrich Eichholtz Seiten 10/11

Gegründet 1947 · Donnerstag, 5. Januar 2012 · Nr. 4 · 1,30 Euro · PVSt A11002 · Entgelt bezahlt

Gespräche zwischen Israel und PalästinaAmmAn. Die nach 15 Monaten wie-deraufgenommenen direkten Ge-spräche zwischen Israel und den Palästinensern sollen am Freitag fortgesetzt werden. Ort des Tref-fens unter Teilnahme des Nahost-Quartetts werde erneut die jorda-nische Hauptstadt Amman sein, hieß es aus palästinensischen Ver-handlungskreisen. Demnach gab es im ersten Anlauf am Dienstag keinen Durchbruch in inhaltlichen Fragen. An dem Treffen hatten der palästinensische Chefunterhändler Sajeb Erakat und der israelische Sondergesandte Jizchak Molcho teilgenommen. Beide Seiten hatten im Vorfeld betont, daß es sich um Vorgespräche und nicht um eine Rückkehr an den Verhandlungs-tisch handle. � (AFP/jW)

Bahn AG enttäuscht Polizeipräsidenten

StuttgArt. Der Stuttgarter Polizei-präsident Thomas Züfle (Foto) ist enttäuscht von der Informations-politik der Deutschen Bahn AG. Diese habe seine Behörde nicht über das weiterhin bestehende Baumfällverbot für »Stuttgart 21« informiert. Die Polizei hat die Pla-nungen für einen Polizeieinsatz zur Räumung des Schloßgartens ge-stoppt, nachdem bekannt geworden war, daß nach wie vor ein Verbot zur Fällung der Bäume im Schloß-garten besteht. »Wir schützen nur rechtmäßige Arbeiten«, begründete Züfle den Schritt am Mittwoch.

Ursprünglich wollte die Poli-zei, den Einsatz beim Abriß des Südflügels und die Räumung des Schloßgartens zusammen durchzu-führen. Die Bahn rechnet dennoch nicht mit Verzögerungen, da der Abriß des Südflügels, der ab Mon-tag beginnen soll, nicht betroffen ist. (dapd/jW)

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Warnstreik bei Opel in Rüsselsheim im November 2009

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Donnerstag, 5. Januar 2012, Nr. 4 junge Welt2 p o l i t i k

»W i r t re f fe n u n s vo r Wu l f f s Amt s s i t z «Demo für den Rücktritt des Bundespräsidenten am Samstag vor dem Schloß Bellevue. Ein Gespräch mit Jürgen Jänen

Serie von Anschlägen im irakischen BakubaBAgdAd. Eine Serie von Anschlägen im Irak hat am Mittwoch mindestens vier Menschen das Leben gekostet. Nach Angaben der Behörden waren auch zwei Kinder unter den Opfern. Die Attentate in der Stadt Bakuba hätten sich gegen Häuser gerichtet, in denen Mitglieder der Sicherheitskräfte und ihre Familien schliefen, hieß es. Neun Menschen wurden den Angaben zufol-ge verletzt. (dapd/jW)

Haftstrafen nach Mord in LondonLondon. Mehr als 18 Jahre nach dem ras-sistischen Mord an dem damals 18jähri-gen Stephen Lawrence in London sind die beiden Täter am Mittwoch zu 14 und 15 Jahren Haft verurteilt worden. Beide waren zur Tatzeit minderjährig und wurden deshalb nach Jugendstraf-recht verurteilt. Den beiden könnten keinerlei mildernde Umstände aner-

kannt werden, weil sie bis heute keine Reue gezeigt hätten, betonte Richter Colman Treacy. Der »schreckliche und bösartige« Mord sei eindeutig durch Rassenhaß motiviert gewesen. Für Empörung hatte der Umgang mit dem Fall gesorgt. Ein im Jahr 1999 veröf-fentlichter Untersuchungsbericht kam zu dem Schluß, daß die Polizei die Er-mittlungen durch »eine Kombination aus professioneller Inkompetenz und institutionellem Rassismus« behindert habe. (AFP/jW)

Geheimdienst entdeckt IslamfeindlichkeitKöLn. Das Bundesamt für Verfassungs-schutz und die Landesämter wollen islamkritische Internetseiten stärker überwachen. Als Reaktion auf die At-tentate des norwegischen Neonazis An-ders Behring Breivik würden einschlä-gige Seiten wie »Politically Incorrect« derzeit genau analysiert, sagte eine Sprecherin des Bundesamtes für Ver-fassungsschutz am Mittwoch in Köln.

Das sei längst überfällig, erklärte Ul-la Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke am Mittwoch. »Daß die Behörden trotz des eindeuti-gen Erstarkens einer islamfeindlichen Szene am rechten Rand des politischen Spektrums jahrelang untätig waren, reiht sich ein in die Skandalgeschichte um die Bagatellisierung der Gefahr von rechts durch die Sicherheitsbehör-den«. Das bisherige Zögern könne den Grund haben, daß einzelne von den Islamhassern vertretene Thesen mit Thilo Sarrazin (SPD) oder Kristina Schröder (CDU) Fürsprecher in der etablierten Politik haben, so Jelpke. (dapd/jW)

HinweisIn der Mittwochausgabe heißt es in dem Artikel »Katastrophale Bilanz« auf Seite 4 irrtümlich: »Toll Collect kam nie zustande«. Tatsächlich wur-de das Lkw-Mautsystem 2005, nach 16monatiger Verspätung, in Betrieb genommen. Seit 2006 läuft es nach Betreiberangaben mit der vollen Funk-tionalität. (jW)

NachrichteN

Bildungsnotstand. Ausnahmsweise nicht wegen Lehrermangels fiel am Mittwoch Unterricht an vielen Mittelschulen, Gymnasien und Berufsschulen im sächsischen Chemnitz aus. Schülerproteste sorgten dafür, daß die Klassenzimmer erst um 9 Uhr geöffnet werden konnten. Laut Sächsischem Lehrerverband entfallen wöchentlich im Freistaat 4 000 Unterrichtsstunden, weil das Per-sonal fehlt. Nach Vollversammlungen machten die Kinder und Jugendlichen mit Plakaten auf dieses Problem aufmerksam (siehe Foto). Sie forderten die verantwortlichen Landespolitiker in Dresden auf, endlich zu handeln. (jW)

Keine Aufklärung in Sicht Beate Zschäpe schweigt. Neonazitrio womöglich in weiteren Terroranschlag verwickelt

Beate Zschäpe schweigt und schweigt – dazu raten ihre Verteidiger Wolfgang Heer

und Wolfgang Stahl der einzigen Überlebenden des rechtsextremen »Zwickauer Terrortrios« bis zur voll-ständigen Akteneinsicht. Aus den bislang vorliegenden Akten sei kein dringender Tatverdacht der Mitglied-schaft in einer terroristischen Verei-nigung ersichtlich, wiederholte Heer in einem Interview, das die Ostthü-ringer Zeitung am Mittwoch veröf-fentlichte. Mit dieser Begründung hatten die Anwälte bereits Ende De-zember Haftbeschwerde eingereicht. Ein Sprecher der Bundesanwaltschaft wies dies als unbegründet zurück. Die Anwälte hätten »alles, was ihnen nach der Strafprozeßordnung zusteht«, und »alles, worauf sich der Haftbefehl stützt«, sagte der Behördensprecher

am Mittwoch der Nachrichtenagen-tur dapd. Laut Verteidigung han-delt es sich dabei nur um 120 Blatt von mehreren tausend Aktenseiten. »Davon sind, wenn überhaupt, nur 39 Blatt zur Beurteilung des Tatver-dachts geeignet.« Den Medien sei-en darüber hinausgehende Details mitgeteilt worden. Der Haftbeschluß könne aber »in dieser Form keinen Bestand haben«. Der als »National-sozialistischer Untergrund« bekannt gewordenen Terrorzelle, die Anfang November nach dem mutmaßlichen Selbstmord von Zschäpes Komplizen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in Eisenach aufflog, werden bisher zehn Morde und zwei Sprengstoff-anschläge mit über 20 Verletzten zu-geordnet. Einer der Gründe für die zögerliche Akteneinsicht könnten darin liegen, daß das Trio mit seinem

Untertauchen 1998 noch lange nicht vom Radar des Inlandsgeheimdien-stes verschwunden war. Der Spiegel zitierte am 31. Dezember einen Unter-suchungsbericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz, demzufolge die Beamten 1999 verläßliche Hinweise auf den Aufenthaltsort der Gesuchten hatten. Das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz dementierte dies umgehend.

Die Süddeutsche Zeitung spekulier-te am Mittwoch auch über die Verbin-dung zu einem Sprengstoffanschlag auf jüdische Spätaussiedler am 27. Ju-li 2000 am Düsseldorfer S-Bahnhof Wehrhahn. Unter den 2 500 Asserva-ten, die bei den Ermittlungen gegen die rechte Terrorzelle ausgewertet werden, habe sich »ein erster Hinweis auf Wehrhahn« gefunden.

Claudia Wangerin

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Sie rufen zu einer Aktion gegen Bundespräsident Christian Wulff auf, am

Samstag um 17 Uhr vor dem Schloß Bellevue in Berlin. Was soll passieren?

Wir treffen uns vor Wulffs Amtssitz, um ihm nach einer kurzen Anspra-che die Schuhe zu zeigen. Die Geste wurde im arabischen Raum bekannt, als Zeichen der tiefsten Mißachtung und des Unbills. Er ist des Po-stens des ersten Manns im Staat nicht würdig. Schon vor rund einem Jahr haben wir mit ei-ner ähnlichen Aktion am Potsdamer Platz den Rücktritt des da-maligen CSU-Vertei-digungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg gefordert. Wir waren rund 600 Leute.

Sie orientieren sich mit Ihrer Protest-form am Aufstand in der arabischen Welt. Gilt das auch für die Mo-bilisierung?

Wir nutzen Facebook, unsere Inter-netseite und unsere E-Mail-Verteiler. Auch die Erfahrung in Deutschland zeigt, daß so etwas durchaus von Erfolg gekrönt sein kann. Wir müs-sen allerdings damit rechnen, daß einige potentielle Teilnehmer noch im Winterurlaub sind. So werden wir statt eines Redebeitrags ein Grußwort erhalten vom Präsidenten der Akademie der Künste in Berlin, Klaus Staeck. Er hatte sich bereits am Guttenberg-Protest beteiligt.

Sie fordern mit Ihrer Aktion den Rücktritt Wulffs. Warum? Die verbilligte Finanzierung sei-nes Hauses konnte ihm bisher nicht als Korruption ausgelegt werden, weil nicht nachgewie-sen ist, daß er dafür Gegenlei-stungen gewährt hat.

Sein Wohnhaus steht nicht im Vor-dergrund unseres Protests. Vielmehr hat er versucht, jegliche Berichter-stattung darüber zu verhindern. Der Bundespräsident prüft, ob Gesetze gegen die Verfassung verstoßen, be-vor er sie unterzeichnet. Hält er sie für grundgesetzwidrig, legt er sie dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe vor. Ein Mensch in die-ser Stellung darf das Grundrecht auf Pressefreiheit nicht mit Füßen treten. Mit seinen Drohungen gegen Bild-Chefredakteur Kai Diekmann und seiner Intervention beim Verlags-chef sowie bei der maßgeblichen Ka-pitaleignerin Friede Springer hat er sich selbst disqualifiziert.

Außerdem pflegt Wulff eine aus-gesprochene Doppelmoral. Er hat sowohl den damaligen Bundesprä-

sidenten Johannes Rau, als auch den früheren Ministerpräsidenten Niedersachsens, Gerhard Glogow-ski (beide SPD), zum Rücktritt auf-gefordert, obwohl sie weit weniger gegen demokratische Grundsätze verstoßen hatten als er heute selbst. Er mißt sich nicht an seinen eigenen Maßstäben.

Welche Maßstäbe sind das?Auf seiner Internetseite steht: »Der Bundesprä-sident ist ›lebendiges Symbol‹ des Staates. Über den Parteien stehend, wirkt er in Reden, Ansprachen, Gesprächen, durch Schirmherrschaften und andere Initiativen integrierend, moderie-rend und motivierend.« Diesen Anspruch kann er heute nicht mehr einlösen.

Wir leisten täglich Sisyphosarbeit, um Menschen zu motivie-ren, sich gesellschafts-

politisch zu engagieren und für die Demokratie einzusetzen. Uns geht es nicht um diesen dubiosen Kredit. Der hat zwar ein G’schmäckle, und Wulff hat den Hannoveraner Landtag darüber belogen. Mit seinem Angriff auf die Pressefreiheit hat er aber den Bogen überspannt. Wulff soll das Amt nicht weiter beschädigen und endlich seinen Hut nehmen!

Aus der Politik kommen aber keine Rücktrittsforderungen. Aus der Opposition im Bundes-tag äußert sich nur die zweite Reihe, wie SPD-Fraktionsvize Hubertus Heil.

Wenn die politische Kaste versagt, müssen die Bürgerinnen und Bür-ger auf die Straße gehen und sagen: »Wir haben die Schnauze voll, uns reicht’s!«. Das zeigt außerdem, daß die Zeit reif ist, über ein anderes Wahlverfahren nachzudenken. Das höchste Amt im Staat sollte nicht parteipolitischem Taktieren unter-worfen sein, wie es bei der Wahl Wulffs offen zutage trat.

Bild steht selbst in der Kritik, weil das Blatt die kompro-mittierende Nachricht des Präsidenten auf dem Anrufbe-antworter des Chefredakteurs über die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Süddeutsche Zeitung an die Öffentlichkeit lanciert hat.

Sie hat die Vertraulichkeit durchbro-chen. Aber noch einmal: Der Bun-despräsident hat versucht, die Be-richterstattung zu beeinflussen und sich sogar an die Mehrheitseigen-tümerin gewandt. Das geht einfach nicht. Interview: Mirko Knoche

Jürgen Jänen ist Presse-sprecher der Veranstal-

tungsplattform »Creative Lobby of Future« (CLoF)

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Die Beobachtermission der Ara-bischen Liga in Syrien steht weiter im Kreuzfeuer der Kri-

tik. Während die mehr als 100 Männer und Frauen aus verschiedenen arabi-schen Ländern durch Syrien reisen, Informationen in Krankenhäusern und Gefängnissen, in Wohngebieten, bei Straßenprotesten für und gegen Prä-sident Baschar Al-Assad und bei Be-gegnungen mit unzähligen Menschen sammeln, reißen die Versuche syri-scher Oppositionsvertreter im Ausland nicht ab, die Fact-Finding-Mission zu diskreditieren.

Ziel der Mission ist es zu überprü-fen, ob Syrien den arabischen Frie-densplan umsetzt, der Ende Oktober vereinbart worden war. Danach sol-len sich Panzer und Armee aus allen Wohngebieten zurückziehen, Gefan-gene freigelassen werden, um dann ei-nen Dialog zwischen Opposition und Regierung aufzunehmen.

Der aus der Türkei agierende Führer der »Freien Syrischen Armee« (FSA), Riad Asaad, hatte zunächst angekün-digt, seine Einheiten würden ihre be-waffneten Aktionen einstellen, um der Mission eine Chance zu geben. Am Dienstag sagte er in einem Telefon-interview mit der Nachrichtenagentur Reuters, die Mission der Arabischen Liga habe die Gewalt des Staates nicht gestoppt. »Wenn wir in höchstens einer Woche den Eindruck haben, daß sie es nicht ernst meinen, werden wir eine Entscheidung treffen, die das Regime und die ganze Welt überraschen wird.« Seine Truppe hätte in den letzten Tagen viele Tote zu beklagen, sagte Asaad. Die syrischen behörden wiederum er-klärten, am Dienstag seien bei einem Angriff bewaffneter Aufständischer in Daraa 18 Angehörige der Sicherheits-kräfte getötet worden, die in einem Bus unterwegs waren.

Das in Berlin lebende Mitglied des Syrischen Nationalrates (SNR) Fer-had Ahma kündigte am Mittwoch »einen Guerillakrieg gegen die offi-zielle syrische Armee an«, wenn we-der die Beobachtermission noch eine UN-Resolution Präsident Assad zum Machtverzicht bewegen würden. Die Bundesregierung müsse den National-rat »als legitime Stimme des syrischen Volkes« offiziell anerkennen, forderte

sein SNR-Kollege Hozan Ibrahim laut Nachrichtenagentur dapd. Ibrahim verlangte von der Bundesregierung, »alle politischen Beziehungen zum Assad-Regime einzufrieren und den deutschen Botschafter aus Damaskus abzuziehen«. Außerdem müsse eine Flugverbotszone eingerichtet werden. Der Sprecher des Auswärtigen Amts Andreas Peschke lehnte einen Abzug des deutschen Botschafters aus Da-maskus ab. Man müsse die Zwischen-bewertung der Arabischen Liga am kommenden Samstag abwarten, sagte Peschke.

Anwohner aus Vororten von Da-maskus, in denen kleinere, religiös motivierte Protestgruppen aktiv sind, bestätigten gegenüber junge Welt den Abzug von Militär und Geheimdienst seit Beginn der Beobachtermission. Diese konnte sich unter anderem da-von überzeugen, daß auch Eigentum von nicht an Protesten beteiligten Ein-wohnern bei Schießereien beschädigt worden war, darunter Fahrzeuge, Was-sertanks und Stromverbindungen. Am Dienstag morgen wurden eine Gas-pipeline und eine Brücke bei Al-Ra-

stan (Homs) durch Anschläge zerstört. Die Gaspipeline versorgt zwei Elek-trizitätswerke. Die Energieversorgung in Syrien muß wegen Sanktionen und Anschlägen seit geraumer Zeit ratio-niert werden.

Während die Opposition behauptet, die syrische Führung würde Scharf-schützen gegen die Bevölkerung ein-setzen, bestätigen Betroffene, daß auch bewaffnete Aufständische gezielt auf Zivilisten feuerten und Personen bedrohten, die sich nicht an Protesten beteiligten. Der Generalsekretär der Arabischen Liga, Nabil al-Arabi, sagte unter Verweis auf Berichte der Beob-achter in Syrien, es gebe Scharfschüt-zen, doch es sei »schwer zu sagen, wer auf wen schießt«. Es sei »zu früh«, die Mission als gescheitert zu bezeichnen, so Al-Arabi. Die syrische Regierung habe mehr als 3 000 Gefangene frei-gelassen und zugesagt, ausländische Journalisten ins Land zu lassen, um über die Unruhen zu berichten, so der Generalsekretär weiter. Ausgenommen seien lediglich drei Fernsehstationen, deren Namen er nicht nannte. Ein na-mentlich nicht genannter Mitarbeiter

der Arabischen Liga sagte dem Inter-netportal Middle East Online, es han-delte sich um Al-Arabija, Al-Dschasira und France 24. Die Korrespondenten von ARD und ZDF berichteten bereits im Dezember aus Syrien.

Bei der Neujahrspressekonferenz des US-Außenministeriums sagte des-sen Sprecher Jay Carney, es sei »klar, daß die Anforderungen des Protokolls der Arabischen Liga« von der syrischen Regierunge nicht umgesetzt würden. »Feuer von Scharfschützen, Folter und Mord« gingen in Syrien weiter. Es sei »höchste Zeit«, daß die internationa-le Gemeinschaft Maßnahmen gegen Präsident Baschar Al-Assad und seine Regierung ergreife, so Carney. »Wir arbeiten mit unseren internationalen Partnern, um den Druck auf das Assad-Regime zu erhöhen«, damit die Ge-walt »gegen das eigene Volk« aufhöre. Viktoria Nuland, ebenfalls Sprecherin des US-Außenministeriums, kündigte inzwischen an, daß der für die Angele-genheiten des Mittleren Ostens zustän-dige Staatssekretär Jeffrey Feltman »zu Beratungen« mit der Arabischen Liga nach Kairo gereist sei.

junge Welt Donnerstag, 5. Januar 2012, Nr. 4 3s c h w e r p u n k tGespräch

Drohung mit libyschem Beispielu Samir Aita stammt aus Damaskus und ist Chefre-dakteur von Le Monde Diplo-matique, Arabische Ausgabe. Im Gespräch mit der Autorin spricht er über die Bedeu-tung einer »arabischen Lö-sung« in Syrien:(…) Es gibt eine Konkurrenz zwischen denjenigen, die eine Resolution vom UN-Sicher-heitsrat wollen und denjenigen, die eine Lösung durch die Arabische Liga wollen. Der Arabische Plan sieht vor, Be-obachter ins Land zu bringen, die Gewalt von allen Seiten zu stoppen und die Gefangenen zu befreien, vor allem die poli-tischen Führer des Aufstandes. Dann sollen Teile des Regimes dazu gebracht werden, mit den Oppositionsgruppen zu verhan-deln und wirkliche Änderungen vorzunehmen. Das ist ein Pro-zeß. Diejenigen aber, die zum UN-Sicherheitsrat drängen, wollen mit einer Resolution nur einen Vorwand, um das libysche Beispiel zu wiederholen. Die

Russen spielen mit einer eige-nen Resolution mit, um ihnen diesen Vorwand nicht zu geben. Der Generalsekretär (der Ara-bischen Liga) stand von Anfang an unter Druck vom Syrischen Nationalrat (SNR), der will keine Initiative der Arabischen Liga, sondern eine Entscheidung des UN-Sicherheitsrates. Der SNR forderte den Ausschluß Syriens aus der Liga und wollte, daß man ihn als souveränen Vertreter Syriens anerkennt. Ein nicht gewähltes Gremium, nach libyschem Vorbild! Darauf hat sich die Arabische Liga nicht eingelassen. Bis heute versucht man, das pazifistische Vorgehen, wie es die Initiative der Arabi-schen Liga vorsieht, zu stoppen und statt dessen eine ausländi-sche Militärintervention unter humanitären Vorwänden durch-zusetzen. Die Entscheidungen in der Arabischen Liga laufen ganz anders. Katar hat eine Meinung, Algerien eine völlig andere, also wird verhandelt. Nur so kommt man schließlich zu ei-nem vernünftigen Ergebnis. Im Sicherheitsrat entscheiden ei-nige Staaten allein über die Zu-kunft des Planeten, sie feilschen darum. Ich will nicht, daß die Zukunft Syriens Ergebnis einer Feilscherei zwischen den USA und Rußland wird. (…) Die In-itiative der Arabischen Liga ist der beste Plan, um den Konflikt in Syrien zu lösen. Unter der Voraussetzung, daß Schluß ist mit der Gewalt und alle Ge-fangenen freigelassen werden. Jedes Land, das dabei hilft, die Bedingungen für einen Dialog umzusetzen, ist willkommen.(Karin�Leukefeld,�Interview�Dezember�2011,�Paris)

Vorortrecherche: Beobachtergruppe der arabischen Liga im Bezirk Al-Sabil in Daraa am Dienstag

Beobachter unter FeuerSyrische Exilopposition droht mit »Guerillakrieg« und fordert Abzug westlicher Botschafter aus Damaskus. Arabische Liga will Mission trotz Kritik fortsetzen. Von Karin Leukefeld

u Friedensaktivisten, Wissenschaft-ler, Politiker und Publizisten for-dern in einem am 3. Januar verbrei-teten Aufruf die Bundesregierung auf, die Kriegsvorbereitungen gegen Syrien und Iran zu stoppen und die Embargos gegen die beiden Länder zu beenden. Zu den bisher mehr als 400 Unterzeichnern gehören die Linke-Bundestagsabgeordneten Se-vim Dagdelen, Diether Dehm, Heike Hänsel, Ulla Jelpke und Eva Bulling-Schroeter, der Philosoph Domenico Losurdo sowie die Schriftsteller Erasmus Schöfer, Gerhard und In-grid Zwerenz.

Zehntausende Tote, eine trauma-tisierte Bevölkerung, eine weit-gehend zerstörte Infrastruktur

und ein zerfallener Staat: Das ist das Ergebnis des Krieges, den USA und

NATO geführt haben, um den Reich-tum Libyens plündern und das Land wieder kolonialisieren zu können. Jetzt bereiten sie offen den Krieg gegen die strategisch wichtigen bzw. rohstoffrei-chen Länder Iran und Syrien vor, die ei-ne eigenständige Politik verfolgen und sich ihrem Diktat nicht unterordnen. Ein Angriff der NATO auf Syrien oder Iran kann zur direkten Konfrontation mit Rußland und China führen – mit unvorstellbaren Konsequenzen.

