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KINDLER KOMPAKTSKANDINAVISCHELITERATUR20. JAHRHUNDERT

Ausgewählt von Karin Hoffund Lutz Rühling

J. B. Metzler Verlag

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Kindler Kompakt bietet Auszüge aus der dritten, völlig neu bearbei-teten Auflage von Kindlers Literatur Lexikon, herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold. – Die Einleitung wurde eigens für diese Auswahl verfasst und die Artikel wurden, wenn notwendig, aktualisiert.

Dr. Karin Hoff ist Professorin am Skandinavischen Seminar der Georg-August-Universität Göttingen.

Dr. Lutz Rühling ist Professor am Institut für Skandinavistik, Friesistik und Allgemeine Sprachwissenschaft der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

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Inhalt

KARIN HOFF · LUTZ RÜHLINGDie skandinavischen Literaturen des 20. Jahrhunderts 11

SELMA LAGERLÖFDas erzählerische Werk 29Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen / Nils Holgerssons underbara resa genom Sverige 31ELLEN KEYDas Jahrhundert des Kindes / Barnets århundrade 34JOHANNES V. JENSENDes Königs Fall / Kongens Fald 36AUGUST STRINDBERGDie Kammerspiele 38Ein Traumspiel / Ett drömspel 42HENRIK PONTOPPIDANHans im Glück / Lykke-Per 45HJALMAR SÖDERBERGDoktor Glas / Doktor Glas 47MARTIN ANDERSEN NEXØPelle der Eroberer / Pelle Erobreren 49PÄR LAGERKVISTDas lyrische Werk 51Der Henker / Bödeln 52EDITH SÖDERGRANDas lyrische Werk 54KAJ MUNKDas dramatische Werk 58KNUT HAMSUNSegen der Erde / Markens grøde 61Die Weiber am Brunnen / Konerne ved vandposten 62Der Ring schließt sich / Ringen sluttet 64HJALMAR BERGMANSkandal in Wadköping / Markurells i Wadköping 66

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SIGRID UNDSETKristin Lavransdatter 68ELMER DIKTONIUSDas lyrische Werk 71GUNNAR BJÖRLINGDas lyrische Werk 74HJALMAR GULLBERGDas lyrische Werk 76ARTUR LUNDKVISTDas lyrische Werk 79HARRY MARTINSONDas lyrische Werk 82TOM KRISTENSENVerheerung / Hærværk 86GUNNAR EKELÖFDas lyrische Werk 88STEINN STEINARRDas lyrische Werk 92ERIK LINDEGRENDas lyrische Werk 94MOA MARTINSONMutter heiratet / Mor gift er sig 97JOHAN NORDAHL BRUN GRIEGDie Niederlage / Nederlaget 98KAREN BLIXENDie Sintfl ut von Norderney und andere seltsame Geschichten / Syv fantastiske Fortællinger 100Out of Africa / Den afrikanske Farm 101JØRGEN-FRANTZ JACOBSENBarbara und die Männer / Barbara 106LENNART HELLSINGKinderliteratur 108HALLDÓR LAXNESSDie Islandglocke / Íslandsklukkan 110Das Fischkonzert / Brekkukotsannáll 111

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TOVE JANSSONDie Muminbücher 114ASTRID LINDGRENDie Pippi-Langstrumpf-Bücher 117Die Kinder aus Bullerbü 119EYVIND JOHNSONDie Heimkehr des Odysseus / Strändernas svall. En roman om det närvarande 122PAUL LA COURFragmente eines Tagebuches / Fragmenter af en Dagbog 125VILHELM MOBERGDie Auswanderer-Tetralogie 127WILLIAM HEINESENDie verdammten Musikanten / De fortabte spillemænd. En musikalsk skælmeroman i fi re satser 129TOMAS TRANSTRÖMERDas lyrische Werk 131PETER SEEBERGDie Nebenpersonen / Bipersonerne 134KLAUS RIFBJERGUnschuld / Den kroniske uskyld 136LARS GUSTAFSSONDas lyrische Werk 138Die Risse in der Mauer 141TARJEI VESAASDas Eis-Schloss / Is-slottet 145MAJ SJÖWALL / PER WAHLÖÖRoman über ein Verbrechen / Roman om ett brott 148JAN ERIK VOLDDas lyrische Werk 151PER OLOV ENQUISTDie Ausgelieferten / Legionärerna. En roman om baltutlämningen 155SARA LIDMANGrube / Gruva 157

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TOR OBRESTADSauda! Streik! / Sauda! Streik! 159KJARTAN FLØGSTADDalen Portland / Dalen Portland 161BJÖRKDas lyrische Werk 163MICHAEL STRUNGEDas lyrische Werk 165KATARINA FROSTENSONDas lyrische Werk 168INGER CHRISTENSENalphabet. gedichte / alfabet. digte 171Das Schmetterlingstal – ein Requiem / Sommerfugle dalen: et requiem 172SØREN ULRIK THOMSENDas lyrische Werk 175LARS NORÉNNacht, Mutter des Tages / Chaos ist nahe bei Gott / Natten är dagens mor / Kaos är granne med Gud 177Die späten Dramen 179JON FOSSEDas erzählerische Werk 183Todesvariationen / Dødsvariasjonar 186EINAR KÁRASONDie Teufelsinsel / Þar sem djöfl aeyjan rís 188JAN KJÆRSTADRand / Rand 190HENNING MANKELLDie Wallander-Romane 192JOSTEIN GAARDERSofi es Welt. Roman über die Geschichte der Philosophie / Sofi es verden. Roman om fi losofi ens historie 195PETER HØEGFräulein Smillas Gespür für Schnee / Frøken Smillas fornemmelse for sne 197

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SOLVEJ BALLENach dem Gesetz. Vier Berichte über den Menschen / Ifølge loven. Fire beretninger om mennesket 199EINAR MÁR GUÐMUNDSSONEngel des Universums / Englar alheimsins 201SJÓNSchattenfuchs / Skugga-Baldur 203

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Die skandinavischen Literaturen des 20. Jahrhunderts

Karin Hoff · Lutz Rühling

Die Literatur des 20. Jahrhunderts stellt sich nicht übersichtlicher dar als die des 19. Jahrhunderts; im Gegenteil – mit dem üblichen

