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Aus gutem Grund Kirchenasyle in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau

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A u s gu t em G r undKirchenasyle in der

Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau

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IMPRESSUM

Herausgeber: Diakonie Hessen - Diakonisches Werk in Hessen und Nassau undKurhessen-Waldeck e.V.

V.i.S.d.P.:Pfarrer Andreas LipschLeiter des Bereichs Flucht, Interkulturelle Arbeit,Migration der Diakonie HessenEderstraße 12D-60486 Frankfurt am MainFon: 069. 7947 6226Fax: 069. 7947 996226

Autor: Torsten Jäger, Projektberatung und -entwicklung, Eltville am Rhein, [email protected]

Fotos:Kirchenasyle Nr. 1-4, 7Stefan Schäfers, Mainz/ [email protected] Nr. 5, 6, 8 und 9 Bernd Schmid, [email protected]© bei den genannten Fotografen und der EKHN

Gestaltung:Tobias Boos, boos+goeckel, Heidesheim/ Rhh. [email protected]

Druck: Eckoldt GmbH & Co.KG., [email protected]

Auflage:1.500 Stück

Stand:September 2015

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AA us gu tem G r undKirchenasyle in der

Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau

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4 Aus gutem Grund – Kirchenasyle in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau

Petros Amaniel HabteFrankfurt/Main

Aus gutem GrundAndreas Lipsch

Familie Khello Höhr-Grenzhausen

Wie halten Sie es mit dem Kirchenasyl? Fragen an Dr. Volker Jung und Dr. Wolfgang Gern

Abdikafar Abdulahi Mohamud Friedberg (Hessen)

Lemlem Yonas Simye Geiß-Nidda/Bad Salzhausen

Inhalt

15 32

08 24

80

06

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Die "Christuskirchen-Asylgemeinde" in Heppenheim

Aboud H. Hungen-Bellersheim

Familie Gohari Frankfurt am Main

Daahir Abdullahi OsmanHanau-Steinheim

Khalid Wirges

44 62

40 52 71

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Diese Broschüre gewährt Einblicke in neun Kirchenasyle, die in den Jahren 2014 und 2015 in Kirchengemeinden der Evangelischen Kirche inHessen und Nassau stattgefunden haben. Einigevon ihnen dauern bei Veröffentlichung dieser Broschüre noch an.

In den ausführlichen Reportagen und Interviewsmit Flüchtlingen, Unterstützerinnen und Unterstüt-zern, Pfarrerinnen und Pfarrern werden dieFluchtgeschichten zumindest ahnbar, die einemKirchenasyl vorangegangen sind. Deutlich wirdauch, welche Gedanken, Fragen und Herausforde-rungen mit der Durchführung eines Kirchenasylsverbunden sind, welche Beschwernisse, welcheSorgen. Trotz alledem beschreiben die allermeis-ten das Kirchenasyl als Bereicherung, als Zeit desTeilens, neuer Solidarität und einer Horizonterwei-terung. In diesem besonderen Schutzraum erle-ben und erfahren offenbar nicht nur die Schutz-suchenden selbst, sondern auch Gemeinden undUnterstützer/innen den Segen der Gastfreund-schaft als etwas Heilsames. Neue Beziehungenwerden eingegangen, Solidaritätsnetze geknüpft.Patenschaften und Freundschaften entstehen, dieüber die Zeit des Kirchenasyls hinaus Bestandhaben. Bibelverse beginnen zu leben und zusprechen. Alte Träume der jüdisch-christlichenTradition stellen sich ein, Bilder einer befriedeten,gerechten und versöhnten Weltgesellschaft –ohne Mauern, ohne Stacheldraht.

Solche Erfahrungen werden offenbar mit vielenKirchenasylen verbunden. Sie sind aber nicht derGrund dafür, dass Kirchengemeinden ein Kirchen-asyl gewähren und durchführen. Auch das ist hiernachzulesen. Immer geht es um den konkretenFall, diese schwangere Frau, diesen verletztenMann, diese verzweifelte Familie. Und in jedemder hier porträtierten Fälle gab es offenbar guteGründe, sie vorübergehend in Schutz zu nehmen.

Dabei ist Ziel jedes Kirchenasyls, dass staatlicheStellen noch einmal alle rechtlichen, sozialen undhumanitären Gesichtspunkte, die gegen eineAbschiebung sprechen könnten, sorgfältig prüfenund die Betroffenen ihr Asylverfahren gegebenen-falls in Deutschland durchlaufen dürfen. Das istdie Hoffnung, die mit einem Kirchenasyl verbun-den ist, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Kei-ne Gemeinde beabsichtigt, Asyl im juristischenSinn zu gewähren. Die Kirche ist kein Staat imStaate, Kirchengemeinden sind kein rechtsfreierRaum und das Kirchenasyl ist kein verbrieftesRecht. Es gibt aber gute Gründe dafür, dass derRechtsstaat das Kirchenasyl als ein Moratoriumrespektiert. Jedenfalls tut er das, von wenigenAusnahmen abgesehen, seit mehreren Jahrzehn-ten. Mit der Akzeptanz des Kirchenasyls machtder Rechtsstaat deutlich, dass er sich auch selbst

6 Aus gutem Grund – Kirchenasyle in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau

Aus gutem Grund

Andreas LipschInterkultureller Beauftragter der Evangeli-schen Kirche in Hessen und NassauLeiter des Bereichs Flucht, InterkulturelleArbeit, Migration der Diakonie Hessen

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Aus gutem Grund 7

immer wieder an der Wahrung der Menschenrech-te und der Menschenwürde messen lässt.

Im vergangenen Jahr wurde diese grundsätzlicheAkzeptanz des Kirchenasyls durch den Staatöffentlich in Frage gestellt. Grund dafür sindgestiegene Kirchenasylzahlen und die Tatsache,dass es zurzeit in 80 Prozent der Fälle um dro-hende Abschiebungen nicht in ein Herkunftsland,sondern in einen anderen Mitgliedstaat der EUgeht. Solche Abschiebungen werden aufgrund dersogenannten Dublin-Verordnung durchgeführt.Die besagt, dass Flüchtlinge ihren Asylantrag indem Land stellen müssen, in dem sie zuerst euro-päischen Boden betreten haben. Gehen sie in einanderes europäisches Land, können sie in einerFrist von sechs Monaten in den zuständigen Staatabgeschoben werden. Dabei spielen familiäre Bin-dungen oder sprachliche Anknüpfungspunkte kei-ne Rolle. Unbeachtet bleibt in der Regel, dass dieChancen im Asylverfahren europaweit sehr unter-schiedlich sind und auch in europäischen LändernMenschenrechte verletzt werden. Die hier ver-sammelten Interviews mit Flüchtlingen, die überLänder wie Bulgarien, Italien oder Ungarn gekom-men sind, veranschaulichen das. Sie erzählen vonInhaftierungen, menschenrechtswidrigen Behand-lungen, menschenunwürdiger Unterbringung,Unterversorgung und Obdachlosigkeit. Offensicht-lich gibt es auch in Fällen drohender Dublin-Abschiebungen gute Gründe für ein Kirchenasyl.

Kommt eine Kirchengemeinde nach eingehenderBeratung und Prüfung des Einzelfalls zur Ent-scheidung, einem solchen „Dubliner“ Kirchenasylzu gewähren, tut sie das in der Regel, um dieZuständigkeit der Bundesrepublik für die Prüfungdes Asylantrags zu erwirken, indem die Rückfüh-rungsfrist überbrückt wird. Eben das hat Kirchen-gemeinden den Vorwurf eingebracht, sie handel-ten nicht verantwortungsvoll. Es ginge ihnen garnicht um den Einzelfall, sondern darum, das Dub-

lin-Verfahren abstrakt infrage zu stellen. Kirchen-asyl werde zur Systemkritik missbraucht.

Dank dieser Dokumentation kann nun der Vorwurfoder auch nur die Vermutung, es ginge den Kir-chengemeinden bei Kirchenasylen nicht um denEinzelfall, an neun konkreten und ausführlichrecherchierten Kirchenasylen in der Evangeli-schen Kirche in Hessen und Nassau überprüftwerden.

Ich danke allen, die am Zustandekommen dieserDokumentation beteiligt waren und so umfang-reich und detailliert Auskunft gegeben haben, ins-besondere Torsten Jäger für seine akribischenRecherchen und sensiblen Interviews. ■

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Das Kirchenasyl von Petros Amaniel Habte (19 Jahre) aus Eritreain der Evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Am Bügel in Frankfurt/Main

„Seid Täter des Wortes und nicht Hörer allein!“Jakobus 1,22

EritreaSudan

Niederlande

Ungarn

Deutschland

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Petros Geschichte 9

Petros GeschichtePetros ist fünf Jahre alt, als sein Vater getötetwird. Als Offizier in der eritreischen Armee hatteer sich für eine demokratische Verfassung einge-setzt. Seine Mutter muss sofort fliehen und denkranken Petros in der Obhut seiner Großmutterzurücklassen. Seine drei jüngeren Geschwisternimmt sie mit. Petros wächst bei seiner Großmut-ter auf, besucht 10 Jahre lang die Schule underhält mit 17 Jahren die Einberufung zum Kriegs-dienst. Er flieht zunächst in den Sudan und vondort aus mit einem ungarischen Schengen-Visumin die Niederlande. Gleich nach der Ankunft inAmsterdam wird er im Flughafentransit inhaftiertund nach vier Monaten nach Ungarn abgescho-ben. Dort lebt er unter schwierigsten Bedingun-gen in einem Flüchtlingslager, das er nach achtMonaten verlassen muss. Ohne öffentliche Unter-stützung lebt er auf der Straße. Er wird Opfer vongewaltbereiten Rechtsextremisten, die ihnzunächst beschimpfen und dann brutal zusam-mengeschlagen. Die ungarische Polizei unter-nimmt nichts, um ihn zu beschützen oder um dieTäter zu verfolgen.

Petros schlägt sich zusammen mit einem anderenFlüchtling nach Deutschland durch und kommt indie Hessische Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen.Dort schickt man ihn nach Frankfurt am Main. Alser dort bei den Behörden vorspricht, teilt manihm mit, dass es keine Unterkunft für ihn gibt.Erst nach ein paar Tagen kann kommt er in einerWohncontaineranlage für Obdachlose im Frankfur-ter Ostpark unter. Er muss im Café der überfülltenEinrichtung wohnen und schlafen. Nach dreiWochen dann bekommt er einen Platz in einerEinrichtung des Internationalen Bundes (IB) inFrankfurt-Höchst. Dort erhält er fast einen Monatspäter die Nachricht, dass Deutschland für seinenAsylantrag nicht zuständig ist und er nachUngarn zurückgeschoben werden soll.

Die Kirchengemeinde

Die Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde„Am Bügel“ ist eine der ärmsten, wenn nicht gardie ärmste Kirchengemeinde in und um Frankfurtam Main. Die namensgebende Wohnsiedlung, diezwischen der Gemeinde Nieder-Eschbach unddem Stadtteil Bonames liegt, und die Kirchenge-meinde selbst sind von Menschen mit einerFlüchtlings- oder Migrationsbiographie geprägt,viele Gemeindemitglieder kommen aus Chile, Eri-trea, Afghanistan und Russland oder waren z.B.Bootsflüchtlinge aus Vietnam.

Vor dem Kirchenasyl für Petros Amaniel Habtehatte die Kirchengemeinde bereits von Ende2012 bis April 2014 einen nigerianischen Flücht-ling beherbergt. Dabei handelte es sich allerdingsnicht um Kirchenasyl, sondern um die Unterstüt-zung des traumatisierten jungen Mannes durchdie Einbindung in die Kirchengemeinde. Sein Auf-enthalt in Deutschland ist inzwischen geduldet, erlebt in einem Studierendenwohnheim, besuchtdas Studienkolleg und will sobald wie möglich einStudium beginnen.

Beginn des Kirchenasyls:10. April 2014Ende des Kirchenasyls:28. August 2014

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Der Weg ins Kirchenasyl

Nachdem Petros erfährt, dass er nach Ungarnzurückgeschoben werden soll, verlässt er seineUnterkunft in Frankfurt-Höchst und nimmt aufAnraten seines Anwalts Kontakt mit der DiakonieHessen auf. Man vereinbart einen Termin, bis essoweit ist schlägt Petros sich mit Hilfe von Freun-den und Bekannten durch.

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„Ich war ständig unterwegs. Eine Woche miteinem Bekannten, zwei Tage mit einem ande-ren und immer so weiter. Ich hatte meine Klei-der dabei und alles andere, was ich brauche.Diese Zeit war sehr schwer und sehr anstren-gend und immer habe ich mich gefragt, wie esweitergehen soll. Ich war in der Zeit eigentlichobdachlos.“ Petros Amaniel Habte

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Bei der Diakonie Hessen bewertet man seinenFall als dringend und entschließt sich dazu, dieevangelischen Kirchengemeinden in Frankfurt umUnterstützung zu bitten. Weil die Kirchengemein-de Am Bügel bereits positive Erfahrungen mitFlüchtlingen gemacht hat und die räumlichenVoraussetzungen gegeben sind, erklärt sich Pfar-rer Dr. Lewerenz grundsätzlich dazu bereit,Petros Kirchenasyl zu gewähren. Vorausgegan-gen waren viele Gespräche u.a. mit anderen Seel-sorger/innen, mit dem Kirchenvorstand, demPfarrgemeinderat, dem Rechtsanwalt von Petrosund natürlich mit Petros selbst.

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„Bevor wir zugesagt haben, habe ich zweioder drei größere Gemeinden angerufen, vondenen ich wusste, dass sie von den Räumlich-keiten her gut ausgestattet sind. Die habensofort abgelehnt, weil sie „gerade die Kitaumbauen müssen“ oder „überhaupt keineFreiwilligen haben“. Ich fand das ernüchternd,weil sofort klar war: Die Kolleg/innen wolltendas einfach nicht! Es ist eben leider gar nichtso wie immer behauptet wird, dass dieGemeinden nur darauf warten, einen Flücht-ling im Kirchenasyl aufnehmen zu dürfen. Vielehaben eher Angst vor dem, was da auf siezukommen könnte, fürchten die Auseinander-setzung mit den Behörden oder mit Gemein-demitgliedern oder wissen nicht, wie sie einKirchenasyl anfassen sollen.Was für mich persönlich ausschlaggebend war,war der Angriff auf Petros in Ungarn und dieTatsache, dass der Überfall von der Polizeinicht verfolgt wurde. Nachdem Petros mirdavon erzählt hat, war für mich klar, dass manihn nicht in ein Land zurückschicken darf, wodie Sicherheit für sein Leben keine Rollegespielt hat und in Zukunft keine Rolle spielenwürde.“ Pfarrer Dr. Olaf Lewerenz

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Petros Geschichte 11

Gibt es in der Gemeinde jetzt eine größereSensibilität für die Situation vonFlüchtlingen?

Bei denen, die eng dran waren auf jedenFall! Und auch andere Gemeindemitgliederthematisieren mir gegenüber die Situationvon Flüchtlingen jetzt jedenfalls häufigerals zuvor. Auf alle Fälle hat die abstrakte„Flüchtlingsthematik“ hier in der Gemein-de vor Ort ein Gesicht bekommen und dasmacht sicher natürlich nachdenklich überden Einzelfall hinaus.

Wenn Sie ihre persönliche Motivation auseinem Bibelzitat herleiten sollten: Wiewürde es heißen?

Mein Motto steht in Nieder-Eschbach ander Kanzel. Es heißt „Seid Täter des Wor-tes und nicht Hörer allein!“ und stammtaus dem Jakobusbrief. Es gefällt mir, dassdieses Zitat ausgerechnet über einer Kan-zel geschrieben steht, wo eigentlich „nur“geredet wird. Für mich ist wichtig, dassGlaube glaubhaft wird. Petros in seinerkonkreten Notsituation war in dieser Hin-sicht ein Prüfstein für mich persönlich undfür die Kirchengemeinde.

Interview mit Pfarrer Dr. Lewerenz

Gab es in der Gemeinde kontroversePositionen zum Kirchenasyl?

Nein, zumindest wurden ablehnende Hal-tungen nicht an uns herangetragen! Hiervor Ort wissen viele aus eigener Erfah-rung, was es bedeutet, seine Heimat hin-ter sich zu lassen und alles zu verlieren.Die Unterstützung in der Gemeinde hatmich deshalb nicht überrascht. Wirhaben aber auch viel Unterstützung, Kol-lekten und Spenden aus wohlhabenderenFrankfurter Vierteln bekommen. DieErkenntnis, dass wir zu wenig für Flücht-linge tun, setzt sich nicht zuletzt wegender Toten im Mittelmeer immer mehrdurch. Auch wenn viele immer noch ab-strakt sagen „Aber bitte nicht alle zuuns“, gibt es bei den allermeisten denImpuls zu sagen: „Natürlich muss demgeholfen werden und natürlich helfe ichdem!“, wenn sie vom konkreten Schicksaleines Flüchtlings erfahren.

