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Johann Wolfgang Goethe IX. Wilhelm Meisters Lehrjahre (6. 6. 2017) Johann Wolfgang Goethe IX. Wilhelm Meisters Lehrjahre

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Johann Wolfgang Goethe IX. Wilhelm Meisters Lehrjahre (6. 6. 2017)

Johann Wolfgang GoetheIX. Wilhelm Meisters Lehrjahre

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Joseph Beuys1921-1986

Capri-Batterie 1985

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Denn das bloße Anblicken einerSache kann uns nicht fördern. JedesAnsehen geht über in ein Betrachten,jedes Betrachten in ein Sinnen, jedesSinnen in ein Verknüpfen, und sokann man sagen, daß wir schon beijedem aufmerksamen Blick in dieWelt theoretisieren. Dieses aber mitBewußtsein, mit Selbstkenntnis, mitFreiheit, und um uns eines gewagtenWortes zu bedienen, mit Ironie zutun und vorzunehmen, eine solcheGewandtheit ist nötig, wenn [...] dasErfahrungsresultat, das wir hoffen,recht lebendig und nützlich werdensoll.

Karl Josef Raabe 1814

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Johann Wolfgang Goethe IX. Wilhelm Meisters Lehrjahre (6. 6. 2017)

Denn das bloße Anblicken einerSache kann uns nicht fördern. JedesAnsehen geht über in ein Betrachten,jedes Betrachten in ein Sinnen, jedesSinnen in ein Verknüpfen, und sokann man sagen, daß wir schon beijedem aufmerksamen Blick in dieWelt theoretisieren. Dieses aber mitBewußtsein, mit Selbstkenntnis, mitFreiheit, und um uns eines gewagtenWortes zu bedienen, mit Ironie zutun und vorzunehmen, eine solcheGewandtheit ist nötig, wenn [...] dasErfahrungsresultat, das wir hoffen,recht lebendig und nützlich werdensoll.

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Es wird mir aus allem, was Sie sagen, immerklarer, daß die Selbstständigkeit seiner Teileeinen Hauptcharakter des epischen Gedichtesausmacht.

Friedrich Schiller an Johann Wolfgang Goethe

21. 4. 1797

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Pierre-Daniel Huet: Traitté de l’origine des romanszuerst in [Madame de Lafayette]: Zayde. Histoire espagnole. Paris 1670.

[…] und bei dem, was man im eigentlichen Sinn Romane nennt, handelt es sichum Erfindungen von verliebten Abenteuern, kunstvoll in Prosa verfasst zurUnterhaltung und Unterrichtung der Leser.

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Mit Wilhelm Meister ging es mir noch schlimmer. DiePuppen waren den Gebildeten zu gering, die Comödiantenden Gentleman zu schlechte Gesellschaft, die Mädchen zulose; hauptsächlich aber hieß es, es sey kein Werther.

An Christoph Ludwig Friedrich Schultz, 10. 1. 1829

Es ist unter allen meinen Arbeiten, die ich jemals gemachthabe, die obligateste und in mehr als Einem Sinn dieschwerste [...].

An Johann Friedrich Unger, ca. 7. 3. 1796 (Entwurf)

Es gehört dieses Werk übrigens zu den incalculabelsten Pro-ductionen, wozu mir fast selbst der Schlüssel fehlt. Mansucht einen Mittelpunkt, und das ist schwer und nichteinmal gut.Ich sollte meinen: ein reiches mannigfaltiges Leben, dasunsern Augen vorübergeht, wäre auch an sich etwas ohneausgesprochene Tendenz, die doch blos für den Begriff ist.

Zu Johann Peter Eckermann, 18. 1. 1825

Johann Heinrich Meyer

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Diese wunderbare Prosa ist Prosa und doch Poesie. Ihre Fülle istzierlich, ihre Einfachheit bedeutend und vielsagend und ihre hoheund zarte Ausbildung ist ohne eigensinnige Strenge.

Friedrich Schlegel: Über Goethes Meister (1798)

›Lehrjahre der Männlichkeit‹

Lucinde. Ein Roman von Friedrich Schlegel.Erster Theil. Berlin 1799.

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Johann Wolfgang Goethe IX. Wilhelm Meisters Lehrjahre (6. 6. 2017)

Diese wunderbare Prosa ist Prosa und doch Poesie. Ihre Fülle istzierlich, ihre Einfachheit bedeutend und vielsagend und ihre hoheund zarte Ausbildung ist ohne eigensinnige Strenge.