Mit ständigen Kriegsdrohungen, dem Aufmarsch militärischer Kräfte an den Grenzen zu Iran und Syrien sowie mit Sabotage- und Terroraktionen von eingeschleusten »Spezialeinheiten« halten die USA gemeinsam mit wei-teren NATO-Staaten und Israel die beiden Länder in einem Ausnahmezu-stand, der sie zermürben soll. Zynisch und menschenverachtend versuchen

USA und EU, mit Embargos ihren Au-ßenhandel und Zahlungsverkehr plan-mäßig lahmzulegen. Die Wirtschaft des Iran und Syriens soll bewußt in eine tiefe Krise gestürzt, ihre Arbeitslosen-zahlen erhöht und die Versorgungslage ihrer Bevölkerung drastisch verschlech-tert werden. Die inneren sozialen und ethnischen Konflikte sollen zugespitzt, ein Bürgerkrieg entfacht werden, um ei-nen Vorwand für die längst geplante mi-litärische Intervention zu schaffen. An diesem Embargo gegen Iran und Syrien beteiligt sich auch ganz maßgeblich die deutsche Bundesregierung.

Wir rufen alle Bürger, die Kirchen, Parteien, Gewerkschaften, die Frie-densbewegung auf, dieser Kriegspolitik konsequent entgegenzutreten.

Wir fordern, daß die Bundesregie-rung – die Embargomaßnahmen gegen den

Iran und Syrien bedingungslos und so-fort aufhebt; – klarstellt, daß sie sich an einem Krieg gegen diese Staaten in keiner Weise be-teiligen und die Nutzung deutscher Ein-richtungen für eine Aggression durch USA und NATO nicht gestatten wird; – sich auf internationaler Ebene für die Beendigung der Politik der Erpressung und Kriegsdrohung gegen den Iran und Syrien einsetzt.

Das iranische und syrische Volk haben das Recht, über die Gestaltung ihrer politischen und gesellschaftlichen Ordnung allein und souverän zu ent-scheiden. Die Erhaltung des Friedens verlangt es, daß das Prinzip der Nicht-einmischung in die inneren Angele-genheiten anderer Staaten konsequent eingehalten wird.u Liste der Erstunterzeichner und Kontakt: www.jungewelt.de

appell. solidarität mit deN VölkerN iraNs uNd syrieNs

Samir Aita

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Der geplante Einsatz von knapp 200 Leiharbeitern als Flugbe-gleiter am Berlin-Brandenbur-

ger Großflughafen BER durch die Luft-hansa ist auf harte Kritik gestoßen. Die Gewerkschaft ver.di wies das Vorhaben am Mittwoch gegenüber junge Welt als »Irrflug« und »glasklaren Rechtsbruch« zurück, so der für den Konzern zuständi-ge Sekretär Arne von Spreckelsen. Die gültige Betriebsvereinbarung schließe den Einsatz von Leiharbeitern einwand-frei aus. Auch Alexander Behrens von der Unabhängigen Flugbegleiterorgani-sation (UFO) sprach von einem »Kul-turbruch«. »Outsourcing bei Lufthansa« sei mit UFO nicht zu machen«. Beide Gewerkschaften kündigten an, gemein-sam und »mit allen rechtlichen Mitteln« gegen das Lohndumping vorzugehen, entsprechende Gutachten seien schon in Auftrag gegeben.

Die Lufthansa hatte am Dienstag ei-nen Bericht der Rheinischen Post bestä-tigt, nach dem das Unternehmen plane, 200 bis 230 Stewardessen und Stewards für den Standort BER als Leiharbei-ter einzustellen. Gestellt werden sollen diese vom Personaldienstleister Avia-tion Power, ein Joint Venture aus der Leiharbeitsfirma Manpower und Lufth-ansa-Technik. Die neuen Flugbegleiter sollen laut Konzern zwar »exakt das gleiche« Einstiegsgehalt erhalten so-wie »eins zu eins nach Lufthansa-Vor-gaben« ausgebildet werden. Allerdings fallen die im Konzerntarif vorgesehe-nen automatischen jährlichen Lohnstei-gerungen weg, zudem sollen die Kolle-gen länger arbeiten und lediglich einen Zweijahresvertrag bekommen.

»Der gültige Tarifvertrag von 2008 sieht automatische Lohnsteigerungen von 140 Euro jährlich vor«, sagte von Spreckelsen. »150 Millionen Euro sol-len so aus der Kabine herausgequetscht werden.« Insgesamt rund 300 Euro we-niger als bei der Lufthansa werde bei Aviation Power verdient, für die gleiche Arbeit. »Das ist ein klarer Vertrags-bruch«, meint der ver.di-Sekretär. Die

Tarifvereinbarung sehe eindeutig vor, daß die Besetzung mit Personal aus der Lufthansa geschehen muß. Ein bereits vorliegendes Rechtsgutachten würde dies bestätigen.

Bei der Lufthansa sieht man dage-gen keine rechtlichen Probleme. Die Ausschreibungen bei Aviation Power laufen bereits. Auch erste Bewerbungs-gespräche werden bald beginnen, hieß es in der Pressestelle. Die Fluggesell-schaft begründet ihr Lohndumping mit Kostendruck. »Wir wollen in Berlin Marktanteile zurückgewinnen«, sagte ein Sprecher. Der weltgrößte Luftfahrt-konzern hat sich aufgrund der Billig-fliegerkonkurrenz von Air Berlin und Easyjet in den vergangenen Jahren fast komplett aus der Hauptstadt verab-schiedet und ist nur mit einer kleinen Repräsentanz in Berlin-Tegel vertreten. Mit dem Großflughafen in Schönefeld,

der am 3. Juni dieses Jahres den Betrieb aufnimmt, soll der Wiedereinstieg ge-lingen. Investitionen in Höhe von 60 Millionen Euro, 15 neue Maschinen und 30 zusätzliche internationale Ziele sind geplant. Bislang steuerte das Un-ternehmen von Tegel aus nur acht Ziele nonstop innerhalb Deutschlands und Europas an. Neben den neuen Flugbe-gleitern werden auch 130 zusätzliche Piloten benötigt.

Doch die Expansion ist an Bedin-gungen geknüpft. Vorstandsmitglied Carsten Spohr hat immer wieder klar-gestellt, daß es eine Ausweitung des Engagements nicht zu den gültigen tariflichen Bedingungen geben werde. UFO hatte vor einer »Lufthansa light« gewarnt, die mit dem guten Namen des Unternehmens wirbt, aber zu Kondi-tionen der Billigtochter Germanwings arbeitet.

Diese Befürchtungen sieht die Ge-werkschaft nun zum Teil bestätigt. Eine Lufthansa light sei »nicht ganz abwe-gig«, so Behrens von UFO. In jedem Fall sei Berlin eine Nagelprobe. Wenn es dem Konzern gelinge, hier die Tarife zu unterlaufen, könne das ein Einfalls-tor für den ganzen Konzern sein, meint auch ver.di. Die neuen 120 Piloten dürf-ten allerdings von den Kostensenkun-gen nicht betroffen sein. »Für die Pilo-ten gelten die üblichen Bedingungen«, hieß es am Mittwoch bei der zuständi-gen Gewerkschaft Cockpit.

Bei den am 13. Januar beginnenden Lohnverhandlungen für die Flugbeglei-ter bei der Lufthansa, für die ver.di und UFO im Dezember eine Tarifgemein-schaft gebildet haben, sollen die Leih-arbeitspläne jedoch keine Rolle spielen. Die Rechtslage sei klar, da gebe es nichts zu verhandeln, sagte Spreckelsen.

Hessens Landesregierung ver-baut Hunderten seiner Bürger den zweiten Bildungsweg.

Nach einem zum Jahresanfang grei-fenden Kürzungserlaß von Kultus-ministerin Dorothea Henzler (FDP) besteht neuerdings nur noch ein be-grenzter Zugang an die Schulen für Erwachsene. Zugleich soll die Zahl der Lehrerstellen an den betroffenen Einrichtungen um ein Viertel redu-ziert werden. Widerspruch gegen das Spardiktat kommt von der Gewerk-schaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sowie betroffenen Pädagogen aus Wiesbaden. Nach Darstellung des Ministeriums wird dagegen lediglich eine »bisher bestehende stellenmäßige Überversorgung behutsam abgebaut«.

Die Maßnahmen sind Teil eines für den Bildungsbereich kurzfristig durch-gesetzten »Sparpakets« im Umfang von rund 50 Millionen Euro. In einer Stellungnahme beklagt die Personal-versammlung des Wiesbadener Abend-gymnasiums eine »verfehlte Sparpoli-tik«. Bei derzeit 26 tätigen Lehrkräften sollten zum im Februar beginnenden Semester vier volle Stellen wegfallen. Nicht mehr 270 Schüler, sondern we-niger als 200 könnten unter den neuen Bedingungen demnächst noch unter-

richtet werden. Bisher war es so, daß Abendgymnasien jeden qualifizierten Bewerber aufnehmen konnten, der in der Lage und bereit war, nach Feier-abend bis 22 Uhr für die Dauer von dreieinhalb Jahren die Schulbank zu drücken, um sich beruflich voran zu bringen.

Mit der kurz vor Weihnachten von Henzler erlassenen Verordnung soll das jetzt ein Ende haben. Weil der Beschluß die Schulen ziemlich unvor-bereitet traf, müssen bereits gegebene Zusagen wohl in beträchtlicher Menge wieder zurückgenommen werden. Das Abendgymnasium Wiesbaden rechnet mit »weit über 100 Neuanmeldungen«, während die Zahl der Bewilligungen bei etwa 60 gedeckelt werde, heißt es in besagter Erklärung. Jeder abge-lehnte Bewerber bedeute aber, »daß einem jungen Menschen der Weg zu einem qualifizierten Beruf und damit in eine bessere Zukunft verbaut wird«. Auf Geheiß des Ministeriums müsse man ferner die Zahl der Lehrerstunden für sämtliche Kurse von bislang 389 auf 306 zurückfahren, zum Semester-start dürfe man außerdem nur noch

drei Einstiegskurse anbieten. Die vom Land eingesparten Kosten bei den Leh-rergehältern müsse es später in Form von Arbeitslosengeld oder Hartz-IV-Leistungen bezahlen, gibt die Beleg-schaft zu bedenken.

Der Landesvorsitzende der hessi-schen GEW, Jochen Nagel, sieht in den Vorgängen den »nächsten Wort-bruch« der CDU-FDP-Koalition. Die habe sich stets damit gebrüstet, bei der Umsetzung der Schuldenbremse den Hebel nicht bei der Bildung anzuset-zen, wie er am Mittwoch gegenüber junge Welt anmerkte. Andererseits sei das Vorgehen die »konsequente Fort-führung einer Politik, die die soziale Selektivität im Bildungswesen weiter verschärft«. Tatsächlich wird das An-gebot, in Abendschulen oder als Voll-zeitstudierender an einem sogenann-ten Hessenkolleg Schulabschlüsse bis hin zum Abitur nachzuholen, vor al-lem von finanziell benachteiligten und Menschen mit Migrationshintergrund wahrgenommen. »Diese Kompensati-on wird jetzt weiter eingeschränkt«, kritisierte Nagel.

Ralf Wurzbacher

Donnerstag, 5. Januar 2012, Nr. 4 junge Welt4 p o l i t i kZitat des taGes

Was überhaupt nicht geht, ist, daß ältere Arbeitnehmer zu Lasten der Allgemeinheit weiter-hin vorzeitig nach Hause geschickt werden.

Otto Wulff, Vorsitzender der Senioren-Union in Bild (Mitt-wochausgabe) zur Debatte um die Rente mit 67

Zweites Waffenlager in Augsburg entdecktAugSBurg. Die Polizei hat bei ihren Ermittlungen zum Polizi-stenmord vom Ende Oktober in Augsburg ein weiteres Waffen-lager der verdächtigen Brüder entdeckt. Darin befanden sich etwa 20 Pistolen und Gewehre, wie die Süddeutsche Zeitung am Mittwoch berichtete. Bereits bei der Festnahme der 56 bzw. 58 Jahre alten mutmaßlichen Poli-zistenmörder in der vergange-nen Woche hatten die Ermittler mehr als 20 Waffen und 2 000 Schuß Munition gefunden. (AFP/jW)

Brandanschlag auf rechte TürkenBerLin. In der Nacht zum Mitt-woch wurde auf einen Verein türkischer Nationalisten im Berliner Stadtteil Wedding ein Brandanschlag verübt. Fünf Vermummte hätten zwei Brandsätze geworfen, die von den anwesenden Vereinsmit-gliedern aber gelöscht werden konnten. Es sei nur Sachscha-den entstanden, meldete die Polizei. Laut Staatsschutz besteht der Verdacht, daß die Angreifer Anhänger der verbo-tenen Arbeiterpartei Kurdistans PKK waren.

Europaweit, unter anderem in Berlin war es in den letzten Wochen zu Übergriffen türki-scher Nationalisten auf Kurden gekommen. Daraufhin hatten junge Kurden einen Verein der rechtsextremen Grauen Wölfe gestürmt. Im Dezember hatte es dann einen Brandanschlag auf das kurdische »Deutsch-Meso-potamische Bildungszentrum« in Berlin-Kreuzberg gegeben.

Nick Brauns

Neustart mit DumpinglöhnenLufthansa will am Berliner Großflughafen Leiharbeiter als Flugbegleiter einsetzen. Von Johannes Schulten

Schuldenbremse killt Abendschulen In Hessen wird massiv bei Weiterbildungsangeboten für Erwachsene gekürzt. GEW kritisiert Wortbruch

Sind ihre künftigen Kollegen und Kolleginnen bei Aviation Power beschäftigt? Flugbegleiterin der Lufthansa

Samstag, 14. Januar 2012 URANIA-HAUS, Berlin (An der Urania 17, Saalöffnung 10 Uhr)

Informationen und Kartenreservierung unter www.rosa-luxemburg-konferenz.de oder über Aktionsbüro junge Welt, Telefon 0 30/53 63 55 10.

Achtung: Reservierungen sind nur noch bis 12.1.2012 möglich. Danach sind Karten nur noch am Tag der Veranstaltung an der Kasse der Urania erhältlich. Reservierte Karten können von 10 bis 12 Uhr an der Tageskasse abgeholt werden (Podiumsdiskussionskarten bis 18 Uhr). Hinweis: Die Podiumsdiskussion wird in das Foyer übertragen. Keine Platzgarantie für den Humboldt-Saal.

Rosa Luxemburg XVII. Internationale

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Im bayerischen Wildbad Kreuth hat am Mittwoch die dreitägige Neujahrsklausur der CSU-Landes-

gruppe mit der Parteispitze begonnen. Auf der Tagesordnung des Treffens zur inhaltlichen Positionsbestim-mung steht neben der Euro-Krise ein mögliches Verbot der NPD sowie der Vorschlag von CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt und Landesgrup-penchefin Gerda Hasselfeldt, »extre-mistische« Parteien – insbesondere auch Die Linke – von der staatlichen Parteienfinanzierung auszuschließen. Auf der Gästeliste der Tagung steht neben dem Arbeitgeberpräsidenten Dieter Hundt und dem Geschäftsfüh-rer des Euro-Rettungsschirms EFSF, Klaus Regling, auch der Präsident des Bundesverfassungsgericht Andreas Voßkuhle. Der dürfte allerdings einer Änderung des Grundgesetzes, die der finanziellen Austrocknung mißliebi-ger Parteien dient, wenn es nicht für ein Verbot reicht, eher skeptisch ge-genüberstehen. Selbst die rechtslibe-rale Welt hatte diesen Vorschlag am Mittwoch in ihrer Online-Ausgabe als »politischen Folklore« abgetan, »die für Kreuth typisch« sei.

Konfliktpotential in den eigenen Reihen der CSU hatte sich im Vorfeld der Klausurtagung bei der Rente ab 67 abgezeichnet. Landesgruppenche-fin Gerda Hasselfeldt bezeichnete am Mittwoch die schrittweise Erhöhung Rentenalters als »alternativlos«, nach-dem Parteichef Horst Seehofer diese in Frage gestellt und von einer spürbaren Verbesserung der Beschäftigungsmög-lichkeiten für Menschen über 50 ab-hängig gemacht hatte. »Sonst wird die Verlängerung der Lebensarbeitszeit zur faktischen Rentenkürzung«, warn-te Seehofer im Interview mit Bild am Sonntag. Er wolle »nicht nur ein wirt-schaftlich erfolgreiches Land, sondern auch ein Land mit einem menschlichen Gesicht«. Hasselfeldt sagte dagegen am Mittwoch dem Bayerischen Rund-

funk, für sie und die Landesgruppe ste-he fest, »daß die Rente mit 67 die not-wendige Entscheidung war angesichts der demografischen Entwicklung«. Kurz vor Beginn der Klausurtagung lenkte sie ein und sagte vor Journali-sten, die Mahnung sei richtig, daß es bessere Beschäftigungsmöglichkeiten für ältere Arbeitnehmer geben müsse. Der parlamentarische Geschäftsführer Stefan Müller machte allerdings deut-lich, die CSU werde sich keinesfalls an einem SPD-Gesetzentwurf zur Ausset-zung der Rente mit 67 beteiligen, wie ihn SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles angekündigt hatte.

Wie im letzten Jahr wurde die Kreuther CSU-Tagung aber auch dieses Mal von Personaldebatten be-

gleitet. So hatten sich Seehofer und Hasselfeldt für ein politisches Come-back des Exverteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg stark ge-macht, der im März 2011 wegen der Plagiatsaffäre um seine Doktorarbeit zurückgetreten war und zur Zeit einen ehrenamtlichen Beraterposten bei der EU-Kommission innehat. Ende letzter Woche hatte Seehofer im Bayerischen Rundfunk verkündet, er halte den Adelssproß für einen »sehr, sehr fä-higen Politiker«. Hasselfeldt sagte der Welt am Sonntag, es hänge von Gutten-berg selbst ab, ob er in die Politik und damit in die CSU zurückkehren wolle. Und fügte hinzu: »Wenn er sich dafür entscheidet, ist er selbstverständlich herzlich willkommen.«

Mit Spannung erwartet hatten Jour-nalisten am Mittwoch die Stellung-nahme von Seehofers zu den Vorwür-fen gegen Bundespräsident Christian Wulff (CDU), dessen Amt der CSU-Chef als Bundesratspräsident kom-missarisch übernehmen würde, sollte Wulff stürzen. Seehofer stellte sich allerdings im Namen der gesamten Schwesterpartei hinter Wulff, der im Lauf des Tages bereits vom Handels-blatt zum »Pattex-Präsidenten« er-nannt worden war, weil er trotz anhal-tender Kritik an einem Privatkredit und Drohanrufen bei Boulevardme-dien nicht zum Rücktritt neigte. Eine Stellungnahme Wulffs war für Mitt-woch abend im öffentlich-rechtlichen Fernsehen angekündigt.

junge Welt Donnerstag, 5. Januar 2012, Nr. 4 5p o l i t i kAmpelphasen zu kurz für GigalinerBerLin. Gegen den Einsatz von überlangen Lkw, sogenannten Gigalinern, gibt es neue Ar-gumente. »Die Ampelsignale und Schrankenschaltungen der Bahnübergänge in Deutschland sind für die Riesen-Lkw nicht ausgelegt«, sagte der stellver-tretende Vorsitzende des Ver-kehrsbündnisses »Allianz pro Schiene«, Michael Ziesak, am Mittwoch in Berlin. Die Räum-zeiten würden bislang nach der regulären Lkw-Maximallänge von 18,75 Meter berechnet. Wenn Gigaliner demnächst in einzelnen Bundesländern gete-stet werden, könne es zu schwe-ren Unfällen kommen. (dapd/jW)

Großkundgebungen von AKW-GegnernHAnnover. Ein Jahr nach der Atomkatastrophe in Fukushima will die deutsche Antiatombe-wegung ihre Forderung nach Abschaltung aller Kernkraft-werke verstärken. Am 11. März seien in fünf Orten Großdemon-strationen geplant, teilte die Organisation »Ausgestrahlt« am Mittwoch mit. Kundgebungen gibt es demnach in Hannover, Brokdorf, Gronau, Gundrem-mingen sowie Neckarwestheim. Bereits am 11. Februar wol-len Umweltschützer in ganz Deutschland mit Mahnwachen an das Desaster in Japan erin-nern. (AFP/jW)

Dresden: Mediation mit Gagfah scheitertdreSden. Das gerichtliche Me-diationsverfahren zwischen der Stadt Dresden und dem Immobilienkonzern Gagfah ist einem Medienbericht zufolge gescheitert. Die 9. Zivilkam-mer des Landgerichts Dresden müsse über den Fall per Urteil entscheiden, sagte dessen Spre-cher den Dresdner Neuesten Nachrichten (Mittwochausga-be). Ende März 2011 hatte die Stadt eine Klage auf knapp 1,1 Milliarden Euro gegen die Gagfah eingereicht. Sie wirft dem Unternehmen vor, beim Weiterverkauf der von ihr abge-stoßenen Wohnungen gegen die zuvor ausgehandelte Sozialchar-ta zum Mieterschutz verstoßen zu haben. (dapd/jW)

Wasserverträge werden geprüftBerLin. Als erster nicht stän-diger Ausschuß der neuen Legislaturperiode des Berliner Senats nimmt am Freitag ein Sonderausschuß »Wasserverträ-ge« die Arbeit auf. Er soll die Geheimpapiere zur Teilprivati-sierung der Berliner Wasserbe-triebe aus dem Jahr 1999 unter Hinzuziehung unabhängiger Sachverständiger öffentlich prüfen. Hintergrund ist das per Volksentscheid angenommene Gesetz über die Offenlegung der Verträge, die unter anderem eine Gewinngarantie für die Konzerne RWE und Veolia enthalten und im März 2011 in Kraft getreten waren.� (dapd/jW)

Politische FolkloreCSU-Landesgruppe im Bundestag tagt in Wildbad Kreuth. Wichtige Themen sind Euro-Krise, Rentenpolitik – und wie man die eine oder andere Oppositionspartei loswird. Von Claudia Wangerin

Es war wieder einmal soweit: Der Bundestag debattierte am 16. Dezember 2011 über die

Ostrenten. Anlaß waren die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfra-ge der SPD-Fraktion vom 13. April 2011, zwei Anträge der SPD sowie ein Antrag der Linksfraktion.

Ein weiterer Tagesordnungspunkt war der Bericht der Regierung zum Stand der deutschen Einheit. Dort gibt es im Gesamtumfang von 84 Seiten ei-ne halbe Seite zur Rente.

Die im Koalitionsvertrag von CDU und FDP enthaltene Formulierung der Vereinheitlichung des Rentenrechts in dieser Legislaturperiode und diesbe-zügliche Zusagen der Kanzlerin Angela Merkel auf dem Seniorentag 2009 in Leipzig hatten bei vielen Rentnerinnen und Rentnern im Osten die Auffassung und Hoffnung genährt, eine Anglei-chung des Rentenwertes Ost an den all-gemeinen – also den Rentenwert West – sei in Sicht.

Die Debatte im Bundestag ließ diese Erwartung platzen. Die Vertreter der Regierungsfraktionen und insbesondere auch der Staatssekretär im Sozialmini-sterium vermieden deutliche positive Aussagen dazu. Die Tendenz war im Gegenteil eindeutig, vorgegeben von der Koalition, aber im Kern auch un-terstützt von SPD und Bündnis 90/Die Grünen: keine spürbaren Veränderun-gen, weiter prüfen, wie am besten der Ist-Zustand zementiert werden kann. Auch wenn Christoph Bergner (CDU), Ostbeauftragter der Regierung, mit sei-ner Aussage »die allgemeinen Lebens-bedingungen gleichen denen in West-deutschland weitgehend« Differenzen einräumte. Nicht nur Abgeordnete der Linkspartei benannten viele Ungerech-tigkeiten, belegten dies mit Fakten und erwähnten die Erwartungen der Rentne-rinnen und Rentner im Beitrittsgebiet. Die Koalition wurde von der Oppositi-on ermahnt, durch deutliche Aktivitäten die Vermutung, man strebe die biologi-

sche Lösung an, zu widerlegen.Neben den üblichen Beschimpfun-

gen von SED und DDR, die an allem schuld sind, war die Rede von einem großen Geldtransfer von West nach Ost. Ja, es gibt diesen Transfer, jedoch in beide Richtungen. Denn die Sozial-abgaben der Beschäftigten einer Viel-zahl von Unternehmen im Osten, zum Beispiel großer Handelsketten, deren Stammhäuser in den Altbundesländern liegen, fließen dort in die Sozialkassen. Ebenso die der Pendler, die im Westen arbeiten, mit ihren Familien im Osten leben. Rechnet man beide Zahlungsströ-me gegeneinander auf, bleibt ein Plus Richtung West. Diese Tatsache wird aber immer sowohl von der Regierung als auch von SPD und Bündnis 90/Die-Grünen negiert.