Was ist die prägendste Erfahrung, die Siein der Zeit des Kirchenasyls gemachthaben?

Man bleibt nicht alleine und ohne Unter-stützung, wenn man sich auf ein Kirchen-asyl einlässt. Es kommen Spenden, eskommen Leute, die helfen. Es mussnatürlich einer präsent sein und voran-gehen, aber dann entwickelt sich etwas.Mit einem Mal tauchen Leute auf, diesagen: „Ich gehöre gar nicht zurGemeinde, aber das finde ich eine guteSache, da mache ich mit!“ Wenn man daszulässt, wächst und verändert sich dieGemeinde: durch die Flüchtlinge genausowie durch Menschen, die auf dieseFlüchtlinge zugehen.

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Die Zeit des Kirchenasyls

Am 10. April 2014 zieht Petros in ein kleines Zim-mer des Gemeindehauses der evangelischen Kir-chengemeinde. Das Bundesamt für Migration undFlüchtlinge, das Hessische Innenministerium unddie zuständige Ausländerbehörde werden inKenntnis gesetzt. Mit einem Pressegespräch stelltdie Gemeinde sofort Öffentlichkeit her.

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„Öffentlichkeit ist wichtig und ein Schutz fürdenjenigen, der im Kirchenasyl aufgenommenwird. Es schafft Akzeptanz, wenn wir alsGemeinde darüber informieren, warum Kirchen-asyl überhaupt, vor allem aber warum Kirchen-asyl gerade für diesen Flüchtling? Warum neh-men wir gerade Petros? Was ist sein persönli-ches Schicksal, was ist seine rechtliche Situationund welche Härte sehen wir?“ Pfarrer Dr. Olaf Lewerenz

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Im Gemeindehaus werden Deutschkurse für Mig-ranten angeboten. Petros darf teilnehmen undkann deshalb an vier Vormittagen in der WocheDeutsch lernen. Er verbessert sich von Tag zuTag, auch weil ehrenamtliche Unterstützer/innennachmittags und am Wochenende zusätzlich mitihm üben. Er arbeitet in der Kleiderkammer mit,besucht regelmäßig den Gottesdienst, nimmt rege

am Gemeindeleben teil, lernt Klavierspielen. ZweiFrauen aus der Gemeinde kochen regelmäßigzusammen mit ihm, eine eritreische Landsfrau,die das Gemeindehaus reinigt, wird eine weiterewichtige Bezugsperson. Von Kollekten und Spen-den werden ein Hometrainer und eine Tischten-nisplatte angeschafft, ein Basketballkorb wird vom

benachbarten Jugendhaus ausgeliehen. Von dortbekommt Petros immer häufiger Besuch vonJugendlichen.

An 28. August 2014 erhält Petros von der Aus-länderbehörde eine Duldung, weil er sich seitmehr als sechs Monaten im Bundesgebiet aufhältund deshalb nicht mehr nach Ungarn abgescho-ben werden kann. Die Zeit im Kirchenasyl geht zuEnde … und doch nicht zu Ende.

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„Es gibt nichts Besseres, als einen Platz, woich ohne Angst schlafen und mich hinlegenkann und wo es Menschen gibt, denen ich vertrauen kann und die mir helfen wollen.“ Petros Amaniel Habte

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Petros Geschichte 13

Was hält die Zukunft für dich bereit? Waswünschst du dir, was erhoffst du dir?

Ich will meinen Platz in dieser hier Gesell-schaft finden und da ist Bildung sehrwichtig. Ich will lernen und eine Ausbil-dung machen. Und ich will aufmerksamsein für das, was ich für andere tunkann. Viele Flüchtlinge haben die glei-chen Probleme z.B. mit der Dublin-Ver-ordnung wie ich. Ich will in Initiativen mit-arbeiten, die diesen Menschen helfen.Und ich will erzählen, wie es bei mir war,damit niemand mehr nach Ungarn abge-schoben wird.

Interview mit Petros Habte

Wenn du zurückdenkst an die lange Zeitauf der Flucht: Wie wichtig war es für dich,im Kirchenasyl anzukommen?

In Ungarn musste ich den Tag überste-hen und das Nötigste zum Überlebenorganisieren. Und auch in Deutschlandhatte ich Angst und wusste oft nicht, wasmorgen ist. Das Kirchenasyl war eine derbesten Nachrichten in meinem ganzenLeben. Es hat mir erst einmal Sicherheitgegeben und ich konnte mir eine Basisaufbauen.

Gab es Krisen in der Zeit des Kirchenasyls?

Ich bin nur ein Mensch und natürlich habeich mich auch im Kirchenasyl oft gefragt,was noch passieren und wie es weiterge-hen wird. Das mache ich auch jetzt immernoch, weil noch nichts entschieden ist.Aber die Gemeinschaft hier war sehr gutund hat mich getragen. Und ich hatte zumGlück nicht so viel Zeit, darüber nachzu-denken, weil ich voll war mit Lernen,Tischtennis, Basketball, Lesen, Klavier-spielen, Kochen und Reden.

Bedeutet es dir etwas, dass Menschen dichaus ihrem Glauben heraus unterstützthaben?

Sehr viel! Für mich ist das Kirchenasylein Geschenk von Gott und durch die Kir-che habe ich dieses Geschenk bekom-men. Aber wenn man glaubt, muss manan diesem Glauben auch arbeiten, dashat etwas mit Menschlichkeit zu tun. Dastun nicht alle, aber hier im Kirchenasylhabe ich Menschen getroffen, die ihrenGlauben leben und die helfen, wennjemand in Not ist.

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14 Aus gutem Grund – Kirchenasyle in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau

Die Zeit nach dem Kirchenasyl

Petros bleibt bei seiner „neuen Familie“ undbewohnt weiterhin seine Kammer im Gemeinde-haus – jetzt als offizieller Mieter. Er arbeitetimmer noch in der Kleiderkammer mit und hofft,dass sein Asylverfahren sobald wie möglich inDeutschland durchgeführt wird. Zurzeit ist ergeduldet, eine Bestätigung, dass die Zuständig-keit für das Asylverfahren jetzt in Deutschlandliegt, hat er bisher noch nicht erhalten.

Petros spricht inzwischen perfektes Deutsch. Erhat im Sommer seinen Hauptschulabschlussnachgeholt und die Aufnahmeprüfung für denRealschulabschluss erfolgreich bestanden. ZurZeit leistet er bei einer großen Firma in Frankfurt-Höchst ein IT-Praktikum ab. So schnell wie mög-lich will er Ausbildung als Informatiker beginnen.

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„Ich habe zehn Jahre lang an einem Gymn -asium gearbeitet und muss sagen: solchen Bildungseifer wie bei Petros habe ich ganzselten erlebt. Sowohl im Hinblick auf konkreteLernerfolge als auch auf den unbedingten Willen, sich mit Bildung eine Zukunft hier aufzubauen.“ Pfarrer Dr. Olaf Lewerenz

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Was mit seiner Mutter und seinen Geschwistern inEritrea passiert ist und wie es ihnen geht, weißPetros nicht. Seit der Trennung der Familie in Eri-trea konnte er bis heute zu ihnen keinen Kontaktmehr herstellen. ■

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Die lange Fluchtgeschichte der Familie Khello 15

Das Kirchenasyl der syrischen Familie Khello (Kameran [49], Sonia [46], Rezan [22], Ferhad [19] und Berivan [16]) in der Evangelischen Kirchengemeinde Höhr-Grenzhausen

Das Beispiel vom barmherzigen Samariter –„Dann geh und handle genauso!“ Lukas 10, 29-37

Syrien

Türkei

Bulgarien

Deutschland

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Die lange Fluchtgeschichte der Familie Khello

Beginn des Kirchenasyls:8. Juli 2014Ende des Kirchenasyls:Das Kirchenasyl dauert an

Als Anfang des Jahres 2011 der Bürgerkrieg inSyrien beginnt, lebt die kurdische Familie Khello inHeretan, einem Vorort von Aleppo. Die Familiegehört der jezidischen Religionsgemeinschaft an.Der Vater Kameran ist Elektroingenieur, die Mutter

Sonia arbeitet als Lehrerin in einer Grundschule.Die älteste Tochter und der älteste Sohn studierenin Aleppo, die jüngere Tochter und der jüngereSohn gehen noch zur Schule. Schnell gerät dieRegion Aleppo ins Zentrum der gewalttätigen Aus-einandersetzungen zwischen dem Assad-Regimeund der „Freien Syrischen Armee“ (FSA). Als syri-sche Regierungstruppen im Sommer 2012 dasvon der FSA eingenommene Heretan unterBeschuss nehmen, zerstört eine Bombe das neugebaute Haus der Familie, eine andere trifft dieSchule, in der Sonia gerade unterrichtet. MehrereKinder kommen bei dem Angriff ums Leben.

Die Familie flieht zunächst ins syrische Kastal Jendo,wo Sonias Eltern leben. Bald darauf wird der Ortvon islamistischen Gruppierungen angegriffen, diegezielt Jagd auf Jeziden machen. Zudem befürchtetdie Familie, dass die Söhne zwangsrekrutiert wer-den und die Töchter sexualisierter Gewalt zumOpfer fallen. Immer wieder geraten Familienmitglie-der in akute Lebensgefahr und werden Zeugen vonGewalttaten, denen Menschen zum Opfer fallen.

Ende August 2013 schließlich fliehen die Eltern mitder jüngeren Tochter und den beiden Söhnen ausSyrien. Sie durchqueren zu Fuß, per PKW und Rei-sebus die Türkei und überwinden kurz darauf dietürkisch-bulgarische Grenze. Dort werden sie vonbulgarischen Grenzbeamten aufgegriffen und eini-ge Tage grenznah in einem Gefängnis inhaftiert.Zusammen mit ca. 50 weiteren Personen sind siein einen etwa 20 m² großen überdachten Raumeingepfercht. Die hygienischen Bedingungen sindkatastrophal, in der ganzen Zeit bekommen sie nurein einziges Mal ein warmes Mittagessen. Es gibtweder Dolmetscher noch ist das „Sicherheitsperso-nal“ dazu bereit oder in der Lage, der Familie aufEnglisch zu erklären, warum sie festgehalten wirdund was mit ihr geschehen soll.

Alle Familienmitglieder werden erkennungsdienst-lich behandelt, Wachkräfte ziehen einen großenTeil des mitgeführten Bargeldes ein, ohne hierfüreine Quittung auszustellen. Dann wird die Familiein ein „Flüchtlingslager“ in der Nähe von Pastro-gor transferiert. Auch hier sind die räumlichen

Aus gutem Grund – Kirchenasyle in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau16

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und hygienischen Verhältnisse menschenunwür-dig. Materielle Unterstützung gibt es nicht. Als dievon den Kriegs- und Fluchtfolgen schwer trauma-tisierte Sonia einen Schwächeanfall erleidet, wirdihr vom Wachpersonal die dringend erforderlichemedizinische Versorgung verweigert. Auch hier im„Flüchtlingslager“ gibt es keine Dolmetscher,spricht niemand Englisch. Mehrfach werden derFamilie Dokumente in bulgarischer Schrift undSprache vorgelegt, die sie nicht versteht. Mannötigt sie zur Unterschrift, die Khellos leisten not-gedrungen Folge.

Weil die Zustände unerträglich sind, verlässt dieFamilie nach vier Wochen das Flüchtlingslager inPastrogor. Sie will weiter nach Deutschland fliehen,wo viele ihrer Verwandte und zwischenzeitlich auchSonias Mutter leben. Denn in Bulgarien gibt es fürdie Familie keine Zukunft. Sie hat keinen Anspruchauf finanzielle Unterstützung oder auf medizinischeVersorgung, keine Perspektive auf Sprachkurseoder einen Arbeitsplatz. Ihr droht die Obdachlosig-keit und sie muss zu Recht fürchten, von der Poli-zei vor rassistisch motivierter Gewalt nichtgeschützt zu werden. Mit dem wenigen Bargeld,das ihnen die bulgarischen Sicherheitskräfte gelas-sen haben, schlagen sie sich einige Wochen in Bul-garien durch und bereiten ihre Flucht nachDeutschland vor. Im Februar 2014 schließlichgelingt der Grenzübertritt nach Deutschland undstellt die Familie hier ihre Asylanträge.

Die Kirchengemeinde

Die im Westerwald gelegene, knapp 10.000 Ein-wohner zählende Stadt Höhr-Grenzhausen ist alsrheinland-pfälzisches Mittelzentrum ausgewiesen.

Es beheimatet eine Vielzahl keramischer Industrie-und Handwerksbetriebe sowie eine Fachhochschu-le für Keramik. Etwa 1.100 Bürgerinnen und Bür-ger – viele davon türkeistämmig – haben keinendeutschen Pass, sind aber zumeist schon seit lan-gen Jahren in der Stadt ansässig. Zudem hat einegrößere Gruppe von Spätaussiedlern in Höhr-Grenzhausen eine Heimat gefunden. Vor Ort arbei-tet ein Beirat für Migration und Integration, in demvorwiegend türkeistämmige Personen engagiertsind, eng mit der Kommunalverwaltung zusammen.

Es gibt also durchaus internationale Bezüge undStrukturen in der Stadt, zugleich haben Asylsu-chende vor Ort in den letzten Jahren keine beson-ders große Rolle gespielt. Deshalb hat die 2600Menschen umfassende evangelische Kirchenge-meinde in Höhr-Grenzhausen vor der Gewährungdes Kirchenasyls für Familie Khello keine besonde-re Erfahrung im Umgang mit Flüchtlingen. Trotz-dem steht sie dem Umgang mit Minderheiten undder Solidarität mit Schwächeren traditionell sehroffen und engagiert gegenüber: vor Ort, wo siez.B. den Gemeindemitgliedern aus Russlandwöchentliche Begegnungs- und Gesprächsange-bote macht und auf internationaler Ebene, wo siein einer Partnerschaftsbeziehung der evangeli-schen Dekanate Nassau und Selters mit evangeli-schen Christinnen und Christen aus Tansania mitar-beitet.

Zudem hat in Höhr-Grenzhausen das gemeinsameGespräch der Konfessionen und Religionen einelange Tradition. Seit etwa 10 Jahren gibt es gutenund regen Gesprächskontakt mit den beiden musli-mischen Moschee-Gemeinden am Ort und ein öku-

17Die lange Fluchtgeschichte der Familie Khello

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18 Aus gutem Grund – Kirchenasyle in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau

menischer Arbeitskreis organisiert und pflegt seitvierzig Jahren den Dialog und gemeinsame Aktivitä-ten mit der katholischen Kirchengemeinde. Im Pro-zess der Entscheidung über das Kirchenasyl fürFamilie Khello war gerade diese langjährige Koope-ration von besonderer Bedeutung. Einzelne Mitglie-der der katholischen Kirchengemeinde hatten inder Vergangenheit bereits Kontakte zu Flüchtlingenin schwierigen Aufenthaltssituationen gehabt undsie unterstützt. Diese Erfahrungen bestärktenschließlich auch die evangelische Kirchengemeindein ihrem Handeln.

Der Weg zum Kirchenasyl

Anfang 2014 wird Familie Khello von den Behör-den nach Höhr-Grenzhausen umverteilt und ineiner kleinen Wohnung untergebracht. Sie bemühtsich von Beginn an aktiv darum, am Leben in derStadt teilzuhaben. Bei den ehrenamtlichen Mitar-beitenden der TAFEL fällt der Vater der Familiedurch seine außerordentliche Höflichkeit auf. Erbemüht sich trotz großer Verständigungsproble-me intensiv darum, ins Gespräch zu kommen undseine Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen.Berivan und Ferhad nehmen Deutsch-Förderun-terricht und besuchen freiwillig Feriensprachkursean der Realschule in der Stadt. Ferhad schließtsich der örtlichen Fußballmannschaft an, spieltregelmäßig mit und geht abends mit den Sport -kameraden aus. Rezan kümmert sich in den ers-ten Monaten gemeinsam mit seinem Vater inten-siv um seine traumatisierte Mutter, lernt paralleldazu ebenfalls Deutsch und nimmt schließlich alsfreiwilliger Gasthörer an Vorlesungen der Kerami-schen Hochschule in Höhr-Grenzhausen teil.

Im Mai 2014 lehnt das Bundesamt für Migrationund Flüchtlinge (BAMF) die Asylanträge der Fami-lie ab. Sie hat – ohne es zu wissen und ohne eszu erfahren – in Bulgarien Asyl beantragt undeinen „subsidiären Schutzstatus“ erhalten. DasBAMF ordnet deshalb die Abschiebung nach Bul-garien an. Dagegen eingelegte Rechtsmittel blei-ben erfolglos, die Ausländerbehörde des Wester-waldkreises fordert die Familie zur Ausreise biszum 10. Juli 2014 auf.