Ordnungsschema des Epochenbegriffs ist ihr noch schwerer beizu-kommen als dem vorherigen Jahrhundert. Die skandinavische Lite-ratur des 20. Jahrhunderts zergliedert sich vielmehr in ein Mit- und Gegeneinander unterschiedlicher Strömungen und Tendenzen, die sich zum Teil gegenseitig bekämpfen, zum Teil friedlich nebenein-ander her existieren, teilweise im Werk ein und desselben Autors. Im Wesentlichen lassen sich drei Hauptströmungen unterscheiden: zum einen der Modernismus, der seinen Ursprung bereits im 19. Jahrhun-dert hat und sich im 20. Jahrhundert in den einzelnen skandinavischen Literaturen auf unterschiedlichste Weise und zu verschiedenen Zei-ten manifestiert; zweitens realistische und insbesondere sozialrealis-tische Strömungen, die das Image der skandinavischen Literaturen bis auf den heutigen Tag in nachhaltiger Weise beeinflussen, und drittens schließlich die Postmoderne, die auch in Skandinavien ab den 1980er Jahren zur dominanten Richtung wird. Die Fokussierung auf diese zentralen Strömungen allein würde allerdings der skandinavischen Literaturen im 20. Jahrhundert nicht gerecht, denn darüber hinaus sind es vor allem zwei Gattungen, die diese bis in die Gegenwart hinein prägen und die in unterschiedlichem Maße an den genannten Strömungen partizipieren: die Kinder- und Jugendliteratur, die durch die weltweit gefeierte Schwedin Astrid Lindgren eine vorher nicht gekannte Popularität erfährt, und der Kriminalroman, der heute für den größten Absatz skandinavischer Texte weltweit sorgen dürfte.

Wie bereits angedeutet, liegt der Ursprung dieser Strömungen, aber auch der skandinavischen Kinder- und Jugendliteratur, bereits im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, genauer gesagt im sogenann-

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ten ›Modernen Durchbruch‹ der 1870er bis 1890er Jahre und der dar-auff olgenden Zeit der Neuromantik. So entspringt der Modernismus teilweise ursprünglich naturalistischen und ästhetizistischen Form-experimenten. Er greift die durch die Moderne seit etwa 1850 bewirk-ten Veränderungen teils bewusst, teils unwillkürlich auf, reagiert auf sie und bearbeitet sie künstlerisch. So führen August Strindbergs dramatische Experimente, die er bereits in den 1880 Jahren begonnen hat, die modernistische Ästhetik nun konsequent fort: Dödsdansen (1901; Der Totentanz), Ett Drömspel (1902; Ein Traumspiel) und die Kammerspiele mit Spöksonaten (1907; Gespenstersonate) setzen sich auf jeweils unterschiedliche Weise mit dem modernen Subjekt und der Absurdität des Lebens auseinander und bedienen sich auch bereits absurder theatralischer Mittel. Ett Drömspel reizt die Möglichkeiten der »Logik des Traums« als quasi-epischer Instanz über dem dramatischen Geschehen aus, während Dödsdansen am Beispiel eines Ehekriegs die Kommunikationsunfähigkeit zweier Menschen, die weder mit noch ohne einander leben können, auf die Spitze treibt. In den Kammer-spielen (1907–1909) schließlich, die Strindberg für das erst an seinem Lebensende realisierte eigene Theater – Intima Teatern (Das Intime Theater) – schrieb, probiert er die Möglichkeiten der unmittelbaren Nähe von Bühne und Zuschauer radikal aus: Die Stücke sind konzi-piert für eine kleine, »intime« Bühne, die es erlaubt, dem Geschehen auch physisch nah zu folgen, mit einer an der Kammermusik orien-tierten überschaubaren Besetzung. Spöksonaten führt den Zuschauern die Verlogenheit der bürgerlichen Gesellschaft vor, in der vieles nur Schein und Fassade ist und die Menschen schließlich an der Lüge zu ersticken drohen. Indem Strindberg der Sprache als eigentlichem Medium des Dramas nun das Schweigen und die Pause entgegenge-setzt, leitet er das absurde Theater ein.

Trotz der großen, auch internationalen Erfolge der Dramen Strind-bergs lässt sich jedoch ab den 1910er Jahren eine allmähliche

Akzentverschiebung in der skandinavischen Literatur beobachten. So geraten vor allem die Neuromantiker, die bereits in den 1890er Jahren debütiert haben, verstärkt wieder in den Fokus der Öffentlich-keit, was sich nicht zuletzt in den zahlreichen Literaturnobelpreisen

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für Autoren dieser Generation zeigt: Selma Lagerlöf erhält ihn im Jahr 1909, Verner von Heidenstam 1916, 1917 geht er an gleich zwei Skandi-navier, die beiden Dänen Karl Gjellerup (1857–1919) und Henrik Pon-toppidan, Knut Hamsun bekommt ihn 1920, die norwegische Erzähle-rin Sigrid Undset 1928, und 1931 wird postum der schwedische Lyriker Erik Axel Karlfeldt ausgezeichnet. Alle diese Autoren sind durchaus mit modernen Verfahrensweisen vertraut, alle fühlen sich aber auch ihrer jeweiligen Heimat, Natur und Landschaft verbunden und stre-ben nach einer Wiederbelebung alter Erzählformen und -stoffe.

Im Zuge dieser Rückbesinnung auf die Romantik und deren Naturverständnis wird dem Modernen Durchbruch mit seiner Konzentration auf die zeitgenössische bürgerliche Großstadtgesell-schaft und deren Problemen bewusst der Rückgriff auf alte Formen ent gegengesetzt – ohne dass die Autoren damit grundsätzlich »anti-modern« wären. Dazu gehören auch das wieder entfachte Interesse an historischen Themen, Mythen und Religion, für das unter ande-rem Selma Lagerlöfs Roman Gösta Berlings saga (1891; Gösta Berling) oder Sigrid Undsets Epos Kristin Lavransdotter (1920–1922) stehen, in dem traditionelle Erzählformen mit einem modernen Frauenbild zusammenkommen.