Auch die von der CDU/CSU ins Au-ge gefaßte Streichung der Hochwertung der Einkommen im Beitrittsgebiet ist unter logischen Gesichtspunkten nicht zu rechtfertigen. Wenn man die kürzlich

von der Regierung beschlossenen Min-destlöhne von 7,01 Euro im Osten und 7,89 Euro im Westen mit der jeweiligen Wochenarbeitszeit von etwa 40 Stunden und etwa 35 Stunden ins Verhältnis setzt, dann führen diese Werte zu einem ungefähr gleichen Monats- und auch Jahreseinkommen. Allerdings bleibt die Arbeitsstunde im Beitrittsgebiet weiter unterbewertet. Tarifeinheit be-deutet eben nicht nur gleichen Lohn, sondern auch gleiche Arbeitszeit et cetera. Deshalb ist die Hochwertung bei der Rentenberechnung, die für jedes Jahr neu festgelegt wird, nach wie vor von entscheidender Bedeutung. Die Auseinandersetzung wird nun in den Ausschüssen weitergeführt. Die Betrof-fenen müssen sich jetzt einschalten und in Briefen, E-Mails oder in persönlichen Gesprächen mit den Ausschußmitglie-dern ihre Forderungen deutlich machen.

u Die Autoren sind im Sozialen Ar-beitskreis Treptow-Köpenick aktiv

Rentenunrecht soll zementiert werdenBundestagsdebatte rückt Angleichung der Ost- an die Westbezüge in weite Ferne.

Von Eberhard Rehling und Karlheinz Wunderlich

Keep smiling: CSU-Chef Horst Seehofer und Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt

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Donnerstag, 5. Januar 2012, Nr. 4 junge Welt6 p o l i t i kSüdkorea und USA planen ManöverSeouL. Südkorea und die USA wollen in Kürze ein neues Abkommen zur Militärzusam-menarbeit unterzeichnen, um mögliche Angriffe Nordkoreas abzuwehren. Die Möglichkeit bestehe, daß es nach der Macht-übernahme durch den neuen Staatsführer Kim Jong Un zu »Provokationen« des Nordens komme, sagte der stellvertre-tende südkoreanische Verteidi-gungsminister Lim Kwan Bin am Mittwoch. Demnach werden die USA und Südkorea in die-sem Monat einen neuen Plan verabschieden, der das Vorge-hen gegen mögliche Bedrohun-gen abstimmt. Dies beinhalte »regelmäßige Manöver«. (AFP/jW)

Mexiko: Studenten besetzen SenderAcApuLco. Rund 50 Studenten haben im Süden Mexikos fünf Rundfunksender besetzt und den Rücktritt des Gouverneurs von Guerrero, Angel Aguirre, gefordert. Die unbewaffneten, vermummten Studierenden seien am Dienstag in die Sen-der gestürmt und hätten eine 40minütige Botschaft verlesen, erklärten die Behörden. Darin hätten sie auch eine Untersu-chung von zwei Todesfällen bei Studentenprotesten im Dezem-ber verlangt. (dapd/jW)

Irakija boykottiert ParlamentBAgdAd. Die Abgeordneten der stärksten Partei im irakischen Parlament haben am Dienstag ihren angedrohten Boykott der ersten Parlamentssitzung im neuen Jahr in die Tat umgesetzt. Außerdem denkt die Irakija-Par-tei laut über einen Austritt aus der Regierungskoalition nach, um so gegen einen von Mini-sterpräsident Nuri Al-Maliki er-lassenen Haftbefehl gegen den sunnitischen Vizepräsidenten Tarik Al-Haschemi zu protestie-ren. Dieser sei politisch moti-viert. Die Irakija-Abgeordneten verlangen außerdem mehr Mit-sprache und werfen Al-Maliki vor, die Macht an sich zu reißen. (dapd/jW)

Neuer Präsident auf MarshallinselnmAjuro. Die Marshallinseln im Pazifik haben einen neuen Präsidenten. Das Parlament wählte am Dienstag Christopher Loeak zum sechsten Staatschef in der Geschichte des Landes. Er löst damit Jurelang Zedkaia ab, der zwei Jahre lang an der Spitze des aus zwei Inselgrup-pen bestehenden Staates stand. Loeak ist seit 25 Jahren im Parlament und war Minister in verschiedenen Regierungen. 1983 hatte das Land mit rund 60 000 Einwohnern einen frei-en Assoziierungsvertrag mit den USA geschlossen, die seitdem für die Verteidigung des Landes zuständig und mit militärischen Einrichtungen ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor sind. (AFP/jW)

Der Wanderzirkus der Vorwahl-kämpfe um die Nominierung des republikanischen Kandi-

daten für die US-Präsidentschaftswah-len wurde am Dienstag abend in Des Moines, der Hauptstadt des Staates Iowa, eröffnet. Nach einem kostenin-tensiven Wettlauf durch die anderen Bundesstaaten, der traditionell nur von den Kandidaten mit den größten Wahlkampfspenden, also von denen des Kapitals, durchgehalten werden kann, wird dann Ende August in Flo-rida der Sieger gekürt. Dieser wird bei der Abstimmung am 6. November 2012 gegen den amtierenden Präsi-dent Barack Obama antreten, der sich um eine zweite Amtszeit bemüht.

In der Republikanischen Partei ist in den letzten zwei Jahrzehnten der Wille zum militärischen Ausbau des US-Imperiums zu einer Grundüber-zeugung geworden, die mit quasi re-ligiösem Eifer verfolgt wird. Entspre-chend landeten in Iowa die Kandida-ten Mitt Romney und Rick Santorum,

die beiden sich am aggressivsten gebärdenden Advokaten für einen Krieg gegen Iran und die lautstärksten Unterstützer der zionistischen Falken in Israel, mit je 25 Prozent dicht bei-einander auf dem ersten und zweiten Platz.

Romney hat als »Heuschrecke« ein Privatvermögen von 200 Millionen Dollar zusammengerafft und gilt als erfolgreicher Geschäftsmann. Ebenso wie Santorum (nur einfacher Millio-när) fordert er noch mehr Steuerer-leichterungen für die Reichen und den weitere Abbau der ohnehin nur noch rudimentär erhaltenen Regu-lierung der US-Wirtschaft. Während Santorum jedoch seine Kernanhän-gerschaft unter den christlichen Fun-damentalisten hat und gegen Schwu-le, Lesben und die sexuelle Selbst-bestimmung der Frau eifert, kommt Romney als ehemaliger Gouverneur von Massachusetts eher liberal daher.

Weit abgeschlagen auf den hinteren Plätzen landeten die Kandidaten Rick

Perry, Newt Gingrich und Michele Bachmann, die sich mit ihren erzkon-servativen Programmen nur in Nu-ancen von den beiden Erstplazierten unterscheiden. Die große Ausnahme ist Ron Paul, der in Des Moines mit 21 Prozent der Stimmen auf Platz drei kam und somit weiter gut im Rennen liegt, denn die Ergebnisse des nur drei Millionen Einwohner zählenden Bundesstaates Iowa haben lediglich symbolische Bedeutung zum Auftakt der Vorwahlen.

Was den zweifachen Dollar-Mil-lionär Paul auszeichnet, sind seine seit Jahrzehnten beharrlich vertrete-nen Positionen erstens gegen die mi-litaristische US-Außenpolitik und die Aggressionskriege der USA, zwei-tens gegen die finanzielle und politi-sche Unterstützung der israelischen Kriegsabenteurer und deren amerika-nischer Lobby. Drittens ist er für die Abschaffung der US-Notenbank Fed, die sich im Besitz von knapp einem Dutzend privater US-Banken befin-

det. Paul wirft der Fed vor, ihren vom Staat ihr übertragenen hoheitlichen Aufgaben nicht zum Wohl des ameri-kanischen Volkes, sondern zwecks Be-reicherung ihrer privaten Eigentümer nachzugehen und fordert daher ihre längst überfällige Verstaatlichung. Ansonsten will auch Paul gemäß des konservativen Glaubensbekenntnis-ses dem Staat noch mehr Befugnisse wegnehmen und die Geschicke des Landes überwiegend den Kräften des Marktes überlassen.

Die Medien des Establishments wie die New York Time und das Wall Street Journal haben Paul bereits als regierungsuntauglich gebrandmarkt. Aber er hat bei der von der Krise gebeutelten US-Bevölkerung einen blanken Nerv getroffen. Nicht nur von einem Teil der Republikaner, sondern auch von Parteilosen und von Obama enttäuschten Demokraten erhält er en-thusiastische Unterstützung, was zu-mindest vorerst dafür sorgt, daß das Rennen interessant bleibt.

Fünf Falken und eine TaubeMitt Romney gewann die ersten Vorwahlen um die Nominierung des republikanischen Kandidaten für die US-Präsidentschaft in Iowa. Von Rainer Rupp

Die türkische Regierung will das Recht politischer Gefan-gener auf Besuch drastisch

beschränken. Das geht aus einem Gesetzentwurf des Istanbuler Abge-ordneten der regierenden islamisch-konservativen AK-Partei, Dogan Ku-bat, hervor. So soll Gefangenen der Besuch von Anwälten oder Familien-mitgliedern für eine Dauer bis zu ei-nem halben Jahr verboten werden. Hintergrund der nach Informationen der kurdischen Agentur Firat direkt auf Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zurückgehenden Gesetzesin-itiative ist die faktische Kontaktsperre gegen den Vorsitzenden der Arbei-terpartei Kurdistans, PKK, Abdullah

Öcalan. Seit Ende Juli 2011 werden die Anwälte Öcalans an den wöchent-lichen Besuchen ihres Mandanten auf der Gefängnisinsel Imrali im Marma-rameer mit der Begründung gehin-dert, das Boot für die Überfahrt sei defekt oder das Wetter zu stürmisch. Nun will die Regierung offenbar ei-ne rechtliche Grundlage für diese Kontaktsperre schaffen. Seit seiner Verschleppung aus Kenia durch den türkischen Geheimdienst im Februar 1999 wurde der zu lebenslanger Haft verurteilte Öcalan zuerst als einziger Gefangener auf Imrali inhaftiert. Erst vor zwei Jahren wurden fünf weite-re politische Gefangene auf die von 1000 Polizisten und Soldaten gesi-

cherte Insel verlegt. Wie ein Mitgefangener Öcalans

nun den Anwälten mitteilte, wurde seit Ende November 2011 Einzel-haft als Disziplinarstrafe gegen den PKK-Vorsitzenden verhängt. Auch auf Briefe seiner Anwälte reagierte Öcalan seitdem nicht mehr. Die PKK-Führung rief daher dazu auf, verstärkt gegen diese »Isolation in der Isola-tion« zu kämpfen.

Im November waren bei landeswei-ten Razzien rund 40 Rechtsanwälte Öcalans verhaftet worden. Ihnen wird vorgeworfen, geheime Botschaften des PKK-Vorsitzenden an die PKK-Führung in den nordirakischen Kan-dil-Bergen weitergeleitet zu haben.

Tatsächlich wurde auf diesem Weg mehrfach ein Waffenstillstand der PKK vermittelt.

Auch nach den Parlamentswahlen vom Juni 2011, aus der sowohl die regierende AKP als auch der prokur-dische Linksblock gestärkt hervorgin-gen, hatte sich Öcalan für eine Ver-längerung der Waffenruhe eingesetzt. Gegenüber seinen Anwälten erklärte Öcalan damals, er sei sich mit Staats-vertretern über die Unterzeichnung von zwei Protokollen zur Einleitung eines Lösungsdialoges einig gewor-den. Doch statt einer Fortsetzung des Dialogs zwischen dem Staat und Öca-lan folgte die faktische Kontaktsper-re.

Isolation in der IsolationTürkei: Gesetzesinitiative soll rechtliche Grundlage für Kontaktsperre gegen Öcalan schaffen. Von Nick Brauns

dritte etappe der parlameNtswahleN iN äGypteN

KAiro. In Ägypten wurde am Mittwoch die dritte Etappe der Wahl zum neuen Abge-ordnetenhaus fortgesetzt. In neun Pro-vinzen fand der zweite und letzte Wahltag statt. Gewählt wurde unter anderem auf der Sinai-Halbinsel und im Nildelta, wo in der kommenden Woche Stichwahlen in den Bezirken geplant sind, in denen keiner der Direktkandidaten im ersten Anlauf die absolute Mehrheit erreicht. Das Fo-to zeigt ein Wahllokal in Qalyobeia. Bei den ersten Wahlen seit dem Sturz von Expräsident Hosni Mubarak im Februar werden zwei Drittel der Sitze im neu-en ägyptischen Abgeordnetenhaus über Parteilisten vergeben und ein Drittel an Direktkandidaten. Aus den ersten beiden Teilabschnitten der Wahl gingen die Mus-limbrüder und die fundamentalistischen Salafisten mit insgesamt 65 Prozent der Stimmen als Sieger hervor. Das Ender-gebnis wird noch im Januar erwartet. Bis Ende Februar sollen dann die Mandate für das Oberhaus vergeben werden. Bis Ende Juni sollen die Ägypter dann auch einen Präsidenten wählen. Danach will der der-zeit herrschende Militärrat die Macht an eine Zivilregierung abgeben. (AFP/jW) A

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junge Welt Donnerstag, 5. Januar 2012, Nr. 4 7p o l i t i k

Der perfekte KriegJahresrückblick 2011 u Heute: Libyen. Der Westen bestreitet zivile Opfer des NATO-Angriffes. Rußland fordert Untersuchung. Von Knut Mellenthin

In Libyen hat nach der offiziellen Version des westlichen Bündnisses der perfekte Krieg stattgefunden:

Nicht ein einziger »Zivilist« kam bei den Bomben- und Raketenangriffen der NATO zu Schaden. Und so erklärte der Generalsekretär der Allianz, An-ders Fogh Rasmussen, im November stolz: »Wir haben diese Operation sehr sorgfältig durchgeführt, ohne bestätig-te zivile Verluste.« Die Betonung liegt auf dem Wort »bestätigt«: Die NATO betrachtet ausschließlich solche Verlu-ste als »bestätigt«, die sie selbst festge-stellt hat. Da die Allianz aber keinerlei Untersuchungen vorgenommen hat oder künftig vorzunehmen gedenkt, kann es per Definition grundsätzlich keine »bestätigten« zivilen Opfer ihrer Angriffe gegeben haben.

Inzwischen, mehrere Wochen nach dem strahlenden Fazit ihres General-sekretärs, ist der Militärpakt immer-hin so weit, daß er angesichts einer Fülle eindeutiger Berichte nicht mehr mit allerletzter Sicherheit ausschließen will, daß es vielleicht doch den einen oder anderen unglücklichen »Kolla-teralschaden« gegeben haben könnte. Das zu prüfen und festzustellen sei je-doch ausschließlich Sache der »recht-mäßigen« Regierung Libyens, die gera-de vom Westen an die Macht gebombt wurde. Die aber zeigt naturgemäß an einer Untersuchung nicht das geringste Interesse: Hat sie doch, und das ist ganz wörtlich zu verstehen, selbst viel zu vie-le Leichen im Keller. Außerdem: Für et-liche zivile Ziele, die von Bomben und Raketen der NATO zerstört wurden, hatten Rebellen Beschreibungen und Koordinaten geliefert.

Untersuchung gefordertDa kann Rußland sich vergeblich an-strengen. Am Donnerstag vor Weih-nachten trug der russische Botschafter bei den Vereinten Nationen, Witali Tschurkin, im Sicherheitsrat erneut die Forderung nach einer von der UNO mandatierten Untersuchung des Luft-kriegs gegen Libyen vor. Eine solche

Untersuchung sei von größter Bedeu-tung, »weil die Führer der NATO uns anfangs glauben machen wollten, daß es null zivile Verluste ihrer Bomben-kampagne gegeben habe«. Tschurkin kritisierte in diesem Zusammenhang auch UN-Generalsekretär Ban Ki Moon für seine Aussage, die NATO habe vollständig ihr vom Sicherheits-rat erteiltes Mandat erfüllt, die liby-sche Zivilbevölkerung zu schützen.

Wenige Tage zuvor hatte die NATO-Pressesprecherin Oana Lungescu wie-der einmal behauptet, die Allianz habe keine Zahlen über zivile Opfer. Sie reagierte damit auf eine umfangrei-che Darstellung der New York Times, die am 17. Dezember erschienen war. Reporter und Zuarbeiter der Tageszei-tung hatten mehrere Wochen lang an rund 25 Orten in Libyen recherchiert, aus denen Verluste unter der Zivilbe-völkerung in Folge von Luftangriffen gemeldet worden waren.

Zusammenfassend kamen die Ver-fasser des Artikels zur Feststellung, daß »insgesamt mindestens 40 Zivi-listen und vielleicht mehr als 70 an diesen Stellen von der NATO getötet wurden«. Darunter seien mindestens 29 Frauen oder Kinder gewesen. Diese Zahlen sind, selbst wenn man nur die von der New York Times geschilder-ten Einzelfälle addiert, mit ziemlicher Sicherheit zu niedrig. Allein bei ei-nem einzigen Angriff, am 8. August auf Wohnhäuser in Majer, kamen nach einer Namensliste, die von der neu-en Regierung geliefert wurde, minde-stens 35 Bewohner ums Leben. Die damaligen libyschen Behörden hatten die Zahl der Todesopfer mit 85 an-gegeben. Insgesamt waren nach einer Veröffentlichung des libyschen Ge-sundheitsamtes schon bis zum 13. Ju-li durch die NATO-Luftangriffe 1 108 Zivilisten getötet und 4 500 verletzt worden.

Die Redaktion der New York Times hat sich offenbar darauf beschränkt, eine sehr gut gesicherte Minimalzahl der zivilen Toten zu produzieren. Das ist unter den gegebenen Umständen –

vor allem angesichts der hartnäckigen Ignoranz der NATO und der westli-chen Regierungen – methodisch ein durchaus sinnvolles Vorgehen. Die Zeitung schildert außerdem mehrere Fälle, bei denen der Militärpakt be-sonders infam operierte: Dem ersten Angriff folgte im Abstand von einigen Minuten ein zweiter, der sich nun ge-gen die Menschen richtete, die zum Helfen herbeigeeilt waren. Die New York Times erwähnt auch Luftattacken auf die Privatwohnungen von Militärs und Politikern, bei denen zahlreiche Familienmitglieder getötet oder ver-letzt wurden. Offiziell wurden diese Objekte von der NATO als »getarnte Kommandozentralen« deklariert. Die Hinweise kamen in der Regel von Re-bellen und Überläufern.

ModellcharakterDas offen und demonstrativ erklärte absolute Desinteresse der westlichen Militärs an einer Aufklärung der Fol-gen ihrer Luftangriffe gegen Libyen setzt ein klares Zeichen für die Zu-kunft. Mit einer ähnlichen Kaltschnäu-zigkeit wurde oder wird nicht einmal im Irak und in Afghanistan operiert. Immerhin hat es die NATO dort mit Regierungen und Behörden zu tun, die sich zwar in einem Abhängigkeitssta-tus befinden, aber die schon aus Grün-den ihres innenpolitischen Ansehens gelegentlich kritische Fragen an ihre »Beschützer« stellen.

Das Leugnen oder Ignorieren der zivilen Opfer in Libyen hat offenbar auch damit zu tun, daß dieser Krieg einen Modellcharakter bekommen, al-so jederzeit an einem passenden Ort und unter geeigneten Voraussetzungen wiederholbar sein soll. Mit der Propa-gierung einer weltweiten »Responsi-bility to Protect«, die praktisch einen Freibrief für Militärinterventionen darstellen soll, sind getötete Kinder und Frauen schlecht zu vereinbaren. Die westlichen Regierungen können es sich andererseits aber auch leisten, über diese Folgen ihres Eingreifens zu

schweigen, weil die Bevölkerung ihrer Länder sie kaum mit Fragen konfron-tiert. Ethische Gesichtspunkte spielen im politischen Diskurs derzeit keine relevante Rolle. Auch die Linke hat es bisher nicht geschafft – und an-scheinend nicht einmal ernsthaft an-gestrebt –, die Frage von Krieg und Frieden nicht nur als ein Thema neben vielen anderen zu behandeln, sondern ihr einen zentralen Platz einzuräumen.

Als eine wesentliche außenpoliti-sche Folge der Libyen-Intervention ist immerhin zu registrieren, daß die Be-reitschaft Rußlands und Chinas, den militärischen Alleingängen der NATO grünes Licht durch Beschlüsse des UN-Sicherheitsrats zu geben, stark ge-sunken ist. Beide Staaten widersetzen sich einer Verurteilung Syriens, die von der westlichen Allianz zur Lizenz für die nächste Intervention verfälscht werden könnte, und sie sind auch in Sachen Iran vorsichtiger geworden. Niemand läßt sich gern permanent von der Gegenseite vorführen. Unter die-sem Gesichtspunkt wird man in US- und NATO-Kreisen intern wohl doch darüber diskutieren, ob das libysche Abenteuer diese Konsequenzen wirk-lich wert war.

Andererseits muß sich erst noch er-weisen, ob die Verstimmung in Mos-kau und Peking wirklich Ausdruck eines nachhaltigen Lerneffekts oder nur ein kurzzeitiges diplomatisches Spielchen ist. Schließlich ist es nicht das erste Mal, daß Rußland und China von den USA und deren Verbündeten im UN-Sicherheitsrat ausgenutzt und »hereingelegt« wurden. Das war vor, während und nach dem ersten Irak-Krieg (1991) nicht wesentlich anders, und es wiederholte sich vor dem zwei-ten Irak-Krieg (2003). Dazu paßt auch, daß die Führer beider Staaten bereits vier Sanktionsresolutionen gegen Iran mitgetragen haben, obwohl sie von Anfang an und zwischendurch immer wieder betonten, daß solche Strafmaß-nahmen nach aller Erfahrung nicht nur wirkungslos, sondern geradezu kontra-produktiv seien.

www.jungewelt.de

Obama wirft Iran

Anschlagsplanung vor

Washington. Nach der Aufdeckung

angeblicher Anschlagspläne auf

den saudiarabischen Botschafter

in Washington hat US-Präsident

Barack Obama am Donnerstag ira-

nische Funktionäre »auf den höch-

sten Ebenen« der Regierung für die

Pläne verantwortlich gemacht. Er

sagte jedoch nicht, ob er davon aus-

gehe, daß auch der geistliche Füh-

rer Ayatollah Ali Khamenei oder

Präsident Mahmud Ahmadined-

schad eingeweiht gewesen seien.

Am Mittwoch hatte sich die ameri-

kanische UN-Botschafterin Susan

Rice mit Vertretern der iranischen

Mission bei den Vereinten Natio-

nen getroffen. Dies galt als unge-

wöhnlicher Schritt, da Washington

und Teheran keine diplomatischen

Beziehungen unterhalten. (dapd/jW)

Deutsche Bank unter DruckFrankFurt/Main. Die Deutsche Bank

und sieben weitere Großbanken

in Europa und in den USA sehen

sich unter Druck. Wie in Frankfurt/

Main am Freitag bekannt wurde,

droht die Ratingagentur Fitch mit

der Herabstufung ihrer Kreditwür-

digkeit, was für die Banken die Ko-

sten der Refinanzierung verteuern

würde. Zuvor hatte Fitch bereits

die Einstufungen von vier Institu-

ten, darunter der Landesbank Ber-

lin und der Schweizer Großbank

UBS, herabgesetzt.

Fitch, eine der drei bestimmen-

den Ratingagenturen, hat neben

der Deutschen Bank auch die

britische Barclays Bank, die fran-

zösischen Institute BNP Paribas

und Société General, die Credit

Suisse sowie die US-Banken Bank

of America, Morgan Stanley und

Goldman Sachs ins Visier genom-

men. Alle diese Banken seien unter

Beobachtung für eine mögliche

Herabstufung gestellt worden.