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„Ferhad war in der Mannschaft direkt superintegriert. Eines Abends kam mein Sohn lei-chenblass vom Fußballspielen zurück undsagte, dass die Familie abgeschoben werdensoll. Ich hatte inzwischen auch alle anderenFamilienmitglieder kennengelernt. Die sind ein-fach nett, die wollen nur irgendwo sein, woihnen keine Bombe auf den Kopf fällt und wosie niemand einsperrt. Ich hatte keine Ahnung,was ich jetzt tun sollte, das Einzige was mireinfiel war, das Diakonische Werk (Träger derTAFEL in Höhr-Grenzhausen) zu informieren.So kam die Geschichte ins Rollen.“ Martina Saal, ehrenamtliche Unterstützerin

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Im Frühsommer wendet sich der Leiter des Diakoni-schen Werks im Westerwald an den Kirchenvorstandund den Pfarrer der Gemeinde. Er berichtet vomdrohenden Schicksal der Familie und fragt an, obman sich vorstellen könnte, ein Kirchenasyl zugewähren. Im Anschluss an Beratungen bei einergemeinsamen Sitzung mit dem katholischen Pfarr-gemeinderat beschließt der Kirchenvorstand AnfangJuli, die Familie – zunächst bis zu einem halben Jahrlang – im Gemeindehaus zu beherbergen.

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„Wir haben hier im Gemeindehaus im unterenGeschoss zwei Räume, die uns zur Unterbrin-gung der Familie geeignet erschienen. Es sindeigentlich Räume, die wir für die Jugendarbeitnutzen, und die katholische Gemeinde hat unssofort angeboten, dass wir für die Zeit des Kir-chenasyls hierfür auf Räume in ihrer Gemeindeausweichen können, und uns auch finanzielleUnterstützung zugesagt. Das Einzige was jetztnoch fehlte, war eine Dusche. Die hat uns eineSanitärfirma ganz schnell besorgt und umsonsteingebaut.“ Dr. Hartwig von Vietsch, 2. Vorsitzender des Kirchen-vorstandes

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Die lange Fluchtgeschichte der Familie Khello 19

Trägt das Kirchenasyl dazu bei, sich mehrmit der Lebenssituation von Flüchtlingenallgemein zu befassen?

Wir sehen das Kirchenasyl nicht als Aktionzur politischen Bewusstseinsbildung. Esgeht uns vielmehr ganz konkret darum,genau dieser Familie zu helfen. Das warder Impuls, der von ganz vielen Menschengekommen und aufgegriffen worden istund der die Situation bis heute prägt. Fürmich und sicher auch für andere ist dasKirchenasyl aber natürlich eine Erfahrunggewesen, die nachwirkt. Eine solche –vielleicht überraschende – Erfahrung warbeispielsweise, dass wir in der zuständi-gen Ausländerbehörde des Westerwald-kreises keinen Gegner vorgefundenhaben, sondern einen Ansprechpartner,der sich im Rahmen seiner rechtlichenMöglichkeiten sehr kooperativ und wohl-wollend gezeigt hat. Zwei andere persönli-che Konsequenzen: Ich habe mich zueiner Fortbildung „Kompetentes Handelnin der Migrationsgesellschaft“ angemeldetund auf Verbandsgemeindeebene ange-regt, gemeinsam zu überlegen, wie wirAsylsuchende vor Ort noch besser auf-nehmen können. Diese Bitte ist dort aufsehr offene Ohren gestoßen.

Interview mit Pfarrer Matthias Neuesüß

Was waren die größten Herausforderungenbei der Entscheidung für das Kirchenasyl?

Organisatorisch war wichtig, dass wir vonAnfang an beraten und begleitet wurdenvon der Diakonie Hessen und auch vonPRO ASYL. Das hat uns geholfen, dierichtigen Schritte zur richtigen Zeit zutun: Kontakt zu den Behörden suchen,anwaltliche Vertretung für die Familieund psychologische Begutachtung fürdie Mutter organisieren und so weiterund so fort.

Inhaltlich mussten wir uns mit den kriti-schen Stimmen vor Ort in der Gemeindeauseinandersetzen, die es natürlich auchgab. Manche fragten zum Beispiel, wasuns einfällt, klüger und anders handelnzu wollen als der Staat. Wir haben dasGespräch mit diesen Menschen ange-nommen und versucht zu überzeugen.Denn wir wollen mit dem Kirchenasyl geltendes Recht weder aushebeln nochbrechen. Wir verstecken niemanden, wirsuchen nach legalen Wegen, um demSchicksal der Familie gerecht zu werden.Wir wollen Zeit gewinnen, damit diezuständigen Behörden ihren Fall nocheinmal in aller Ruhe anschauen undbewerten können.

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Wenn Sie das Kirchenasyl der Gemeindemit einem Bibelzitat begründen sollten:Wie heißt es?

Eine große Rolle bei der Entscheidunghat die Geschichte vom barmherzigenSamariter gespielt. Als die Situation fürdie Familie im Sommer letzten Jahres soschwierig geworden war, hatten wir dreiOptionen: gar nicht handeln oder zuwar-ten und prüfen, welche Erfolgsaussichtendas Kirchenasyl haben kann oder einfachhandeln. Wir haben uns entschlossen,den Weg mit der Familie ab sofortgemeinsam zu gehen.

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„Da stand ein Gesetzeslehrer auf, und umJesus auf die Probe zu stellen, fragte er ihn:Meister, was muss ich tun, um das ewigeLeben zu gewinnen? Jesus sagte zu ihm: Wassteht im Gesetz? Was liest du dort? Er antwor-tete: Du sollst den Herrn, deinen Gott, liebenmit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit alldeiner Kraft und all deinen Gedanken, und:Deinen Nächsten sollst du lieben wie dichselbst. Jesus sagte zu ihm: Du hast richtiggeantwortet. Handle danach und du wirstleben. Der Gesetzeslehrer wollte seine Fragerechtfertigen und sagte zu Jesus: Und wer istmein Nächster? Darauf antwortete ihm Jesus:Ein Mann ging von Jerusalem nach Jerichohinab und wurde von Räubern überfallen. Sieplünderten ihn aus und schlugen ihn nieder;dann gingen sie weg und ließen ihn halb totliegen. Zufällig kam ein Priester denselbenWeg herab; er sah ihn und ging weiter. Auchein Levit kam zu der Stelle; er sah ihn undging weiter. Dann kam ein Mann aus Samarien,der auf der Reise war. Als er ihn sah, hatte erMitleid, ging zu ihm hin, goss Öl und Wein aufseine Wunden und verband sie. Dann hob erihn auf sein Reittier, brachte ihn zu einer Her-

berge und sorgte für ihn. Am andern Morgenholte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirtund sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehrfür ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen,wenn ich wiederkomme. Was meinst du: Wervon diesen dreien hat sich als der Nächstedessen erwiesen, der von den Räubern über-fallen wurde? Der Gesetzeslehrer antwortete:Der, der barmherzig an ihm gehandelt hat. Dasagte Jesus zu ihm: Dann geh und handlegenauso!“ _________________________________

Gab es in der Zeit des Kirchasylsirgendwann eine Krise?

Ich denke manchmal darüber nach, wieviel Mut, aber auch wie viel Hoffnung wirdieser Familie machen. Da ist auf dereinen Seite die große Freude, wenn z.B.die Kinder sagen und ausstrahlen, wieglücklich sie hier in der Schule und mitihren Kameraden sind. Aber auf deranderen Seite steht eben auch die Angst,dass es schiefgehen könnte. Wie vor allemdie Familie, aber wie auch wir damitzurechtkommen würden, wenn sie nachBulgarien ausreisen müsste, wissen wirnicht. Dass wir uns das nicht mehr vor -stellen wollen, ist eine Konsequenz desgemeinsam gegangenen Weges, schafftaber eben leider keine Gewissheit.

Aus gutem Grund – Kirchenasyle in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau20

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Die Zeit des Kirchenasyls

Am 8. Juli 2014 bezieht die Familie die beidenschnell zurechtgemachten Zimmer im unterenStockwerk des Gemeindehauses. Von Zeit zu Zeitkommen nahe Verwandte vorbei, die zum Teil schonseit längerem in Rheinland-Pfalz und im Saarland leben und die Familie unterstützen. Immer wiederlassen sich auch die Schulfreund/innen der Kinderoder Mannschaftskameraden von Ferhad sehen. AlsMitte Juli die Sommerferien beginnen, organisierenLehrkräfte der Realschule ehrenamtlich eine Art„Schule im Kirchenasyl“ – zunächst nur für Berivan,später auch für die anderen Familienmitglieder.

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„Berivan habe ich Ende Juli über Frau Hahn-Müller kennengelernt, die bei uns an der SchuleDeutsch-Förderunterricht gibt. Da ich selbsteinen Migrationshintergrund habe, wollte ichgerne helfen. Ich unterrichte hier in der Real-schule Englisch und Mathematik und habe eine9. Klasse. Das hat vom Alter her gut mit Berivangepasst. Wir haben dann vereinbart, dass wiruns zwei- bis dreimal pro Woche hier treffenund erst mal nur Mathematik wiederholen. Ichhabe mit ihr in nur sechs Wochen den Stoff

Auch nach den Sommerferien bleiben die Lehrerinnen undLehrer bei der Stange. Jeden Samstag kommen sie insGemeindehaus und geben dort Unterricht. In dieser Zeit lernen die Kinder fast perfektes Deutsch und machen dieEltern so große Fortschritte, dass die Verständigung mitihnen nicht mehr auf Englisch erfolgen muss.

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„Seitdem die Kinder wieder zur Schule gehen,kommen wir Lehrer in der Regel immer nocheinmal in der Woche hierher, machen Hausauf-gabenbetreuung, geben Nachhilfeunterrichtoder vertiefen einzelne Unterrichtinhalte. Armin Krätz, Lehrer an der Ernst-Barlach-Realschuleplus Höhr-Grenzhausen

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eines ganzen Halbjahrs durcharbeiten können.Gleichzeitig hat Frau Hahn-Müller mit BerivanDeutsch gelernt und ein anderer Lehrer, HerrKrätz, Geschichte und Sozialkunde. Wir habenfür Berivan so eine Art Klassenbuch eingeführt,immer eingetragen, wer an welchem Tag hierwar und was wir gemacht haben.“ (Irina Weiand, Lehrerin an der Ernst-Barlach-Real-schule plus Höhr-Grenzhausen )

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21Die lange Fluchtgeschichte der Familie Khello

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Im August 2014 richten Mitglieder der Kirchenge-meinde für Familie Khello eine Petition an denrheinland-pfälzischen Landtag. Bis zur Entschei-dung über den Antrag erhält die Familie von derAusländerbehörde des Westerwaldkreises eine Dul-dung. Trotzdem bleibt sie bis auf weiteres im Kir-chenasyl, denn im Falle einer Ablehnung der Petiti-on droht die sofortige Abschiebung nach Bulga-rien. Durch Beschluss des Kirchenvorstandes wirddas Kirchenasyl deshalb Anfang Januar zunächstfür ein weiteres halbes Jahr verlängert. Aufgrundder Duldung kann sich die Familie jetzt aber wiederfrei in der Stadt und im Umkreis bewegen.

Die beiden jüngeren Geschwister gehen inzwischennicht mehr im Kirchenasyl, sondern regulär inHöhr-Grenzhausen zur Schule, haben dort vieleFreunde und Freundinnen und sind sehr gut inte-griert. Ferhad besucht erfolgreich die 11. Klassedes Gymnasiums und Berivan die 9. Klasse der Realschule. Ihre Leistungen dort sind so gut, dassdie Klassenlehrerin ihr einen Schulwechsel auf dasGymnasium problemlos zutraut. Berivan ist die mitAbstand beste Mathematikschülerin der Klasse.

Der Vater der Familie besucht regelmäßigDeutschkurse in Höhr-Grenzhausen und Rezankümmert sich in seiner freien Zeit weiterhin inten-siv um seine Mutter Sonia. Sie leidet noch immersehr unter den Erlebnissen in Syrien und auf derFlucht. Martina Saal, die die Familie von Anfangan begleitet und unterstützt hat, geht regelmäßigmit Sonia einkaufen und hält weiter den Kontaktmit der Familie, „um zu hören, was es Neues gibtund was ich vielleicht tun kann.“

Auch Rezan will seinen weiteren Weg in Deutschlandgehen. Zurzeit absolviert er in Wirges einenDeutsch kurs auf B2-Niveau. Die Organisation „Brotfür die Welt“ hat ihm gerade erst ein Studienstipen-dium bewilligt. Zum Wintersemester will er deshalban der Hochschule Koblenz sein Bauingenieurstudi-um wieder aufnehmen, das er in Syrien wegen desKrieges und der Flucht unterbrechen musste.

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„Rezan unterstützt aufgrund seiner weit fortgeschrittenenDeutschkenntnisse beispielsweise die Schulleitung der Ernst-Barlach-Realschule plus als Übersetzer bei Aufnahmegesprä-chen syrischer Schüler. Berivan gibt einer syrischen SchülerinNachhilfeunterricht in Deutsch und ist eine wichtige Ansprech-partnerin für die Klassenlehrerin dieses syrischen Mädchens.Ferhad ist beim Schulinformationstag aktiv, indem er Plakatefür den Deutschförderunterricht gestaltet. Dieses hohe Engagement unterstreicht doch die starkeMotivation, die Einsatzbereitschaft und den festen Integrati-onswillen von Rezan, Berivan und Ferhad. Wir fordern undfördern Integration in vielen Bereichen. Haben wir dannnicht auch eine moralische Verpflichtung, diejenigen, diediese „Integrationsprüfung“ mit Auszeichnung bestehen, inunsere Gesellschaft aufzunehmen und ihnen die Chance aufein selbstbestimmtes Leben zu geben?“ Bettina Hahn-Müller, Deutschförderlehrerin an der Ernst-Barlach-

Realschule plus Höhr-Grenzhausen

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Aus gutem Grund – Kirchenasyle in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau22

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Was, hoffen Sie, hält die Zukunft wo fürSie bereit? Und welche Menschen undErfahrungen aus der Zeit im Kirchenasylmöchten Sie auf dem Weg in die Zukunftgerne mitnehmen?

Ich sehe keine andere Möglichkeit alsdie, dass wir in Deutschland leben. Ichwünsche mir, dass wir mit den Menschen,die uns so sehr geholfen haben, dannimmer noch verbunden sind. In unsererFamilie hat jeder ein Ziel. Ich persönlichhabe schon in Syrien Bauwesen studiertund möchte das gerne auch in Deutsch-land tun.

Und ich wünsche mir, dass irgendwanndie Zeit kommt, wo wir den Menschen,die uns geholfen haben, alles oder etwasvon dem zurückgeben können. ■

Interview mit Rezan Khello

Wie war die Situation in Bulgarien und gabes besondere Gründe, warum Sie ausBulgarien nach Deutschland weitergeflohen sind?

In dem Flüchtlingslager in Bulgarienhaben wir uns nicht wie Menschen, sondern wie Tiere gefühlt. Niemand warbereit, uns zu helfen. Irgendwann hattenwir kein Geld mehr und es gab keineMöglichkeit zu arbeiten. Also mussten wirweiterfliehen. Unser erstes Ziel war dannDeutschland, weil hier viele unserer Ver-wandten wohnen.

Wie wichtig war es für ihre Familie, in dasKirchenasyl zu kommen?

Man kann sich kaum vorstellen, wieschwer es ist zu fliehen, wenn man esnicht erlebt hat. Man kann sich daraufnicht vorbereiten. Wir mussten plötzlichunser Haus verlassen und wussten nicht,auf welchem Weg wir fliehen sollten. Essind mehr als 3000 Kilometer von Syrienbis hierher und man kann nicht einschät-zen, was unterwegs alles passierenkann. Ich war sehr froh, als wir inDeutschland angekommen sind.

Als uns dann gesagt wurde, dass wir wieder nach Bulgarien gehen müssen,waren wir geschockt. Das Kirchenasylwar so etwas wie eine Lebensrettung.Dank der riesigen Unterstützung konntenwir so vieles machen. Deutsch lernenund Freunde finden und ich persönlichkonnte das Schul- und Studiensystemhier kennenlernen. Und das sind nurganz wenige Beispiele.