Insbesondere Selma Lagerlöfs zunächst als Schulbuch konzipier-ter Roman Niels Holgerssons underbara resa genom Sverige (1906–1907; Niels Holgersson wunderbare Reise durch Schweden) greift auf alte Erzählformen, Sagen und Landschaft sschilderungen zurück, um Schulkindern die schwedische Geographie und Geschichte nahezu-bringen. Das Buch entstand als reformpädagogische Auft ragsarbeit. Angeregt durch Ellen Keys Barnets århundrade (1900; Das Kind des Jahrhunderts) sollte hier von der Rohrstockpädagogik Abstand genommen werden, um Kindern Schulwissen auf unterhaltsame Weise näher zu bringen. Lagerlöf setzt diese reformpädagogischen Forderungen kongenial um, indem sie den zunächst aufsässigen jun-gen Helden in einen Däumling verwandelt und ihm damit neue Pers-pektiven auf die Welt – von unten und von oben auf dem Rücken der Wildgänse – ermöglicht, die seinen Reifungsprozess befördern. Das Lehrbuch handelt also nicht nur von der Vermittlung der Geschichte und Geographie, sondern auch von der Bildung des Menschen, der

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aus verschiedenen Blickwinkeln erkennen, sich bilden und einen behutsamen Umgang mit der Natur erlernen soll. Auch wenn das Buch weniger als Schulbuch, denn als Jugendroman erfolgreich wurde, lässt sich die Wirkungsgeschichte der reformpädagogischen Jugendliteratur nicht überschätzen: Sie hat Früchte weit über die ers-ten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hinaus getragen. Über Lagerlöfs direkten Anschluss an Keys Überlegungen hinaus ist auch die Bilder-buchautorin Elsa Beskow (1874–1953) zu nennen, in deren Büchern Text und Bild einander wechselseitig ergänzen und so gemeinsam an einem Bildungsideal arbeiten, das die Harmonie von Mensch und Natur beschwört.

Neben einer solchen konsequenten Weiter- und Zusammen-führung literarischer Traditionen, der emanzipatorischen

Durchbruchsliteratur ebenso wie der Neuromantik, lässt sich bei den dänischen Autoren dieser Jahre auch ein zunehmend politischer Rea-lismus erkennen, der die Missstände in der Arbeiterschaft, Armut und soziale Probleme, beschreibt und zum politischen Handeln auffordert. Für diese Prosa stehen exemplarisch der Roman des Nobelpreisträgers Henrik Pontoppidan, Lykke-Per (1897–1904; Hans im Glück), sowie das erzählerische Werk des bekennenden Sozialisten Martin Andersen-Nexø. Dessen autobiographisch gefärbter Vierteiler Pelle Erobreren (1906–1910; Pelle, der Eroberer) ist die Bildungs- und Entwicklungsge-schichte eines jungen Mannes, der verschiedene Stationen durchläuft – das Landleben auf der Insel Bornholm, die Kleinstadt und das urbane Zentrum Kopenhagen –, soziale Ungerechtigkeit erlebt und sich schließlich als engagierter Genossenschaftsbegründer die Welt gegen alle Widerstände und Rückschläge erobert. Das Phänomen Großstadt wird jedoch nicht nur sozialkritisch bewältigt: Die Anonymität der Metropole, die als Chance und Fluch zugleich begriffen wird, ist auch Thema in den Romanen des Stockholmer Autors Hjalmar Söderberg, dessen Helden als Flaneure Stockholm durchstreifen und letztlich aus dem Gefühl der Passivität heraus scheitern wie in seinem Tagebuch-roman Doktor Glas (1905).

Näher an der Thematik der Neuromantiker ist Knut Hamsun in seinen späteren Texten, die die augenfällige Radikalität seines

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Anfangs im Großstadtroman Sult (1890; Hunger) nicht mehr erreichen; der Modernismus ist stattdessen verdeckter, damit aber auch subver-siver. Das gilt insbesondere für sein berühmt-berüchtigtes Nobelpreis-Werk Markens Grøde (1917; Segen der Erde), das umstandslos als Mani-fest der rechtsnationalen Blut-und-Boden-Gesinnung seines Autors rezipiert wurde und ihm später unter anderem auch den Beifall der Nazis für sein Gesamtwerk einbrachte. Als dem über Neunzigjährigen zu Beginn der 1950er Jahre in Norwegen wegen seiner nachweislichen Kollaboration mit den deutschen Besatzern der Prozess gemacht wurde, bemerkte er treff end, dass man ihn allenfalls wegen seiner Arti-kel und Reden belangen könne, nicht aber wegen seiner literarischen Texte. Tatsächlich ist auch Markens Grøde trotz aller Propaganda für ein bäuerliches, naturnahes Leben und seiner Agitation gegen einen als ›typisch angelsächsisch‹ angesehenen Kapitalismus ein äußerst wider-sprüchliches Buch, in dem der Erzähler sich unterschwellig in Selbst-widersprüche verwickelt und so seine Lehre unterminiert.

Dazu passt auch, dass Hamsun mit seinem nächsten Roman Konerne ved Vandposten (1920; Die Weiber am Brunnen) ein Werk ver-fasste, das den idealistischen Preisungen seines Œuvres durch das Nobelpreiskomitee hohnspricht. Die grimmige Pointe des Textes besteht darin, dass der Protagonist durch einen Unfall zeugungsunfä-hig wurde, aber dennoch mit seiner Frau ein Kind nach dem anderen in die Welt setzt; der Leser durchschaut die wahren Zusammenhänge früh, doch der Erzähler lässt sich bis auf die letzten Seiten Zeit, bis er sie auch ›offi ziell‹ aufk lärt. Überhaupt sind die späten Romane bis hin zu seinem letzten, Ringen sluttet von 1936 (Der Ring schließt sich), immer stärker von einem nihilistischen Pessimismus durchzogen, der das menschliche Leben in einem gnadenlos desillusionierenden Licht darstellt.

Der Frühmodernismus ist im 20. Jahrhundert in Skandinavien im Wesentlichen durch die Werke Strindbergs und Hamsuns

repräsentiert, die bereits zu Lebzeiten zu den anerkanntesten Autoren ihrer Länder gehörten. Anders ist es mit dem Hochmodernismus, der vorwiegend im schwedischsprachigen Raum vertreten ist, dort aber eine vom literarischen Kontext mehr oder weniger stark isolierte

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Strömung darstellt. Der erste Verfasser, der sich der neuen Ästhetik zuwendet, ist der Schwede Pär Lagerkvist, wiederum ein späterer Nobelpreisträger (1951), der sich in seinem Essay »Ordkonst och bildkonst« (1913; »Wortkunst und Bildkunst«) gegen die in der Lyrik vorherrschende Poetik der Neuromantik ausspricht und mit dem Gedichtband Ångest (1916; Angst) dem Expressionismus in Skandi-navien eine Stimme verleiht. Wesentlich nachhaltiger als Lagerkvist haben allerdings die Vertreter des sogenannten finnlandschwedischen Modernismus gewirkt, einer kleinen Gruppe von Avantgardisten, die von Ende der 1910er Jahre bis Ende der 1920er Jahre Bestand hatte und als deren bedeutendste Vertreterin die in alle Kultursprachen übersetzte Lyrikerin Edith Södergran einen bis in die heutige Zeit anhaltenden, nahezu ikonischen Rang sowohl als Autorin als auch als Vorkämpferin des Feminismus innehat. Södergrans Bedeutung als Lyrikerin liegt darin, dass sie als erste Skandinavierin systema-tisch mit den traditionellen Formen von Vers und Metrum bricht und stattdessen auf freie Verse und freie Rhythmen setzt. Inhaltlich steht sie einem »messianischen Expressionismus« nahe, indem sie ihr lyrisches Ich zu einem Übermenschen im Sinne Nietzsches stilisiert, das den Fährnissen des Daseins mit fakirischer Selbstbeherrschung trotzt – ein Rollenmodell, das die empirische Autorin sich vor dem Hintergrund der eigenen Erkrankung (sie litt an Tuberkulose) und im Bewusstsein des eigenen nahenden Todes gewissermaßen auf den Leib geschrieben hatte.