Friedrich Schlegel: Über Goethes Meister (1798)

Wilhelm Meisters Lehrjahre sind gewissermaßen durchausprosaisch – und modern. Das Romantische geht darin zu Grunde –auch die Naturpoesie, das Wunderbare – Er handelt bloß vongewöhnlichen menschlichen Dingen – die Natur und der Mystizismsind ganz vergessen. [...] Das Wunderbare wird darin ausdrücklich,als Poesie und Schwärmerei, behandelt. Künstlerischer Atheismusist der Geist des Buchs.

Fragmente und Studien (1799)

Friedrich von Hardenberg

Novalis1772-1801

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Ein Roman ist ein romantisches Buch.Gespräch über die Poesie

1800

nec gemino bellum Troianum orditur ab ovo:semper ad eventum festinat et in medias res

Quintus Horatius Flaccus: De arte poetica, v. 147f.

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ab ovo in medias res

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Friedrich Schlegel1772-1829

Man muß die ganze Poesie kennen,um die deutsche zu verstehen.

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HeliodorAithiopika

›Die Abenteuer der schönen Chariklea‹

3./4. Jahrhundert

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in medias res

in ovo

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Henry FieldingThe History of Tom Jones,

a Foundling

1749

›History‹-Roman

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[Christian Friedrich von Blanckenburg]

Versuch über den Roman

1774

»innre Geschichte eines Charakters«

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Karl Philipp Moritz

Anton ReiserEin psychologischer Roman

1785/86/90

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Johann Wolfgang Goethe IX. Wilhelm Meisters Lehrjahre (6. 6. 2017)

Karl Philipp Moritz

Anton ReiserEin psychologischer Roman

1785/86/90

Er ist wie ein jüngerer Bruder vonmir, von derselben Art, nur davom Schicksal verwahrlost undbeschädigt, wo ich begünstigt undvorgezogen bin.

Goethe an Charlotte von SteinRom, 13.-16. 12. 1786

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Johann Wolfgang GoetheFriedrich Schiller

Über epische und dramatische Dichtung

1797/1827

Der Epiker und Dramatiker sind beide denallgemeinen poetischen Gesetzen unter-worfen, besonders dem Gesetze der Einheitund dem Gesetze der Entfaltung; fernerbehandeln sie beide ähnliche Gegenstände,und können beide alle Arten von Motivenbrauchen; ihr großer wesentlicher Unter-schied beruht aber darin, daß der Epiker dieBegebenheiten als vollkommen vergangenvorträgt, und der Dramatiker sie als voll-kommen gegenwärtig darstellt.

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in medias res

History-Roman

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Christoph Martin Wieland1733-1813

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• Wilhelm Meister

• Mariane

Goethes Puppentheater1753

Frankfurter Goethe-Haus / Freies Deutsches Hochstift

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• Wilhelm Meister

• Mariane

• Harfner

• Mignon

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• Wilhelm Meister

• Mariane

• Harfner

• Mignon

• Aurelie

• Philine

• Turmgesellschaft

• Felix

• Therese

• Nathalie

›Schauerroman‹

... und wenn ich dich lieb habe, was geht’s dich an?

›Geheimbund-Roman‹

Statt des Glaubens, sagte er, hat sie die Einsicht, stattder Liebe die Beharrlichkeit und statt der Hoffnungdas Zutrauen.

Sie haben nicht geliebt! rief Wilhelm aus.Nie oder immer! versetzte Natalie.

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Wilhelm Meister an Werner

Daß ich dir's mit einem Worte sage, mich selbst, ganz wie ich dabin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch undmeine Absicht. […] Ich weiß nicht, wie es in fremden Ländern ist,aber in Deutschland ist nur dem Edelmann eine gewisse allgemeine,wenn ich sagen darf personelle Ausbildung möglich. […] Ich habenun einmal gerade zu jener harmonischen Ausbildung meiner Natur,die mir meine Geburt versagt, eine unwiderstehliche Neigung. […]Nun leugne ich dir nicht, dass mein Trieb täglich unüberwindlicherwird, eine öffentliche Person zu sein, und in einem weitern Kreisezu gefallen und zu wirken. Dazu kömmt meine Neigung zurDichtkunst […]. Du siehst wohl, daß das alles für mich nur auf demTheater zu finden ist, und daß ich mich in diesem einzigenElemente nach Wunsch rühren und ausbilden kann.

Fünftes Buch, Drittes Kapitel

Wilhelm, der eine unbedingte Existenz führt, in höchster Freiheitlebt, bedingt sich solche immer mehr, eben weil er frei und ohneRücksichten handelt.