23Die lange Fluchtgeschichte der Familie Khello

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„Es werden kommen von Osten und von Westen,von Norden und von Süden, die zu Tisch sitzenwerden im Reich Gottes“Lukas 13,29

Aus gutem Grund – Kirchenasyle in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau24

Das Kirchenasyl von Abdikafar Abdulahi Mohamud (17 Jahre) aus Äthiopien in der Evangelischen Kirchengemeinde Friedberg (Hessen)

Ukraine

Äthiopien

Türkei

SlowakeiTschechische Republik

Deutschland

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slowakisch-tschechischen Grenze. Von dort aus flie-hen sie in einem slowakischen Taxi quer durch dieTschechische Republik weiter bis nach München. Inder bayerischen Erstaufnahmeeinrichtung in derBayernkaserne stellt Abdi schließlich im Juli 2013einen Antrag auf Asyl. Von dort wird er im Zuge derUmverteilung der Hessischen Erstaufnahmeeinrich-tung in Gießen zugewiesen und im September 2013vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge(BAMF) angehört. Dabei übernimmt und beharrtdas BAMF auf Abdis Altersangabe aus der der Slo-wakei und unterstellt ihm fälschlicherweise, volljäh-rig zu sein. Aus der Hessischen Erstaufnahme inGießen heraus wird er nach zweieinhalb Monaten indie Gemeinschaftsunterkunft im Friedberger Stadt-teil Fauerbach geschickt. Kurz darauf lehnt dasBAMF Abdis Asylantrag wegen Unzuständigkeit abund leitet im März 2014 seine Rücküberstellung indie Slowakei ein. Das Land, in dem Abdi willkürlich

Beginn des Kirchenasyls:7. August 2014Ende des Kirchenasyls:2. Dezember 2014

25Abdis Geschichte

Abdis GeschichteAbdikafar Abdulahi Mohamud wird im Kirchenasyl inFriedberg nur Abdi genannt. Gemeinsam mit seinerFamilie lebt der junge Muslim bis 2012 in dem zuÄthiopien gehörenden Ogaden-Gebiet, das mehr-heitlich von Somaliern bevölkert ist. Auch Abdi undseine Familie gehören zu dieser Bevölkerungsgrup-pe. In dem Gebiet toben seit Jahren kriegerischeAuseinandersetzungen zwischen äthiopischenRegierungstruppen und der Ogaden National Libe-ration Front (ONLF), die für die Unabhängigkeit derRegion bzw. ihre Angliederung an ein „Groß-Soma-lia“ kämpft. Sein Vater fällt diesen Unruhen im Jahr2008 zum Opfer. Vier weitere Jahre lebt Abdizusammen mit seiner Mutter und seinen siebenGeschwistern in diesem Krisengebiet. 2012 schließ-lich entschließt sich Abdis Mutter, die beiden ältes-ten Söhne nach ihrem High-School-Abschluss aufdie Flucht zu schicken. Sie verkauft zwei der imFamilienbesitz befindlichen Kamele und stattet diebeiden mit Geldmitteln aus. Abdis älterer Brudermacht sich auf den Weg in die Vereinigten Staaten,Abdi selbst wünscht und bemüht sich um eine bes-sere Zukunft in Deutschland. Er fliegt über Istanbulin die Ukraine, wo er für sieben Monate inhaftiertwird, ohne dass man seine Personalien aufnimmtoder ihn als Flüchtling registriert. Anschließend wirder ohne irgendeine Unterstützung wieder entlassenund dazu aufgefordert, das Land zu verlassen. ZuFuß schlägt Abdi sich bis zur ukrainisch-slowaki-schen Grenze durch. Nachdem er die Grenze über-wunden hat, wird er von slowakischen Sicherheits-beamten aufgegriffen und für drei Wochen inhaf-tiert. In dieser Zeit wird Abdi vom Gefängnisperso-nal wiederholt verhört und gefoltert. Bei der„erkennungsdienstlichen Behandlung“ werden ihmgezielt Verletzungen an den Fingernägeln und denFingerkuppen beigebracht. Man glaubt Abdi nicht,dass er noch minderjährig ist. Die Beamten drohenihm an, ihn solange zu inhaftieren, bis er einräumt,älter als 18 Jahre zu sein. Um das Gefängnis end-lich verlassen zu können, gibt Abdi schließlich diegewünschte Erklärung ab. Kurz darauf bringt manihn und andere junge Flüchtlinge mit einem Bus zur

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inhaftiert, gefoltert und dazu gezwungen wordenist, ein falsches Alter anzugeben, ist nach der Dublin-III-Verordnung für die Prüfung seines Asylgesuchs zuständig.

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„Wir haben im Vergleich zu den 90er Jahren,als es auch Kirchenasyle gab, aufgrund derDublin-Regelung eine völlig neue und andereSituation. Es wird nicht mehr auf die Flucht-gründe, sondern auf die Fluchtwege geschaut.Staaten, in denen Menschenrechtsverletzun-gen an Flüchtlingen alltäglich sind, werden zu‚sicheren Drittstaaten‘ erklärt. Es ist für eineKirchengemeinde ein unendlich wichtiger Lern-prozess zu erkennen, dass man solche Men-schen nicht einfach wieder abschieben undihrem Schicksal überlassen darf.“ Pfarrerin Susanne Domnick

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Die Evangelische Kirchengemeinde Friedberg

Gut 5.000 der insgesamt etwa 15.000 Einwohner/in nen der Kernstadt Friedberg (Hessen) gehörender evangelischen Kirche an. Seit vielen Jahren istdie Kirchengemeinde wichtiger Akteur der Stadtge-sellschaft. Einem von der evangelischen Kirche

mitinitiierten Friedberger Bündnis gegen Rechts istes z.B. im Jahr 2009 zweimal gelungen, Aufmär-sche der NPD in der Stadt zu verhindern.

Drei der vier Friedberger Pfarrer/innen sind seitlangem Mitglied bei der Flüchtlingshilfsorganisati-on PRO ASYL und für die Flüchtlingsthematik sen-sibilisiert. Sie tragen das Thema „Gewährung vonKirchenasyl“ im Herbst 2013 erstmalig an denKirchenvorstand heran, ohne dass bereits kon-krete Anfragen oder Bitten um Schutzgewährungvorliegen.

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„Uns war klar, dass die Flüchtlingszahlen inDeutschland, Hessen und in Friedberg weiteransteigen werden, und wir haben uns alsPfarrteam – wie bei anderen aktuellen The-men und Herausforderungen auch – intensivdamit auseinandergesetzt, was diese Tatsachefür uns als Christen und als Kirchengemeindebedeutet.“ Pfarrerin Susanne Domnick

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Mit großer Mehrheit erklärt sich das Gremiumgrundsätzlich dazu bereit, von der Abschiebungbedrohten Flüchtlingen Kirchenasyl zu gewähren.Das Vorliegen besonderer humanitärer Gründe undeine gute Erfolgsperspektive werden zu Vorausset-zungen erklärt, die im konkreten Einzelfall gegebensein müssen.

Nur kurz darauf entscheidet der Kirchenvorstandbei nur einer Stimmenthaltung, dem eritreischenFlüchtling Rafael Kirchenasyl in der evangelischenStadtkirche zu gewähren.

Rafael ist 26 Jahre alt und orthodoxer Christ. Erflieht aus seinem Heimatland, nachdem er beieinem Bombenangriff verletzt wurde und ein Beinnur noch eingeschränkt bewegen kann. Zu Fußkommt er quer durch Nordafrika bis nach Libyen.Dort wird Rafael gefoltert, ehe er in einemuntauglichen Flüchtlingsboot in Seenot gerät und

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von der italienischen Küstenwache auf die InselLampedusa gebracht wird. Er wird von den italie-nischen Behörden registriert, bleibt aber obdach-los und ohne medizinische Versorgung undschlägt sich schließlich nach Deutschland durch.In der Erstaufnahmeeinrichtung lernt Rafael seineFreundin Sofanit kennen. Gemeinsam kommen siein ein Flüchtlingsheim in Friedberg. Während ihrAsylantrag anerkannt wird, droht Rafael dieAbschiebung nach Italien, das nach der Dublin-Regelung für seinen Asylantrag zuständig ist.

Abdis Kirchenasyl

Abdi wohnt zu dieser Zeit noch in der Gemein-schaftsunterkunft im Friedberger Stadtteil Fauer-bach. Auch ihm droht nach der Ablehnung seinesAsylantrags die Abschiebung. Obwohl er dortinhaftiert und gefoltert wurde, soll er wegen derDublin-Regelung in die Slowakei „zurückkehren“.Dabei bescheinigt ihm ein ärztliches Gutachteneine fluchtbedingte, schwere posttraumatischeBelastungsstörung mit Depressionen und Todes-angst. Abdis Rechtsanwältin empfiehlt ihm, sichals letzten Ausweg um Kirchenasyl zu bemühen.

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„Ein somalischer Freund in Frankfurt hat mirdann sein Telefon geliehen und ein deutscherFreund hat bei „no border“ (AntirassistischesNetzwerk gegen die Abschiebung und für dieUnterstützung von Flüchtlingen in Frankfurtam Main) angerufen. Die haben dann per MailKontakt mit der Kirchengemeinde in Friedbergund Pfarrerin Domnick aufgenommen.“ Abdikafar Abdulahi Mohamud

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Nur zwei Tage nach der Entscheidung, Rafael,dem jungen eritreischen Flüchtling, Kirchenasyl zugewähren, kommt es zu einem Gespräch zwi-schen Abdi und dem Kirchenvorstand. Anschlie-ßend entscheidet das Gremium am 7. August2014 trotz einiger Bedenken mehrheitlich, auchAbdi in das Kirchenasyl aufzunehmen.

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„Ein bisschen irritiert war ich dann, als FrauDomnick zwei Tage später mit Abdi ankam. Dahabe ich etwas polemisch gefragt, wie vieledenn noch hinterherkommen. Dazu kam einegewisse Unsicherheit dahingehend, was es fürunsere Gemeinde bedeutet, einem Muslim Kir-chenasyl zu gewähren. Die Entscheidung fürdas zweite Kirchenasyl war zwar nicht leicht,aber richtig. Abdi war nach seiner Fluchtge-schichte in einer extremen Situation und aufunsere Hilfe angewiesen.“ Hans Helmut Hoos, Mitglied des Kirchenvorstands

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Der Gemeinderaum in der evangelischen Stadtkir-che wird für mehrere Wochen zum gemeinsamenZuhause von Abdi und Rafael. Die Gemeindegrup-pen müssen in die Kirche ausweichen. Der Raumwird notdürftig eingerichtet mit zwei Matratzen aufdem Fußboden, Tisch und Stühlen und einem Fern-seher, mit dem beide manchmal Zeit totschlagenund manchmal Deutsch lernen. Schnell formiertsich eine Gruppe von Unterstützer/innen, die sichzur sogenannten „Deutschstunde“ zusammen-schließen und die beiden jungen Flüchtlinge täglichbesuchen. Mitglieder der zunächst achtköpfigenund später größer werdenden Gruppe geben denbeiden pro Tag mindestens eine Stunde Deutsch-unterricht, spielen und unterhalten sich mit ihnen,

Abdis Geschichte 27

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bringen Essen, gehen einkaufen oder besorgenihnen englischsprachige Bücher. Die Pfarrer/innensorgen dafür, dass beide von Ärzten ehrenamtlichbehandelt werden. Auch Rafaels Freundin, die inder Flüchtlingsunterkunft in Friedberg lebt, ist häu-fige Besucherin im Kirchenasyl.

Trotz der intensiven Begleitung, Unterstützung undBetreuung wird das Zusammenleben von Abdi undRafael auf engstem Raum auf Dauer schwierig.Ihre sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten undFluchterfahrungen führen immer häufiger zu Kon-flikten. Deren Regelung ist für alle Beteiligten einegroße Herausforderung.

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„Die besondere Situation bei uns war ja, dassein orthodoxer Christ und ein Muslim überWochen gemeinsam in der Stadtkirche unddann noch in einem Raum eingesperrt waren.Ich habe mir vorher nicht ausgemalt, wieschwierig das sein würde.“ Pfarrerin Susanne Domnick

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Die krisenhafte Situation entspannt sich erstAnfang Oktober, als der evangelische Kindergarteninnerhalb Friedbergs umzieht. Jetzt können Abdiund Rafael in dem leer stehenden ehemaligen Kindergartengebäude räumlich getrennt leben.

Als im November die Überstellungsfristen für beide Flüchtlinge ablaufen und ihnen dies einigeWochen später schließlich auch mitgeteilt wird,erhalten sie Anfang Dezember Duldungen von derFriedberger Ausländerbehörde. Damit endet für

beide das Kirchenasyl. Rafael verlässt die Kir-chengemeinde und zieht zu seiner Freundin Sofa-nit und Abdi bekommt ein Zimmer im Flüchtlings-heim in Friedberg zugewiesen. Beide haben wei-terhin engen Kontakt zur Kirchengemeinde undzu Unterstützer/innen aus der Deutschstunde.

Aber auch wenn Abdi bis auf weiteres nicht mehrvon der Abschiebung in die Slowakei bedroht ist:Auf die Mitteilung des Bundesamtes für Migrationund Flüchtlinge, dass die Zuständigkeit für seinAsylgesuch jetzt an die Bundesrepublik Deutsch-land übergegangen ist, wartet er noch immer.Das Bundesamt lässt sich Zeit! Immerhin: Am 6. Mai 2015 hat das Amtsgericht in FriedbergAbdis Minderjährigkeit anerkannt, die ihm dasBAMF im Asylverfahren abgesprochen hatte. Abdihat daher Anspruch auf besondere Schutz- undFördermaßnahmen, die sich aus der UN-Kinder-rechtskonvention und dem Kinder- und Jugend -

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„Das Kirchenasyl war gut für mich. Ich habe viele Menschenkennengelernt, auf die ich vertrauen kann und die mir immerhelfen. Und konnte besser schlafen hier im Kirchenasyl, weilich nicht mehr so viel Angst davor hatte, abgeschoben zuwerden, und auch, weil ich mir vorher in der Unterkunft inFauerbach ein Zimmer mit zwei oder drei anderen Flüchtlin-gen teilen musste und es immer laut war. Außerdem hatte ichin der Unterkunft vor dem Kirchenasyl wegen einer Verletzungimmer wieder Kopfschmerzen und andere gesundheitlicheProbleme, die erst im Kirchenasyl von den Ärzten kostenlosbehandelt und dann auch viel besser wurden.“ Abdikafar Abdulahi Mohamud

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hilferecht ableiten. Unter anderem darf er zurSchule zu gehen und hat das Recht auf eineumfassende medizinische Versorgung.

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„Ich würde gerne hier in Friedberg bleiben, wei-ter Deutsch lernen, im Sommer zur Schulegehen und dann eine Ausbildung machen.Danach wäre es schön, an die Fachhochschulezu gehen und dort zu studieren. Und ich will aufalle Fälle gerne weiter Fußball spielen. Ich inte-ressiere mich sehr für Fußball und war schonvor meiner Flucht ein Fan von Michael Ballack.Ich hatte damals keine Ahnung von der Euro-päischen Union oder der Slowakei. Ich wollteeinfach, wenn ich schon fliehen musste, wegen Michael Ballack unbedingt nach Deutschland.“ Abdikafar Abdulahi Mohamud

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Interview mit Pfarrerin Susanne Domnick undHans-Helmut Hoos, Mitglied des Kirchenvorstandes der Ev. Kirchen-gemeinde Friedberg (Hessen)

Gab es in der Kirchengemeinde vor oderwährend des Kirchenasyls Kritik oderWiderstände?

Susanne Domnick: Ablehnende Reaktionengab es kaum. Die wenigen kritischen Stim-men, die vereinzelt laut geworden sind,waren gesprächsbereit und offen fürunsere Argumente. Ob sie sich dieseArgumente dann auch zu eigen gemachthaben und wir sie tatsächlich überzeugenkonnten, weiß ich allerdings nicht sicher.Zur Akzeptanz der Kirchenasyle hat abersicher auch beigetragen, dass ich schonseit 17 Jahren Pfarrerin in der Kirchenge-meinde bin und in der Zeit so etwas wieein Grundvertrauen entstanden ist.

Hans-Helmut Hoos: Nicht alles wasgedacht wird, wird auch gesagt. Mein

Eindruck ist: Angesichts steigenderFlüchtlingszahlen vor allem aus musli-misch geprägten Ländern haben auchMenschen Sorgen und Befürchtungen,die mit Rechtsextremen überhaupt nichtsam Hut haben. Eine Kirchengemeindedarf den einzelnen Flüchtling diesen Sor-gen und Befürchtungen selbstverständ-lich nicht opfern, aber sie muss sie ernstnehmen und damit umgehen. Sie muss,finde ich, drei Dinge tun: Erstens im Sin-ne Dietrich Bonhoeffers vermitteln, dasses keinen Weg zum Frieden auf dem Wegder Sicherheit gibt; zweitens beständigund sachlich über die menschenrechtli-che Situation in den Herkunftsländernder Flüchtlinge und in den Transitstaateninformieren und drittens sich parallel zuihrem Einsatz für Flüchtlinge im Kirchen-asyl auch im Hinblick auf Menschen-rechtsverletzungen und die Verfolgungvon Christen z.B. in Kenia oder in Nigeriaklar positionieren.

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Wie war denn das Zusammenleben derbeiden Flüchtlinge auf engstem Raum?

Susanne Domnick: Abdi zum Beispiel fieles anfangs schwer, in den Kirchenraum zugehen, weil ihm das riesige Kruzifix Angstgemacht hat. Er ist einen längeren Weggegangen bis er seine Unsicherheit über-winden und darauf vertrauen konnte,dass das Kirchenasyl in Ordnung ist. UndRafael, der orthodoxe Christ, war eigent-lich der Meinung, dass Christen nur fürChristen da sein sollten. Ich habe Rafaeldann eine Ikone geschenkt und Abdi eineTafel mit der 1. Sure und wir haben imGemeinderaum beides unters Kreuzgestellt – rechts die Ikone und links dieSure – damit ganz klar wurde: Das istgottgewollt. Abdi war dann derjenige, dermit dem Toleranzgedanken an dieseSache herangegangen ist und zu Rafaelgesagt hat: Wir sind doch alle Menschen!