Sicher nicht alleine, aber doch zu großem Teil dem Charisma Södergrans ist es geschuldet, dass sich noch zu ihren Lebzeiten die Gruppe der fi nnlandschwedischen Modernisten bildete, die sich auf sie als Vorbild beriefen; ihre Publikationsorgane waren insbesondere die jeweils nur kurze Zeit existierenden Literaturzeitschrift en Ultra und Quosego. Zu dieser Gruppe gehörten neben Södergrans langjähri-ger Freundin Hagar Olson (1893–1978) Gunnar Björling (1887–1960), Rabbe Enckell (1903–1974), der früh verstorbene Henry Parland (1908–1930) sowie Elmer Diktonius, nach Södergran sicher der Autor mit dem größten Widerhall bei den nachfolgenden Generationen.

Der fi nnlandschwedische Modernismus repräsentiert eine Avantgarde, die sich zu ihrer Zeit in Skandinavien kaum durchsetzen

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konnte; zu sehr dominieren hier jetzt wieder die bekannten realisti-schen Tendenzen. Immerhin begründet Södergran eine Weltgeltung schwedischsprachiger Lyrik im 20. Jahrhundert, die im Grunde bis in die Gegenwart anhält und sich nicht zuletzt im Nobelpreis für Tomas Tranströmer im Jahre 2011 dokumentiert. Vor allem in Schweden fällt der fi nnlandschwedische Modernismus denn auch als erstes auf fruchtbaren Boden; hier setzt in den 1930er Jahren, ausgehend von der Lyrik, eine starke modernistische Bewegung ein, die jetzt zum ersten Mal in Skandinavien das literarische Leben prägt. Dazu gehört vor allem die Gruppe der »Fünf Jungen« (»Fem unga«) mit Artur Lundkvist und dem späteren Nobelpreisträger Harry Martinson als bekanntesten Vertretern, aber auch der bedeutendste schwedische Lyriker in der Mitte des 20. Jahrhunderts, der ähnlich kanonischen Rang wie Södergran besitzende Gunnar Ekelöf (1907–1968), der mit seinem bahnbrechenden, vom Surrealismus beeinfl ussten Gedicht-band sent på jorden (1932; spät auf Erden) das wohl wichtigste lyrische Debüt des Jahrzehnts hinlegte. Andere bedeutende modernistische Autoren dieser Zeit sind Erik Lindegren und Karl Vennberg, die beide erst in den 1940er Jahren in Durchbruch hatten, sowie die politisch dem Sozialismus nahestehende Karin Boye; sie schuf mit dem Roman Kallocain (1940) eine verstörende Dystopie, die vom Thema her in erstaunlicher Weise George Orwells erst neun Jahre später erschiene-nen Klassiker 1984 vorwegnimmt.

Während der Modernismus in Schweden ab den 1930er Jahren in Schweden gut etabliert ist, ist es in Dänemark allein Tom

Kristensen, der insbesondere mit dem autobiographisch inspirierten Trinkerroman Hærværk (1930; Roman einer Verwüstung) Kontakt zu modernistischen Strömungen hält. An deren Außenseiterstellung in Dänemark hat sich noch nichts geändert, als 1934 ein weiteres Weltphänomen der skandinavischen Literaturen die Bühne betritt, die unter verschiedenen Namen angetretene und zeitweilig genuin zweisprachig publizierende Karen Blixen. Wie Hamsun ist sie vor allem in der Prosa zu Hause, bevorzugt jedoch im Gegensatz zum Norweger die Kurzform der Erzählung, obwohl sie mit dem zunächst auf Englisch erschienenen, von ihr dann selbst ins Dänische über-

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tragenen Klassiker Out of Africa/Den afrikanske Farm (1937) auch einen überaus erfolgreichen Langtext vorgelegt hat. Out of Africa, mit Meryl Streep und Robert Redford in den Hauptrollen, war fünfzig Jahre nach der Erstveröffentlichung an den Kinokassen ein Welterfolg und wohl auch eine der Ursachen für die in den 1980er Jahren erfolgte ›Wieder-entdeckung‹ der Autorin.

Blixens Themen mit ihrer Forderung, das eigene Schicksal so anzu-nehmen, wie es ist, der Stilisierung des Künstlers zu einer unmittelbar Gott unterstehenden Instanz und ihrer elitär ästhetizistischen Kunst-auff assung lassen die Ähnlichkeiten zu Hamsun auf den ersten Blick gering erscheinen. Doch beide vereint eine überraschende Ähnlichkeit der Erzählverfahren: Ebenso, wie Hamsuns Romane nur oberfl ächlich betrachtet realistisch sind, so bieten auch die Erzählungen Blixens dem Leser nur scheinbar die glatt polierte Oberfl äche traditioneller Techniken, unter der sich bei näherem Hinsehen eine subversive Dekonstruktion realistischen Erzählens verbirgt, die allem ästhetizis-tischen Gehabe zum Trotz im Grunde bereits poetische Verfahren der Postmoderne vorwegzunehmen scheint. Obwohl immer irgendwie klar ist, worum es ihnen geht, erscheinen diese Texte gleichzeitig rät-selhaft und abweisend.