� (dapd/jW)

AusstandStreiks in 200 Betrieben Österreichs:

Metaller kämpfen um Lohnab-

schlüsse über der Inflationsrate

AusverkäuferPolitiker versuchen wie Vampire, die

Proteste gegen die Wall Street

auszusaugen. Von Mumia Abu-Jamal

AbräumerAktivisten von »Occupy Wall Street«

säubern Park, um gegen drohende

Räumung zu protestieren

Aufbruch»Wir hoffen, daß wir täglich mehr wer-

den.« Interview mit Colin Below

von »Occupy Frankfurt«263

Besetzt die Banken!Weltweit Proteste wegen Finanzkrise. In Deutschland wollen sich auch Parteien beteiligen, die sie

mit zu verantworten haben. Dagegen fordert Linke-Vize Wagenknecht: »Occupy Deutsche Bank«

Indignez-vous! – Empört Euch!«

hat der ehemalige französische

Widerstandskämpfer und Spit-

zendiplomat Stéphane Hessel sein

vor einem Jahr veröffentlichtes Ma-

nifest genannt. In zornigem Stil, für

alle verständlich, positioniert sich

der 93jährige darin gegen neoliberale

Finanzexzesse und für den Pazifis-

mus. Von Millionen weltweit wurde

das Bändchen gelesen – und verstan-

den. Sein Nachfolgewerk »Engagez-

vous! (Engagiert Euch!) wird dieser

Tage in die Tat umgesetzt: In mehr

als 900 Städten in 78 Ländern sollen

an diesem »15. Oktober« Protestak-

tionen gegen die Macht der Banken

und Konzerne, für Arbeitsplätze und

ein menschenwürdiges Leben statt-

finden. Laut der Bewegung »Occupy

Frankfurt« (Besetzt Frankfurt) sind

an diesem Samstag auch in mehr als

50 deutschen Städten Demonstratio-

nen und Kundgebungen geplant. Das

globalisierungskritische Netzwerk

ATTAC und Die Linke machen mit

mobil. In Berlin sind Proteste am Ro-

ten Rathaus und vor dem Kanzleramt

angekündigt. Vor der Europäischen

Zentralbank (EZB) in Frankfurt am

Main soll ein Zeltcamp errichtet wer-

den. Vorbild sind die Teilnehmer der

Bewegung »Occupy Wall Street«, die

seit Mitte September den Finanzdi-

strikt New Yorks belagern. Eine für

Freitag angekündigte Räumung des

dortigen Protestcamps wurde von den

Behörden »auf einen späteren Zeit-

punkt« verschoben.

Niemand konnte am Freitag ein-

schätzen, ob der Funke auch in

Deutschland zünden wird, ob ein paar

Dutzend, Hunderte oder nicht doch

mehrere tausend auf die Straße gehen

werden. Kampagnensprecher Wolfram

Siener gab sich zuversichtlich: »Die

kleinen Gruppen und Netzwerke kom-

men jetzt alle zusammen und begreifen

sich als Teil des großen Ganzen.«

Dreist: Ausgerechnet die Parteien,

die die Liberalisierung der Finanz-

märkte in den vergangenen Jahren vor-

angetrieben und mit ihrer Politik die

Reichen noch reicher gemacht haben,

versuchen sich der Protestbewegung

ebenfalls anzuschließen. Der Grünen-

Finanzexperte Gerhard Schick kün-

digte via Handelsblatt online an, er

werde an den Demonstrationen in

Frankfurt am Main teilnehmen und

hoffe, daß das möglichst viele Men-

schen täten. Denn nicht nur in den

USA sehe sich die breite Mehrheit der

Menschen inzwischen von der wirt-

schaftlichen Entwicklung abgehängt,

während wenige ihren Reichtum stark

hätten vergrößern können. Der Vize-

chef der SPD im Bundestag, Axel

Schäfer, behauptete, der Kampf für

mehr Teilhabe und die Kontrolle wirt-

schaftlicher Macht gehörten schon

immer zum sozialdemokratischen

Markenkern. »Deshalb wollen wir die

entstehende Bewegung stärken und

voranbringen.« Zur Erinnerung: Es

war die von Gerhard Schröder an-

geführte SPD-Grünen-Bundesregie-

rung, die beispielsweise die hochspe-

kulativen Hedgefonds zugelassen hat.

Als Die Linke 2005 forderte, dies

wieder zurückzunehmen, wurde das

von allen anderen Fraktionen im Bun-

destag abgelehnt.

Auch der finanzpolitische Sprecher

der Unionsbundestagsfraktion, Klaus-

Peter Flosbach, äußert Verständnis für

die Proteste. Handelsblatt online zu-

folgte sagte der CDU-Politiker: »Die

Steuerzahler lassen Dampf ab, wenn

Banken erneut auf ihre Kosten ge-

rettet werden müssen. Das ist nach-

vollziehbar.« Erneute Krisen dürf-

ten nicht mehr auf dem Rücken der

Steuerzahler ausgetragen werden. Zur

Erinnerung: Es war die Union, die

gerade den 211 Milliarden Euro teuren

Rettungsschirm mit SPD, FDP und

Grünen für die Kanzlerin im Bundes-

tag abgesegnet hat.

Der Bundesgeschäftsführer der

Linken, Werner Dreibus, kündigte ei-

ne Beteiligung seiner Partei an. »Die

Menschen haben die Nase voll davon,

daß für die Banken immer Geld da ist,

und für sie nie.« Er sagte voraus: »Die

Proteste werden weiter zunehmen,

weil die Politik nichts unternimmt,

um die Finanzmärkte an die Kette

zu legen.« Linke-Vizevorsitzende

Sahra Wagenknecht brachte es auf

die Handlungsformel: »Occupy Deut-

sche Bank, Occupy Commerzbank«.

Deutschland brauche eine Bewegung,

die klar fordere, »daß Schluß ist mit

der Ausbeutung der Gemeinwesen

durch diese Finanzmafia, durch die

Zocker, durch die oberen Zehntau-

send«, so Wagenknecht. »Wir wollen

endlich selbst über unsere Geschicke

bestimmen, und dafür müssen tatsäch-

lich auch ökonomische Bedingungen

verändert werden, gerade im Bereich

des Eigentums bei großen Banken,

aber auch bei großen Konzernen.«

Derzeit herrsche »eine Art kapitali-

stischer Sozialismus für die Banken«,

sagte die Linke-Vize in der ZDF-Sen-

dung Maybrit Illner am Donnerstag

abend mit Blick auf die »irrsinnigen

Rettungsschirme«. Wagenknechts

Kurzanalyse: »Der Kapitalismus zer-

stört Freiheit und Demokratie. Statt

der Politik regieren die Banken. Wir

brauchen eine neue Wirtschaftsord-

nung.« Der Protest sei überfällig. Die

Linke werde gebraucht, »um solche

Fragen zu diskutieren und Menschen

zu ermutigen, auf die Straßen zu ge-

hen«. Sie selbst will sich den Demon-

strationen in Berlin anschließen und

dafür eigens die Vorstandssitzung, auf

dem der Erfurter Programmparteitag

vorbereitet wird, unterbrechen.

Rüdiger Göbel

junge Welt wird herausgegeben von 1 168 Ge-

nossinnen und Genossen (Stand�12.�Oktober�2011).

Informationen: www.jungewelt.de/lpg

junge WeltDie Tageszeitung

www.jungewelt.de

Zur GeschichteOliver Stone befragt Tariq Ali – über das mehrfa-

che Scheitern des Kapitalismus, den »Krieg gegen

den Terror« und die neueste Hoffähigkeit von

Folter. Außerdem: Schwarzer Kanal zur weltpoli-

tischen Räuberpistole aus Washington

Wochenende

Gegründet 1947 · Sonnabend/Sonntag, 15./16. Oktober 2011 · Nr. 240 · 1,70 Euro · PVSt A11002 · Entgelt bezahlt

jungeWelt

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»Arbeitsplätze, Gerechtigkeit und Bildung«: New Yorker Demonstranten am Freitag nach erfolgreicher Verteidigung des Protestcamps an der Wall Street

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Datum/Unterschrift

Bis zu 85 Menschen wurden bei dem Angriff der NATO auf Wohnhäuser in Majer am 8. August 2011 getötet

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Donnerstag, 5. Januar 2012, Nr. 4 junge Welt 8 a n s i c h t e n

Die Berliner Linke-Mitglieder Bernd Ostermann und Herbert Rubisch for-dern den stellvertretenden Vorsitzenden der Linksfraktion im Bundestag, Diet-mar Bartsch, auf, sein Mandat nieder-zulegen. junge Welt dokumentiert ihr Schreiben an Fraktionschef Gregor Gy-si:Lieber Gregor, wir waren in den letzten Wochen im Zusammenhang mit Äuße-rungen des Gen. Dr. Bartsch wiederholt gezwungen, Position gegen diese einzu-nehmen.

Unsere Kolleginnen und Kollegen, gelegentlich auch Genossen, forderten unseren Standpunkt zu der politischen und moralischen Entgleisung des Dr. Dietmar Bartsch, stellvertretender Vor-sitzender der Fraktion unserer Partei im Bundestag, am 31. Oktober 2011 in der Inselgalerie.

Zeigt sein Vergleich: »Da in Zeiten schlechter Wahlergebnisse die Mandate knapper seien, würden sich die Abge-ordneten der Linkspartei um die Posten streiten wie ›die Hartz-Vierer um den Alkohol‹.« mit dem auf die Abgeordne-ten gemünzten Teil das Fehlen von So-lidarität mit unseren Genossinnen und Genossen, ist der folgende menschen-verachtend.

Dieser sein Ausspruch ist in der Welt. Eine Entschuldigung bringt ihn nicht

heraus. Dr. Bartsch hat nur das gesagt, was er denkt. Als Vizevorsitzender der Fraktion, als Bewerber für den Vorsitz unserer Partei.

Postideologisch wünscht er sich Die Linke. Unsere Partei ohne Ideologie. Aber pluralistisch. Weshalb er unlängst im nd dafür plädierte, die Bibel zu le-sen.

Unsere Genossen und Koll., Beschäf-tigte im ÖD Berlin, bei der BSR, bei der CFM, Erwerbslose, waren nicht be-reit zu tolerieren, daß die Partei keine Konsequenzen gezogen hat. Sie stell-ten unser mangelndes Agieren in dieser Angelegenheit in einen Zusammenhang mit dem Austritt des rot-roten Senats aus der Tarifgemeinschaft der Länder, dem Verkauf der 119 000 kommunalen Woh-nungen, der fehlenden Unterstützung der Streikenden, damals der Beschäf-tigten im ÖD und jetzt bei der CFM. Zu beiden Gelegenheiten waren wir Teil der Landesregierung.

Unsere Forderung ist: Dr. Bartsch muß sein Mandat als Vizevorsitzender unserer Bundestagsfraktion niederlegen. Das sofort! Nur so kann weiterer Scha-den von der Partei abgewendet werden.

Medien der DuMont-Gruppe (Frank-furter Rundschau, Berliner Zeitung, Mitteldeutsche Zeitung) berichteten am

Mittwoch:(…) Oskar Lafontaine will den Aufstieg des Fraktionsvize im Bundestag, Diet-mar Bartsch, an die Parteispitze verhin-dern. Dieser will für einen der beiden Vorsitzendenposten kandidieren. Nun hat sich der heimliche Parteichef zu Wort gemeldet. Lafontaine wolle zwar eine »kooperative Führung«, aber kei-nen Vorsitzenden Bartsch, meldet die Sächsische Zeitung unter Berufung auf Parteikreise. Lafontaine werde seinen ehemaligen Bundesgeschäftsführer nicht stützen.

Das Verhältnis zwischen Lafontaine und Bartsch gilt als zerrüttet. Bartsch hatte 2010 den Posten des Bundesge-schäftsführers abgegeben. Er soll Inter-na nach außen getragen haben. (…)

Lafontaine will sich zu den Perso-nalquerelen nicht äußern. Es heißt, er wolle erst kurz vor dem Bundesparteitag im Juni ein neues Personaltableau. In Berlin ist spekuliert worden, es könnte bereits am 16. Januar beim politischen Jahresauftakt der Linken neue Namen geben. Aber das will Lafontaine offen-sichtlich verhindern, um Gesine Lötzsch und Klaus Ernst nicht zu »lahmen En-ten« zu degradieren. Aus Respekt vor ihnen, hatte Lafontaine kürzlich gesagt, verbiete sich eine Mitgliederbefragung. (…)

abGeschriebeN

In Bremerhaven haben Green-peaceaktivisten das Fischerei-fabrikschiff »Jan Maria« am

Montag und Dienstag morgen am Auslaufen gehindert. Ihre Aktion stand unter dem Motto »Keine Subvention für Meereszerstö-rung« – wie kritisch sehen Sie die Lage?

Greenpeace hat einen Bericht zusam-menstellen lassen über die Subven-tionen, die in die Hochseefischerei fließen. Demnach hat alleine die »Jan Maria« seit 1999 direkte oder indirek-te Fördergelder in Höhe von 23 Millio-nen Euro bekommen. Das Grundpro-blem ist, daß die gesamteuropäische Fischereiflotte viel zu groß ist. Auch wenn einige Schiffe abgewrackt wur-den – die Subventionspolitik der EU führt nicht zu einer Verringerung der Fangkapazitäten. Die bleiben nahezu gleich, weil die Gelder in bessere tech-nische Ausrüstungen fließen.

Es gibt aber doch noch weitere Probleme in der Fischereipolitik der EU …

Wir haben drei davon: Erstens – wie erwähnt – die zu große Fangkapazität, also zu viele Schiffe, die zu viel Fisch fangen. Mehr als eigentlich noch da ist. Zweitens die Quotenvergabe, die nicht den wissenschaftlichen Emp-fehlungen entspricht, sondern bei der die Politik wirtschaftlichen Interessen den Vorrang gibt. Und drittens eine zerstörerische Fischerei. Die Fangme-thoden verursachen zum Beispiel sehr viel Beifang, der tot über Bord gekippt wird.

Wenn, wie Greenpeace verlangt, Subventionen gekürzt oder ein-

gestellt werden – gehen dadurch nicht Arbeitsplätze in der Fische-rei verloren?

Die »Jan Maria« ist ein Fabrikschiff von fast 120 Meter Länge und mit nur 20 bis 30 Mann Besatzung. Wenn entsprechend unserer Forderung die Fischereipolitik geändert und die Flot-te verkleinert und umstrukturiert wird, heißt dies, daß solche riesigen Schiffe abgeschafft werden, aber auch neue Arbeitsplätze auf kleineren Fahrzeu-gen entstehen werden. In Europa gibt es 85 000 Fischerboote.

Die EU setzt jedes Jahr die Fisch-fangquoten fest. Warum reichen diese nicht zur Regulierung aus?

Weil diese Quotenvorgaben von wirt-schaftlichen Interessen diktiert wer-den. Die Fangflotte der EU ist zwei- bis dreimal so groß, wie es für eine nachhaltige Fischerei gut wäre.

Können Sie konkrete Beispiele geben?

Das dänische Kattegat braucht eigent-lich ein Fangverbot für Kabeljau, weil dessen Bestand in diesem Seegebiet in einem sehr schlechten Zustand ist. Die Politiker haben sich jedoch le-diglich dazu durchringen können, die

Fangquote für 2012 um 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr zu kürzen. Ein anderes Beispiel ist der Hering in der südlichen Nordsee: Da sich der Be-stand leicht erholt hatte, haben Wis-senschaftler eine Erhöhung der Fang-quote um 19 Prozent empfohlen. Die Politiker haben sie jedoch um 69 Pro-zent angehoben. Der Grund für solche Entscheidungen ist die Sorge um die Auslastung der Fabrikschiffe: Wenn sie nichts mehr fangen dürfen, müssen sie an der Pier bleiben – und das kostet viel Geld. Um rentabel zu bleiben, müssen sie aber aufs Meer raus. Also werden zu hohe Quoten vergeben, die den Fischbestand immer weiter dezi-mieren.

Das Übel muß an der Wurzel ge-packt werden. Wenn die Flotte klei-ner ist, sehen sich die Politiker auch nicht mehr daran gehindert, niedrigere Fangquoten festzulegen.

Hoffen Sie wirklich, mit der Blockade eines Fischtrawlers in Bremerhaven Einfluß auf die Gesetzgebung der EU nehmen zu können?

Ich glaube schon, daß wir etwas be-wegen können. Greenpeace ist eine internationale Organisation. Wir agie-ren in zahlreichen Ländern – auch auf politischer Ebene und nicht nur mit Aktionen wie in Bremerhaven.

Hier und da arbeiten wir mit Regie-rungen zusammen und nehmen eben-falls auf EU-Ebene Einfluß auf die Ge-setzgebung. In diesem Jahr haben wir durchaus die Chance, daß sich etwas ändert, da die gemeinsame Fischerei-politik reformiert werden soll. Interview: Marion Baumann

» Zu v i e le S c h i f fe , d i e z u v i e l F i s c h fa n gen«Greenpeace hinderte in Bremerhaven eine schwimmende Verarbeitungsfabrik am Auslaufen. Ein Gespräch mit Iris Menn

Lohnverzicht lohnt nicht. Wenn es für diese These noch eines Beweises bedurf-

te, hat ihn nun – wieder einmal – Opel geliefert. 2010 hatten die Belegschaften zum gefühlt zwan-zigsten Mal Zugeständnisse zur Endlos-»Sanierung« des Autobau-ers gemacht. Die Lohnerhöhung von 2,7 Prozent für 2011 wurde nicht ausbezahlt, Weihnachts- und Urlaubsgeld wurden 2010 und 2011 halbiert. Damit war Opel der erste große Autohersteller, dessen Be-legschaften teilweise unterhalb des Flächentarifs der Metallbranche entlohnt werden. Dennoch fordert die Konzernspitze nun weitere Konzessionen.

Aus der Krise geholfen haben all die Zugeständnisse der Opel-Arbeiter dem Unternehmen nicht. Immer noch fährt die europäische Tochter des US-Konzerns General Motors (GM) Verluste ein. Das liegt eben nicht an zu hohen Gehäl-tern, sondern vor allem an den Opel von GM auferlegten Beschränkun-gen: Westeuropa ist der einzige wichtige Automarkt, auf dem Opel in größerem Stil verkaufen darf. Die Boomregionen Ostasiens und Lateinamerikas sind für die Marke mit dem Blitz nahezu tabu, weil GM seinen anderen Modellen nicht selbst Konkurrenz machen will. In China lieferte Opel 2011 lächerliche 3 000 Fahrzeuge aus. Zum Ver-gleich: Bei der VW-Tochter Skoda waren es 200 000. Wenn sich daran nichts ändert – da können die Ope-laner noch so viel verzichten – ist der Autobauer eher früher als spä-ter am Ende. Denn in Europa sind angesichts der von Brüssel und

Berlin diktierten Sozialkürzungen und Entlassungen im öffentlichen Dienst Absatzeinbrüche insbeson-dere bei Klein- und Mittelklassewa-gen zu erwarten.

Was haben Betriebsräte und IG Metall durch ihre seit Anfang der 1990er Jahre bei Opel betriebene Politik des Nachgebens erreicht? Die versprochene Sicherung von Arbeitsplätzen? In Deutschland wa-ren damals noch 56 800 Menschen bei Opel beschäftigt, jetzt sind es noch etwa 22 000. Allein die letzte »Sanierung« hat europaweit fast 8 000 der 48 000 Jobs gekostet. Die fast eine Milliarde Euro, die der Konzern dafür an Abfindungen aus-gegeben hat, haben die verbliebenen Mitarbeiter durch Lohnverzicht selbst finanziert. Und der von Be-legschaftsvertretern stets als K.-o.-Kriterium gehandelten Forderung nach Erhalt aller Werke wurde mit der Schließung der Fabriken im por-tugiesischen Azam buja (2006) und im belgischen Antwerpen (2010) eben nicht entsprochen.

Auch jetzt ist die Zukunft der Standorte und Arbeitsplätze keines-wegs gesichert. Vor allem Bochum gilt als gefährdet, da das anlaufen-de Astra-Modell spätestens 2017 nicht mehr produziert wird. Was dann kommt, steht in den Sternen. Dabei hatte die Belegschaft des Ruhrgebietswerks im Rahmen einer Betriebsvereinbarung 2008 schon einmal Zugeständnisse für den Bau eines weiteren Modells ne-ben dem Zafira gemacht. Doch GM hat sein Versprechen gebrochen. Warum soll sich bei diesen Deals eigentlich immer nur die eine Seite an Vereinbarungen halten?

Sinnlose Konzessionenopel fordert wieder ZuGestäNdNisse

Barack ObamarechtsVerweser des taGes

Einen Rekord im modernen Menschentöten hat der US-Präsident schon aufgestellt:

Die Zahl der unter Bruch aller Rechtsregeln von US-Drohnen um-gebrachten Menschen explodierte in seiner Amtszeit. Für so etwas bekommt man in Norwegen den Friedensnobelpreis. Das spornt an. Nun hat der frühere Dozent für Verfassungsrecht am Silvestertag in Hawaii ein Gesetz unterzeichnet, das alle Rechte für In- und Ausländer, die in die Hände der USA geraten, aufhebt. Zwei Abschnitte sehen u. a. vor, daß die US-Regierung Terror-verdächtige ohne Gerichtsverfahren festsetzen kann, daß ausländische Al-Qaida-Angehörige vom Militär gefangen genommen werden dürfen, daß die USA jenseits ihrer Grenzen Gefangenenlager errichten und ihre

Streitkräfte innerhalb und außerhalb Terrorverdächtige festnehmen, ver-hören und ohne zeitliche Beschrän-kung festhalten können.

Diese Einführung von Vogelfrei-heit übertrifft noch die Gesetzes-lage, die in der McCarthy-Ära der 50er Jahre in den USA Basis für Kommunistenschnüffelei und un-befristete Inhaftierungen war. Denn selbst Gefangene des Folterlagers Guantánamo – derzeit noch 171 –, deren Unschuld erwiesen ist, kön-nen nun auf unbestimmte Zeit dort festgehalten werden. Bereits vor der Unterzeichnung hatte die Menschen-rechtsorganisation Human Rights Watch kommentiert, Obama werde als der Präsident in die Geschichte eingehen, der »zeitlich unbeschränk-te Festsetzungen ohne Prozeß im US-Recht verankert hat«. Noch im Wahlkampf 2008 hatte Obama unter der Parole »Change« (»Wechsel«) die Internierungspolitik seines Vor-gängers George W. Bush scharf kriti-siert und nach seiner Amtsübernahe die Schließung von Guantánamo an-geordnet. Übriggeblieben ist davon seine jetzige Bemerkung, er habe »ernsthafte Vorbehalte« gegen das Gesetz. Macht nichts, der Wechsel von Recht zu Faustrecht ist ja gelun-gen. (asc)

u Von Daniel Behruzi

Iris Menn ist Meeres-expertin

der Umwelt-organi-sation Green-peace

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junge Welt Donnerstag, 5. Januar 2012, Nr. 4 9k a p i t a l & a r b e i tEurokraten fürchten BedeutungsverlustBrüSSeL. Das von der BRD-Re-gierung durchgesetzte zwischen-staatliche Abkommen zum Auf-bau einer Fiskalunion soll nach dem Willen der Euro päische Kommission schon nach fünf Jahren wieder auslaufen. »Die Elemente des Vertrages sollten binnen dieser Frist in EU-Recht überführt werden«, sagte ein Be-amter der Euro päischen Union am Mittwoch. Es dürfe »nicht für ewig zwei parallele Gleise geben«. Am Freitag treffen sich die Unterhändler der Mitglieds-staaten und des EU-Parlaments in Brüssel, um die Vertragsver-handlungen voranzutreiben. EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy will bis zum Sonder-gipfel Ende Januar die Einigung, damit dieses Abkommen noch in diesem Jahr ratifiziert werden kann. (dapd/jW)

McDonald’s muß für Ausbeutung blechen pAriS. Die Fast-Food-Kette McDonald’s ist von einem französischen Arbeitsgericht zu einer Nachzahlung verurteilt worden: Eine Franchiseneh-merin in der Bretagne erhält für nichtbezahlte Überstunden 250 000 Euro. Die Geschäftsfüh-rerin einer Filiale hatte vier Jah-re lang sieben Tage in der Woche gearbeitet, häufig von fünf Uhr morgens bis Mitternacht. Nach Aussagen ihres Anwalts wurde sie unter enormen Druck gesetzt und mußte schließlich ihren Arbeitsplatz mit Depressionen verlassen. (dapd/jW)

Ungarns Forint fällt auf neuen Tiefstand BudApeSt. Angesichts der Unsi-cherheit über ein neues inter-nationales Hilfsprogramm ist die ungarische Landeswährung auf ein Rekordtief gegenüber dem Euro gefallen. Die Ge-meinschaftswährung stieg am Mittwoch auf 319,88 Forint und übertraf damit den bisherigen Rekord von 317 Forint vor zwei Monaten. Budapest bemüht sich nach eigenen Angaben beim Internationalen Währungsfonds (IWF) und bei der EU um ein finanzielles »Sicherheitsnetz«. (dapd/jW)

Erinnert sich noch jemand an die Unkenrufe der AKW-Betreiber, als Bundeskanzlerin Angela

Merkel im Frühjahr ihre Kehrtwende in der Atompolitik vollzog? Deutschland drohe die Stromlücke, hieß es, als die Bundesregierung nach der mehrfachen Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima die erst im Sommer 2010 durchgeboxte Laufzeitverlängerung für Atommeiler zurücknahm. Besonders vor dem grauen Spätherbst versuch-ten die Sprecher der großen Stromkon-zerne, den Bürgern Angst zu machen. Wenn der Verbrauch besonders hoch sei und bei nebligem Wetter weder So-lar- noch Windkraftanlagen Strom lie-ferten, dann drohe das Netz zusammen-zubrechen, weil der Bedarf nicht mehr gedeckt werden könne, hieß es.