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„Ich hatte auch schon in Äthiopien vielechristliche Freunde und das war nie ein Pro-blem. Im Koran steht, dass man tolerant seinsoll, weil wir alle Menschen sind. So bin ichauch erzogen und von meinem Imam zu Hause gelehrt worden.“ Abdikafar Abdulahi Mohamud

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Für Rafael war das sehr viel schwieriger.Er ist auf seiner Flucht von Eritrea bisnach Libyen durch ganz Nordafrikagelaufen und gefoltert worden. Man hatihn eingesperrt und tagelang giftigenGasen ausgesetzt. Diese Prozedur istnur zu den muslimischen Gebetszeitenunterbrochen worden, weil seine Foltererbeten wollten. Als Rafael dann Abdi mor-gens hat beten hören, ist er ausgerastetund sehr aggressiv geworden. Ich habedann zusammen mit meinem Mann ein

schwieriges Gespräch mit Rafael geführt,in dem ich einerseits seinen schlimmenErfahrungen, andererseits aber AbdisRecht auf Sicherheit und weitergehenddem Gebot der Nächstenliebe gerechtwerden musste. Wie gut, dass unsereKirche so groß ist. Rafael nutzte dannden Balkon der Stadtkirche als Rück-zugsraum, Abdi ist zum Gebet in dieSakristei gegangen.

Hat sich das Kirchenasyl für die Gemeindegelohnt?

Hans-Helmut Hoos: Im Nachhinein wardas Kirchenasyl für unsere Kirchenge-meinde und alle Beteiligten ein wichtigerLernprozess, weil beide Flüchtlinge imGemeindeleben präsent waren. FrauDomnick hat sie zum Beispiel am Endedes Kirchenasyls im Gottesdienst geseg-net und damit einen formal-spirituellenSchlusspunkt des erfolgreichen Kirchen-asyls gesetzt. Die Gemeinde hat damitnach meiner Meinung einen kleinenBewusstseinssprung im Hinblick auf dieSituation der Flüchtlinge, aber auch imHinblick auf ihre Gestaltungs- und Hand-lungsmöglichkeiten als Christinnen undChristen gemacht.

Aus gutem Grund – Kirchenasyle in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau30

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Susanne Domnick: Ich denke, in Friedberg ist durch das Kirchenasyl die Bereitschaft, sich für Flüchtlinge einzusetzen, gestiegen.

Wir haben hier einen Runden Tisch fürFlüchtlinge mit fast 80 Menschen, diesich engagieren. Dieser Runde Tisch istsicher auch deshalb so stark geworden,weil wir bewusst und von Anfang an mitdem Kirchenasyl und den Flüchtlingen indie Öffentlichkeit gegangen sind undinformiert haben. Das hat dazu geführt,dass sich die Menschen in der Gemeindemit der Situation der Flüchtlinge undihren Herkunftsländern auseinanderge-setzt haben. Wir haben hier in Friedbergein enorm positives Feedback auf dasKirchenasyl erfahren. Es gab sogar Men-schen, die deshalb wieder in die Kircheeingetreten sind.

Können Sie etwas zu den theologischenÜberlegungen sagen, die Sie „Ja!“ zumKirchenasyl sagen lassen?

Susanne Domnick: Zunächst ist es eineunmittelbare Reaktion: Wenn mir einMensch vor die Füße fällt, dann bin ichdran – als Pfarrerin, als Gemeinde, alsEinzelne/r. Wir sind gerufen und berufen,uns in der konkreten Situation für denMenschen in Not einzusetzen.

Für mich gehört das zusammen: dieMenschen aufzunehmen, die unserenSchutz brauchen, und gleichzeitig öffent-lich darauf hinzuweisen, dass die Dublin-Regelung und grundsätzlich die Abgren-zungspolitik der EU für die Situation derFlüchtlinge unangemessen und unerträg-lich ist.

Dietrich Bonhoeffer hat in seiner Rede andie Berliner Pfarrerschaft im April 1933gesagt: „Die Kirche ist den Opfern jederGesellschaftsordnung in unbedingter

31Abdis Geschichte

Weise verpflichtet, auch wenn sie nichtder christlichen Gemeinde angehören“.Das ist für mich ein Leitsatz geworden.

Theologisch ist für mich im Verlauf desKirchenasyls mehr und mehr die Escha-tologie ins Zentrum gerückt, also dieFrage, worauf wir zugehen und was Gottmit dieser Welt eigentlich will. Da fällt mirLukas ein: „Und es werden kommen vonOsten und von Westen, von Norden undvon Süden, die zu Tisch sitzen im ReichGottes.“ Ein schönes Bild und eineunglaublich schöne Vorstellung. Kirchekann der Raum sein, der davon schoneinen kleinen Vorgeschmack bietet. EineVorschau darauf, dass einst alle Türenoffen stehen werden und es keine Gren-zen mehr gibt. Kirchenasyl ist ein symbo-lischer Schutzraum für die Menschen, dieum Schutz nachsuchen, den ihnen derStaat verwehrt. Im Bild gesprochen: Gottlädt ein. Wir decken den Tisch. ■

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„Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen“Matthäus 25,35

Aus gutem Grund – Kirchenasyle in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau32

Das Kirchenasyl von Lemlem Yonas Simye (22 Jahre)aus Eritrea in der Evangelischen Kirchengemeinde Geiß-Nidda/Bad Salzhausen

Eritrea

Somalia

Türkei Griechenland

Ungarn

Deutschland

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3311 Jahre auf der Flucht – Lemlems Geschichte

Wieder sieht Lemlem ihre einzige Chance in derFlucht und landet schließlich in Ungarn. Dort wirdsie kurz darauf von der Polizei aufgegriffen, manbringt sie zur Wache, stellt ihre Personalien festund gibt ihr zu verstehen, dass sie das Landsofort verlassen soll.

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„In Hungary the police arrested me on theroad and brought me to the police station.They just spoke Hungarian, so I didn‘t under-stood, what exactly they told me. But I under-stood that I can not stay in Hungary andshould leave the country immediately. So Icame to Germany.“ Lemlem Yonas Simye

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Die zweite Hälfte ihres bisherigen Lebens hat diejunge Eritreerin Lemlem Yonas Simye auf der Fluchtzugebracht. Die Jahre davor waren von dem Kriegund der Gewalt in ihrem Heimatland geprägt.

Lemlems Mutter stirbt früh. Als der Vater zum Mili-tärdienst eingezogen wird, muss er seine Tochterin die Obhut einer Freundin der Familie geben. Weildie Lage in Eritrea immer bedrohlicher wird, fliehtdie Pflegemutter gemeinsam mit dem jungen Mäd-chen nach Somalia. Auch dort prägen allgegenwär-tige gewalttätige Konflikte den Alltag. Lemlem kannnicht regelmäßig zur Schule gehen, es gibt für siein dem ostafrikanischen Krisenland keine Perspekti-ve auf ein Leben in Sicherheit und Würde. Als dieGewalt in Somalia immer weiter zunimmt, trennensich schließlich die Wege von Lemlem und ihrerPflegemutter. Lemlem, mittlerweile eine junge Frau,bleibt auf sich alleine gestellt zurück. Über die Türkei flieht sie nach Europa. Dabei legt sie weiteStrecken zu Fuß zurück und schafft es schließlichbis nach Griechenland.

In Griechenland lebt Lemlem als nicht registrierteFlüchtlingsfrau in der Illegalität. Sie schlägt sichmit Gelegenheitsjobs in der Landwirtschaft oderin der Gastronomie durch. Fast fünf Jahre langlebt sie in dem südeuropäischen Land von derHand in den Mund, verdient in prekären Beschäf-tigungsverhältnissen gerade genug, um in derRegel ein Dach über dem Kopf zu haben undEssen für den nächsten Tag. Ständig ist sie davonbedroht, sexuellen Belästigungen oder gewalttäti-gen Übergriffen zum Opfer zu fallen oder von dengriechischen Behörden entdeckt zu werden. AlsGriechenland schließlich tief in die Wirtschaftskri-se gerät, hat Lemlem in Griechenland auch in derIllegalität keine Zukunftsperspektive mehr. DieAushilfsjobs, mit denen sie sich bisher über Was-ser gehalten hat, fallen weg, gleichzeitig erstarktmit der „Goldenen Morgenröte“ eine neonazisti-sche Partei, die Gewalt gegen Menschen nicht-griechischer Herkunft propagiert.

11 Jahre auf der Flucht – Lemlems Geschichte

Beginn des Kirchenasyls:10. Juni 2014Ende des Kirchenasyls:11. August 2014

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Aus gutem Grund – Kirchenasyle in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau34

meinde ist einer der Aktivposten des RundenTisches, an dem sich u.a. auch die katholische Kir-chengemeinde, Ortsvereine, Parteien und ehren-amtliche soziale Initiativen wie die Tafel einfinden.Die Evangelische Kirchengemeinde Geiß-Nidda undBad Salzhausen organisiert Kleiderspenden, initi-iert einen Bürger/innenaufruf zur Unterstützungder Flüchtlinge und stellt ihre Räume regelmäßigfür Vernetzungstreffen zur Verfügung. Gemeinsamwird ein Konzept erarbeitet, um die Asylsuchendenin der Gemeinde willkommen zu heißen. Als kurzvor Weihnachten 2013 schließlich 57 Menschen,darunter Familien, Schwangere, alleinerziehendeMütter mit Kleinkindern und Babys, in das „Hausam Landgrafenteich“ einziehen, stellen sich ehren-amtlich Engagierte über die Feiertage in der Unter-kunft als Kontaktpersonen zur Verfügung, erhaltendie Kinder kleine Spielzeuggeschenke, die von denKindertagesstätten in der Region eingesammeltwurden, und stehen Kleider-, Medikamenten- undLebensmittelspenden bereit, um den Flüchtlingenden Start in der Gemeinde zu erleichtern. Schonseit dem Eintreffen der ersten Bewohner haben dieLeiterin der Einrichtung, Irmtraut Neidhardt, undHausmeister Vinco Lujic Flüchtlinge auf Ämter oderzu Ärzten gefahren.

Zweimal pro Woche können die Bewohner/innender Unterkunft in der Folge mit dem Bus kostenloszum Einkaufen in die Stadt fahren, ehrenamtlichwerden Deutschkurse angeboten, um ersteSprachkenntnisse zu vermitteln, Unterstützer/innenkommen regelmäßig in die Unterkunft, um gemein-sam zu kochen, sich beim gemeinsamen Tee überProbleme und neue Erfahrungen auszutauschenoder bei konkreten Problemen zu helfen.

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„Wir haben Sachspenden organisiert, Lebensmittel, Kleider.Wir haben die Leute zum Arzt und zu Behörden begleitet, unsum die schwangeren Frauen gekümmert. Und wir haben eseinfach als unsere Aufgabe gesehen, zu den Menschen hin zugehen, einen Kaffee mit ihnen zu trinken und zuzuhören. Unddas war keine Arbeit oder Belastung, sondern wir habendabei ganz herzliche Stunden erlebt.“ Marion Nies, ehrenamtliche Unterstützerin

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Eine Perspektive hätte die alleinstehende jungeFrau in Ungarn ohnehin nicht gehabt. Ohne Unter-stützung der Behörden und ohne Perspektive aufArbeit hätte ihr ein Leben auf und mit den Gefahrender Straße gedroht. Also flieht Lemlem weiter nachDeutschland, wo sie im Herbst 2013 schließlich Asylbeantragt, zunächst für einen Monat in der Hessi-schen Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen unterge-bracht wird und anschließend im Dezember 2013 indie Gemeinschaftsunterkunft „Haus am Landgrafen-teich“ nach Bad Salzhausen umverteilt wird.

Die Kirchengemeinde

Die evangelische Kirchengemeinde Geiß-Nidda/BadSalzhausen ist eine von insgesamt 19 evangeli-schen Kirchengemeinden im Dekanat Nidda. Gutzwei Drittel der knapp 1.700 Einwohner beiderOrte sind Mitglied der evangelischen Kirche. Geiß-Nidda und Bad Salzhausen gehören zum ländlich-konservativ geprägten hessischen Wetteraukreis.Das kirchliche Leben ist „geprägt von tradiertervolkskirchlicher Frömmigkeit.“ Die Kirchengemein-de war bereits in der Vergangenheit aktiver Teil des„Bündnisses für Demokratie“, das sich rechtsextre-men Parteien und Kameradschaften und ihren Ver-suchen in den Weg stellte, z.B. durch Konzertver-anstaltungen vor Ort Fuß zu fassen.

Als sich Ende des Jahres 2013 abzeichnet, dassca. 60 Asylsuchende in die Gemeinde Bad Salzhau-sen kommen und die Gemeinschaftsunterkunft„Haus am Landgrafenteich“ einziehen werden, initi-iert der Bereichsleiter des Diakonischen Werks desWetteraukreises, Frank Appel, zusammen mit demOrtsbürgermeister einen Runden Tisch zur Aufnah-me der Flüchtlinge. Die evangelische Kirchenge-

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3511 Jahre auf der Flucht – Lemlems Geschichte

Rechtlich zulässig ist die Abschiebung der schwan-geren Lemlem allerdings nur noch bis zum Beginndes Mutterschutzes am 1. August 2014. DerBereichsleiter des Diakonischen Werks des Wette-raukreises, Frank Appel, wendet sich deshalb anEberhard Hampel, den Pfarrer der EvangelischenKirchengemeinde Geiß-Nidda und Bad Salzhausen.Er fragt, ob die Kirchengemeinde dazu bereit ist,Lemlem bis Anfang August in ein Kirchenasyl zunehmen. Der eilig einberufene Kirchenvorstand derGemeinde entscheidet sich am 10. Juni 2014 nachausführlicher Diskussion und einem Gespräch mitder jungen Frau einstimmig dafür, ihr Kirchenasylzu gewähren. Noch am gleichen Tag begibt Lem-lem Yonas Simye sich in die Obhut der Kirchenge-meinde. Sie zieht in das evangelische Gemeinde-haus in Bad Salzhausen ein. Der Kirchenvorstandinformiert unmittelbar alle für die Asylangelegen-heiten der jungen Frau zuständigen Behörden überihren neuen Aufenthaltsort und führt kurz daraufein Pressegespräch durch, in dem die Öffentlichkeitinformiert wird. Gut acht Wochen lang bleibt Lem-lem im Kirchenasyl. In dieser Zeit kümmern sichMitglieder der Kirchengemeinde, die auch in derGemeinschaftsunterkunft im „Haus am Landgrafen-teich“ aktiv sind, intensiv um die junge Frau.Zugleich führen Ärzte aus der Gemeinde die in die-ser Schwangerschaftsphase vorgesehenen Vorsor-geuntersuchungen kostenlos und ehrenamtlichdurch. Lemlem kommt in der Zeit des Kirchenasylsganz langsam zur Ruhe.

Das Kirchenasyl im evangelischen Gemein-dehaus Bad Salzhausen

Seit Dezember 2013 lebt Lemlem in der Gemein-schaftsunterkunft in Bad Salzhausen. Sie nimmtregelmäßig die Unterstützungsangebote des Run-des Tisches an und ist wegen ihrer Freundlichkeitund Hilfsbereitschaft auch in der Hausgemein-schaft gut integriert. Als sie Anfang des Jahres2014 feststellt, dass sie ein Kind bekommen wird,kümmern sich Mitglieder der evangelischen Kirchengemeinde in der Folgezeit besondersintensiv um sie.

Im Frühjahr 2014 entscheidet das Bundesamt fürMigration und Flüchtlinge, dass aufgrund derDublin-Verordnung Ungarn und nicht die Bundes-republik für den Asylantrag von Lemlem zuständigist. Die Ausländerbehörde fordert die schwangereFrau im Juni 2014 dazu auf, Deutschland wiederzu verlassen und droht ihr die Abschiebung nachUngarn an. Dort aber hat die junge Frau keinerleiAnknüpfungspunkte und in ihrer persönlichenSituation keine Perspektive.

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„Sie ist so in Angst geraten, dass sie ihren Kram gepackthat und verschwinden wollte. Das hat sicher mit ihren Erfah-rungen auf der Flucht zu tun, mit der Angst, zu lange abzu-warten und nicht rechtzeitig zu handeln. Meine Frau und ichhaben mitbekommen, was passiert ist, mit ihr gesprochenund sie dann erst einmal zu uns nach Hause gebracht.“ Frank Appel, Diakonisches Werk des Wetteraukreises

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Aus gutem Grund – Kirchenasyle in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau36

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„Before I came into the Kirchenasyl, I had a lot of problems. But now everything is alright.I hope we can stay here. I want to learn German and I want to go to work. And I wantMaya to go to school in Bad Salzhausen. I found ‚my familiy’ and a lot of friends here.“ Lemlem Yonas Simye

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eines Asylverfahrens nach Ungarn hätte abschie-ben können. Die Zuständigkeit für ein Asylverfahrenliegt jetzt endgültig bei der Bundesrepublik.