Neben Blixen gibt es zwei weitere herausragende Einzelgestalten in dieser Zeit, die beide gemeinsam haben, dass sie in ihrer jeweiligen Heimat als die (bisher) bedeutendsten Dichter der Neuzeit ange-sehen werden; beide stehen für wahrhaft entlegene Gegenden der Weltliteratur: Island und die Färöer. Der eine von ihnen ist der Nobel-preisträger Halldór Laxness (1902–1998), der andere sein außerhalb Skandinaviens weit weniger bekanntes färöisches Pendant William Heinesen. Für beide gilt, dass sie in ihrem Gesamtwerk zwischen modernistischem und realistischem Schreiben changieren. Während etwa Laxness’ erster erfolgreicher Roman, Vefarinn mikli frá Kasmír (1927; Der große Weber von Kaschmir), deutlich expressionistische und surrealistische Züge aufweist, ist sein erstes Hauptwerk, der Roman Salka Valka (zuerst 1931/32), eine sozialkritische Studie über das Schicksal einer Außenseiterin, die ihren Platz im Leben in einem Island im Umbruch zu Beginn des 20. Jahrhunderts fi nden muss. Übt der Autor hier noch eine marxistisch inspirierte Fundamental-

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kritik an den sozialen Verhältnissen seiner Zeit, repräsentieren die Romane Íslandsklukkan (1943; Die Islandglocke), das Nobelpreiswerk Atómstöðinn (1948; Atomstation) oder Brekkukotsannáll (1957; Das Fisch-konzert) einen aus einer Mischung aus realistischen und absurden, häufi g von unterschwelliger, aber nichtsdestoweniger beißender Ironie getragenen Erzählstil. Ähnlich ist auch der Roman Den sorte gryde (1949; Der schwarze Kessel) des Dichters und bildenden Künst-lers William Heinesen, der seit seinem Debüt 1921 (mit einer Gedicht-sammlung) auf Dänisch schrieb, eine scharfe Kritik an den gesell-schaft lichen Zuständen auf den Färöern, während sein vielleicht bekanntester Roman De fortabte spillemænd (1950; Die verdammten Spielleute) eine Mischung aus realistischen und fantastischen Ele-menten bietet, die an den magischen Realismus südamerikanischer Schrift steller erinnern kann.

Während Laxness und Heinesen bis auf den heutigen Tag über-haupt eine Sonderstellung in ihren Literaturen einnehmen,

endet diejenige Blixens als Modernistin innerhalb der dänischen Lite-ratur nach dem Zweiten Weltkrieg, als sie zum Vorbild einer jungen Generation von Autoren wird, die sich nach der 1948 gegründeten Zeitschrift Heretica benennt. Den größten Einfluss nach Blixen übte hier der Lyriker, Romancier und Übersetzer Paul la Cour aus, der mit seinen programmatischen Fragmenter af en Dagbog (1948; Fragmente eines Tagebuchs) eines der frühesten Hauptwerke der Heretica-Gruppe verfasste. Obwohl die Zeitschrift bereits 1953 ihr Erscheinen einstellte und damit lediglich fünf Jahre Bestand hatte, stehen im Grunde die gesamten 1950er Jahre in Dänemark unter ihrem Bann, sei es durch ihre Befürworter wie Peter Seeberg, der mit Romanen wie Bipersonerne (1956; Die Nebenfiguren) oder Fugls føde (1957; Vogelspeise) den Existenzialismus in die dänische Literatur brachte, sei es durch ihre Gegner, die wie Villy Sørensen (1929–2001) oder Klaus Rifbjerg sich gegen Ende des Jahrzehnts für eine stärker gesellschaftskritische Literatur aussprachen.

Zugleich behauptet die engagierte Literatur, die im Grunde das ganze 20. Jahrhundert hindurch – mit mehr oder weniger starker Prä-senz auf dem Buchmarkt – neben den verschiedenen modernistischen

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Experimenten ihren Platz in der skandinavischen Literaturgeschichte: Vor allem in der sogenannten schwedischen Arbeiterliteratur, etwa den Romanen von Harry Martinsson und Moa Martinsson sowie Ivar Lo-Johansson (1901–1990), werden die prekären Lebensbedingungen der Industriearbeiter thematisiert. Armut ist auch der Grund, warum in der ungefähr zeitgleich entstehenden Auswandererliteratur, für die paradigmatisch Vilhelm Mobergs Utvandraretetralogi (1949–1963; Auswanderertetralogie) stehen kann, die Protagonisten nach Amerika emigrieren. Diese vier Romane waren in Schweden außerordentlich beliebt, wurden dramatisiert, verfi lmt und erfolgreich als Musical umgesetzt.

Neben dem sozialrealistischen ist in Schweden modernistisches Schreiben seit dem Zweiten Weltkrieg zum Mainstream geworden. Dazu zählen Autoren wie der vielfach übersetzte Stig Dagerman, dessen Romane und Dramen deutlich den Einfl uss des Existenzia-lismus erkennen lassen (was unter anderem die große Bekanntheit und Aufl agenzahl seiner Texte auch in Frankreich begründet) und oft eine düster kafk aeske Atmosphäre heraufb eschwören, oder der bereits erwähnte Tomas Tranströmer. Letzterer, der neben Söder-gran und Ekelöf wohl zu den drei bedeutendsten schwedischen Lyrikern des 20. Jahrhunderts zu rechnen ist, eröff nete 1954 mit einer aufsehenerregenden Debütsammlung mit dem schlichten Titel 17 dikter die Reihe seiner insgesamt vierzehn Gedichtbände, von denen einige in Schweden eine für lyrische Texte ungewöhnliche Popularität erlangten.

Im Jahr 1945 erhält die Kinder- und Jugendliteratur in Schweden enormen Aufwind mit der Veröffentlichung von Astrid Lindgrens

Pippi Långstrump, Lennart Hellsings Kindergedichten Katten blåser i silverhorn (Die Katze bläst ins Silberhorn) und Tove Janssons erstem Muminbuch Småtrollen och den stora översvämningen (Mumins lange Reise). Alle diese Kinderbücher nehmen Keys reformpädagogische Anregungen erneut auf. Dabei geht es um die Weiterführung eines Kinderbildes, das sich unabhängig von den Eltern, nur mit Hilfe von Freunden und der Phantasie selbst die Welt zu eigen macht und sich dort einrichtet. Zur Umsetzung dieser Ideen greifen alle drei auf

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modernistische Verfahren zurück: Hellsing, indem er in Nonsensge-dichten, die dadaistische Elemente ebenso aufnehmen wie traditio-nelle Kinderreime, Kindern die Lust am Sprachspiel vermittelt und sich seinerseits auch an der kindlichen Komik orientiert; Jansson, indem sie mit dem Muminreich eine Idealwelt kreiert, in der Realität und Phantasie ineinander fließen, und Lindgren, indem sie die jugend-liche Anarchistin Pippi alle Regeln buchstäblich auf den Kopf stellen und auch die Sprache kritisch befragen lässt.