Derlei Wetterlagen gab es tatsäch-lich, aber siehe da: Der Weltuntergang blieb aus und der Netzzusammenbruch ebenso. Statt dessen hat Deutschland nach der Stillegung von acht AKW seit März weiterhin mehr Strom »pro-duziert« als verbraucht. Auch 2011 war das Land Nettostromexporteur, rund sechs Milliarden Kilowattstunden (kWh), rund ein Prozent der zur Ver-fügung stehenden Menge, wurden ans Ausland geliefert.

Mehr noch: Die erneuerbaren Ener-gieträger erlebten ein neues Rekord-jahr. Auf ein rundes Fünftel belief sich der Anteil der aus Wind, Sonne, Was-ser, der Verbrennung von Biogas und der organischen Anteils des Hausmülls gewonnenen Elektroenergie am Brut-tostromverbrauch. Rechnet man aus diesem den Eigenbedarf der Kohle- und Atomkraftwerke heraus, dann war er sogar noch einige Prozentpunkte höher. Damit trugen die sauberen Energieträ-ger, deren Quote ein Jahr zuvor noch bei 17 Prozent gelegen hatte, erstmalig mehr zur Stromversorgung bei als die verbliebenen Atomkraftwerke. Auch der Anteil der Steinkohle lag niedriger.

Solarstrom lieferte mit knapp 19 Milliarden kWh einen Beitrag von immerhin drei Prozent. Vollkommen irrelevant nannte der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, Michael Fuchs, das kürz-lich im Handelsblatt. Der Mann scheint in der Schule nicht aufgepaßt zu haben. Denn die Stromproduktion der Solar-anlagen wuchs in den fünf Jahren von 2007 bis 2011 im Durchschnitt um gut

50 Prozent, zuletzt legte sie gar um 60 Prozent zu. Angenommen, das Wachs-tum verlangsamt sich in den nächsten Jahren ein wenig auf durchschnittlich 30 Prozent. Dann würden Solaranlagen im Jahre 2020 rund 50 Milliarden kWh liefern, womit sich knapp zehn Prozent des Nettobedarfs decken ließe.

Irrelevant kann das eigentlich nur nennen, wer den Erfolg der Solarin-dustrie kleinreden und ihren Boom ausbremsen will. Und genau darum geht es dem Unionspolitiker, der sich darin mit dem Wirtschaftsflügel seiner Partei und dem schwindsüchtigen Ko-alitionspartner FDP einig weiß. Fuchs hat gemeinsam mit FDP-Chef Philipp Rösler und einigen anderen zum Sturm auf die Sonnenenergiebranche gebla-sen. Im Handelsblatt forderte er, den Bau neuer Solaranlagen auf künftig 0,5 Gigawatt jährlicher Kapazität zu begrenzen. Gegenüber 2011 wäre das eine Reduktion von schätzungsweise 90 Prozent. Das würde nicht nur für die »Energiewende« eine Katastrophe bedeuten, sondern auch mehrere zehn-tausend Arbeitsplätze im Dachdecker- und Elektrohandwerk kosten, das der-zeit mit der Installation neuer Anlagen beschäftigt ist.

Das Motiv ist klar. Die »Erneuerba-ren« insgesamt mausern sich derzeit trotz AKW-Teilausstieg vom Nischen-produkt zur ernsthaften Konkurrenz der großen Stromkonzerne. Geht die Entwicklung in diesem Tempo weiter, so könnten sie 2020 bereits die Hälfte des Bedarfs abdecken, hat die Bun-desnetzagentur kürzlich festgestellt. Ein entsprechendes Szenario soll den Plänen zum Ausbau der Netze zugrun-de gelegt werden. Tritt das aber ein, dann würden sich viele der Großkraft-werke der Konzerne nicht mehr renta-bel bewirtschaften lassen, weil sie zu wenig Strom absetzen könnten. Ent-sprechend wird das Sperrfeuer gegen die intensivere Nutzung erneuerbarer Energieträger verstärkt.

Zeitweise ist der Beitrag der saube-ren Stromquellen schon jetzt beacht-lich: Am Dienstag dieser Woche zum Beispiel haben Sonne und Wind zur Hauptverbrauchszeit um den Mittag herum rund 48 Prozent des Bedarfs gedeckt. Bundesweit. Am heutigen Donnerstag dürfte es, während ein weiteres windreiches Tiefdruckgebiet durchzieht, ganz ähnlich aussehen.

Fuchs und Rösler argumentieren bei ihrem Feldzug gegen die Solarenergie

vor allem mit deren vermeintlich un-kontrollierbaren Kosten. Damit ist es allerdings nicht mehr allzu weit her. Zum 1. Januar ist die Vergütung für So-larstrom aus neu errichteten Anlagen um weitere 15 Prozent abgesenkt wor-den. Inzwischen gibt es je nach Grö-ße und Standort der Anlage nur noch 17,94 bis 24,43 Cent pro Kilowattstun-de (ct/kWh). Vor zwei Jahren betrug die Spanne noch 28,43 bis 39,14 ct/kWh. Schon zum 1. Juli 2012 wird die Vergütung für die ab diesem Termin errichteten Anlagen erneut absinken, voraussichtlich um neun Prozent. Und ein halbes Jahr später folgt bereits die nächste der Kürzungen um so stärker ausfallen, wobei die je mehr Anlagen zuvor errichtet wurden.

Möglich ist diese enorme Verbilli-gung durch den starken Rückgang der Preise für Solarmodule geworden, die sich allein 2011 nahezu halbiert ha-ben und aller Voraussicht nach weiter sinken werden. Diese Energiequelle steht damit kurz vor ihrem endgül-tigen Durchbruch, und die Initiative der Konzernfreunde aus dem Koali-tionslager muß als Versuch gewertet werden, diesen noch möglichst lange hinauszuzögern.

Solarstrom mit ZukunftDeutliche Zuwachsraten, günstigere Anlagen, sinkende Preise: Sonnenkraft wird in BRD stärker genutzt. Trotz Störfeuers aus Union und FDP. Von Wolfgang Pomrehn

20 Megawatt Leistung: Solarpark Ammerland nahe Oldenburg

Milliardenstrafe für US-Ölmulti Ecuador bittet Chevron wegen Umweltzerstörung zur Kasse. Konzern will nicht zahlen

Wegen schwerer Verschmut-zung des Regenwaldes im Amazonasgebiet soll der

US-Ölkonzern Chevron bis zu 18,14 Milliarden Dollar (knapp 14 Milliar-den Euro) Strafe zahlen. Ein Gericht in Ecuador bestätigte am Dienstag (Orts-zeit) nach Angaben aus Justizkreisen ein entsprechendes Urteil vom Februar 2011. Chevron wies den Spruch als »un-zulässig« zurück und kündigte an, vor US- und internationalen Gerichten ge-gen dessen Vollstreckung zu kämpfen.

Der Gerichtshof der Provinz Su-cumbios bestätigte demnach das Urteil vom 14. Februar 2011, wonach Che-vron für die Zerstörung von Regen-

wald 8,640 Milliarden Dollar zahlen muß. Zusätzlich wurde ein Bußgeld in Höhe von zehn Prozent der Strafe ver-hängt. Das Berufungsurteil bestätigte zudem die Verdopplung der Summe, falls Chevron sich nicht öffentlich bei den Geschädigten entschuldige – was der Konzern bislang nicht getan hat.

Rund 30 000 Bewohner der Provinz hatten sich zu einer Opfervereinigung zusammengeschlossen und 1993 ge-gen die Verschmutzung des Regenwal-des durch die Ölfirma Texaco geklagt. Die Ecuadorianer werfen dem Unter-nehmen vor, Milliarden Liter giftiger Abfälle im Regenwald entsorgt und damit Böden wie Flüsse schwer ver-

schmutzt zu haben. Texaco, das 2001 von Chevron gekauft wurde, förderte zwischen 1964 und 1990 Öl in der be-troffenen Region.

Ecuadors Präsident Rafael Correa reagierte mit »Befriedigung« auf das Urteil. »Es ist Gerechtigkeit geübt worden. Der Schaden, den Chevron im Amazonasgebiet angerichtet hat, ist nicht zu leugnen«, sagte er in der südwestlichen Stadt Guayaquil.

Chevron nannte in einer Erklärung das Urteil »ein weiteres krasses Bei-spiel für die politische Schieflage und die Korruptheit der ecuadorianischen Justiz«, die den Prozeß von Beginn an »belastet« hätten. (AFP/jW)

j u n geWe l t • L a d enga le r i eDie Tageszeitung Torstraße 6, 10119 Berlin

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Donnerstag, 5. Januar 2012, Nr. 4 junge Welt 1 0 t h e m a

Schon Ende 1941 war der »Barbarossa«-Plan gescheitert. Noch hatte die Wehr-macht die Fortsetzung ihrer Erobe-rungsabsichten in der UdSSR für das Jahr 1942 festgeschrieben. Den Eintritt

der USA in den Krieg hatte sie aber erst nach der Erringung unwiderruflicher Erfolge im Osten erwartet. Nach Beginn des Krieges im Pazifik hat-te Hitler in einer Art Flucht nach vorn, seinem Prestige zuliebe, am 11. Dezember 1941 den USA vorweg den Krieg erklärt.

Mit dem sich global ausweitenden Krieg stand der deutsche Imperialismus vor neuen existenz-bedrohenden Problemen. Bedroht waren auf eine höchst direkte Weise das faschistisch besetzte Eu-ropa im Norden, im Westen und im Süden. Der italienische Verbündete konnte, auch mit deutscher Hilfe, der britisch-amerikanischen Militär- und Rüstungsmacht in Nordafrika nur wenige Mona-te standhalten. Die französischen Kolonialbesit-zungen in Westafrika und anderswo mußten über kurz oder lang der Invasionsmacht der westlichen Alliierten anheimfallen. Die deutschen See- und Luftstreitkräfte würden in Europa und auf dem Atlantik in absehbarer Zeit überlegenen Gegnern ausgeliefert sein.

Der unmittelbarste und gefährlichste Gegner der Hitler-Wehrmacht war und blieb die Rote Armee. Sie brachte im Jahresverlauf 1942 das für Freund und Feind unglaubliche Wunder

zustande, auch die zweite Sommeroffensive der Naziwehrmacht nicht nur abzuschlagen, sondern an der Front und im Hinterland die den Krieg verändernde welthistorische Schlacht von Stalingrad vorzubereiten. Die während des Jahres anlaufenden Lend-Lease-Lieferungen der westlichen Alliierten über Murmansk, den Iran und Wladiwostok stellten zwar eine – für dieses Jahr meist überschätzte – Hilfe für den sowjetischen Verbündeten dar; für alle Zukunft wird dagegen einmalig die opfervolle Verla-gerung der Industrie in den weiten Osten des Landes, der Aufbau von 1 500 rüstungsindustri-ellen Werken dort in unvorstellbar kurzer Zeit bleiben.

Offensive der Roten ArmeeDie Rote Armee befreite in der Winteroffensive 1941/42 – ihrer ersten siegreichen Offensive – die Hauptstadt Moskau aus der tödlichen Gefahr ei-ner Umklammerung und Vernichtung (siehe jW-Thema vom 30.9.2011). Sie drängte die Wehrmacht auf einer Frontbreite von über 600 Kilometern in blutigen Kämpfen 150 bis 300 Kilometer von der Stadt ab. Das war ein historischer Sieg – der erste im gesamten Krieg – über die stärkste Heeresmacht der Welt. Die sowjetische Führung ließ auch wei-terhin auf der riesig ausgedehnten Front angreifen, konnte aber weder die Blockade Leningrads durch-brechen noch auf der Krim festen Fuß fassen, um das belagerte Sewastopol zu entlasten. In deutscher Hand blieben Smolensk, Kursk, Kiew, Charkow, Stalino, Dnepropetrowsk und die Küste des Asow-schen Meeres.

Die dramatischen Ereignisse des Winters können nur richtig verstanden werden, wenn die ungeheure Last – Blutlast, wirtschaftliche Last, Hungerlast –, die die UdSSR damals trug, gewürdigt wird. Es war für das Land das schwerste Jahr des Krieges. Militärisch beruhte die Offensive, die vom 5./6. Dezember 1941 bis in den März 1942 hinein dau-erte, noch weitgehend auf dem im Jahre 1941 vor-handenen Verteidigungsstand. Außer einer Anzahl von aus dem Osten der UdSSR herbeigeschafften Divisionen und kaum ausgebildeten Reserveeinhei-ten waren es die aus den Millionen des alten Mann-schaftsbestandes übriggebliebenen Soldaten, die den erschöpften und für den Winter unzureichend ausgerüsteten Gegner das Fürchten lehrten.

Bis Anfang Dezember 1941 hatte die Rote Ar-mee an Toten und Verwundeten, gefangenen Sol-daten und ermordeten oder verhungerten Zivilisten mit Sicherheit weit über fünf Millionen Menschen

verloren, ein Vielfaches der deutschen Verluste. Ihre Ausrüstung mit Waffen und Kriegsgerät hat-te zu Beginn des Krieges trotz langjähriger Rü-stungsanstrengungen weder an Menge noch (mit Ausnahmen) an Qualität den Anforderungen des aufgezwungenen Krieges entsprochen. Ähnliches galt für eine entsprechende soldatische Ausbildung. In der Führungselite der Roten Armee waren die Verluste seit den Prozessen gegen Teile der Militär-führung von 1937/38 zuerst schwer aufzuholen.

Die Rettung der sowjetischen Rüstungsindustrie durch die rücksichtslose Verlagerung ins Hinter-land, vielfach bis zum Ural und nach Westsibirien, war mit chaotischen Zuständen und Einbrüchen in der zivilen Industrie erkauft. Sie kostete zudem zuviel Zeit, als daß sie sich schon 1941 wesent-lich hätte auswirken können. Am Verlegungsort »fehlten die meisten Dinge, die für eine Wiederin-betriebnahme der evakuierten Kriegsfabriken er-forderlich waren – zusätzliche Arbeitskräfte, Un-terkünfte und Lebensmittelvorräte, Transportver-bindungen, Strom, Lieferanten für Metallprodukte und Ersatzteile sowie jegliche Art finanzieller und wirtschaftlicher Infrastruktur.« (Mark Harrison, »›Barbarossa‹: Die sowjetische Antwort, 1941«, in: Bernd Wegner (Hrsg.), Zwei Wege nach Moskau, München 1991, S. 460)

Daher führte die erzwungene Umstellung zum empfindlichen Absinken auch der Rüstungsproduk-tion und zu geradezu übermenschlichen Arbeitsan-strengungen, zu Überarbeit, auch bei Frauen und Kindern, zu Wohnungsnot, zu Hungerzuständen nicht selten auch bei der schwer arbeitenden Be-völkerung.

Verlust und Verschleiß von Waffen und Gerät waren 1941/42 noch unaufholbar. Im Winter ver-lor die Rote Armee in einer durchschnittlichen Woche ein Sechstel ihrer Flugzeuge, ein Siebentel ihrer Geschütze und Mörser und ein Zehntel ihrer gepanzerten Fahrzeuge. Die Gründe lagen in der unerhörten Härte der Kämpfe, aber auch in dem unzureichenden Ausbildungsstand, in der anfangs fehlenden Kampferfahrung und in der Rücksichts-losigkeit des Masseneinsatzes der immer jüngeren und unerfahreneren Soldaten, die die Toten und Gefangenen zu ersetzen hatten.

Der Verlust der wichtigsten Industrie- und Roh-stoffstandorte im Jahr 1941, besonders im Donez-Becken, die Verlagerungen nach Osten, die Neuein-richtung ganzer Industriestandorte, insbesondere die Opfer an Facharbeitern und gelernten Kräften brachten nicht nur die zivile Industrie nahe an den Zusammenbruch, sondern führten auch zu Ein-brüchen in wichtige Rüstungsfertigungen, deren

schwere Auswirkungen sich gerade in der Win-teroffensive 1941/42, aber auch während der fol-genden Jahre zeigten. Die amerikanisch-britischen Hilfslieferungen an die UdSSR kamen im Laufe des Jahre 1942 äußerst langsam in Gang, wie auch US-amerikanische Verantwortliche einräumten.

Die Produktion der modernen Panzer (T-34 und KW) brach von monatlich 540 auf 400 ein; an Granaten produzierte die Industrie nur 20 bis 30 Prozent des Plansolls; die Flugzeugfertigung fiel schon im Dezember 1941 auf 39 Prozent, diejenige von Triebwerken auf 24 Prozent des Plans.

Die Zeit des Sieges der Roten Armee in der Winteroffensive war demnach zugleich die Zeit der besonders schweren wirtschaftlichen Lage in der UdSSR – einschließlich der Rüstungsproduktion. Sie war nur durchzustehen dank des Enthusiasmus und der Opferbereitschaft der breiten Massen des Volkes.

Der geschilderte Zustand des sowjetischen Hin-terlands war eine der wichtigsten Ursachen für das Ende der zum Frühjahr hin immer weniger erfolgreichen sowjetischen Offensive. Diese Phase ist von sowjetischer bzw. russischer Seite unzuläng-

Befreiung von Moskau»Barbarossa«: Das Entscheidungsjahr 1942. Teil I: Zwei Offensiven. Von Dietrich Eichholtz

Von leichten Panzern dicht begleitete sowjetische Skitruppen im Angriff vor Moskau. Die Winteroffensive der Roten Armee 1941/42 drängt die abge-kämpften deutschen Truppen bis zu 300 Kilometer von der Hauptstadt ab

Die Schlacht vor Moskau, 6. Dezember 1941 bis Anfang Januar 1942

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junge Welt Donnerstag, 5. Januar 2012, Nr. 4 1 1t h e m a

lich untersucht. Aber die Urteilsfähigen scheinen darin übereinzustimmen, daß es der damaligen militärischen Führung, darunter Generalstäbler wie B. M. Schaposhnikow, G. K. Shukow und A. M. Wassilewski, nicht gelang, sich gegen den dama-ligen Kurs Stalins durchzusetzen. Die ersten be-deutenden Erfolge der Offensive hatten in Moskau trügerische Hoffnungen geweckt, den Feind weiter zum Rückzug zwingen und vom heimatlichen Bo-den vertreiben zu können. So wurde die verfügba-re Stoßkraft nicht im Mittelabschnitt konzentriert, sondern auf der Hunderte Kilometer langen Front zersplittert eingesetzt.

Wechsel der InitiativeDie deutsche Führung hatte seit ihrer Niederlage vor Moskau und während der sowjetischen Offensive Heimat und Front gründlich zu mobilisieren begon-nen. Die durchgreifendsten Maßnahmen betrafen die Reorganisation der Rüstungswirtschaft unter Albert Speer als Nachfolger des verunglückten Mi-nisters Fritz Todt, der die geschlossene Organisati-on der Rüstungskonzerne (»Selbstverantwortung«) hinter sich versammelte; die Rekrutierung eines Millionenheeres von Zwangsarbeitern unter Hitlers Gauleiter Fritz Sauckel; schließlich die »Lösung« der Ernährungskrise durch die brutale Hungerpo-litik der Backe/Himmler/Göring in den besetzten Gebieten und gegenüber den Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen, Juden und KZ-Häftlingen.

Mehr und mehr Soldaten und Waffen strömten in den Osten, wo im Laufe des Frühjahrs wieder ein

furchterregendes deutsches Angriffsheer entstand, wenn auch nicht mehr vergleichbar mit dem Heer des vergangenen Sommers und aufgefüllt mit etwa 30 Prozent verbündeter Truppenkontingente. Bis April/Mai 1942 erreichte die Produktion von Pan-zern, Waffen (darunter neue Typen) und Munition jeweils das Anderthalbfache des Ausstoßes vom Jahresbeginn.

Hitler und seine Generale bildeten sich ein, daß ein schneller Sieg über die UdSSR im Jahr 1942 die Chance bieten würde, der zusammengefaßten US-amerikanisch-britischen Kriegsmacht entge-genzutreten, die inzwischen ungeheure Rüstungs-programme aufgelegt hatte. Der sowjetische Feind, so nahmen sie an, stand vor dem Zusammenbruch, war am Ende mit seiner Kampfkraft und seinen Reserven. Der Kriegseintritt der USA schuf al-lerdings, so Hitlers Sorge, neue Bedrohungen in Westeuropa, in Nordeuropa und in Afrika, gegen die man ebenfalls massive Kräfte aufbieten müsse (»Atlantikwall«).

Die Befehle Hitlers und des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) für die »Rüstung 1942« wa-ren um die Jahreswende gegeben. Die Weisungen für die Führung des Feldzuges in diesem Jahr erteil-te der »Führer« am 5. April und, im Vollgefühl der ersten Erfolge im Sommer, am 23. Juli 1942. In der Weisung Nr. 41 vom 5. April nannte er als Haupt-ziel der Sommeroffensive, »alle greifbaren Kräfte (…) im Süd-Abschnitt zu vereinigen mit dem Ziel, den Feind vorwärts des Don zu vernichten, um so-dann die Ölgebiete im kaukasischen Raum und den Übergang über den Kaukasus selbst zu gewinnen«.

Für die Offensive, die diesmal in südöstlicher Richtung bis zu anderthalbtausend Kilometer weit führen sollte, waren wichtige Vorbereitungen zu treffen: insbesondere die Lage an der kritischen Mitte der Front zu bereinigen, die Halbinsel Krim zu »säubern«, möglichst die Festung Sewastopol zu erobern, die Gefährdung des Donez-Reviers, be-sonders Charkows, zu beseitigen und später – nach Lage – »Leningrad zu Fall zu bringen«.

Die schweren Kämpfe, besonders auf der Krim sowie um Charkow und die Donez-Übergänge, kosteten die Wehrmacht viele Wochen Zeit, ehe sie am 28. Juni zur Offensive über Woronesh in Rich-tung auf Don und untere Wolga und den Kaukasus antrat.

Ungeachtet der Abgabe mehrerer großer Trup-peneinheiten nach dem Westen gewann die mit allen Mitteln aufgefüllte Heeresgruppe Süd (im Juli geteilt in A und B unter neuen Befehlshabern) im Donez- und im großen Don-Bogen bedeutend an Raum, ohne freilich die Rote Armee zu den geplanten Vernichtungsschlachten treiben zu kön-nen.

Hitler und die Heeresleitung steckten in der Ge-wißheit künftiger Siege ihre Ziele immer weiter. Nach der Weisung Nr. 44 vom 21. Juli 1942 sollten der UdSSR »in kurzer Zeit« die Öllieferungen und alle übrigen Verbindungen zum Kaukasus gesperrt werden. Währenddessen werde man im Norden wieder angreifen, Leningrad »spätestens im Sep-tember« nehmen und die Murmanbahn bei Kanda-lakscha unterbrechen.

Nur zwei Tage später behauptete Hitler wahr-heitswidrig in der Weisung Nr. 45 vom 23. Juli 1942, die »weiten Ziele« im Süden seien »im we-sentlichen erreicht«, und stellte zugleich Forderun-gen, deren Irrealität jetzt selbst Generalstäblern der obersten Garnitur einleuchtete. Generalstabschef Franz Halder vertraute erbittert seinem Tagebuch an: »Die immer schon vorhandene Unterschätzung der feindlichen Möglichkeiten nimmt allmählich groteske Formen an und wird gefährlich. Es wird immer unerträglicher. Von ernster Arbeit kann nicht mehr die Rede sein.« (23.7.).