Am 15. September 2014 bringt Lemlem eingesundes Mädchen zur Welt. Frank Appel und seineFrau haben für die kleine Maya die „Großeltern-funktion“ übernommen, die Patenschaft liegt beiMarion Nies und einer eritreischen Freundin vonLemlem. Beide haben sie vor und in der Zeit desKirchenasyls intensiv begleitet und unterstützt.

Weil der Mutterschutz die junge Frau zugleich vorder Abschiebung nach Ungarn schützt, verlässtLemlem am 11. August 2014 das Kirchenasyl. Siebezieht wieder eine Unterkunft in Bad Salzhausen.Mitte August schließlich endet die sechsmonatigeFrist, in der Deutschland Lemlem zur Durchführung

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„Ich glaube nicht, dass sie im Kirchenasyl vonAnfang an ein Gefühl von Sicherheit hatte, abersie hatte bald ein Gefühl von Vertrauen in diehandelnden Personen. Sie hat intuitiv gespürt,dass sie Vertrauen in die Menschen hier habenkann. Das war der entscheidende Punkt, daraufhat sie gesetzt. Dieses Vertrauen nach einer solangen Fluchtgeschichte fassen zu können, istnicht einfach und schon etwas sehr Erstaunli-ches und Ungewöhnliches.“ Frank Appel, Diakonisches Werk des Wetteraukreises

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Dimension, sondern um Christenpflicht undum die Glaubwürdigkeit von Kirche im kon-kreten Einzelfall. Ein anderer wichtigerPunkt für die positive Entscheidung warsicher auch, dass man den Zeitraum unddamit auch das finanzielle Risiko über-schauen konnte. Denn der Staat stellt imKirchenasyl ja alle Zahlungen ein und wennes in der Zeit zum Beispiel gesundheitlicheProbleme gegeben hätte, dann hätte dieGemeinde dafür geradestehen müssen.

Interview mit Pfarrer Eberhard Ham-pel und Frank Appel (DW des Wette-raukreises)

Welche Gründe haben zur Entscheidungdes Kirchenvorstands für das Kirchenasylgeführt?

Pfarrer Eberhard Hampel: Der Aspekt derMenschlichkeit war zentral bei der Ent-scheidung im Kirchenvorstand. Es gingden Mitgliedern nicht um eine politische

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matik der Einzelfälle steigt und immermehr Menschen haben direkten Kontaktmit Flüchtlingen. Sei es, weil sie sichehrenamtlich für sie engagieren, sei es,weil die Flüchtlinge anders als frühernicht mehr weit draußen, sondern oftmitten unter uns leben.

Wenn Sie das Kirchenasyl der Gemeindemit einem Bibelzitat begründen sollten:Wie heißt es?

Pfarrer Hampel: Mir fällt das Weltgericht-Gleichnis aus dem Matthäus-Evangeliumein: „Denn ich war hungrig, und ihr habtmir zu essen gegeben. Ich war durstig,und ihr habt mir zu trinken gegeben.“Und man könnte sicher zeitgemäßergänzen: „Ich war auf der Flucht undihr habt mich beherbergt.“ Zum Schlussdieses Gleichnisses sagt Jesus: „Was ihreinem meiner geringsten Brüder getanhabt, das habt ihr mir getan.“ Jesus imGeringsten wiederzuerkennen war fürmich ein ganz starkes Motiv dieses Kir-chenasyls. ■

11 Jahre auf der Flucht – Lemlems Geschichte 37

War es schwierig, im KirchenasylUnterstützung für die junge Frau zuorganisieren?

Pfarrer Eberhard Hampel: Nein! Das Kir-chenasyl war ‚nur‘ ein weiterer Puzzle-stein der Flüchtlingsarbeit, die hier vorOrt dank der unglaublichen Initiative vonFrank Appel seit Ende 2013 geleistetwird. Deshalb hat sich in den acht Kir-chenasyl-Wochen gegenüber der Zeitvorher auch gar nicht viel verändert. DieMenschen, die sonst in Geiß-Nidda undin Bad Salzhausen für Flüchtlinge aktivsind – manche aus der Kirchengemein-de, aber auch viele andere – haben ihreArbeit einfach nur auch in das Kirchen-asyl verlagert.

Frank Appel: Dass die Bevölkerung inGeiß-Nidda und in Bad Salzhausen –unabhängig von Lemlems Kirchenasyl –in der Weise für Flüchtlinge offen ist, hatmich Ende 2013 sehr überrascht. Das istganz anders als noch in den 1990er Jah-ren und hat sicher etwas damit zu tun,dass es vor einigen Jahren Versuche vonRechtsextremisten gab, hier Fuß zu fas-sen. Diese Erfahrung und die Bündnisse,die damals erfolgreich geschlossen wur-den, wirken offenbar nach.

Haben Sie das Kirchenasyl von Anfang anmit Öffentlichkeitsarbeit begleitet?

Pfarrer Eberhard Hampel: Wir haben unsim Interesse der Sache sehr zurückge-halten und nur zu Beginn ein Pressege-spräch gemacht, um uns nicht dem Vor-wurf auszusetzen, im Verborgenen zuagieren. Später gab es noch einen Arti-kel in der Evangelischen Kirchenzeitung,der eher als Ermutigung für andere Kir-chengemeinden gedacht war, sich mitdem Thema zu beschäftigen. Ich denke,das ist notwendig, weil es immer stärkerauf Kirchengemeinden zukommen wird –ob sie wollen oder nicht. Denn die Dra-

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38 Aus gutem Grund – Kirchenasyle in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau

Lange Zeit agierte der AK Asyl als eigenständigeInitiative unter dem Dach der Christuskirchenge-meinde, ehe er vor vier Jahren strukturell einge-gliedert wurde. Trotzdem engagieren sich auchweiterhin viele Mitglieder ohne religiösesBekenntnis. Das Kirchenasyl ist nur ein Hand-lungsfeld der Initiative. Sie veranstaltet darüberhinaus regelmäßig Diskusions- und Informations-veranstaltungen, leistet Bildungsarbeit in Schulenund führt Gespräche mit politisch Verantwortli-chen in der Kommune.

Trotz des Grundsatzbeschlusses von Anfang der90er Jahre muss vor jedem neuen Kirchenasyl aufdem kurzen Dienstweg die Zustimmung des Kir-chenvorstandes eingeholt werden. Voraussetzungsind dringende humanitäre Gründe und eine rea-listische Chance auf einen erfolgreichen Ausgang.Seit 1990 gab es in der Kirchengemeinde min-destens sieben Kirchenasylfälle. Alle haben amEnde zu einem dauerhaften Verbleib der Flüchtlin-ge in Deutschland geführt, die meisten wohnennoch immer in der Nähe.

Kirchenasyle der Christuskirchengemeinde sind bis-lang ausnahmslos „stille“ Kirchenasyle gewesen.

Die evangelische Christuskirchengemeinde inHeppenheim ist ein Pionier des Kirchenasyls.Schon Anfang der 90er Jahre nahm die Gemeindezum ersten Mal einen Flüchtling in ihre Obhut.Damals entschied der Kirchenvorstand, dass dieKirchengemeinde grundsätzlich dazu bereit ist,Flüchtlingen Kirchenasyl zu gewähren. Lange Zeithatte sie damit eine Alleinstellung im Kreis Berg-straße. Andere benachbarte Kirchengemeinden,bei denen die strukturellen Voraussetzungennicht gegeben waren, unterstützten die Christus-kirche im Fall der Fälle durch Sach- und Geld-spenden oder durch die ehrenamtliche Mitarbeitund Unterstützung ihrer Gemeindemitglieder.

Motor der Heppenheimer Kirchenasylgeschichtewar von Beginn an der Arbeitskreis Asyl. Er wurdebereits in den 80er Jahren gegründet, nachdemzunächst afghanische, später dann kosovarischeund bosnische Flüchtlinge nach Heppenheimkamen. Der Arbeitskreis war es auch, der die Kirchenasylfrage Anfang der 90er Jahre an dieKirchengemeinde herantrug und bis heute ersterAnsprechpartner für Flüchtlinge und das „Torzum Kirchenasyl“ in Heppenheim geblieben ist.

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„Wir haben hier in Heppenheim von Anfang anerfahren, dass diejenigen, auf die es am Endebeim Kirchenasyl ankommt – die Pfarrer, derKirchenvorstand, die Gemeinde – unsere Sichtder Dinge geteilt und die entsprechenden Ent-scheidungen getroffen haben. Auch wenn sievorher mit Flüchtlingen und dem Thema viel-leicht gar nicht viel zu tun hatten, waren siesofort infiziert. Im Grundsatz mussten wir deshalb eigentlich nie diskutieren.“ Hannelore Lehnard, Caritas und AK Asyl der Christuskirchengemeinde

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Die Evangelische „Christuskirchen-Asylgemeinde“in Heppenheim

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Die "Christuskirchen-Asylgemeinde" in Heppenheim 39

Zwar wurden die Mitglieder der Kirchengemeindeund alle relevanten Behörden informiert, gegenüberder Presse allerdings wurde Stillschweigen gewahrt.

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„Wir haben uns im Interesse der Menschenbisher immer dafür entschieden, stille Kirchen-asyle durchzuführen. Die Angst einer Behörde,ihr Gesicht zu verlieren oder vorgeführt zuwerden, sollte der humanitären Lösung füreinen Kirchenasylflüchtling nicht im Weg ste-hen. Ohne allzu große Öffentlichkeit haben alleBeteiligten im Ringen um gute Lösungen einegrößere Handlungsfreiheit. Aber das stille Kir-chenasyl ist in Heppenheim kein Dogma: Wennes der Sache dient, würden wir auch dieÖffentlichkeit suchen.“Reiner Volz, AK Asyl der Christuskirchengemeinde

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Der Grundüberzeugung und ursprünglichen Prä-misse des Kirchenasyls verpflichtet, wonach dievollziehende Gewalt Sakralräume respektiert undauch dann nicht betritt, wenn Schutzsuchendevollziehbar ausreisepflichtig sind, werden Flücht-linge in der Heppenheimer Christuskirchenge-meinde ausschließlich in dem Kirchenraum unter-gebracht.

Der AK Asyl koordiniert ein großes Netz vonehrenamtlichen Unterstützerinnen und Unterstüt-zern, die für die Flüchtlinge in der Kirche einkau-fen gehen, Essen kochen, ihnen Sprachunterrichtgeben, Wäsche waschen und vor allem alsGesprächspartner/in und Gesellschafter/innen zurVerfügung stehen. Denn bei einem Kirchenasyl inder Christuskirchengemeinde werden die Flücht-linge vierundzwanzig Stunden am Tag betreut undbegleitet. Jederzeit ist mindestens eine Person inder Kirche anwesend, an die die Flüchtlinge sichwenden können und die ihnen gegebenenfallsbeistehen könnte.

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„Wir lassen die Flüchtlinge im Kirchenasyl keineMinute allein. Wenn die Polizei wider Erwartendoch an die Tür klopft, soll jemand da sein, derdas Schlimmste zu verhindern versucht. Außer-dem sind die meisten unserer Flüchtlinge im Kir-chenasyl traumatisiert gewesen. Die konntenwir nicht alleine lassen, schon gar nicht in demfür sie fremden Kirchenraum. Das sind die wich-tigsten Gründe. Zusätzlich entwickeln sichdadurch, dass rund um die Uhr so viele Men-schen zum Einsatz kommen, viele enge Bezie-hungen und Bindungen an den konkreten Men-schen im Kirchenasyl und darüber auch ein Ver-ständnis für die bedrängte Situation, in der sichFlüchtlinge ganz allgemein befinden.“ Uta Forstat, AK Asyl der Christuskirchengemeinde

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40 Aus gutem Grund – Kirchenasyle in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau

Das Kirchenasyl von A. (Somalia)in derEvangelischen „Christuskirchen-Asylgemeinde“ in Heppenheim

und Bürger für neu ankommende und schon inHeppenheim lebende Flüchtlinge: Sie erteilenehrenamtlich Sprachunterricht, übernehmenPatenschaften, organisieren Gesprächskreise undTreffen, planen Begegnungsfeste, leisten Über-setzungsdienste und begleiten Flüchtlinge beiBehördengängen.

Die Asyl- und Flüchtlingsarbeit ist über die Jahrezu einem festen Bestandteil der Kirchengemein-dearbeit geworden und trägt Früchte. Im Dezem-ber 2014 hat sich mit tatkräftiger Unterstützungdes AK Asyl die „Flüchtlingsinitiative Heppenheim“gegründet. Darin engagieren sich in der Zwi-schenzeit etwa 100 Heppenheimer Bürgerinnen

Libyen

Malta

Somalia

Niederlande

Deutschland

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Die "Christuskirchen-Asylgemeinde" in Heppenheim 41

A. reist umgehend per Zug und Autostopp wiederin die Bundesrepublik ein und taucht schon nachwenigen Tagen wieder in seiner alten Jugendhilfe-einrichtung auf. Weil ihm die erneute Abschiebungin die Niederlande droht, nimmt er Kontakt mitder „Initiative gegen Rechtsextremismus und Aus-länderfeindlichkeit im Kreis Bergstraße“ auf undbittet per Mail um Hilfe: „Ich weiß nicht mehr wei-ter, ich habe Angst, in Holland wieder ins Gefäng-nis zu kommen. Ob Sie meine Abschiebung ver-hindern können weiß ich nicht, trotzdem möchteich Sie um Hilfe bitten.“

Die Initiative wendet sich daraufhin an denArbeitskreis Asyl der Christuskirchengemeinde inHeppenheim. Nachdem eine kurzfristig eingelegtePetition beim Hessischen Landtag nicht zumErfolg führt, gewährt die Kirchengemeinde demjungen Mann nach einem ersten Treffen – an demauch A.s Rechtsanwalt, Vertreter/innen derJugendhilfeeinrichtung, der EKHN und Mitgliederder „Initiative gegen Rechtsextremismus und Aus-

A. wird im Jahr 1993 in Somalia geboren. Der Jun-ge, der mit 11 Jahren zur Flucht gezwungen wird,erreicht 2006 nach einem längeren Zwischenauf-enthalt in Libyen die Insel Malta. Von dort flieht erim Jahr 2008 mit einem gefälschten Pass weiter indie Niederlande, wo er erstmals registriert wirdund einen Asylantrag stellt. Weil A. laut seines fal-schen Papiers bereits volljährig ist, lebt er etwaein Jahr lang ohne angemessene Betreuung in

einer Asylunterkunft für erwachsene Flüchtlinge.Anschließend kommt er in Abschiebungshaft: seinAsylantrag wurde abgelehnt, er soll nach Somaliaabgeschoben werden. Die Abschiebung scheitert,nach drei Monaten wird A. aus der Haft entlassen.Mehrere Monate lebt er ohne Hoffnung, Obdachund Mittel in den Niederlanden auf der Straße.

Im Jahr 2010 kommt A. schließlich nach Deutsch-land. Er meldet sich bei den Behörden in Frankfurtam Main und wird einer Jugendhilfe-Einrichtung imKreis Bergstraße zugewiesen. Dort wird er alters-gerecht betreut, bis das Bundesamt für Migrationund Flüchtlinge (BAMF) nicht nur die Asylzustän-digkeit für A. ablehnt, sondern auch seine Minder-jährigkeit in Abrede stellt. Trotz Bedenken deszuständigen Frankfurter Jugendamtes schenkt dasBAMF den falschen Altersangaben aus den Nieder-landen ungeprüft Glauben. A. wird in einer unange-kündigten Nacht- und Nebelaktion von der Bundes-polizei aus seiner Unterkunft geholt und in die Niederlande abgeschoben.

Beginn des Kirchenasyls:31. Januar 2012Ende des Kirchenasyls:17. Februar 2012

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42 Aus gutem Grund – Kirchenasyle in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau

länderfeindlichkeit im Kreis Bergstraße“ teil -nehmen – Kirchenasyl. Vom 31. Januar bis zum 17. Februar 2012 lebt A. unter dem Schutz derKirchengemeinde und in der ständigen Betreuungvon Ehrenamtlichen und Mitgliedern des AK Asylin der Christuskirche. Mit dem Ablauf der Über-stellungsfrist in die Niederlande endet das Kirchenasyl mit einem großen Fest.

A. kehrt in die Jugendhilfeeinrichtung zurück undwird dort in verschiedene Bildungsmaßnahmeneingegliedert. Kurz nach seinem 18. Geburtstagverlässt er die Einrichtung und bekommt kurzeZeit später eine eigene Unterkunft im Kreis zuge-wiesen. A. hat in der Zwischenzeit hervorragendDeutsch gelernt und eine eigene Familie gegrün-det. Er lebt und arbeitet mit Frau und zwei kleinenKindern in einer Nachbargemeinde von Heppen-heim.