Mit Pippi Langstrumpf beginnt eine neue Ära experimenteller Kin-derliteratur, die die Welt aus der Sicht der Kinder betrachtet und nicht aus der der Erwachsenen. Auch die konventioneller erzählten und für das internationale Schwedenbild durchaus prägenden Bullerbü-Bücher (1947–1966) der Autorin verfolgen diese kindliche Perspektive als Maß aller Dinge. Sie entwerfen eine Kindheitsutopie, in der das freie Spiel in der Natur, Freundschaft und Verlässlichkeit zur Norm und Voraussetzung für die Integration in die soziale Gemeinschaft werden. In der norwegischen Kinder- und Jugendliteratur ist es Thor-bjørn Egner (1912–1990), der in den fünfziger Jahren einen Neuanfang unternimmt. In seinen Büchern spielen ebenfalls Verantwortung und das Vertrauen in das skandinavische »Volksheim«-Modell eine zen-trale Rolle, so in Folk och rövare i Kamomilla stad (1955; Die Räuber von Kardemomme) oder Karius og Bactus (1949; Karius und Baktus), in dem spielerisch und witzig an die Vernunft der Kinder appelliert wird, sich die Zähne zu putzen und somit zur Volksgesundheit beizutragen.

Die 1950er Jahre sind das Jahrzehnt, in denen schließlich auch in Norwegen als letztem der skandinavischen Länder der Moder-

nismus zum Durchbruch kommt. Nachdem es hier bereits vorher vereinzelt bedeutende modernistische Autoren gegeben hatte wie etwa Gunnar Larsen (1900–1958), Rolf Jacobsen (1907–1994) oder Nordahl Grieg, dem seinerzeit international bekanntesten norwegi-schen Dramatiker nach Ibsen, ist es unter anderem der auf Neunor-wegisch schreibende Lyriker und Romancier Tarjei Vesaas, der moder-nistisches Erzählen in Norwegen weiterführt. Insbesondere seine beiden späten Romane Fuglane (1957; Die Vögel) und Is-slottet (1964; Das Eisschloss) sind von dem eigentümlichen, an symbolistische

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Verfahren der Jahrhundertwende erinnernden Vesaas-Ton geprägt. Beide handeln von jugendlichen Außenseitern, die an ihrer verständ-nislosen Umwelt zerbrechen. In Fuglane ist dies der zurückgebliebene Mattis, der seiner Schwester in einer Art inzestuöser Liebe zugetan ist und sich, als diese sich mit einem anderen einlässt, auf einem See das Leben nimmt; in Is-slottet die elfjährige Unn, die sich in das rätselhafte »Eisschloss« begibt und darin umkommt. Immerhin gibt es in diesem Roman einen Hoffnungsschimmer, da ihre Freundin Siss nach einer halbjährigen Phase der Trauer und der Selbstvorwürfe ihre selbstge-wählte Isolation beendet und in die Gemeinschaft ihrer Klassenkame-raden zurückfindet.

In den 1960er Jahren ist der Modernismus überall in Skandinavien zur vorherrschenden Strömung geworden, doch seine Themen und

poetischen Verfahren haben sich gewandelt. Im Gegensatz zu den int-rovertierten und pessimistischen 1950er Jahren stehen jetzt die gesell-schaftlichen Verhältnisse im Brennpunkt, die scharf kritisiert wer-den. Den Anfang macht schon am Ende der 1950er Jahre der bereits erwähnte, in allen literarischen Genres produktive Däne Klaus Rifb-jerg, der zu Beginn des Jahrzehnts eine Gruppe Gleichgesinnter um sich schart. Diese wird von einer (von ihm und Villy Sørensen heraus-gegebenen) Zeitschrift mit dem Titel Vindrosen getragen, die allerdings nur vier Jahre lang existiert. Viel programmatischer für die Gruppe als diese Zeitschrift ist jedoch Rifbjergs Gedichtsammlung Konfrontation (1960), mit dem dieser sich den Dingen des Alltags zuwendet und damit den oft emphatischen l’Art-pour-l’Art-Stil der Heretica-Gruppe verabschiedet, ein Stilwechsel, der mit dem nur ein Jahr später erschie-nenen lyrischen Großtext Camouflage (1961) fortgesetzt wird.

Ähnlich radikal wie die Konfrontations- war auch die sogenannte Systemdichtung, zu der neben dem schon in Heretica debütierenden Per Højholt (1928–2004) insbesondere mit Inger Christensen (1935–2009) Dänemarks international bekannteste Lyrikerin des 20. Jahrhun-derts beigetragen hat. Der Grundcharakter der Systemdichtung wird an ihren drei lyrischen Hauptwerken deutlich, den beiden Langge-dichten det (1969; es) und alfabet (1981) sowie dem Sonettenkranz Som-merfugledalen. Et requiem (1991; Das Schmetterlingstal. Ein Requiem).

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In allen dreien geht es um eine scheinbar willkürlich gewählte struk-turelle Vorgabe, welche einzuhalten die Texte sich verpfl ichten. In det ist dies die durch die Zahl Acht bestimmte Anzahl der verschiedenen Unterabschnitte, in alfabet sind es das Alphabet und die Fibonacci-Reihe [hier 1, 2, 3, 5, 8, 13, …], die bewirken, dass jeder Abschnitt in alpha-betischer Reihenfolge mit einem neuen Buchstaben beginnt und aus der durch die Reihe vorgegebenen Anzahl von Versen besteht; und in Sommerfugledalen schließlich ist es die Struktur des traditionellen Sonettenkranzes, die Christensen in einer aufgrund ihres bisherigen Werkes unerwarteten Hinwendung zu traditionell gereimten und metrischen Versen zu einer auch klanglichen Meisterschaft führt.

Die Auseinandersetzung mit der Gegenwart ist ebenfalls für die anderen festlandskandinavischen Literaturen der 1960er Jahre kennzeichnend. Die norwegische Entsprechung zur dänischen Kon-frontations-Dichtung bildet die Profi l-Gruppe, benannt nach einer Zeitschrift , zu der unter anderem die Autoren Tor Obrestad, Jan-Erik Vold, Einar Økland (geb. 1940) und Dag Solstad (geb. 1941) gehören. In Schweden äußert sich der Gegenwartsbezug der Zeit nicht zuletzt im Dokumentarroman, dessen bemerkenswerteste Beispiele Per Olov Enquists Legionärerna (1968; Die Legionäre) über die Ausliefe-rung der Balten an die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg, Per Olov Sundmans (1922–1992) Ingenjör Andrées luft färd (1967; Inge-nieur Andrées Luft fahrt) über eine gescheiterte Ballonfahrt zum Nordpol, Jan Myrdals (geb. 1927) Rapport från kinesisk by (1963, Bericht aus einem chinesischen Dorf) sowie Sara Lidmans Reportagen-band Gruva (1969, Grube, mit Fotografi en von Odd Uhrbom) sein dürft en.