Notizheft von 1788

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»Verzeihen Sie«, sagte Wilhelm, »Sie haben mir streng genug alleFähigkeiten zum Schauspieler abgesprochen; ich gestehe Ihnen,daß, ob ich gleich dieser Kunst ganz entsagt habe, so kann ichmich doch unmöglich bei mir selbst dazu für ganz unfähigerklären.« − »Und bei mir«, sagte Jarno, »ist es doch so reinentschieden, daß, wer sich nur selbst spielen kann, keinSchauspieler ist. Wer sich nicht dem Sinn und der Gestalt nach inviele Gestalten verwandeln kann, verdient nicht diesen Namen. Sohaben Sie z. B. den Hamlet und einige andere Rollen recht gutgespielt, bei denen Ihr Charakter, Ihre Gestalt und die Stimmungdes Augenblicks Ihnen zugute kamen. Das wäre nun für einLiebhabertheater und für einen jeden gut genug, der keinen andernWeg vor sich sähe.« »Man soll sich«, fuhr Jarno fort, indem er aufdie Rolle sah, »vor einem Talente hüten, das man in Voll-kommenheit auszuüben nicht Hoffnung hat. Man mag es darin soweit bringen, als man will, so wird man doch immer zuletzt, wennuns einmal das Verdienst des Meisters klar wird, den Verlust vonZeit und Kräften, die man auf eine solche Pfuscherei gewendethat, schmerzlich bedauern.« VIII 5

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Jarno zu Wilhelm Meister

... alles, was Sie im Turme gesehen haben, sind eigentlich nur nochReliquien von einem jugendlichen Unternehmen, bei dem esanfangs den meisten Eingeweihten großer Ernst war, und über dasnun alle gelegentlich nur lächeln. VIII 5

Friedrich

»Ich muß lachen, wenn ich dich ansehe: du kommst mir vor wieSaul, der Sohn Kis, der ausging, seines Vaters Eselinnen zu suchen,und ein Königreich fand.«»Ich kenne den Wert eines Königreichs nicht«, versetzte Wilhelm,»aber ich weiß, daß ich ein Glück erlangt habe, das ich nichtverdiene, und das ich mit nichts in der Welt vertauschen möchte.«

VIII 10

Denn im Grunde scheint doch das Ganze nichts anderes sagen zuwollen, als daß der Mensch, trotz aller Dummheiten und Verwirrun-gen, von einer höheren Hand geleitet, doch zum glücklichen Zielegelange.

Goethe zu Eckermann, 18. 1. 1825

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... als man spät genug auseinanderging, flüsterte Philine beimAbschiede Wilhelmen leise zu: »Ich muß meine Pantoffeln holen;du schiebst doch den Riegel nicht vor?« Diese Worte setzten ihn,als er auf seine Stube kam, in ziemliche Verlegenheit; denn dieVermutung, daß der Gast der vorigen Nacht Philine gewesen, warddadurch bestärkt, und wir sind auch genötigt, uns zu dieserMeinung zu schlagen, besonders da wir die Ursachen, welche ihnhierüber zweifelhaft machten und ihm einen andern, sonderbarenArgwohn einflößen mußten, nicht entdecken können.

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Ein kurzes seidnes Westchen mit geschlitzten spanischen Ärmeln, knappe, langeBeinkleider mit Puffen standen dem Kinde gar artig. Lange schwarze Haare warenin Locken und Zöpfen um den Kopf gekräuselt und gewunden. Er sah die Gestaltmit Verwunderung an und konnte nicht mit sich einig werden, ob er sie für einenKnaben oder für ein Mädchen erklären sollte. Doch entschied er sich bald für dasletzte ...

Mignon hielt sich fest an Wilhelm und sagte mit großer Lebhaftigkeit: ich binein Knabe: ich will kein Mädchen sein.

[Wilhelm Meister] gedachte des guten Mignons neben dem schönen Felix auf daslebhafteste.

Mignon

Mignon hatte sich [Wilhelm] genähert, schlang seine zarten Arme um ihn, undblieb mit dem Köpfchen an seine Brust gelehnt stehen.