Einige Zeit nach dem Ende des Kirchenasyls hatdas Verwaltungsgericht Darmstadt festgestellt,dass A.s erste Abschiebung rechtswidrig war. DasBundesamt für Migration und Flüchtlinge und dieAusländerbehörde des Kreises hätten die falscheAltersschätzung aus den Niederlanden nichtungeprüft übernehmen dürfen. Der Kreis Berg-straße richtet daraufhin einen Runden Tisch ein,damit solche Fehler künftig vermieden werdenkönnen und ein angemessener Umgang mit min-derjährigen Flüchtlingen gewährleistet ist. Nacheiner längeren Phase ohne diesbezügliche Pro-bleme beobachten Mitglieder des AK Asyl in denletzten Monaten Anzeichen dafür, dass die Sorg-falt der Behörden – möglicherweise unter demDruck erhöhter Zugangszahlen – wieder nach-lässt. ■

Heppenheimer Stimmen und Positionenzum Verhältnis zwischen Kirchenasyl und der Dublin-Regelung

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„Dublin ist Unrecht, das ist für mich klar. Aberdas Kirchenasyl dient zuallererst einem kon-kreten Menschen. Es ist für mich kein geeigne-tes Mittel der politischen Auseinandersetzung.Sonst würde der Flüchtling in Not aus demBlick geraten und – schlimmer noch – Mittelzu einem höchst ehrenhaften, aber noch sehrweit entfernten Zweck werden. Ich will dasnicht und sehe es eher aus der Perspektivedes Flüchtlings: Wenn es durch ein Kirchenasylgelingt, dass ihm trotz Dublin Gerechtigkeitwiderfährt, dann hat es seinen eigentlichenZweck erfüllt.“Dominik Kanka, Pfarrer der Christuskirchengemeinde

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Die "Christuskirchen-Asylgemeinde" in Heppenheim 43

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„Für mich ist trotzdem wichtig zu sehen, wasdiese Regelung bewirkt. Und da muss ich per-sönlich leider sagen, dass das Dublin-Systemmenschenverachtend ist. Es verfolgt das Ziel,die Zuwanderung von Flüchtlingen zubeschränken und bringt damit ganz konkreteMenschen in Not und in Lebensgefahr. DasKirchenasyl ist für mich deshalb mehr als diewichtige Hilfe im Einzelfall. Es ist ein Mosaik-stein in der politischen Auseinandersetzungum Dublin. Immerhin sieht unsere demokrati-sche Rechtsordnung in letzter Konsequenz jasogar ein Widerstandsrecht zum Schutz desGrundgesetzes vor. Und das beginnt nun malmit den Worten ‚Die Würde des Menschen istunantastbar. Sie zu achten und zu schützen istVerpflichtung aller staatlichen Gewalt.‘“Reiner Volz, AK Asyl der Christuskirchengemeinde

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„Ich sehe es pragmatisch: Wir haben einewachsende Zahl von Kirchenasylen und seiteiniger Zeit zum Glück viel mehr Unterstütze-rinnen und Unterstützter als in den Jahrenzuvor – darunter viele, die sich früher nichtoder kaum für die Situation von Flüchtlingeninteressiert haben. Sie wollen anfangs viel-leicht einfach nur etwas Gutes tun, stolperndann aber darüber, wie hier mit Menschenumgegangen wird. Sie organisieren Arbeits-und Praktikumsplätze für Flüchtlinge, diewegen irgendwelcher rechtlichen Restriktionendann doch nicht angetreten werden dürfen.Und diese Unterstützerinnen und Unterstützerstolpern auch über Dublin. Sie erkennen dieRegelung schnell als das, was sie meiner Mei-nung nach ist: europäische Vertreibungspoli-tik! Und aus dieser Erkenntnis wird langsamaber sicher etwas Positives, etwas Verändern-des, wachsen. Davon bin ich überzeugt.“Hannelore Lehnard, Caritas und AK Asyl der Christuskirchengemeinde

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„Gib Rat, schaffe Recht, verbirg die Gejagtenund verrate die Flüchtlinge nicht!“ Jesaja 16.3

Das Kirchenasyl von Aboud H. (25 Jahre) aus Syrienin der Evangelischen Kirchengemeinde Hungen-Bellersheim

Aus gutem Grund – Kirchenasyle in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau

Syrien

Ägypten

Türkei

UngarnÖsterreich

Deutschland

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Erst nach 16 Tagen erniedrigender Behandlungwird Aboud schließlich vor ein Militärgerichtgestellt. Nur weil sein einflussreicher Vater Druckmacht, belässt das Gericht es schließlich bei einerVerwarnung und darf er den Gerichtssaal als frei-er Mann verlassen. Er unterstützt weiterhin diedemokratische Opposition und wird etwa ein Jahrspäter erneut inhaftiert – diesmal vom syrischenGeheimdienst „Al’Difa Al Watani“. Wieder ist ergrausamen Haftbedingungen ausgeliefert, nocheinmal erreicht sein Vater seine Freilassung. WeilAboud anschließend in einem Internetblog überseine Inhaftierung berichtet, droht ein erneuterZugriff des Assad-Regimes. Auf Drängen seinerMutter flieht er schließlich zunächst in die Türkeiund nach einem Monat weiter nach Ägypten.

Abouds Weg nach Deutschland 45

Beginn des Kirchenasyls:18. Februar 2015Ende des Kirchenasyls:5. Mai 2015

Aboud wächst in einer wohlsituierten und angese-henen Familie an der syrischen Mittelmeerküsteauf. Nach seiner Zeit in der syrischen Armeearbeitet Aboud in der Medienbranche. In seinerFreizeit schreibt er Gedichte und journalistischeArtikel. Im Jahr 2011 schließt er sich dem gemä-ßigten demokratischen Widerstand gegen dasAssad-Regime an. Er unterstützt die Bewegung,indem er Medikamente in eine von Massakernbetroffene Stadt bringt und Beiträge in einerunabhängigen Internetzeitung veröffentlicht. ImNovember 2011 wird er von der syrischen Polizeiverhaftet und wegen der angeblichen Schädigungdes Ansehens der Nation angeklagt.

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„Zwischen Ende November und AnfangDezember 2011 verbrachte ich meine (erste)Haftstrafe in einem Gefängnis des „Secret Service Military“. Hier wurden wir in Zellenzwei Stockwerke unterhalb der Erde gesteckt.Zusammen mit 17 weiteren Gefangenen sollteich verlegt werden. (… )Die Leute vom „Secret Service Military“ legenuns die Hände hinter dem Rücken in Hand-schellen, verbinden uns die Augen und stoßenuns in den Bus. Die Fahrt beginnt: Die Solda-ten beschimpfen uns, sagen, wir seien Bastar-de und dass wir nur deshalb für die Freiheitdemonstrieren, damit unsere SchwesternProstituierte und unsere Mütter Lesben wer-den können. Nie im Leben dachte ich, dassMenschen, die aus meinem Heimatland kom-men, so viel Hass empfinden könnten. In ihrenAugen sind wir der Grund dafür, dass sichimmer weniger junge Männer der allgemeinenWehrpflicht stellen.“ Übersetzter Internetblog von Aboud H.

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Abouds Weg nach Deutschland

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„Alle arabischen Staaten verschlossen dieTüren für uns Syrer. Und die Türkei bot mirkeine Zukunftsperspektive. Dort kann man alsFlüchtling nichts tun, nur warten. Wenn ichdort geblieben wäre, würde ich heute auf derStraße leben.“ Aboud H.

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Mit der Unterstützung von Fluchthelfern gelingt esAboud im Juni 2014, nach Ungarn einzureisen.Die Fahrt von der Türkei nach Ungarn dauertnach seiner Erinnerung drei oder vier Tage lang,die ganze Zeit ist er in verschiedenen PKW ver-steckt. Unmittelbar hinter der ungarischen Grenzewird er von ungarischen Sicherheitskräften aufge-

griffen und mit vielen anderen Flüchtlingen aufengstem Raum unter unwürdigen Bedingungeneingesperrt. Er wird registriert und nach einemTag und einer Nacht wieder freigelassen. _________________________________

„Ich konnte es nicht fassen. Nichts war so, wieich es in Europa erwartet hatte. Nach dieserErfahrung wollte ich nur noch weg vonUngarn.“ Aboud H.

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Man fordert ihn auf, sich in einem Flüchtlings-camp im ungarischen Debrezin einzufinden. Weiler weiß, dass die Lebensbedingungen dort kata-strophal sind, flieht er statt dessen mit einemFreund per Zug weiter nach Budapest, von dortaus mit dem Taxi nach Wien, mit dem Zug nachMünchen und schließlich zu einem Verwandten imNorden Deutschlands. In den drei Tagen undNächten, die er für diese Etappe seiner Fluchtbenötigt, schläft Aboud keine Minute. Weil er inNorddeutschland nicht die Unterstützung findet,die er sich erhofft hatte, macht er sich nach eini-gen Tagen auf den Weg in die Hessische Erstauf-nahmeeinrichtung in Gießen, wo er Asyl bean-tragt. Nach etwa zwei Monaten wird er nach Wolf-hagen in der Nähe von Kassel umverteilt. Dortteilt er sich die Unterkunft unter anderem miteiner größeren Flüchtlingsfamilie aus Syrien.

46 Aus gutem Grund – Kirchenasyle in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau

Aboud nimmt Kontakt zu Exilorganisationen auf,die den Widerstand gegen Assad unterstützen.

Der Aufstand gegen Ägyptens StaatspräsidentMursi und die inneren Unruhen im Land ver-schlechtern Anfang 2013 die Situation so sehr,dass Aboud sich zur Rückkehr in die Türkei ent-schließt. Er will dort abwarten, wie sich die Situa-tion in Syrien entwickelt. Nach 11 Monaten wirdihm klar, dass es bis auf weiteres keine Rückkehrnach Syrien geben wird und er in der Türkei keinePerspektive hat. Aboud entscheidet sich zur Wei-terflucht in die Europäische Union.

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Die (Kirchen)Gemeinde Bellersheim

Bellersheim mit seinen etwas mehr als 1.000 Ein-wohnerinnen und Einwohnern gehört seit den70er Jahres des letzen Jahrhunderts zur StadtHungen im Landkreis Gießen. Die Nähe zu denZentren des Rhein-Main-Gebiets ist spürbar. DieGemeinde ist vielen Pendlern zur Heimat gewor-den, gleichzeitig sind die gewachsenen Struktu-ren erhalten geblieben. Das Dorfleben ist vonbelastbaren Strukturen des Zusammenlebens undvon gegenseitiger Unterstützung geprägt. Einbreit aufgestelltes und reges Vereinsleben unddie Bereitschaft, am Gemeinwesen orientiert zudenken und zu handeln zeichnen die Gemeindeaus. Der Hessische Rundfunk hat Bellersheim imJahr 2015 als „Dolles Dorf“ ausgezeichnet.

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„Wenn hier jemand Hilfe braucht, dann wirdbei uns nicht lange nachgedacht, sondern eswird gehandelt. Das ist in Bellersheim so. Dagibt es niemanden, der zögert.“ Werner Scheld, Kirchenvorstand der PfarrgemeindeHungen-Bellersheim

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Auch wenn es vor Ort keine besonders ausge-prägte „Migrationslandschaft“ gibt, sind Fluchter-fahrungen in der Gemeinde präsent: MancheFamilien sind nach dem 2. Weltkrieg als Vertriebe-ne aus den ehemaligen Ostgebieten nach Bellers-

heim gekommen und hier heimisch geworden.

Die Grundschule in der NachbargemeindeObbornhofen arbeitet seit 1994 als sogenannte„Jenaplan-Reformschule“, in der altersübergrei-fend und handlungsorientiert gelernt und sozialesVerhalten und gemeinschaftliche Entwicklung inden Mittelpunkt gestellt wird.

Fast drei Viertel der Einwohnerinnen und Einwoh-ner gehören der evangelischen Kirchengemeindean. Sie hat sich seit Anfang der 90er Jahre dankdes Engagements junger Menschen im Kirchen-vorstand zu einer offenen, liberalen, dem Men-schen zugewandten und in der Dorfgemeinschaftfest verankerten Kirchengemeinde entwickelt.Innovative Formen des Gottesdienstes, intensiveJugendarbeit und die aktive Teilnahme an interna-tionalen Projekten z.B. in Indien haben dazuebenso beigetragen wie der einjährige Gastauf-enthalt eines deutschstämmigen Pfarrers ausBrasilien.

Das Kirchenasyl – Weg und Verlauf

In seiner Unterkunft in Wolfhagen erreicht Abouddie Nachricht, dass das Bundesamt für Migrationund Flüchtlinge (BAMF) die Zuständigkeit für sei-nen Asylantrag wegen der Dublin-Regelung abge-lehnt hat und er zur Ausreise nach Ungarn aufge-fordert ist. Andernfalls droht ihm die Abschiebungdorthin.

Die Aufforderung zur Ausreise nach Ungarnerreicht Aboud in Wolfhagen. Hilfesuchend wendeter sich an seinen Rechtsanwalt und wird ent-täuscht. Seine Bitte um Unterstützung bleibtunbeantwortet. Rechtliche Schritte gegen die Aus-reiseaufforderung unterbleiben deshalb. Aboudstellt sich verzweifelt darauf ein, „freiwillig“ nachUngarn auszureisen, um die Abschiebung zu ver-hindern.

Wenige Tage vor dem geplanten Ausreiseterminbegleitet der junge Mann die syrische Flüchtlingsfa-milie aus seiner Unterkunft noch zu einem Gerichts-termin in Gießen. Er spricht gutes Englisch und dieFamilie hat ihn gebeten, Übersetzungsdienste zuleisten. Zufällig trifft er bei diesem Termin auf eine

Abouds Weg nach Deutschland 47

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Mitarbeiterin des Diakonischen Werks, die in derErstaufnahmeeinrichtung in Gießen Flüchtlingeberät. Ihr erzählt er seine Geschichte, sie erkenntseine Verzweiflung und die Dringlichkeit der Situati-on und handelt sofort. Sie kümmert sich darum,dass Aboud in einer psychiatrischen Klinik in Kasseldie dringend benötigte Hilfe und Betreuungbekommt und deshalb bis auf Weiteres nicht nachUngarn zurückkehren muss. Gleichzeitig macht siesich auf die Suche nach einer Anschlussperspekti-ve für Aboud. In einer E-Mail an (ehrenamtliche)Unterstützerinnen und Unterstützer von Flüchtlin-gen bittet sie um Hilfe bei der Suche nach einer Kirchengemeinde, die dem jungen Mann Schutzgewähren könnte. Diese Mail erreicht spät amAbend auch einen Sohn der Pfarrersfamilie in Bel-lersheim. Er informiert seine Eltern, die sich amnächsten Morgen sofort mit dem Kirchenvorstandin Verbindung setzen und die Situation schildern.

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„Ich habe dann erst einmal geschluckt und eineschlaflose Nacht lang überlegt: „Schaffen wirdas?“ Und dann kam schnell der Gedanke: „Dakannst du dich nicht wegducken! Ich kann mei-nen Söhnen nicht mehr in die Augen gucken,wenn ich Ausflüchte mache. Aboud ist im Alterunseres jüngsten Sohnes und wie ich unsereKinder einschätze, wäre es ihnen in Syrienwahrscheinlich genauso gegangen wie Aboud.“Pfarrerin Beate Fritzsche

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Für die Pfarrersfamilie und den Kirchenvorstand istKirchenasyl ein vollkommen neues Thema. Nocham selben Abend findet ein erstes Treffen statt, beidem die Beteiligten sich von einem Flüchtlingsseel-sorger der EKHN informieren und beraten lassen.Nur einen Tag später fällt die Entscheidung des Kirchenvorstands: Wir machen das!

Die Pfarrerin organisiert Helferinnen und Helfer,die in aller Eile den zum Lager umfunktioniertenehemaligen Jugendraum der Kirchengemeinde,die „Grotte“, entrümpeln und aufräumen. Zahlrei-che Geld- und Sachspenden aus der Bevölkerungund von Mitgliedern der Kirchengemeinde tragendazu bei, dass der Raum wohnlich ausgestattetund bezugsfertig wird. Für den Fall der Fälle wirdsichergestellt, dass Aboud im Kirchenasyl kosten-los ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen könnte.Aus der Dorfgemeinschaft heraus bildet sich einoffener Unterstützerkreis, der dazu bereit ist,dem jungen Mann Sprachunterricht zu geben, fürihn einkaufen zu gehen, ihm Gesellschaft zu leis-ten. Kurz darauf trifft Aboud in Bellersheim ein.

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„Ich war sehr gespannt auf die Menschen, diedazu bereit waren mich aufzuehmen, ohnedass sie mein Gesicht kannten oder wussten,wie ich mich verhalten und wie ich sein würde.Ich wusste vorher, dass es ein kleiner Ort ist,aber nicht, wie sich das Leben dort im Kir-chenasyl anfühlen würde. Ich bin ja in derStadt aufgewachsen. Ich habe mich abergleich wohl gefühlt und sehr schnell an allesgewöhnt. Jetzt ist mir in diesem Haus und indiesem Ort alles so vertraut, dass es ganzschön schwer sein wird, eines Tages von hierwegzugehen.”Aboud H.