Im Zuge der Politisierung der Literatur in den 1970er Jahren melden sich auch zahlreiche Autorinnen zu Wort, die die Situation der

Frauen in der Gesellschaft, in der Ehe und Familie zum Thema haben. Auch hier sind es erneut sozialrealistische Erzähltexte, die aus eman-zipatorischer Perspektive Frauenschicksale im 19. und 20. Jahrhundert beschreiben und problematisieren. So geht es in den Romanen der Dänin Kirsten Thorup um die Erwartungen und Vorstellungen, denen sich Frauen generationsübergreifend ausgesetzt sehen, aber auch um

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die Veränderungen ihrer Lebenssituationen und -perspektiven. In dem vierbändigen Romanzyklus Lille Jonna (1977; Kleine Jonna), Den lange sommer (1979; Der lange Sommer), Himmel og helvede (1982; Himmel und Hölle) und Den yderste grænse (1987; Die äußerste Grenze) werden einzelne Frauenfiguren unterschiedlicher sozialer Milieus in Kopen-hagen gezeigt; die Veränderungen, die sie durchlaufen, führen schließ-lich zu einem wachsenden politischen Engagement und Einsatz für die Frauenfrage.

Einen ganz anderen Weg der Thematisierung von frauenspezi-fi schen Problemen wählte die fi nnland-schwedische Autorin Märta Tikkanen, die mit dem autobiographischen Langgedicht Århundra-dets kärlekssaga (1978; Die Liebesgeschichte des Jahrhunderts) ihre schwierige Ehe mit dem alkoholkranken Künstler Henrik Tikkanen beschreibt. Bekannt geworden war sie vorher bereits mit dem Roman Män kan inte våldtas (1975; Wie vergewaltige ich einen Mann?). Die Darstellung von der Gewalt in der Ehe und die Visionen der Ehefrau, ihrerseits gewalttätig zu werden, wurden zu einem Initialtext der feministischen Literatur in Skandinavien.

Diese Auseinandersetzung mit politischen und sozialen Fragen der Gegenwart hält überall in Skandinavien bis etwa Mitte der 1980er Jahre an; sie wird abgelöst durch das vorläufi ge Ende der bisherigen modernistischen Bemühungen im Zeichen der Postmoderne. Diese stellt sich allerdings insbesondere in Skandinavien als Fortsetzung der Moderne mit anderen Mitteln dar, wobei nicht zuletzt auf Verfah-rensweisen zurückgegriff en wird, wie sie bereits in der Universal- bzw. Transzendentalromantik geläufi g waren. Dazu gehören ein »zielloses«, nicht-teleologisches Erzählen, das schon bei zwei der ersten Texte der skandinavischen Postmoderne begegnet, den Romanen Autisterna (1979; Die Autisten) und Nyår (1984; Neujahr) des Schweden Stig Lars-son (geb. 1955 – nicht zu verwechseln mit dem international ungleich bekannteren Krimiautor Stieg Larsson!), die dem Leser unausweich-lich die Frage aufdrängen, in welchem kausalen und funktionalen Zusammenhang das Erzählte eigentlich miteinander steht. Während zumal der erste dieser beiden Romane bei der Kritik noch weitgehend auf Unverständnis stießen, kann das Jahr 1986 als das eigentliche Durchbruchsjahr der schwedischen Postmoderne bezeichnet werden

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(kurioserweise das gleiche Jahr, in dem Schweden mit dem Mord an Olof Palme endgültig seine Unschuld verliert und darüber hinaus nur kurz danach auch mit den Folgen der Atomkatastrophe von Tscherno-byl zu kämpfen hat), als – drei Jahre nach der schwedischen Erstüber-setzung von Umberto Ecos Klassiker Il nome della rosa (1980; Der Name der Rose) – der da bereits international etablierte Lyriker und Romancier Lars Gustafsson (1936–2016) seinen Roman Bernard Foys tredje rokad (Die dritte Rochade des Bernard Foy) veröff entlichte. Der Text experimentiert mit verschiedenen, ineinander geschachtelten Erzählebenen, die zum einen das bekannte Wort Foucaults demons-trieren sollen, das Ich sei nichts anderes als eine »Schnittstelle« unterschiedlicher Diskurse, zum anderen die Unübersichtlichkeit des menschlichen Daseins abbilden, in dem jeder transzendente Bezug fehlt – ein Gedanke, der an die negative Theologie des späten Gunnar Ekelöf erinnert.

Diese Beispiele machen deutlich, dass jedenfalls in Skandina-vien die Postmoderne nicht mit jener unverbindlichen Spielerei gleichgesetzt werden darf, als welche sie damals häufi g in den Feuil-letons kritisiert wurde; es geht vielmehr um eine Diskussion über die existenziellen und metaphysischen Grundbedingungen des menschlichen Daseins. Diese existenzielle Postmoderne setzt sich auch im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts fort, als postmoderne Tendenzen ihrerseits zum literarischen Mainstream werden. Dazu beigetragen hat nicht zuletzt der zurzeit im internationalen Kontext wohl renommierteste norwegische Gegenwartsautor, der auf Neunor-wegisch schreibende Lyriker, Romancier und Dramatiker Jon Fosse. Sein Werk, das als riesige fortlaufende Variation der Themen ›Liebe‹, ›Einsamkeit‹ und ›Tod‹ angesehen werden kann, stellt die menschliche Kommunikationsmöglichkeit grundsätzlich in Frage und referiert auf ein durch Schreiben nur anzudeutendes Unsagbares. Die einfachen, oft einsilbigen Dialoge seiner Dramenfi guren, die in freirhythmischen Versen vorgetragen werden, arbeiten mit einer unterschwelligen Intertextualität, welche die Vertrautheit der Leser mit einem nur rudimentär angedeuteten stereotypen Plot voraussetzt und in dieser Verfahrensweise an den späten Strindberg erinnert. Ab der zweiten Hälft e der 1990er Jahre wird dies unterstützt durch Experimente mit

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der gespielten Zeit, deren Vergehen nicht durch dramatische Zeichen markiert, sondern lediglich innerhalb des Dialogs kenntlich gemacht wird (so etwa in Draum om hausten, 1999; Traum vom Herbst, oder Døds-variasjonar, 2002; Todesvariationen).

