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Was uns am tiefsten prägt, steht in keiner Biografie. Es ist vielmehr das, was wir schmecken, fühlen, riechen, sehen und hören. Das, was uns Schmerzen bereitet. Und das, was uns Lust bereitet. In Beckers Gedichten verwischen die Grenzen zwischen Mensch und Tier, Härte und Liebe, modernen und vormodernen Zeiten. »Biestmilch« verschmilzt das Erleben dreier Nachkriegsgenerationen zu einem ungeheuerlichen poetischen Sittengemälde.
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Gedichte
Kerstin Becker
Milch war im II. WeltkriegGeneral.Die Milch macht den Stuhl verschlittert.Milch kommt von den Kühen.Milch kann auch Paulus trinken.Milch ist Milch.«
Edmund Mach
»
II
GLASFLUSS
48
wir taumeln in Libellenwolkenmit unstabilem Körperkern durchs nabelhohe Gras
Holzböcke harren wie Engel eines warmen Tiers wir ziehn auf hornhautlosen Sohlen die derbe Erde drückt das glasge Wasser sticht in einem Bächlein helle am andern Ufer saftenBeeren deren Samen Laut geben wenn wir kaun
im Tümpel bei den alten Kalkbrüchen treiben wir Köpfchen in das Wasserin teufelsscharfem Kraut
wildern
49
Schlüpfer verwaschne Gewächse am Ast im Schatten Forellenwir stelzen nackt umklammern unsere Hände Wellen
zum anderen Ufer zum Sonnenflecklila zittert das Grasunsere Fersen Zehen Fesselnschlicken wurzelblass
wir rutschen sacken Steinfliegenlarven schnellen fühln an unsern Knöchelnweiche Egel schwellen
ufern
50
wir kippen so leichtdie Nasen suppen die Augenes schmeckt grünwir reißen sie auf
der See brennt rauscht das Trommelfellals wären wir Steine bleiben nicht liegen sinken
am Bein irgendwas strampeln schnellenWirbel drehen Grütze schwirrt uns der Mund
Komm! Toter Mann!
51
stehn unter Kiefern vorm Hahn aus der Wanddie weiße Wasserschüssel angeschlagen Abendrot sickert auf unsere Schultern von hinten
Moder goldne Harze hülln uns einwaschen Schenkel die blanke Scham auf dem harten Handtuch in Falten sitzenSchwärmer
wir reiben die Seife in der Stille kleintropfen mit Gänsehaut Schaum Ameisen kreuzen unsere Füßebrennen
Glasfluss
Erstausgabe© edition AZUR, Dresden 2016www.edition-azur.deGestaltung: Frauke Wiechmann, Glenn Vincent KraftKraft plus Wiechmann, Berlin ISBN: 978-3-942375-23-8
Die Autorin dankt der Kulturstiftung Sachsen und dem Amt für Kultur und Denkmalschutz für die Unterstützung ihrer Arbeit.
Kerstin Becker, geboren 1969 in Moosheim (Sachsen), war Schriftsetzerin, Friedhofsgärtnerin, Erntehelferin und Kellnerin. Heute lebt sie als freie Autorin und Lektorin in Dresden. Ihr Debüt »Fasernackte Verse« erschien 2012 bei fixpoetry.2013 wurde sie mit dem 2. Preis des Irseer Pegasus und dem 2. Preis des Münchner Lyrikpreises ausgezeichnet. 2014 war sie Finalistin beim Lyrikpreis Meran und dem Dresdner Lyrikpreis. Gedichte aus »Biestmilch« wurden für Rundfunk und Literaturzeitschriften ins Tschechische übertragen.