Der »Führer« hatte für das restliche Jahr befoh-len:– »die gesamte Ostküste des Schwarzen Meeres in

Besitz zu nehmen«; dazu alle gangbaren Pässe auszunutzen und alle verfügbaren Hochgebirgs-einheiten zusammenzufassen,

– den »Übergang über den Kuban zu erzwingen und das Höhengelände von Maikop und Arma-wir in Besitz zu nehmen«,

– zugleich den »Raum um Grossnyi zu gewinnen und mit Teilkräften die Ossetische und Grusi-nische Heerstraße möglichst auf den Paßhöhen zu sperren«. Die Pässe seien, so Hitler hierzu mündlich, anschließend für den »Vorstoß eini-ger motorisierter Expeditionskorps via Iran, Irak nach Mesopotamien« zu nutzen,

– »im Vorstoß entlang des Kaspischen Meeres« sei dann »der Raum um Baku in Besitz zu neh-men«,

– von Heeresgruppe B sei »neben dem Aufbau der Donverteidigung im Vorstoß gegen Stalin-

grad die dort im Aufbau befindliche feindliche Kräftegruppe zu zerschlagen, die Stadt selbst zu besetzen und die Landbrücke zwischen Don und Wolga sowie den Strom selbst zu sperren«.

– Im Anschluß hieran seien schnelle Verbände ent-lang der Wolga anzusetzen mit dem Auftrag, bis nach Astrachan vorzustoßen und dort gleichfalls den Hauptarm der Wolga zu sperren. Die Luft-waffe habe »dem Gegner die Ölzufuhr aus dem Kaukasus baldigst zu sperren«.

Die schwerste Sorge der Faschisten während des Vormarschs im Sommer und Herbst war erklärter-maßen die Versorgung mit Treibstoff. Hitler selbst hatte kurz vor Beginn der Offensive in Poltawa der dort versammelten Generalität erklärt: »Wenn ich das Öl von Majkop und Groznyj nicht bekomme, dann muß ich diesen Krieg liquidieren.«

Vor StalingradIm August war die 6. Armee bis ins Vorgelände von Stalingrad gelangt und die Heeresgruppe A ins Kuban-Gebiet und in das – restlos zerstörte – Maikoper Ölrevier an der Paßstraße nach Tuapse. Dann erschöpfte sich der Elan der deutschen Offen-sive unter zunehmenden Verlusten durch den jetzt unüberwindlichen sowjetischen Widerstand, lange bevor noch das Herbst- und Winterwetter die Trans-port- und Nachschubschwierigkeiten verzehnfach-te. Jetzt und in Zukunft gab es für die Wehrmacht keinen Zugriff auf die Wolga und ihren Unterlauf, keinen Weg nach Baku, nach dem Iran oder Irak, keine Überwindung der Gebirgspässe, keinen Zu-gang auf die Schwarzmeerküstenstraße und keinen Schwarzmeerhafen, von Zielen wie Leningrad und der Murmanbahn zu schweigen.

Als im Laufe des September offensichtlich war, daß das von den Faschisten in der UdSSR verfolgte Konzept vollständig scheiterte: nämlich der künfti-gen militärischen und wirtschaftlichen Übermacht der Antihitlerkoalition durch die angestrebten Sie-ge im Osten zu begegnen und den sowjetischen Gegner kurzfristig und auf Dauer auszuschalten, verlor die deutsche Führung den letzten Rest an rea-listischem Einschätzungsvermögen. Hitler geriet über die Lage in hellste Aufregung. Das Scheitern der ursprünglichen Strategie für 1942 entlud sich in einer Führungskrise, die die bisherige militärische Führungsstruktur einschneidend veränderte. Ohne auf Widerstand zu stoßen, wechselte der »Führer« Marschälle und Generale im Dutzend aus, voran den Chef des Heeresgeneralstabs, Franz Halder. Im Hauptquartier und bis in die Fronteinheiten hinein regierte jetzt allein Hitler mit seinen Schreibtisch-befehlen, ausgeführt vom liebedienerischen Korps der Generalität. Hitlers Kreaturen waren es, die fortan auch die unsinnigsten Befehle des »Führers« umsetzten. Selbst vorsichtige Vorstellungen der Wehrmachtsführung, die hochkritische Situation an Wolga und Kaukasus zu entschärfen und Kräfte aus Stalingrad für das Fortkommen am Kaukasus freizumachen, lehnte Hitler schroff ab, »nicht nur aus operativen, sondern auch aus psychologischen Gründen«. Die Einnahme von Stalingrad sei »drin-gend notwendig (…) für Weltöffentlichkeit und Stimmung der Verbündeten«.

Die beschriebenen Rückschläge und die seit langem unsichere Gesamtkriegslage überforderten den Diktator maßlos. Sie ließen seine Megalomanie und Brutalität über alles Maß anwachsen, steiger-ten zugleich aber auch die eigene tiefe Unsicherheit und sein krankhaftes Mißtrauen. Ende September/Anfang Oktober verließ er sein Hauptquartier, um in Berlin mehrere Reden zu halten, in denen er, vor allem vor seinen Parteigetreuen, die Erfolge im Osten pries und den Fall Stalingrads für die allernächste Zeit ankündigte – wo in Wirklichkeit seit August von der 6. Armee wöchentlich 5 000 gefallene Soldaten und über 130 tote Offiziere regi-striert wurden.

Als er am 7. November wiederum das Frontquar-tier verließ und nach München fuhr, überraschte ihn die Nachricht von der alliierten Landung in Nord-westafrika. In Berchtesgaden erreichte ihn die Hi-obsbotschaft vom Beginn der sowjetischen Großof-fensive bei Stalingrad am 19./20. November.

u Teil II (und Schluß) folgt in der morgigen Ausgabe

u Weitere Beiträge von Dietrich Eichholtz finden sich in der jW-Broschüre »›Barbarossa‹. Raubkrieg im Osten« (Berlin 2011, 5,80 Euro, im jW-Shop erhältlich, Bestellungen an [email protected])

dokumeNt:u Auszug aus Hitlers Weisung Nr. 45 vom 23.7.1942 für die Fortsetzung der Operation »Braunschweig«

I. In einem Feldzug von wenig mehr als drei Wochen sind die von mir dem Südflügel der Ostfront ge-steckten weiten Ziele im wesentlichen erreicht worden. (…)

II. Ziele der weiteren Operationen:A) Heer: 1.) Die nächste Aufgabe der Heeresgruppe A ist es, nunmehr die über den Don entkommenen feindli-chen Kräfte im Raum südlich und südostwärts Rostow einzuschließen und zu vernichten. (…)2.) Nach Vernichtung der feindlichen Kräftegruppe südlich des Don ist es die wichtigste Aufgabe der Heeresgruppe A, die gesamte Ostküste des Schwarzen Meeres in Besitz zu nehmen und damit die Schwarzmeerhäfen und die feindliche Schwarzmeerflotte auszuschalten. (…) Mit einer weiteren Kräftegruppe, bei der alle übrigen Gebirgs- und Jg.Div. zusammenzufassen sind, ist der Übergang über den Kuban zu erzwingen und das Höhengelände von Maikop und Armavir in Be-sitz zu nehmen. (…)3.) Zugleich ist mit einer im wesentlichen aus schnellen Verbänden zu bildenden Kräftegruppe unter Aufbau eines Flankenschutzes nach Osten der Raum um Grossnyi zu gewinnen und mit Teilkräften die Ossetische und Grusinische Heerstraße möglichst auf den Paßhöhen zu sperren.

Anschließend ist im Vorstoß entlang des Kaspischen Meeres der Raum um Baku in Besitz zu neh-men. (…)4.) Der Heeresgruppe B fällt – wie bereits befohlen – die Aufgabe zu, neben dem Aufbau der Donver-teidigung im Vorstoß gegen Stalingrad die dort im Aufbau befindliche Kräftegruppe zu zerschlagen, die Stadt selbst zu besetzen und die Landbrücke zwischen Don und Wolga sowie den Strom selbst zu sperren.

(…) Im Anschluß hieran sind schnelle Verbände entlang der Wolga anzusetzen mit dem Auftrag, bis nach Astrachan vorzustoßen und dort gleichfalls den Hauptarm der Wolga zu sperren.

Mit Enthusiasmus und Opferbereitschaft: Eine Abordnung von Kolchosbauern übergibt Panzer an die sowjetische Armee (Moskauer Gebiet, 1942)

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Manche Familien bieten genü-gend Stoff für Filmhandlun-gen – etwa die von Marjane

Satrapi. Die Comiczeichnerin verfilm-te ihre Graphic Novel »Persepolis« 2007. Darin erzählte sie von ihrer Flucht vor den Folgen der islamischen Revolution nach Europa. In ihrem neu-en Film »Huhn mit Pflaumen« wid-met sie sich erneut einem Kapitel ihrer Familiengeschichte – diesmal geht’s um den Großonkel. Wieder ist es die Verfilmung eines Comics von ihr, der 2004 erschien. War »Persepolis« ein reiner Animationsfilm, verwandelt sie in ihrer neuen Arbeit die Bildgeschich-te in einen Realfilm.

Teheran 1958: Der gefeierte Kon-zertgeiger Nasser Ali Khan (Mathieu Almaric) hat sich zur Ruhe gesetzt und eine Familie gegründet. Allerdings haßt er seine Frau Faringuisse (Maria de Medeiros), die er nur auf Wunsch seiner Mutter geheiratet hat. Denn er liebt die schöne Irâne (Golshifteh Fara-hani), deren Vater ihm vor Jahren eine Ehe mit ihr verboten hat. Auf diesem Unglück gründete seine musikalische Karriere, denn er sublimierte seinen Liebesschmerz zu melancholischen Weisen, die ein großes Publikum rühr-ten und begeisterten.

Eines Tages nun zerbricht Farin-guisse im Streit die Violine von Nas-ser. Damit zerstört sie seine Musik, auf keinem Ersatzinstrument kann er seine frühere Intensität entwickeln, nicht einmal auf einer angeblich von Mo-zart gespielten Stradivari. Sein Leben hat nun jeden Sinn verloren, er ver-schmäht sogar sein Leibgericht Huhn mit Pflaumen. Nasser legt sich ins Bett und beschließt zu sterben.

Binnen acht Tagen wird Nasser tot sein, das ist von Beginn an klar. Satrapi erzählt (wie schon bei »Persepolis« in

gemeinsamer Regiearbeit mit Vincent Paronnaud) in Rückblenden und Vor-ausblicken das Leben Nassers und der wichtigsten Mitglieder seiner Familie. Ihre Erzählweise erinnert von ihren Grundzügen her an ein orientalisches Märchen, bricht aber mit dessen tradi-tionellen linearen Strukturen. Satrapi verschachtelt nicht nur verschiedene Zeit- und Handlungsebenen, sondern auch verschiedene Filmgenres: Ani-mationsfilm, SitCom, Komödie, Dra-ma und Märchen. Das klingt erst mal innovativ, der Erzählstil mit Stimme aus dem Off erinnert aber ziemlich stark an »Die fabelhafte Welt der Amé-lie« (2001).

Zwar besitzt »Huhn mit Pflaumen« durchaus einen gewissen selbstironi-schen Kitschfaktor, aber was den Zuk-kerguß angeht, bleibt dieses Kinostück weit hinter Amélies ach so süßem rosa-roten Paris zurück. Während bei »Amé-lie« die Hauptgeschichte ziemlich en-ergisch erzählt wird, verliert sie sich hier in zahlreichen Nebenhandlungen. Doch innerhalb dieser Unübersicht-lichkeit besitzt »Huhn mit Pflaumen« witzige und originelle Elemente, zum Beispiel des Auftritts des Todesengel Azrael, mit dem sich Nasser in eine recht ernüchternde Diskussion über das Leben als solches verstrickt.

Klar, es geht um Kunst, Schönheit

und Wahrhaftigkeit. Nasser steht für die Welt der Gefühle, den Widerpart bilden Faringuisse, eine Mathematik lehrende Erbsenzählerin, und Nassers Bruder Abdi, ein wahrer Verantwor-tungsfetischist. Dabei kann der Zu-schauer die Positionen und Wünsche jeder der drei Personen nachvollzie-hen, und doch klingt die Botschaft durch: Es ist die Leidenschaft – sei es die für einen anderen Menschen, für die Musik oder für was auch immer – die einem Leben Geist einhaucht. u »Huhn mit Pflaumen«, Regie: Mar-jane Satrapi und Vincent Paronnaud, Deutschland/Frankreich 2011, 90 min, Kinostart: heute

Donnerstag, 5. Januar 2012, Nr. 4 junge Welt 1 2 f e u i l l e t o nMilano�gestorben

Der Sänger Fred Milano ist am Sonntag im Alter

von 72 in New york gestorben. Milano wurde in den 1950er Jahren als einer der Sänger Doo-Wop-Teenie-Band Dion and the Belmonts bekannt, stand aber künstlerisch immer im Schatten von Bandchef Dion Di Mucci. (dapd/jW)

Theater�&�PolitikDas Theater »Poeta Histo-

rica« in Eulau bei Naum-burg hat sein Ensemblemitglied Hans Püschel beurlaubt. Das berichtet die Mitteldeutsche Zeitung (Mittwochausgabe). Hans Püschel, früheres Mitglied der SPD und Bürgermeister von Krauschwitz, hatte sich auf seiner Internetseite über Fragen wie »Sind die ›Dönermörder‹ verfassungsgemäße Wider-ständler?« ausgelassen. (ots/jW)

Musik�&�PolitikMaurizio Pollini, der von

vielen nicht zu Unrecht für den besten lebenden Pia-nisten der Welt gehalten wird, wird heute 70 Jahre alt. Der Ta-geszeitung La Repubblica sagte der Mailander Musiker: »Ich bleibe ein Mann der Linken im Sinne von Sartre und Bertrand Russell.« Musikalität ist eben auch ein anderes Wort für Intel-ligenz. (jwd)

�Es�ist�die�LeidenschaftTeheran 1958, eine Violine zerbricht und das Lieblingsessen schmeckt nicht mehr: Die Comicverfilmung »Huhn mit Pflaumen«. Von Anja Trebbin

Nachts. Die hell erleuchtete In-nenstadt von Paris. Ein Mase-rati fährt zweihundertzehn.

Am Steuer sitzt ein Schwarzer. Neben ihm, auf dem Beifahrersitz, ein Weißer. Mit riskantem Spurwechsel werden die Bullen abgehängt. Der Schwarze steckt sich eine an, nimmt ein paar Züge und klemmt den Glimmstengel dem Weißen zwischen die Lippen. Dann wird der Satz eingeblendet: »Nach einer wahren Begebenheit«.

Das Gespann Olivier Nakache und Eric Toledano (Drehbuch und Regie) war auf die Geschichte von »Ziemlich beste Freunde« durch einen Dokumen-tarfilm aufmerksam geworden. Darin ging es um die unter normalen Umstän-den undenkbare Freundschaft zwischen dem sozial deklassierten Abdel und dem bourgeoisen Philippe di Borgo.

Als erfolgreicher Werbechef des Champagnergiganten Pommery leb-te Philippe di Borgo lange Zeit unbe-schwert und auf großem Fuß, bis er im Jahr 1994 beim Gleitschirmfliegen ab-stürzte. Seitdem sitzt di Borgo im Roll-stuhl. »Wenn Sie diesen Film drehen, muß er witzig ausfallen!« sagte er zu Nakache und Toledano bei deren erstem Besuch. Auf ihre Frage, wie sich Em-pathie über die Klassengrenzen hinweg entfalten konnte, antwortete di Borgo: »Der eine körperlich behindert, der an-dere sozial benachteiligt, ergänzten wir uns ganz unerwartet auf merkwürdige Weise.«

Damit wäre zwar geklärt, weshalb die Story ausgezeichnet funktioniert, jedoch nicht, warum »Ziemlich beste Freunde« beim französischen Kinopublikum wie eine Bombe einschlug. Denn Kumpel-komödien gibt es wie Sand am Meer. »Ziemlich beste Freunde« setzt darauf, daß sich jeder im Publikum mit dem stärkeren der beiden Helden identifi-zieren kann. Für Driss (Omar Sy) sind harte Zeiten angebrochen. Seine Pflege-mutter hat ihn vor die Tür gesetzt, und um Stütze kassieren zu können, muß er Ablehnungen sammeln. Dabei gerät er in die Schar der Bewerber um die Stel-le als Vollzeitpfleger des schwerreichen Philippe, der buchstäblich keinen Finger mehr rühren kann. Driss ist zweifellos nicht auf den Kopf gefallen und auf den Mund schon gar nicht, aber arbeiten? Philippe prophezeit ihm, daß er keine zwei Wochen durchhalten wird. Das kann Driss nicht auf sich sitzen lassen; er nimmt den Job an.

Und er zeigt kein Mitleid. Genau das weiß Philippe zu schätzen, auch wenn Driss manchmal gnadenlos agiert: Driss und Phlippe besuchen eine Galerie. An den Wänden hängt zeitgenössische Kunst, die Preise liegen bei ein paar tausend Euro und aufwärts. Ein Bild – es ist die Darstellung eines roten Kleckses – fesselt Philippe besonders. Er genießt den Anblick minutenlang. Neben ihm steht Driss und schaufelt Schokoladen-kekse in sich hinein. Philippe bittet ihn, auch ihm einen Keks in den Mund zu legen. Driss schüttelt den Kopf und sagt: »Keine Arme, keine Kekse!« und lacht »Das ist schwarzer Humor«.

Andererseits kann sich Philippe, wenn es ihm dreckig geht, darauf ver-lassen, daß Driss sofort zur Stelle ist. Eines späten Abends, alle liegen schon im Bett, plagen Philippe unerträgliche Phantomschmerzen. Über das Babypho-ne hört Driss Philippes Wimmern und Stöhnen. Er geht zu ihm herüber, setzt ihn in seinen Rollstuhl und umwickelt ihn mit einer dicken Wolldecke. Dann schiebt er Philippe durch das nächtliche Paris. Dabei kommen sich die beiden so nahe, daß Driss Philippe an seinem Joint ziehen läßt. »Wenn ich Abdel nicht begegnet wäre«, sagt Philippe di Borgo, der mittlerweile in Marokko lebt, heute, »wäre ich gestorben.« Ronald Kohl

u »Ziemlich beste Freunde«, Regie: Olivier Nakache, Eric Toledano, Frank-reich 2011, 112 min, Kinostart: heute

Kekse�im�MuseumSpurwechsel in der Klassengesellschaft: »Ziemlich beste Freunde«

BERTHOLD SELIGER: GELD VERDIENEN IN DER POPMUSIK

SIDO: »GELD BESTIMMT NICHT MEIN LEBEN«

CROWDFUNDING: GELD SAMMELN FÜR MUSIK

MARK LANEGAN: ERFOLG BEDEUTET NICHT IMMER GELD

DIRK MICHAELIS: MIT COVERSONGS ZUM ERFOLG

LEGENDÄRE ORTE: TRESOR BERLIN

RAMMSTEIN: AUSGEBRANNT. LIVE IN BERLIN

ANDREAS DORAU | TOM LÜNEBURGER | DEICHKIND | DIE TÜREN | DOWN BELOW | FELIX MEYER | DIE STERNE | GOETZ STEEGER | VIERKANTTRETLAGER

KETTCAR | ADRIAN ZAAR | CHARLIE WINSTON | THE BLACK KEYS | CHARLOTTE GAINSBOURG | CRIPPLED BLACK PHOENIX | ZDOB SI ZDUB

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Jun (Ignacio Huang) stammt aus China. Als er seiner Verlobten auf einem romantischen Bötchen

einen Heiratsantrag machen will, fällt eine Kuh vom Himmel. Die zukünf-tige Braut wird erschlagen, und Jun sucht sein Glück fortan bei seinem Onkel in Argentinien. Bei seiner An-kunft wird er erst einmal ausgeraubt und landet in Buenos Aires bei dem Eisenwarenhändler Roberto, gespielt vom argentinischen Filmstar Ricardo Darín. Der nimmt ihn in einer Mi-schung aus Mitleid und Solidarität auf. Aber nur für 14 Tage, das ist sei-ne Bedingung. Penibel führt er eine Strichliste. Dieser notorische Einzel-gänger lebt nach einem genau struktu-rierten Plan. Schlafengehen: 23 Uhr. Schraubenlieferung: Wird nachge-zählt. Der Falkland-Krieg 1982 war für Roberto das einschneidende Er-eignis, er hat ihn mürrisch gemacht.

Das Zusammenleben ist für bei-de eine Herausforderung. Zu Beginn schließt Roberto Jun über Nacht in ei-nen Raum ein. Vertrauen braucht Zeit, doch die ist knapp. Und Jun versteht überhaupt kein Spanisch. Das verein-

facht die Situation nicht. Es beginnt die Odyssee zweier Gestrandeter, der eine ist mittellos und der andere nicht mehr richtig gesellschaftsfähig. Zu-sammen kämpfen sie gegen eine kor-rumpierte Bürokratie. Auf der Suche nach Juns Verwandtem meistern sie viele Gefahren, allerdings ohne den Onkel zu finden.

Ein Pizzabote bekommt eine Schlüs-selrolle. Er spricht Chinesisch und kann Jun und Roberto helfen, einander zu verstehen. Roberto erfährt so end-lich die ganze Geschichte Juns. Wie das mit der Verlobten und allem ande-ren passiert ist. Roberto kommt die Sa-che irgendwie bekannt vor. Er sammelt

kuriose Zeitungsmeldungen in einem Album. Die Meldung von einer Kuh, die aus einem Flugzeug stürzte und dabei ein Fischerboot kentern ließ, hat er ebenfalls aufbewahrt.

Und diese Geschichte ist echt pas-siert. Regisseur Sebastián Borensztein hat über sie in einer argentinischen Tageszeitung gelesen. Er serviert eine Menge rührender Szenen, die man sich allerdings überwiegend auch vorher ausrechnen kann. Einmal scheint Jun seine Familie gefunden zu haben. Ei-ne asiatische Familie entsteigt einem Kleinbus. Schnell ist klar, daß es sich um eine Verwechslung handelt. Asiati-sche Familie wieder rein in den Klein-

bus. Melancholie und Ironie, Momen-te der Enttäuschung treiben den Film voran. Und: Der Einzelgänger Roberto verwandelt sich während der Reise mit Jun in einen besseren Menschen.

Je länger man schaut, desto mehr er-liegt man dem situativen Charme die-ses Films »Chinese zum Mitnehmen«. Man kann sich dem kaum entziehen. In Argentinien war das ein Millionensel-ler. Er wird für den Oscar als bester fremdsprachiger Film gehandelt.

Vincent Streichhahn

u »Chinese zum Mitnehmen«, Regie: Sebastián Borensztein, Argentinien/Spanien 2010, 93 min, Kinostart: heute

junge Welt Donnerstag, 5. Januar 2012, Nr. 4 1 3f e u i l l e t o nRuby�und�RubikonWie Kai »Silvio« Diekmann den Bundespräsidenten macht. Von Wiglaf Droste

Ob Christian Wulff oder jemand anderer dem Amt

des Bundespräsidenten inne-wohnt oder nicht, könnte einem ziemlich gleichgültig sein; der Job als oberster Grüßaugust hat nur noch bei hoffnungslosen Realitätsverweigerern einen gewissen Nimbus. Den Kokon dieses Pfffhh,-egal,-so-wichtig-ist-das-nicht-Gefühls, der ja vor allem ihn selbst schützte, hat Christian Wulff eigenhän-dig zerstört, durch eine Dimen-sion von Dummheit, die ihn tatsächlich zu einer herausra-genden Persönlichkeit macht.

Wulff hat sich mit zwei Telefonaten Kai Diekmann ausgeliefert, dem Chefstrizzi von Bild, einem deutschen Silvio, der sich in Folge als Verteidiger einer Pressefreiheit aufspielen kann, die er so in-strumentell als Freifahrtschein betrachtet und mißbraucht wie die NPD das Grundgesetz.

Wulff lamentierte kreuz-worträtselbildungsgesättigt vom »Rubikon«, der »über-schritten« sei und spielte da-mit Diekmann in die Hände, der silviohaft sofort »Ruby« verstand und die Chance nutzte, sich als Daumen-rauf,-Daumen-runter-Diktator aufzu-spielen.