Neben dieser existenziellen Richtung der Postmoderne mit ihrer auch religiösen Thematik steht aber von Anbeginn an eine

kritische Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Ein Beispiel dafür ist der neben Fosse international erfolgreichste skandinavische Gegenwartsdramatiker, der Schwede Lars Norén, der bereits in den späten 1960er Jahren als Lyriker debütierte. Während seine frühen Stücke aus den 80er Jahren wie Natten är dagens mor (1982; Nacht, Mutter des Tages) und Kaos är granne med Gud (1983; Chaos ist nahe bei Gott) die Familie als Mikrokosmos der Gesellschaft der Bühne hyperrealistisch seziert wird, muten die späten Dramen aus den 1990er Jahren wie Personkrets 3:1 (1997; Personenkreis 3:1) oder 7:3 (1998) dem Publikum die schonungslose Konfrontation mit dem sinnlosen Dasein des Prekariats zu. Letzteres führte zu einem Eklat, als einer der aus dem Gefängnis heraus verpflichteten Laiendarsteller, darunter verurteilte Mörder, eine Aufführung zur Flucht nutzte und anschlie-ßend einen Polizisten ermordete.

Norén ist allerdings nicht der erste sozialkritische Postmodernist, sondern bereits 1977 zeichnet sich diese Tendenz im Roman Dalen Portland des Norwegers Kjartan Fløgstad ab. Das Buch ist nicht nur eine Mischung aus ›ernster‹ und ›Unterhaltungsliteratur‹, sondern zugleich auch eine Geschichte der Industrialisierung Norwegens und eine Kritik am Kapitalismus, die sich der subversiven Möglichkeiten der Sprache bedient. Ähnliches gilt auch für Fløgstads Landsmann Jan Kjærstad, der in seinem Roman Homo falsus (1984) die zeitgenössische politische Kultur Norwegens einer ironisch pointierten Kritik unter-zieht. Das auch international erfolgreichste Beispiel für diese Tendenz der Postmoderne dürft e allerdings der auch von Hollywood entdeckte Bestseller des Dänen Peter Høeg, Frøken Smillas fornemmelse for sne (1992; Fräulein Smillas Gespür für Schnee) sein, der als hybride Mischung aus Großstadt-, Abenteuer- und Science Fiction-Roman sowohl über die Entstehung des menschlichen Lebens durch außerirdische

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Mächte spekuliert als auch Kritik an der dänischen Kolonisation von Grönland übt.

Als dritte Unterströmung der Postmoderne lässt sich schließlich eine sprachkritische unterscheiden, die auf die Konstruktion unseres Alltags durch Diskurse hinweist und diese dekonstruieren will; hier wären etwa die Romane der Dänin Kirsten Hammann (geb. 1965) wie Vera Winkelvir (1993) oder Bannister (1997) oder der Lyriker Niels Lyngsø (geb. 1968) mit seiner Gedichtsammlung Force majeure (1999) zu erwäh-nen. Dass diese drei Tendenzen der Postmoderne eine fruchtbare Verbindung miteinander eingehen können, machen unter anderem gerade die Romane Kjærstads (etwa Rand (1990) oder die sogenannte Wergeland-Trilogie (1993–1999)) oder Høegs deutlich, der in De måske egnede (1993; Der Plan von der Abschaff ung des Dunkels) eine furiose Synthese von Gesellschaft skritik und Poststrukturalismus hinzube-kommen versucht und damit fortsetzt, was er bereits in Frøken Smillas fornemmelse for sne begonnen hatte.

Im Zuge der Postmoderne gewinnen auch populäre Genres zuneh-mend an Aufmerksamkeit. Die Kluft zwischen Hoch- und Unterhal-

tungskultur, die in Skandinavien ebenso wie in den angelsächsischen Ländern weniger ausgeprägt erscheint als etwa in Deutschland, wird seit den 1980er Jahren noch geringer. Die größte Außenwirkung erfahren im Zuge dieser Aufwertung der Popkultur zweifellos die skandinavischen Kriminalromane. Hier lässt sich zunächst erneut eine entschiedene Weiterführung der sozialrealistischen Erzählung erkennen, die den skandinavischen Krimi insbesondere seit den späten 1960er Jahren auszeichnet: Roman om ett brott (Roman über ein Verbrechen) hieß denn auch die zehnbändige Reihe um das Team von Kommissar Martin Beck, die das Journalistenpaar Maj Sjöwall und Per Wahlöö zwischen 1965 und 1975 veröffentlichte und in deren Fokus immer wieder die Gesellschaft als Auslöser von Gewalt steht. Erzählt werden die Romane in einem knappen, stakkatoartigen Stil, und vor-geführt wird das skandinavische Modell des Wohlfahrtsstaats, in dem der Einzelne nicht aus der Gruppe herausragen, sondern sich in der Gruppe bewähren soll. An dieses Schema schließt der Weltbestseller-autor Henning Mankell ab 1991 mit seinen »Wallander-Romanen« an:

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Auch Mankells Reihe, deren Erfolg im Ausland mit Den femte kvinnan (Die fünfte Frau) 1996 beginnt, war zunächst auf einen Dekalog aus-gelegt. Zur Lösung der Fälle ist der ebenfalls im Team ermittelnde Kommissar Wallander auf den Austausch und Einsatz aller in seiner Gruppe angewiesen. Auch andere international gefeierte skandinavi-sche Kriminalautoren greifen in vielfacher Hinsicht auf diese Erfolgs-serien zurück, indem sie zehnbändige Reihen veröffentlichen, wie der Schwede Arne Dahl (geb. 1963) oder auch der noch vor der Publikation seiner Welterfolge verstorbene Stieg Larsson (1954–2004), dessen »Millenium-Trilogie« ursprünglich ebenfalls auf zehn Bände ange-legt gewesen sein soll. Das Besondere an seinem Ermittlerteam, das aus dem Journalisten Mikael Blomkvist und der Hackerin Lisbeth Salander besteht, ist jedoch nicht nur der Rückgriff auf eine spezifi-sche Erzähltradition schwedischer Kriminalromane, sondern es sind vielmehr die Verweise auf die »Überfrau« Pippi Langstrumpf und den Kinderdetektiv Kalle Blomkvist, die hier für eine überraschende Zusammenführung kriminal- und kinderliterarischer Traditionen füh-ren. Dass die Erfolgsgeschichte der Kriminalliteratur sich nicht aus-schließlich auf die schwedischen Romane reduzieren lässt, machen die Verkaufszahlen der Bücher des Norwegers Jo Nesbø (geb. 1960), des Dänen Jussi Adler-Olsen (geb. 1950) sowie des Isländers Arnaldur Indriðason (geb. 1961) deutlich. In Hinblick auf diese Erzählweisen stellt die Jahrtausendwende keineswegs einen Einschnitt dar; ob und wann die Postmoderne im neuen Jahrtausend dann endet, ist hinge-gen eine Frage, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht abschlie-ßend beantwortet werden kann. Fest steht jedoch, dass die Autoren Skandinaviens gegenwärtig zunehmend wieder solche Verfahren zum Einsatz bringen, die sowohl im Modernismus als auch in der Post-moderne verpönt waren.