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›[…] Sie hatten, wenn ich mich recht erinnere, ein Lieblingsbilddarunter, von dem Sie mich gar nicht weglassen wollten.‹

›Ganz richtig! es stellte die Geschichte vor, wie der krankeKönigssohn sich über die Braut seines Vaters in Liebe verzehrt.‹

›Es war eben nicht das beste Gemälde, nicht gut zusammen-gesetzt, von keiner sonderlichen Farbe und die Ausführung durch-aus manieriert.‹

›Das verstand ich nicht und versteh' es noch nicht; der Gegen-stand ist es, der mich an einem Gemälde reizt, nicht die Kunst.‹

I 17

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Antonio Bellucci (ca. 1700)

Antiochus und StratonikeStaatliche Museen, Kassel

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Johann Wolfgang Goethe IX. Wilhelm Meisters Lehrjahre (6. 6. 2017)

›[…] Sie hatten, wenn ich mich recht erinnere, ein Lieblingsbilddarunter, von dem Sie mich gar nicht weglassen wollten.‹

›Ganz richtig! es stellte die Geschichte vor, wie der krankeKönigssohn sich über die Braut seines Vaters in Liebe verzehrt.‹

›Es war eben nicht das beste Gemälde, nicht gut zusammen-gesetzt, von keiner sonderlichen Farbe und die Ausführung durch-aus manieriert.‹

›Das verstand ich nicht und versteh' es noch nicht; der Gegen-stand ist es, der mich an einem Gemälde reizt, nicht die Kunst.‹

Darauf trat er in den Vorsaal, und zu seinem noch größernErstaunen erblickte er das wohlbekannte Bild vom krankenKönigssohn an der Wand. Er hatte kaum Zeit, einen Blick daraufzu werfen, der Bediente nötigte ihn durch ein paar Zimmer in einKabinett. Dort hinter einem Lichtschirme, der sie beschattete, saßein Frauenzimmer und las.›O daß sie es wäre!‹ sagte er zu sich selbst in diesementscheidenden Augenblick. [...] Die Amazone war's! Er konntesich nicht halten, stürzte auf seine Knie und rief aus: ›Sie ist's!‹

VIII 2

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Sechstes Buch: Bekenntnisse einer schönen Seele

Ich bekam Lust das religiose Buch meines Romans auszuarbeitenund da das Ganze auf den edelsten Täuschungen und auf derzartesten Verwechslung des subjektiven und objektiven beruht; sogehörte mehr Stimmung und Sammlung dazu als vielleicht zueinem andern Teile.

Goethe an Schiller, 18. 3. 1795

Ich erinnere mich kaum eines Gebotes, nichts erscheint mir inGestalt eines Gesetzes, es ist ein Trieb, der mich leitet und michimmer recht führet; ich folge mit Freiheit meinen Gesinnungen undweiß so wenig von Einschränkung als von Reue. Gott sei Dank,daß ich erkenne, wem ich dieses Glück schuldig bin und daß ich andiese Vorzüge nur mit Demut denken darf. Denn niemals werde ichin Gefahr kommen, auf mein eignes Können und Vermögen stolzzu werden, da ich so deutlich erkannt habe, welch Ungeheuer so injedem menschlichen Busen, wenn eine höhere Kraft uns nichtbewahrt, sich erzeugen und nähren könne.

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Johann Wolfgang Goethe IX. Wilhelm Meisters Lehrjahre (6. 6. 2017)

Sechstes Buch: Bekenntnisse einer schönen Seele

Ich erinnere mich kaum eines Gebotes, nichts erscheint mir inGestalt eines Gesetzes, es ist ein Trieb, der mich leitet und michimmer recht führet; ich folge mit Freiheit meinen Gesinnungen undweiß so wenig von Einschränkung als von Reue. Gott sei Dank,daß ich erkenne, wem ich dieses Glück schuldig bin und daß ich andiese Vorzüge nur mit Demut denken darf. Denn niemals werde ichin Gefahr kommen, auf mein eignes Können und Vermögen stolzzu werden, da ich so deutlich erkannt habe, welch Ungeheuer so injedem menschlichen Busen, wenn eine höhere Kraft uns nichtbewahrt, sich erzeugen und nähren könne.

Während des neunmonatlichen Krankenlagers, das ichmit Geduld aushielt, ward [...] der Grund zu meinerganzen Denkart gelegt [...].

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Johann Wolfgang Goethe IX. Wilhelm Meisters Lehrjahre (6. 6. 2017)

Wie mögen sich die Leser diesesRomans beim Schluß desselbengetäuscht fühlen, da aus allen diesenErziehungsanstalten nichts heraus-kommt als bescheidne Liebens-würdigkeit, da hinter allen diesenwunderbaren Zufällen, weissagen-den Winken und geheimnisvollenErscheinungen nichts steckt als dieerhabenste Poesie, und da die letztenFäden des Ganzen nur durch dieWillkür eines bis zur Vollendunggebildeten Geistes gelenkt werden! Inder Tat erlaubt sich diese hier, wie esscheint, mit gutem Bedacht, fast alles,und liebt die seltsamsten Verknüpfun-gen.

Über Goethes Meister Friedrich Schlegel