Daß Diekmann bei den Jungs von den Frankfurt-Münchner Medien, die sich selbst das Attribut »Qualität« anheften, willige Helfer und Vollstrecker fand, sagt nichts über Diekmann, aber alles über Leute, die bei dem Fitti Diek-mann Brownie-Points sammeln gehen. Christian Wulff hat dem Gossenblatt Bild und seinem Chefredakteur Diekmann, der wie ein Silvio nicht nur frisiert ist, Gelegenheit verschafft, sich als Organe der Pressefreiheit auszustellen. Das ist der eigent-liche Skandal und der Haupt-schaden, und diese Jauche muß leider nicht nur Christian Wulff ausbaden.

Sinead�und�BarryDie irische Sängerin Sinead

O’Connor (»Nothing Compares 2 U«) ist offenbar wieder mit ihrem Mann Barry Herridge zusammen, von dem sie sich Ende Dezember nach nur 16 Tagen Ehe getrennt hat-te. »Stellt euch vor, wer letzte Nacht eine verrückte Liebesaf-färe mit dem eigenen Ehemann hatte«, twitterte die 45jährige am Mittwoch. Sie und Herridge hätten sich entschieden, wieder ein Paar zu sein und verheiratet zu bleiben. Herridge ist von Beruf Kindertherapeut und O’Connors vierter Ehemann. Kennengelernt hatten sie sich, nachdem O’Connor im Herbst mit einem öffentlichen Aufruf nach einem Freund gesucht hat-te. (dapd/jW)

Als es die DDR noch gab, kämpften ihre Dissidenten in der BRD mit den 68ern für

Frieden, Freiheit und Basisdemokra-tie, also gegen Kapitalismus. Nach ’89 zerfiel das. Ost und West sprachen ver-schiedene Sprachen. Viele 68er liefen mit Unterwerfungserklärungen zum Kapital über. Umso interessanter ist Thomas Brasch. In der DDR war er für Sympathiebekundungen mit dem »Prager Frühling« in den Knast ge-kommen, dafür hatte sein Vater als stellvertretender Kulturminister ge-sorgt; 1976 ging Thomas Brasch in den Westen, und ließ sich auch da nicht kaufen. Nie hat man von ihm ein Wort gehört, das im Sinne der Apologeten des Kapitalismus verwendbar wäre. Es ging ihm um das Suchen, die Angst und die Wut, seine Sprachkraft war einmalig.

Nach ’89 wohnte er lange direkt am Berliner Ensemble, wo er seit seinem zehnten Todestag am 3. November ausführlich gewürdigt wird, mit diver-sen Aufführungen und einer Ausstel-lung samt aufwendigem Katalog. Für das Stück »Vor den Vätern sterben die Söhne« hat Regisseur Manfred Kar-ge den gleichnamigen Prosaband um Stück- und Gedichtauszüge ergänzt.

Den Titel dieser Collage sollte man nicht zu sehr auf Brasch beziehen, auch wenn in ihm etwas gestorben sein muß, als ihn sein Vater zum Staats-feind erklärte. Vorher wie nachher war Thomas Braschs Anliegen vor allem, die Welt verstehbar zu machen, dazu »die Angst und die Wut öffentlich«. Zu sperrig für den west-deutschen Buchmarkt, paßte er sich nicht an. An seiner Absicht, der größ-te deutsche Dichter nach Brecht zu werden, hielt er fest. Daß eine ganze Vätergeneration dagegen stand, hat ihn nicht klein-gekriegt, doch früh ster-ben lassen, eingemauert in Tausenden »undruck-baren« Seiten.

In dem Stück von Karge wird Braschs lyrisches Ich von drei jun-gen Leuten verkörpert, die an Gittern lehnen, während ein älterer Mann an einem Tisch vorliest. Brief vom Vater an den Sohn in der Kadettenanstalt: Er könne sich durch eine militärische Er-ziehung sehr wohl auf den Beruf eines Schriftstellers vorbereiten, da lerne er Gemeinschaftsgeist. Auf einer Lein-wand darüber ein Foto von Thomas

Brasch als Kind in einem übergroßen Uniformmantel. Das dreigeteilte Ich erklärt synchron: »Ich kann nicht aus meiner Haut, ich kann nicht in Deine Haut, gebt mir eine neue Haut.« Und später: »Ein kalter Stern, mit dem wir um die Sonne fliegen!« Die drei spie-len kaum, sie stehen nur da und blik-

ken das Publikum ankla-gend, wütend und trotzig an. Sie klammern sich an die Gitter, nie aneinan-der, stehen jeder für sich allein, sprechen dann Freunde, Bekannte, auch ehemalige: »Jetzt soll er sehen, wohin er fällt, von dem haben wir uns getrennt, das ist einer, der in die Kissen flennt, einer, der sich selbst aus-

brennt.« Der innere Monolog dazu: »Wo ich lebe, da will ich nicht sterben, wo ich sterbe, da will ich nicht hin, bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.«

Später Szenen in einer Fabrik. Die Figuren zeigen, wie ein Werkstück im Akkord gemacht wird, oben ist Chaplin am Fließband zu sehen: »Im Schlaf kämpfen die Arme noch mit Eisen! – Ich war wie mittendurchge-

brochen. Die Fabrik hört nie auf, wo immer auch ihr Ausgang ist.« Braschs Worte senken sich »wie Steine auf den Boden« jedermanns Seele, man merkt sie sich, sie hallen in einem wider, zum Beispiel: » In euren Akten werdet ihr alle ertrinken.«

Handlung ist in dem assoziativen Stück nicht erkennbar. Einer liest in einem Wohnzimmer etwas vor, jün-gere stehen an Eisengittern. Es sind Traumfetzen, Erinnerungen an Wut und Verzweiflung, oft gereimt: »Nacht oder Tag oder jetzt / will ich bei dir liegen / vom schlimmsten Frieden gehetzt, zwischen zwei Kriegen / Ich oder wir oder du, denken ohne Gedan-ken / schließ deine Augen zu, siehst du die Städte schwanken / Traum oder Tod oder Schlaf, komm in den Stein-garten / Wo ich Dich nie traf, will ich jetzt auf Dich warten.«

Insa Wilke hat in ihrer Brasch-Dis-sertation geschrieben, er wolle mit sei-ner Kunst in die »allereigenste Enge«. Er selbst hat einmal festgestellt: »Wer schreibt, der treibt, so oder so«. Das macht Karges sparsame Bearbeitung sichtbar. Ihr sollen weitere folgen.

u Nächste Vorstellungen: 13. und 26.1., 19.30 Uhr

Wie alles anfing: Eine Kuh zum Mitnehmen

Wo�ist�der�Onkel?Fällt eine Kuh vom Himmel … Der argentinische Kassenschlager »Chinese zum Mitnehmen«

Die�Fabrik�hört�nie�aufThomas Braschs »Vor den Vätern sterben die Söhne« am Berliner Ensemble. Von Anja Röhl

»Wo ich lebe, da will ich nicht sterben, wo ich sterbe, da will ich nicht hin, bleiben will

ich, wo ich nie gewesen bin.«

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Donnerstag, 5. Januar 2012, Nr. 4 junge Welt 1 4 r a t & t a t

ferNseheN

NachschlaG Interview | Mi., 7.45, RBB Inforadio

VorschlaG

NeonaziopferDie frühere Berliner Ausländerbeauf-tragte Barbara John hat ihre Arbeit als Ombudsfrau für die Angehörigen der Opfer der neofaschistischen Terror-gruppe aufgenommen. Sie habe bereits erste Gespräche mit Angehörigen ge-führt, es handele sich um etwa 60 Per-sonen. Sie betreibe nicht Symbolpoli-tik, sondern konkrete Zusammenarbeit in konkreten Fragen wie zum Beispiel Renten. John: »Die Angehörigen sind jahrelang alleingelassen worden, und es ist über ihre Köpfe entschieden wor-den.« Sie ergänzt, daß die Hinterblie-benen selbst verdächtigt, also systema-tisch schikaniert wurden. Die Frage, ob sie auch für die Hinterbliebenen der insgesamt etwa 180 Mordopfer von neonazistischer Gewalt seit 1990 tätig werde, verneint sie. Das größte braune Faß will dieser Staat nicht aufmachen. (asc)

VeraNstaltuNGeN

u Die Adresse für Termine: [email protected]

Drei-Generationen-WG: »Schloßgeschichten«

SchloßgeschichtenDie Drei-Generationen-WG im Fuggerschloß

Im Hotel oder im Schloß – hat Hei-ner Müller das mal gesagt? Wohnen ist jedenfalls ein Problem. Die zugewie-senen Höhlen des Bürgertums können es ja nicht sein. Also ein Schloß, drei Generationen, zehn Familien und eine Vision: Das alte Gemäuer retten und hier den Lebenstraum vom generatio-nenübergreifenden Zusammenleben verwirklichen. Das alte Fuggerschloss Blumenthal liegt zwischen Aichach und der Wallfahrtskirche Maria Birnbaum nordöstlich von Augsburg. Der Holz-bildhauer Siggi Zecherle hatte in einem der maroden Gebäude seine Werkstatt. Dann hatte Siggi eine Idee: Menschen zusammentrommeln, die mit ihm die alte Anlage kaufen und neu beleben wollten. Zehn Familien haben sich zu diesem Dreigenerationen-Projekt zu-sammengefunden und das Schloß 2006

von den Fuggern gekauft. Noch besser wäre natürlich gewesen: Sie hätten es den Fuggern einfach weggenommen.u Bayern, 19.00

Auf der JagdNun zweimal gediegene Unterhaltung, auszuwählen je nach Gusto: Dem Ex-CIA-Mitarbeiter Mark Sheridan wird der Mord an zwei US-Agenten ange-lastet. Doch er ist unschuldig. Bei der Verlegung in das Untersuchungsge-fängnis kann er fliehen. U.S. Marshal Sam Gerard (Tommy Lee Jones) nimmt die Verfolgung auf. u Vox, 20.15

Die FirmaDer Traumjob bei einer hochkarätigen Anwaltskanzlei wird für den jungen Anwalt Mitch McDeere (Tom Cruise) zum Albtraum: Er erfährt, daß seine Kanzlei für die Mafia arbeitet. Bald schon tritt das FBI an ihn heran: Er soll belastendes Material gegen die Kanz-lei besorgen. Mit Gene Hackman. Re-gie: Sydney Pollack. u Arte, 20.15

Garten der Lüste

Zum Schluß ein Carlo-Saura-Klassi-ker: Der reiche Fabrikbesitzer Antonio hat vor Jahren bei einem Autounfall das Gedächtnis verloren. Seine Fami-lie bemüht sich, sein Erinnerungsver-mögen wieder zu wecken. So werden im Garten des großen Landguts der Familie Szenen aus Antonios Kindheit und Jugend mit verteilten Rollen und passenden »Kostümen« nachgespielt. Die Bemühungen seines Vaters Don Pedro, seiner Ehefrau, der beiden er-wachsenen Kinder sowie einer Exge-liebten zeigen zunächst Erfolg, denn Antonio fängt wieder an zu sprechen. Don Pedro schleppt den Genesenden auf eine Aufsichtsratssitzung – die ein-zige Chance, um das Firmenimperium für die Familie zu retten. Doch diesem Druck ist Antonio nicht gewachsen. Je mehr er äußerlich wieder »der Alte« zu werden scheint, desto mehr kom-men ihm Zweifel an der Richtigkeit seines Lebens, die sich in grotesken Halluzinationen äußern. Franco-Krüp-pel-Bürgertum halt. u 3sat, 22.25

CFM-Streik für Tarifvertrag und Solidarität. Karin Mack vom CFM-Solikomitee wird die Ergebnisse dieser Kämpfe mit uns disku-tieren und die Rolle von Gewerkschaften und politischen Akteuren einschätzen. Der Kampf wird weitergehen. Wir wollen auch darüber sprechen, was wir daraus für zukünftige Tarifkämpfe und Streikbewegun-gen lernen können. Roter Stammtisch der DKP Friedrichshain-Kreuzberg heute, 5.1., 19.30 Uhr, Café Commune, Reichenberger Str. 157, Berlin Kreuzberg

Solidaritätsmenü für Kuba und die junge Welt. Die Einnahmen werden aufgeteilt und gespendet. Freitag, 6.1., 18 Uhr, Stadtteilla-den Komm e.V., Eckhaus Mittlere Kanalstr. / Untere Seitenstr. direkt am Jamnitzerplatz, Nürnberg. Organisiert vom CDR#1 in Nürnberg

»ANTIFA UNITED« – Soliparty. Antifa Uni-ted! ist ein Zusammenschluß von antifa-schistischen Gruppen und unabhängigen Antifaschist_innen, die in Potsdam nicht länger schweigend zusehen wollen, wenn Neonazis ihre Propaganda verbreiten und Menschen bedrohen, verfolgen und verprügeln. Samstag, 7.1., im Spartacus, Friedrich-Engels-Str., Potsdam. Ab 20 Uhr Infoveranstaltung zu Neonazis in Potsdam und Umland und Chronik-Release, danach Konzert mit Rampue (live house), anschlie-ßend Party mit Usche Kuszlovski (Trash) und »Wünsch-dir-Was« mit dem Jukebox DJ-Team. Veranstaltet von APAP& ak antifa

Wirtschaftssanktionen: Friedliches Druck-mittel oder Verstoß gegen Völker- und Menschenrecht? Referent: Elias Davidsson. Vortrags- und Diskussionsveranstaltung am Samstag, 7.1., 16 Uhr, Freidenker-Zentrum, Bayenstraße 11, Köln. Veranstalter: Freiden-ker NRW

Herausgeberin: Linke Presse Verlags- Förderungs- und Beteiligungsgenossenschaft junge Welt e. G. (Infos unter www.jungewelt.de/lpg). Die überregionale Tageszeitung junge Welt erscheint in der Verlag 8. Mai GmbH. Adresse von Genossenschaft, Verlag und Redaktion: Torstraße 6, 10119 Berlin. Geschäftsführung: Dietmar Koschmieder. Chefredaktion: Arnold Schölzel (V. i. S. d. P.), Rüdiger Göbel (stellv.). Redaktion (Ressortleitung, Durchwahl): Innenpolitik: Jörn Boewe (-27); Wirtschaft: Klaus Fi-scher (-20); Außenpolitik: André Scheer (-70); Interview/Reportage: Peter Wolter (-35); Feuilleton und Sport: Christof Meueler (-12); Thema: Stefan Huth (-65); Bildredaktion: Sabine Koschmieder-Peters (-40); Layout: (-45); Internet: Peter Steiniger (-32); Verlagsleiter: Andreas Hüllinghorst (-49); Marketing/Kommunikation: Katja Klüßendorf, Nora Krause (-10); Aktionsbüro: Carsten Töpfer (-10); Archiv: Stefan Nitzsche (-37); Schreibbüro/Sekretariat: Eveline Pfeil (-0); Aufnahme: (-88); Herstellungsleitung: Roland Dörre (-45); Anzeigen: Silke Schubert (-38); Leserpost: (-0); Vertrieb/Aboservice: Jonas Pohle (-82). Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Fotos übernimmt die Redak-tion keine Verantwortung. Abon ne ments, Adreßänderungen und Reklamationen: Verlag 8. Mai GmbH, Torstraße 6, 10119 Berlin, Tel.: 030/53 63 55-81/82, Fax: -48. E-Mail: [email protected]

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Durchschaubare Manöveru Zu jW vom 29. Dezember: »Vorzeitig Ruhe-stand, weniger Geld«Welche Sauerei denkt sich diese Regierung des alleinherrschenden Finanzkapitals noch aus, um die Arbeiter, Angestellten und andere Werktätige um ihren jahrzehntelang verdienten Ruhestand zu schröpfen? Für die Rettung von maroden Ban-ken ist keine Million zu teuer, aber für die Men-schen, die Jahr für Jahr das Bruttosozialprodukt erarbeiten, ist angeblich nichts da. Lüge, Lüge und abermals Lüge! Sie trinken heimlich Wein und predigen öffentlich Wasser, so war es schon zu Heinrich Heines Zeiten vor 150 Jahren. Doch die Manöver werden immer durchschaubarer. Nichts wird ewig sein, davor sollten diese Herren und Damen zittern, damit nicht der faule Bauch verschlingt, was fleißige Hände erwarben.

M. Friedrich, E-Mail

An die Basis begebenu Zu jW vom 27. Dezember: »Lafontaine zurück in die Bundespolitik«Die Linke kann nicht existieren – so scheint es – ohne Personaldebatten zu führen. Ob die wieder-holten Warnungen von Sarah Wagenknecht ernst genommen werden? Einige Funktions- und Man-datsträger können es nicht lassen. Diese Häupt-linge haben bestimmt noch freie Kapazitäten. Sie tun so, als ob hinter ihnen Tausende Indianer kämpfen und auf die klugen Sprüche warten, die sie dann in sektenähnlichen Gruppen diskutie-ren. Der Anhang wird dabei immer kleiner, was die Häuptlinge nicht bemerken. Anstatt Personal-fragen zu diskutieren, sollten sich die Häuptlinge an die Basis begeben und helfen – z.B. bei der Umsetzung des Programms, beim Studium der Arbeitsbedingen im Einzelhandel, in Kranken-häusern usw., um dort Veränderungen von den Arbeitgebern zu fordern. Sprechstunden und ein

Arbeitsstil, der in bürgerlichen Parteien üblich ist, reichen nicht aus. Das verlorene Ansehen im öffentlichen Raum muß wieder neu erobert wer-den, ohne selbstzerstörerische Debatten.

Erhard Reddig, E-Mail

Skandal ist normalu Zu jW vom 3. Januar: »Der Adabei telefo-niert« Wenn man einmal darüber nachdenkt, was in die-sem Gesellschaftssystem als normal bezeichnet werden kann, so sind dies Bestechung, Nötigung, Intrige – oder anders formuliert: Der Skandal ist normal, denn das imperialistische System selbst klassifiziert sich so. Und was hatte denn diese BRD, deren Gründung schon an sich ein einziger Skandal bedeutet, für Staatsoberhäupter? Sieht man mal von Gustav Heinemann ab, der so gar nicht in die traditionellen Entgleisungen paßt, sind da erstens Heuss, der dem Terrorermächti-gungsgesetz im März 33 unter Hitler als Reichs-tagsabgeordneter zustimmte – jener, der der Bun-deswehr sagte: »Nu siegt mal schön.«… – Lübke, der KZ-Baumeister, dessen Äußerungen im Aus-land, die ganze Peinlichkeit der BRD repräsen-tierte. Und von Weizsäcker im Vorstand von Böhringer und Mitinhaber, jenes Konzerns, der Dioxin herstellt, das als Grundlage für das von den USA in Vietnam eingesetzte Agent Orange diente. Ich denke, mit dem Amte des Bundes-präsidenten brauchte man ein Alibi, was meist auch noch danebenging. (…) Sollte nicht in das

inzwischen wohl x-mal geänderte Grundgesetz in aller Deutlichkeit hineingeschrieben werden: »Die Säulen des Systems, die in ihrer Einheit von Bank-, Industrie- und Medienmonopolkapi-tal den Staat als Mittel zum Zwecke der unab-lässigen Profit- und Machtmaximierung totalitär gebrauchen, sind unantastbar. Ihnen unterstehen das Parlament sowie der gesamte Rechtsgewalt-apparat.« Das ist die Quintessenz, die Anatomie dieser Gesellschaft, von der bereits Karl Marx in seiner Schrift »Zur Kritik der politischen Öko-nomie« formuliert: »In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unab-hängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnis-se, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und po-litischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entspre-chen.« (MEW Bd. 13, S. 8) E. Rasmus, Berlin

Politisch gewolltu Zu jW vom 31.Dezember./1. Januar: »Neonazi-morde: Ermittler im Winterschlaf«Das ganze Gerede über die Neonazimorde lenkt doch, wie politisch gewollt, nur von der eigentli-chen Wahrheit ab. Warum wohl verstricken sich Geheimdienste und Verfassungsschutz so sehr in die rechte Szene, daß selbst das Gericht einem

Verbot, aus Gründen von Nicht-Unterscheidbar-keit, eine Absage erteilt? Ganz einfach, es gibt keinen Unterschied! Seit Jahren bauen der Ge-heimdienst und die anderen staatlichen Entschei-dungsträger ganz bewußt eine nationalistische Szenerie auf, einfach aus dem Grunde, die von Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit geprägte Jugend zu kontrollieren. Die Wut und der Zorn über die persönlichen Situationen, der Generation der Verlierer der kapitalistischen Ausbeutungsver-schärfung, im Interesse steigender Profite, soll in die gewünschte Richtung gelenkt werden und sich gegen die Schwachen und sozial Ausgegrenzten in der Gesellschaft richten, sich auf keinen Fall in Richtung der Verursacher dieser Krise. Nicht die Banken und die Profitgier weniger sollen an-gegriffen und erkannt werden, sondern halt Aus-länder und Andersdenkende. Da kommt es doch geradezu recht, das die Linken auch noch das erklärte Feindbild der Rechtsextremen sind und nicht die herrschende Klasse. Man braucht dazu schließlich die richtig geschulten Leute, in den entscheidenden Positionen in NPD und anderen rechten Vereinigungen, um auch immer sicher die Möglichkeit zu haben, die Mitglieder in die richtige Richtung denken zu lassen. Es ist doch viel besser diese Jugendlichen mit all ihren Orien-tierungs- und Wertefragen, der Angst vorm sozi-alen Abgrund richten ihren Zorn lieber gegen die anderen Kleinen aus ihrem unmittelberen Umfeld als gegen die Banken und ihre politischen Helfers-helfer. (…) Torsten Bork, E-Mail

Trostu Zu jW vom 29. Dezember: »Glaube ist immer fundamentalistisch«Vielen Dank für das hochinteressante Interview mit Andres Kilian. In den Zeiten der immer stärker drängenden Missionierung und Neu-christianisierung Thüringens ist die Publizierung solcher wissenschaftlichen Ergebnisse Trost für die letzten Agnostiker. ! (…) Chr. Kober, E-Mail

leserbriefe »Nichts wird ewig sein, davor sollten diese Herren und Damen zittern, damit nicht der faule Bauch verschlingt, was

fleißige Hände erwarben.«

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Das Wissen der anderenViele Tiere stoßen bei Gefahren Alarmrufe aus. Schimpansen berücksichtigen dabei auch den Wissensstand anwesender Gruppenmitglieder. Das haben Forscher vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie und von der Uni-versity of St. Andrews in Groß-britannien herausgefunden. Im Budongo Wald in Uganda konfrontierten sie frei lebende Schimpansen mit Attrappen von Giftschlangen, zwei Gabunvi-pern und einer Nashornviper. Diese gut getarnten Schlangen liegen oft wochenlang am sel-ben Fleck. Es lohnt sich also, nach der Entdeckung Grup-penmitglieder zu warnen. 33 Schimpansen wurden beobach-tet, nachdem sie eine Attrappe gesehen hatten. Es zeigte sich, daß Alarmrufe häufiger dann ausgestoßen wurden, wenn der Rufer sich in der Gesellschaft von Gruppenmitgliedern be-fand, die die Schlange entweder selbst noch nicht gesehen oder frühere Warnrufe nicht gehört haben konnten. Schimpansen verstehen also offenbar, daß sie etwas wissen, was ihr Gegen-über nicht weiß, und daß sie ihn informieren können, indem sie eine ganz bestimmte Lautäu-ßerung von sich geben. Wann diese Fähigkeit in der Evolution der Affenartigen (Hominoiden) oder Menschenartigen (Homi-niden) erworben wurde, ist un-klar. Wahrscheinlich vor sechs Millionen Jahren, besagen die neuen Ergebnisse. (ots/jW)

Spürnase SingvogelSingvögel können Verwandte am Geruch erkennen. Das fan-den Verhaltensforscher der Uni Bielefeld bei Experimenten mit Zebrafinken heraus, wie die Uni am Mittwoch mitteilte. Im Herbst hatten die Wissen-schaftler bereits grundsätzlich nachgewiesen, daß Singvögel einen Geruchssinn haben. Da-mit widerlegten sie die gängige Lehrmeinung, die »Nasenlö-cher« im Schnabel hätten keine besondere Funktion. Ihre neuen Erkenntnisse sind in der Online-ausgabe der Zeitschrift Biology Letters nachzulesen. (AFP/jW)

Zum drittenMuseumsforscher aus Braunschweig haben zum dritten Mal innerhalb von zwei Jahren einen neuen Saurier ent-deckt. Das gab der Direktor des Staatlichen Naturhistorischen Museums, Ulrich Joger, am Mittwoch bekannt. Identifiziert wurde die neue Gattung und Art anhand eines Fischsauriers (Ich-thyosaurier), der im Jahr 2005 in Cremlingen im Landkreis Wolfenbüttel ausgegraben wor-den war. Der Name der neuen Art lautet Acamptonectes den-sus, zu deutsch starrer Schwim-mer. Ichthyosaurier sind Repti-lien aus dem Erdmittelalter, die dem Leben im Meer angepaßt waren. Ihre Gliedmaßen waren in Paddel umgestaltet und ihre Körperform ähnelte der eines heutigen Delfins. (dapd/jW)

junge Welt Donnerstag, 5. Januar 2012, Nr. 4 1 5w i s s e n s c h a f t & u m w e l t

Volksschädling BleiesserGeburt der Arbeitsmedizin aus dem Geist des Faschismus: Zwei Biographien über beispielhafte Lichtgestalten der BRD. Von Rafik Will

Auf der ganzen Welt sterben seit einigen Jahren massenhaft Bienen. Die Ursachen sind ungeklärt. Es gibt mehrere. Eine wurde nun möglicherweise in den USA ermittelt: die parastiäre Fliegenart Apo-cephalus borealis. Auf dem Foto legt ein Weibchen ihre Eier in den Hinterleib einer Honigbienenarbeiterin. Die Larven entwickeln sich sieben Tage lang in der lebenden Biene und töten diese dann kurz vor dem Schlüpfen. Betroffene Ho-nigsammler verlassen ihren Stock und versammeln sich an einer Lichtquelle. »Wir haben beobachtet, daß sich die infizierten Bienen im Kreis drehen, oh-ne jeden Orientierungssinn«, erklärte am Dienstag Andrew Core, Biologe von der Universität San Francisco. »Sie ver-halten sich wie Zombies.« Ihre Beine

würden unablässig zappeln, sie könnten sich nicht halten und fielen um. Bisher seien mit den Larven der Fliegen befalle-ne Bienenvölker nur in den US-Bundes-staaten Kalifornien und South-Dakota entdeckt worden, schreiben Core und sein Hochschulkollege John Hafernik im Online-Fachmagazin PLoS ONE. In den befallenen Stöcken fanden die Biologen besonders häufig Bienen, die mit mit dem Pilz Nosema ceranae und einem Virus befallen waren, der die Flügel der Tiere verformt. Virus und Pilz gelten schon länger als mögliche Ursache für das Bie-nensterben. Core und Hafernik wollen nun untersuchen, wie die Larven der Apocephalus-borealis-Fliege die Honig-bienen genau zu Zombies werden lassen. (AFP/jW)

Schutz der Arbeiter vor Berufs-schädigungen, Kampf um deren gesetzliche Anerkennung … –

man sollte meinen, die Aufgaben der Arbeitsmedizin lägen auf der Hand. In der BRD verstehen sich ihre Ent-scheidungsträger dagegen seit jeher als Kampfpartner der Unternehmer. Das resultiert aus der Entwicklung des Fachs in den Jahren 1933 bis ’45, wie Biographien zweier »Lichtgestalten« zeigen, die 2011 im VSA-Verlag er-schienen sind. Die Biographin Gine Elsner war bis 2009 Direktorin des In-stituts für Arbeitsmedizin in Frankfurt am Main.

Im älteren Buch aus dem Frühjahr geht es um den Gewerbehygieniker und Gerichtsmediziner Ernst Wilhelm Baader (1892–1962). Ihm zu Ehren eröffnete die Bundesanstalt für Ar-beitsschutz und Arbeitsmedizin im Jahr 2000 in den Berliner Räumen der Deutschen Gesellschaft für Ar-beits- und Umweltmedizin feierlich ein »Baader-Jahr«. Schirmherr war der damalige Bürgermeister Eberhard Diepgen. 75 Jahre zuvor war im Kai-serin-Auguste-Viktoria-Krankenhaus unter Baaders Leitung eine Station für Gewerbekrankheiten eingerichtet worden. Elsner wies zu diesem Jubi-läum auf Baaders Nazivergangenheit hin und wurde dafür angefeindet, auch von Kollegen.

Ihr Buch »Schattenseiten einer Arzt-karriere« belegt nun, was so genau nicht bekannt werden sollte: Baader profi-tierte ganz entscheidend von den Nazis. Deren »Säuberung« der medizinischen Fakultät der Universität Berlin fielen 135 von 331 Hochschullehrern zum Op-fer, in den Krankenhäusern der Stadttei-le Moabit und Neukölln waren danach die meisten Ärztestellen nicht besetzt (56 und 67 Prozent). Auch die 20 Stadt-ärzte der Berliner Bezirke, denen sich die soziale Frage in den fabriknahen Arbeiterquartieren besonders dringlich stellte, waren fast ausnahmslos in KPD, SPD oder dem Verein Sozialistischer Ärzte aktiv und jüdischer Herkunft; mußten also emigrieren, wurden depor-tiert oder ermordet.

Der Widerspruch zwischen Kapi-tal und Arbeit sollte hinter dem Kon-strukt einer ethnisch und ideologisch homogenen »Volksgemeinschaft« verschwinden. Dieses Bestreben in-stitutionalisierte sich auch in der Deutschen Arbeitsfront (DAF), dem

Zwangsbündnis zwischen Arbeitern und Unternehmern (Gewerkschaften waren verboten). Der DAF waren auch die arbeitsmedizinischen Institutio-nen unterstellt. Arbeitsmedizin wurde Leistungsmedizin. Zur Maximierung der Produktivität führten Betriebsärzte an Arbeitsplätzen Menschenversuche durch.

Baader beantragte im Mai ’33 die Mitgliedschaft in der NSDAP. Als An-gehörigem des »NS-Dozentenbunds« und des »Nationalsozialistischen Ärztebunds« – zudem beratendem In-ternisten der HJ Berlin – stand ihm wegen des gravierenden Ärzteman-gels die Wahl einer hohen Stelle frei. Er entschied sich für das Städtische Krankenhaus Berlin Neukölln, wurde ärztlicher Direktor der Ersten Inneren Abteilung. Seine hiesige Station für Gewerbekrankheiten wurde im März ’34 zum Universitätsinstitut; Baader selbst, seit 1930 Dozent, zum Extraor-dinarius. Drei von vier Fachpublikatio-nen des Instititus kamen unter Baaders Kontrolle heraus, darunter das Periodi-kum Archiv für Gewerbepathologie, das 1930 von der Koryphäe Ludwig Teleky (1872–1957) mitgegründet wor-den war, dem Leiter der Düsseldorfer sozialhygienischen Akademie und er-sten preußische Landesgewerbearzt, der 1934 als Jude und Sozialist emi-grieren mußte.

Mit wissenschaftlichen Leistungen ist Baader jedenfalls nicht aufgefallen. Er übte lediglich eine Gutachtertätig-keit aus, ordnete ihm zugesandte Fälle (v.a. Bleivergiftungen) nach überlie-ferten Schemata den anerkannten Be-rufskrankheiten zu – oder auch nicht. Vehement sprach er sich gegen das »Vergabeunwesen« in der »marxisti-schen Ära« der Weimarer Republik aus, entlarvte »Simulanten« und an-geblich mutwillig herbeigeführte Be-rufskrankheiten (»Bleiesser«). Die Entschädigungspraxis der Berufsge-nossenschaften wurde in dieser Zeit restriktiver. 1932 bewilligten sie nach eigenen Angaben 26 Prozent der An-träge, 1934 nur noch 13 Prozent (bei 6 671 bzw. 8 601 Fällen). Baader half nach Kräften, »Volksschädlinge« oder »Versicherungsbetrüger« zu enttarnen. Über diese – mit dem Hippokratischen Eid unvereinbare – Tätigkeit hinaus beriet er die Wehrmacht als Gerichts-mediziner. Daß er bei standrechtlichen Urteilen Soldaten schützte, die sich

selbst verletzt hatten, um wegzukom-men, ist nicht anzunehmen.

Nach dem Krieg, in dem Baader auch als Soldat und Oberfeldarzt ge-kämpft hatte, entging er in Hamm der ortsgebundenen Entnazifizierung. Be-ruflich konnte er nicht mehr Fuß fas-sen, aber mit seinem mehrbändigen »Handbuch der gesamten Arbeitsme-dizin« (1961/62) noch über den Tod hinaus Ruhm in der medizinischen Welt erlangen. Elsner beschreibt die-sen Lebensweg anhand von Quellen, die sie minutiös nachweist. In Exkur-sen deutet sie die Bedinungen seines Aufstiegs an, Beispiel: Als Baader im Krankenhaus Neukölln eintraf, war de-ren Säuglingsfürsorgestelle verwaist. Der Leiter war im April 1933 erstmals in Schutzhaft genommen worden, we-gen seiner Arbeit für die KPD. Georg Benjamin, Bruder von Walter Benja-min und Mann der späteren DDR-Ju-stizministerin Hilde Benjamin, wurde 1942 im KZ Mauthausen ermordet.

Im Herbst ließ Elsner bei VSA ein Buch über den wohl einflußreichsten Arbeitsmediziners der BRD folgen. »Konstitution und Krankheit – Der Arbeitsmediziner Helmut Valentin (1919–2008) und die Erlanger Schu-le«. Valentin mied den Begriff Ras-se und war nicht in der NSDAP, be-teiligte sich in seinem Studium aber gleichwohl am »Westfeldzug«. Seine Doktorarbeit vom Januar ’44 beschäf-tigt sich mit den Unterschieden zwi-schen »Ostarbeitern« und »Volksdeut-schen« beim Ruhrkohleabbau. Die höhere Sterblichkeit der sowjetischen Zwangsarbeiter – v. a. ihre Anfällig-keit für Tuberkulose – erklärte er mit deren genetischer, herkunftsbedingter »Konstitution«; Unterernährung und mörderische Arbeitsbedingungen ließ Valentin außen vor.

Als die »Rassenkunde« nicht mehr Grundlage aller »Wissenschaft« war, behielt Valentin den Begriff der Konsti-tution bei, als persönliche, d. h. durch Veranlagung und Lebensführung be-dingte Ursache von Erkrankungen. Als Experte vertrat er in der Öffentlich-keit die Interessen der Asbestindustrie. Seit1972 saß er dem »Beraterkreis der Asbestindustrie« vor, angeworben hatte ihn Eberhard von Brauchitsch. Wegen massiver Lobbyarbeit konnte der gefährliche Baustoff erst 1994 ver-boten werden. Valentin arbeitete auch für andere Industrien, darunter die Zi-

garettenmonopolisten der USA.1970 holte die sozialliberale Koali-

tion die Arbeitsmedizin aus ihrem Ni-schendasein, ließ sie für Ärzte wieder prüfungsrelevant werden, und Valentin nutzte die Gunst der Sunde. Als ein-ziger ordentlicher Lehrstuhlinhaber (Erlangen) konnte er eine ganze Gene-ration unterrichtender Arbeitsmedizi-ner ausbilden (Erlanger Schule). Zehn Lehrstuhlinhaber hat er habilitiert, sechs davon haben ihre Lehrstühle bis heute, dazu kommen zwei Lehrbeauf-tragte in Mannheim und Freiburg.

Valentin verhinderte nicht nur die Anerkennung asbestbedingter Erkran-kungen. Er führte zum Beispiel Queck-silbervergiftungen in der Chemischen Fabrik Marktredwitz (CFM) auf Alko-hol- und Tablettenmißbrauch zurück, obwohl die Symptome einer Quecksil-bervergiftung sogar im Handbuch des von ihm geschätzten Baader eindeutig aufgeführt sind: Tremor wegen mas-siver Schädigung des Zentralnerven-systems etc. Dem langjährigen CFM-Betriebsratsvorsitzenden Klaus Kunz etwa sprach Valentin trotz schwerster Symptome zweimal jede Entschädi-gung ab. Auf dieser Linie lag auch sein Vorschlag zur Entsorgung der Queck-silberabfälle: Man solle sie einfach in freier Natur verdampfen lassen.

»Konstitution und Krankheit« ent-hält weniger Exkurse als Elsners Buch über Baader. Zu erwähnen wäre etwa Heiner Geißlers exemplarische Sicht auf die Arbeitsmedizin, vorgetragen im September 1986 auf einem gesund-heitspolitischen Kongreß der CDU, die der Erlanger Schule seit jeher na-hestand: »Mehr Bewegung, weniger Pillen«, lautete Geißlers sportsmänni-sches Motto zur Selbstverantwortung des Ausgebeuteten.

Die Ursprünge des falschen Selbst-verständnisses der bundesdeutschen Arbeitsmedizin sind wohl nie so genau erörtert worden wie in Elsners Biogra-phien. Wer sich hierzulande zum Me-diziner ausbilden läßt, sollte an diesen Büchern nicht vorbeikommen.

u Gine Elsner: Schattenseiten einer Arztkarriere – Ernst Wilhelm Baader (1892–1962), 160 S., 12,80 Euro und Konstitution und Krankheit – Der Arbeitsmediziner Helmut Valentin (1919–2008) und die Erlanger Schule, 158 S., 13,80, beide VSA-Verlag, Ham-burg 2011

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Donnerstag, 5. Januar 2012, Nr. 4 junge Welt 1 6 s p o r tskispriNGeN

»Cool bin ich nicht«

innSBrucK. Weltcup-Spitzenreiter Andreas Kofler (Foto) hat das dritte Springen der 60. Vier-schanzentournee in Innsbruck gewonnen. Zweiter wurde Landsmann Gregor Schlierenz-auer, der beide vorigen Sprin-gen gewonnen hatte. Alle vier Springen hat bisher nur Sven Hannawald gewinnen können. Vor zehn Jahren war das. Am Mittwoch meinte Hannawald vor dem zweiten Durchgang am Bergisel, Schlierenzauer sei »auf jeden Fall in der Lage, meinen Rekord einzustellen. Cool bin ich nicht«, ergänzte aber: »Um mich muß sich kei-ner Sorgen machen, ich werde mich sicher nicht von einer Brücke stürzen.«� �(sid/jW)

fussball

Borussia bleibendortmund. Der Vfl Borussia Mönchengladbach hat seinen überragenden Mann an den Meister Borussia Dortmund verloren. Marco Reus wechselt im Sommer für die festgeschrie-bene Ablöse von 17,5 Millionen Euro nach Dortmund. Eltern und Freundin des 22jährigen wohnen bereits dort. »Mir ist es ganz wichtig, klarzustellen, daß dies keine Entscheidung gegen Gladbach ist«, sagte der Na-tionalspieler, der die Entschei-dung nach eigenen Angaben im Weihnachtsurlaub in Dubai getroffen hat. Beim BVB soll er mindestens eine Saison lang mit Mario Götze spielen. »Wir sind uns mit Mario einig, daß er auch in der nächsten Saison in Dortmund spielt«, wurde Sportdirektor Michael Zorc bei Bild.de zitiert. (sid/jW)

Die Kleinaktionäre vom MillerntorHAmBurg. Zweite Tage nach dem Emissionsstart der »St. Pauli Anleihe« hat der Zweitligist insgesamt acht Millionen Euro akquiriert, wie er am Mittwoch bekanntgab. Eine weitere Auf-stockung ist nicht vorgesehen. Für das Geld sollen bis 2014 Nordtribüne und Gegengerade des Millerntor-Stadions gebaut und das Trainingsgelände sa-niert werden. (sid/jW)

Lazio mindestensrom. Der Staatsanwalt der nord-italienischen Stadt Cremona, Roberto Di Martino, hat gegen weitere 40 Fußballer Ermittlun-gen wegen Wettbetrugs eingelei-tet, darunter auch Stefano Mauri, Nationalspieler und Teamkolle-ge von Miroslav Klose bei Lazio Rom. Der Verdacht stützt sich auf Aussagen des im Dezem-ber verhafteten Spielers Carlo Gervasoni. Ihm zufolge wurden in der vergangenen Saison min-destens die Lazio-Spiele gegen den FC Genua (4:2) und bei US Lecce (4:2) manipuliert. �(sid/jW)

» I c h wa r d e r P re l l b o c k«Kürzertreten? Nein, danke. Ein Gespräch mit Uli Hoeneß, der heute 60 wird

Ihr Freund Paul Breitner hat ein-mal gesagt, wenn

Sie sich mit 27 Jahren nicht so schwer verletzt hätten, wären Sie wohl nie Fußballmanager geworden. Stimmen Sie dem zu?

Das glaube ich nicht. Ich hatte nie die Absicht, Trai-ner zu werden, wollte aber immer im Fußball etwas machen. Deshalb wäre ich zwangsläufig auf die Idee gekommen, Manager zu werden. Aber wenn man sich die Geschichte genau anschaut, war das doch alles mit sehr viel Glück verbun-den.

Wie meinen Sie das?Wenn ich damals zum Ham-burger SV gegangen wäre und nicht nach Nürnberg, hätte ich heute sicher keine Wurstfabrik und wäre viel-leicht nicht Manager beim FC Bayern geworden. Auch wenn ich in München ge-blieben wäre, in diesem tota-len Chaos damals weiß man nicht, was passiert wäre. So hat mich Neudecker (dama-liger Präsident des FC Bay-ern, d. Red.) angerufen. Er brauchte einen Prellbock.

Wie haben Sie Ihre An-fangszeit als Manager beim FC Bayern erlebt?

Als ich 1979 anfing, hatte der FC Bayern zwölf Millionen Mark Umsatz und davon 7,5 Millionen Schulden. Und 85 Prozent dieser Einnah-men waren Zuschauerein-nahmen und nur 15 kamen aus dem Bereich Fernsehen, Marketing, Sponsoring. Meine ganze Aufgabe be-stand darin, genau diese Ab-hängigkeit zu verringern. Es war aber nicht so wie heute, wo du dir die Partner aus-suchen kannst. Es war ein Klinkenputzen. Man mußte neue Ideen entwickeln.

Ich bin in die USA ge-flogen, um mir da das Merchandising anzuschau-

en. Bei uns gab es das gar nicht. Ich hatte nur immer gehört, daß im American Football, im Baseball oder Basketball Millionen mit T-Shirts, Schals, Mützen oder Taschen umgesetzt werden. Wir hatten eine kleine Post-stelle mit ein paar Karten. Da haben wir angefangen, einige Läden aufzubauen.

Sie haben alles erreicht. Könnten Sie sich nicht vorstellen, jetzt schon kürzer- oder sogar zu-rückzutreten?

Das ist doch genau der Feh-ler, den die Leute machen. Ich genieße mein Leben in vollen Zügen. Natürlich gibt es Situationen, in denen man denkt: Leck mich am Arsch! Aber am nächsten Tag ist dies wieder vergessen. Ich gehe gerne in die Arbeit. Ich kenne viele Freunde, die zwischen 60 und 70 sind, die Topmanager waren, und die nichts mehr machen. Deren Alterungsprozeß ist dramatisch.

Ist Ihnen eigentlich Ihr Image wichtig?

Ich bin keiner, der am Mor-gen aufsteht und sagt: Was muß ich tun, um heute gut auszusehen? Das habe ich noch nie gemacht. Ich gehe auch unvorbereitet in eine Talkshow bei Maybrit Illner oder Anne Will. Ich will kei-ne Frage vorher haben.

Sie sagen, daß Sie kein Gefangener Ihrer Ar-

beit seien, arbeiten aber trotzden fast rund um die Uhr. Wie paßt das zusammen?

Weil ich das grundsätzlich nicht als Belastung sehe. Ich muß mich nicht 14 Tage an den Strand legen, um erholt zu sein. Mir reichen fünf, sechs Tage Ruhe wie jetzt über Weihnachten aus.

Gab es eine Phase, in der Sie dennoch mit Ihrer Kraft am Ende waren?«

Es gab nur eine Phase, das war während der Daum-Affäre. Da hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, ich weiß nicht mehr weiter. Ich hatte nicht einen Gegner, nicht zwei, sondern die gan-ze Welt. Ich hatte das total unterschätzt. Ich hatte das erste Mal das Gefühl: Ich habe die Situation nicht im Griff.

Ihr Glück war letztend-lich die Haarprobe von Daum …

Im Prinzip war er wahnsin-nig, das zu machen. Es hat ihn ja keiner dazu gedrängt. Da hatte ich Glück, daß er das gemacht hat. Ich weiß nicht, wie das weitergegan-gen wäre, auch wenn die Solidarität des Klubs stark war.

Wie einschneidend war der Flugzeugabsturz, den Sie 1982 überlebt haben?

Es wird immer angenom-

men, daß man sein Leben komplett verändert. Ich hat-te das auch vor. Aber nach einem halben Jahr war es wie immer. Ich konnte mich an den Absturz nicht mehr erinnern. Das hat mir gehol-fen. Natürlich sagt man: So, jetzt machst du nicht mehr so viel Hektik. Aber dann mußt du dir einen anderen Beruf suchen.

Was treibt Sie weiterhin an?

Der FC Bayern hat sich zu einem gesellschaftlichen Ereignis entwickelt. In Bar-celona heißt es »Mes que un club«, dann würde ich sa-gen, daß Bayern auch mehr als ein Klub ist. Das ist eine Philosophie, eine Vision. Überall merkt man, wie die-ser Verein emotionalisiert. Ich will mithelfen, daß dies auch so bleibt. Es ist die größte Aufgabe von uns al-len, daß wir die nächsten fünf Jahre, die richtigen Ent-scheidungen treffen, unsere Arbeit in die richtigen Hän-de zu geben. Wir brauchen vier, fünf Leute. Das ist eine sehr schwierige Aufgabe. Ich hatte 30 Jahre Zeit, in denen sich der Umsatz von 12 Millionen Mark auf 350 Millionen Euro gesteigert hat. Aber jeder, der jetzt kommt, hat keine Zeit. Man wird sie ihm nicht geben.

Interview: Thomas Niklaus/sid

fussball

Monaco wird russisch

Im Stadtstaat Monaco geht der Trend durchaus zur

Zweitjacht. Die Reichen um-gehen den Steuerdruck, die Arbeitslosenquote beträgt null Prozent, und die monegassi-schen Banken verwalten ge-schätzt 80 Milliarden Euro. Nur dem örtlichen Fußball-Verein AS Monaco geht es miserabel. Abgestürzt auf den letzten Platz der zweiten französischen Liga, ruhen nun die Hoffnungen des Champions-League-Finalisten von 2004 auf dem russischen Multimilliardär Dimitri Rybo-lowlew. Der »Dünger-König«, der nach Angaben des US-Ma-gazins Forbes zu den 100 reich-sten Menschen der Welt gehört, kaufte kurz vor Weihnachten die Mehrheit der Anteile von Fürst Albert II. und soll dem siebenmaligen französischen Meister wieder zu alter Blüte verhelfen.

»Die getroffene Vereinba-rung öffnet eine neue Seite in der Geschichte des Klubs«, erklärte Albert und wünschte sich, »daß die Mannschaft wieder den Stellenwert der Ver-gangenheit bekommt, der sie zu einem Juwel des sportlichen Lebens von Monaco machte«. Früher spielten Stars wie Jür-gen Klinsmann, Christian Vieri, Emmanuel Adebayor oder Fernando Morientes für AS. Nun sind zumindest die finanzi-ellen Sorgen des Traditionsver-eins mit einem Schlag beendet. Rybolowlew verpflichtete sich, in den nächsten vier Jahren 100 Millionen Euro in den Verein zu investieren. Er wohnt zwar seit Jahren in Monaco, war aber bis-lang als großer Fußballfan noch nicht aufgefallen. Hartnäckig hält sich das Gerücht, die vor einem Genfer Gericht anhän-gige Scheidung Rybolowlews von seiner Ehefrau Jelena stehe mit seiner Spendierfreude in Verbindung. Jelena fordert nach 23 Jahren Ehe dem Vernehmen nach sechs Milliarden Dollar.

Rybolowlew ist ein typisches Produkt der postsowjetischen Brutal-Ökonomie. Ende der 90er Jahre stand er unter Mordverdacht, kam in Unter-suchungshaft, wurde aber nicht verurteilt. (sid/jW)

Bayern ist Weltmeister: Hoeneß und Beckenbauer am 7.7.1974 im Münchner Olympiastadion

Uli Hoeneß ist seit 2009 Präsi-dent des FC Bayern München, für den er seit 1979 als Mana-

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