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Sind es zu Beginn des Kirchenasyls insbesondereJugendliche, die in die „Grotte“ kommen, denKontakt zu Aboud suchen und sich um ihn bemü-hen, entwickeln sich nach und nach einige junge,

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politisch interessierte Erwachsene zu seinenwichtigsten Bezugspersonen und Gesprächspart-nern. Abouds Alltag ist zudem eng mit dem derPfarrersfamilie verbunden: Man kocht zusammen,isst zusammen, verbringt ganze Abende im Aus-tausch und Gespräch.

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„Wir haben uns erst mal im Internet infor-miert, um eine Idee zu bekommen wie es wohlwerden wird. Da gab es zum Beispiel Berichtevon jungen Flüchtlingen im Kirchenasyl, die mitden Jugendlichen aus der Gemeinde Tischten-nis spielen. Also haben wir gleich eine Tisch-tennisplatte beigeschafft. … Aber Aboud isteben nicht unbedingt der Tischtennisspieler.Irgendwann tauchte noch eine Playstation auf… aber auch das war nicht sein Ding. Damusste sich eben erst finden, was zusammen-gehörte. Aber alle waren offen und sind aufihn zugegangen, und das war wichtig“ Pfarrerin Beate Fritzsche

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Weil die Möglichkeit der Rücküberstellung Aboudsan die ungarischen Behörden erst zum 21. Mai2015 endet, sind alle Beteiligten darauf einge-stellt, dass das Kirchenasyl mindestens bis zudiesem Zeitpunkt andauern wird. Tatsächlich abererkennt das Bundesamt für Migration und Flücht-linge (BAMF) Aboud schon Mitte April als Flücht-ling an, ohne dass er sofort davon erfährt. Aufder Grundlage einer Übereinkunft zwischen denchristlichen Kirchen und dem BAMF vom Februar2015 hatte die Mitarbeiterin des DiakonischenWerks in Gießen, die den jungen Mann in das Kir-chenasyl vermittelt hatte, ein Dossier zu seinemFall erstellt und mit Abouds Zustimmung demBundesamt vorgelegt. Am 6. Mai 2015 schließlichteilt sein Anwalt dem jungen Mann mit, dass er inDeutschland als Flüchtling anerkannt worden ist.

Abouds Weg nach Deutschland 49

Die Übereinkunft zwischen den Kirchenund dem Bundesamt vom Februar 2015

Wegen der zunehmenden Zahl von Härtefäl-len durch die Dublin-Regelung und der stei-genden Zahl von Kirchenasylen sowie auf-grund der Ankündigung von Bundesinnenmi-nister Thomas de Maiziere, die Rücküberstel-lungsfrist für Flüchtlinge im Kirchenasyl von 6 auf 18 Monate zu verlängern, kam es imFebruar 2015 zu einem Spitzengesprächzwischen Vertretungen der Kirchen und derBundesbehörden. Dabei wurde vereinbart,dass Kirchenvertreter die Möglichkeitbekommen, Einzelfälle erneut vom Bundes-amt überprüfen zu lassen, vorzugsweisenoch bevor die betroffenen Personen in das Kirchenasyl aufgenommen werden.

In der „Grotte“ im Bellersheimer Pfarramt wohntAboud trotzdem immer noch. Weil er hier heimischgeworden ist! Aber auch, weil alle Beteiligten inden letzten Wochen erfahren müssen, wie lang-sam und behäbig die Mühlen der Bürokratie mah-len. Mit seiner Anerkennung als Flüchtling ist derKampf und Einsatz für wichtige soziale Rechteund Leistungen oder für den ungehindertenZugang zum Arbeitsmarkt oder zu Integrations-maßnahmen längst noch nicht zu Ende.

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„Kirchenasyl ist mit dem Kirchenasyl nicht zuEnde. Wir haben immer noch mit den verschie-denen Behörden zu tun, die sich zuständigfühlen, zuständig sind oder glauben, nichtzuständig zu sein. Das dauert seine Zeit unddamit dauert es auch, bis der Weg zu einereigenen Wohnung oder einer Arbeitsstellegeebnet ist. Und deshalb ist Aboud auchimmer noch bei uns.“ Pfarrer Johannes Fritzsche

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Trotzdem schaut Aboud mit neuem Mut nach vor-ne. Er hofft auf ein Leben in Sicherheit und Würdein Deutschland und irgendwann in der Zukunft inseiner syrischen Heimat.

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„Ich möchte die deutsche Sprache noch bes-ser lernen und mir eine Arbeit suchen. Undwenn ich meine Eltern wiedersehen kann, wer-de ich ruhiger werden. Zweieinhalb Jahre mei-nes Lebens habe ich verloren – ich hoffe,dass mich das Leben dafür irgendwann wiederentschädigt. Vor allem aber hoffe ich, dass wirin Syrien eines Tages so leben können, wie iches jetzt in Deutschland beobachte: in gegen-seitiger Achtung, friedlich und bereit aufeinan-der zuzugehen.“Aboud H.

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Drei Fragen – Drei Antworten

Was hat sich durch das Kirchenasyl beiIhnen persönlich verändert??

Pfarrer Johannes Fritzsche: Als Gemeindeging es uns ganz konkret um Aboud, umdiesen jungen Mann, der Hilfe gebrauchthat und dem wir helfen wollten. Für michpersönlich ist durch das Kirchenasyl aberauch die Dublin-Regelung zu einem The-ma geworden. Ich empfinde es als einArmutszeugnis, dass die EU sich nicht aufeine gemeinsame humane Asylpolitik eini-gen kann und diese Unfähigkeit zu Lastender Flüchtlinge geht, die wie Waren querdurch Europa hin- und hergeschobenwerden. Und so wie mir geht es, ausgelöstdurch den Kontakt mit Aboud, sicher vie-len in der Gemeinde. Man denkt über die-se Ungerechtigkeit nach und man empörtsich darüber.

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Was hat sich durch das Kirchenasyl in derKirchengemeinde verändert?

Achim Müller, Kirchenvorstand der Pfarr-gemeinde Hungen-Bellersheim: Mancheaus der Gemeinde sagen uns: „Das wardas erste Vernünftige, was der Kirchen-vorstand je gemacht hat.“ Das stimmt sozwar nicht, aber es zeigt doch, wie starkdas Kirchenasyl hier angenommen wurdeund dass es den Leuten etwas gegebenhat. Menschen wurden zusammenge-bracht, die vorher wenig miteinander zutun hatten und jetzt festgestellt haben,dass sie doch einiges verbindet – auchvon der Einstellung her. Und es sindneue Vernetzungen und Gespräche zwi-schen den Generationen entstanden undin Gang gekommen.

Können Sie etwas zur theologischenMotivation sagen, die dem Einsatz fürAboud zugrunde lag?

Pfarrerin Beate Fritzsche: Jesajas „GibRat, schaffe Recht, verbirg die Gejagtenund verrate die Flüchtlinge nicht!“ fällt mirsofort ein. Aber auch ein Zitat aus dem 1.Petrusbrief (1. Petrus 4.10), den sich derKirchenvorstand als Leitspruch gegebenhat: „Dienet einander jeder mit der Gabe,die er empfangen hat.“ Dieses „Einander“beschränkt sich für uns ganz selbstver-ständlich nicht nur auf den engen Kreisder Kirchengemeinde, sondern es umfasstdie ganze Gemeinde und geht über dieganze Gemeinde hinaus. Das drückt sichin ganz praktischen Sachen aus. Zum Bei-spiel haben alle die Ärmel hochgekrempeltund ihre Gaben eingebracht, als die Ent-scheidung für das Kirchenasyl gefallenwar: die „Grotte“ wurde ausgeräumt undabgedichtet, es waren Handwerker zurStelle, die Frauen haben sauber gemacht,das Bett und andere Möbel waren zweiTage später da. Das alles war – wenn manso will – gelebte, konkrete, sehr prakti-sche Theologie. ■

Abouds Weg nach Deutschland 51

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52 Aus gutem Grund – Kirchenasyle in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau

Kirchenasyl der Familie Gohari (Afghanistan) in der Evangelischen Miriamgemeinde in Frankfurt am Main (Bonames und Kalbach)

„Seid allezeit bereit, Rechenschaft abzulegenüber die Hoffnung, die in Euch ist.“1. Petrus 3.15

AfghanistanIran

Pakistan

Türkei

Griechenland

DeutschlandNiederlande

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Kein Or t – Nirgends: Die sechsjährige Flucht der Familie Gohari 53

Der Versuch, seine Familie vor der Verfolgungdurch die Taliban in Sicherheit zu bringen, dauertfür Mohammad Mehdi Gohari (32) jetzt schonüber sechs Jahre. Zusammen mit seiner Frau Lai-loma (25), die zurzeit ihr drittes Kind erwartet,und den Kindern Husnia (8) und Ali Asghar (1)lebt er seit Ende 2014 im Frankfurter StadtteilBonames. Er hofft, dass seine Familie hier endlichRuhe und eine neue Heimat findet.

Bis zum Jahr 2009 lebt die Familie im afghani-schen Kandahar. Die Stadt im Süden des Landesliegt im Grenzgebiet zu Pakistan. Trotz der massi-ven Präsenz internationaler Truppen ist sie eineHochburg der Taliban-Aktivitäten. Immer wiederkommt es zu Bedrohungen und Übergriffen aufdie Zivilbevölkerung und Anschlägen auf afghani-sche und internationale Sicherheitskräfte.

Mehdi Gohari ist Schneider und betreibt ein klei-nes Geschäft in der Stadt. Er und seine Familiegehören der schiitischen Hazara-Minderheit an.Sie wird von den sunnitischen Taliban besondersintensiv verfolgt und bedrängt. Im Jahr 2009 ver-langen die Taliban von der Familie, ihnen ihreTochter Husnia zu übergeben, sobald sie – nachLesart der Taliban mit neun Jahren – „heiratsfä-hig“ ist. Sie drohen damit, die Familie zu töten,wenn sie die Zustimmung verweigert. Das Mäd-chen ist damals gerade zwei Jahre alt.

Im Juli 2009 entschließt sich die ganze Familiedaraufhin zur Flucht. Von Pakistan aus, wo Meh-dis Eltern zurückbleiben, fliegt sie zunächst nachTeheran. Sie schafft es dank der Hilfe von PKW-und Lastwagen-Fahrern, das Land zu durchque-ren. Sie erreicht die iranisch-türkische Grenzeund überwindet sie zu Fuß. In der Türkei nimmtdie Familie Kontakt zu Fluchthelfern auf. Nachdemein erster Anlauf gescheitert ist, gelangt siezusammen mit etwa 30 anderen Flüchtlingennach fünfstündiger Fahrt in einem überfülltenBoot nach Griechenland. Dort wird die Familieaufgegriffen und festgesetzt. Die griechischenSicherheitskräfte nehmen ihnen zwar Fingerab-drücke ab, weigern sich aber, einen Asylantragentgegenzunehmen oder die Familie zu registrie-ren. Nach zwölf Tagen wird sie ohne Hilfestellungund ohne Perspektive entlassen. In Athen sam-meln Goharis zwei Monate lang Geld und Kraftund knüpfen Kontakte zur Weiterflucht. Ihr Zielsind die Niederlande, wo Mehdis großer Bruder,der ebenfalls von den Taliban verfolgt wurde, lebtund als Flüchtling anerkannt ist. Mit falschenPapieren durchquert die Familie im Zug Öster-reich und die Bundesrepublik. Ende Dezember2009 kommt sie in den Niederlanden an.

Am 10. Januar 2010 stellen Mehdi und seineFamilie dort einen Antrag auf Asyl. In der Unter-kunft, die die niederländischen Behörden ihr ineinem Asylzentrum zuweisen, lebt die Familie guteineinhalb Jahre lang, ohne dass sie zu ihrenFluchtgründen befragt wird. Erst im Juli 2011 fin-det ein Interview mit der niederländischen Asylbe-hörde statt. Sie lehnt den Asylantrag im Jahr

Beginn des Kirchenasyls:11. November 2014Ende des Kirchenasyls:19. März 2015

Kein Ort – nirgends: Die sechsjährige Flucht der Familie Gohari

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2012 ab und droht die Abschiebung nach Afgha-nistan an. Fast gleichzeitig erfährt Mehdi, dasssein Vater, der die Flucht der Familie finanziellunterstützt hatte, in einem Krankenhaus in Pakis-tan gestorben ist. Rechtsmittel gegen die Ableh-nung des Asylantrages, der Versuch, über den2013 in den Niederlanden geborenen Sohn AliAsghar ein Bleiberecht zu bekommen und ein wei-terer Asylantrag ziehen sich bis Anfang 2014 hin,bleiben aber letztlich erfolglos.

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„Wir können nicht zurück nach Afghanistan!Wir sind seit sechs Jahren auf der Flucht, vonLand zu Land und von Unterkunft zu Unter-kunft. Meine Tochter fragt mich, warum siekein eigenes Zimmer hat wie ihre Freundinnenund nicht einmal ein eigenes Bett. Und meineFrau kann nicht verstehen, warum wir so gro-ße Probleme haben und andere Flüchtlingeaus Afghanistan einfach hierbleiben dürfen.Wie soll ich ihnen das erklären?“ Mohammad Mehdi Gohari

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Für Mehdis Frau Lailoma, die von der Ungewiss-heit auf der Flucht schwer traumatisiert ist, wirddie Situation fast unerträglich. Immer wieder –zuletzt beinahe täglich – wird die Polizei bei derFamilie vorstellig und drängt sie zur Ausreise. Alsendgültig die Abschiebung nach Afghanistandroht und ihr Anwalt in den Niederlanden für die

Familie keine Perspektive mehr sieht, besteigt sieam 17. April 2014 den Zug nach Frankfurt amMain. Dort lebt eine Tante von Lailoma seit vielenJahren als anerkannte Flüchtlingsfrau. Sie istinzwischen deutsche Staatsbürgerin geworden.

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„Es gab ein paar Gründe, warum wir dannnach Deutschland weitergeflohen sind: Ichhabe die Sprache nach der Zeit in den Nieder-landen ein bisschen verstanden und hier lebtdie Tante meiner Frau. Außerdem hat mir meingroßer Bruder in den Niederlanden – der unsjetzt schon zweimal hier besucht hat – gesagt,dass die Menschen in Deutschland offener undtoleranter sind als in den Niederlanden. UndDeutschland ist ein großes Land und in Afgha-nistan sehr angesehen.“ Mohammad Mehdi Gohari

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Familie Gohari stellt in Deutschland einen weiterenAntrag auf Asyl, bleibt für etwa einen Monat in derHessischen Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen undwird anschließend nach Frankfurt am Main umver-teilt. Sie wohnt ca. ein halbes Jahr lang in einemvon der Stadt angemieteten Hotel am Allerheiligen-tor. Dann lehnt das Bundesamt für Migration undFlüchtlinge (BAMF) wegen der Dublin-Regelung ab,über den Asylantrag der Familie zu entscheiden.Am 28. Oktober 2014 wird die Familie aufgefor-dert, Deutschland bis zum 11. November zu ver-lassen und in die Niederlande zurückzukehren.

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„Meine Frau ist schwanger und wir bekommenim Juli hier unseren zweiten Sohn. Meine Frauist in Afghanistan geboren worden, ich im Iran.Unsere Tochter Husnia ist in Pakistan zur Weltgekommen, unser erster Sohn Ali Asghar inden Niederlanden. Das sagt viel über unserLeben und unsere Geschichte.“ Mohammad Mehdi Gohari

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Coming Home: Das Kirchenasyl in der Miriamgemeinde in Frankfurt Bonames

Der Anwalt der Goharis in Frankfurt/M. informiertdie Familie nach der Ablehnung ihres Asylantragsdarüber, dass weitere Anträge nur dann eineChance auf inhaltliche Prüfung durch das Bun-desamt für Migration und Flüchtlinge haben, wenndie in der Dublin-Regelung vorgesehene sechs-monatige Überstellungsfrist in die Niederlandeverstrichen ist. Er weist die Familie darauf hin,dass sich einzelne Kirchengemeinden in der Ver-gangenheit bei ähnlich dramatisch gelagertenFällen dazu bereit erklärt haben, Flüchtlingen Kirchenasyl zu gewähren. Die Goharis nehmendaraufhin Kontakt mit dem Evangelischen Zen-trum für Beratung und Therapie am Weißen Steinund mit der „AG Kirchenasyl“ im EvangelischenStadtdekanat Frankfurt am Main auf.

Dessen Vorsitzender wendet sich an die Evangeli-sche Miriamgemeinde in den Frankfurter Stadttei-len Bonames/Kalbach. Er bittet die Kirchenge-meinde zu prüfen, ob sie der von der Abschie-bung bedrohten Familie innerhalb kürzester Zeit

Kirchenasyl gewähren kann und will. Die Gemein-de stimmt zu, stellt der Familie Räumlichkeiten imGemeindehaus Bonames zur Verfügung und orga-nisiert kurzfristig die soziale Betreuung undBegleitung der Familie.

Als gut vier Monate später, am 18. März 2015,die Überstellungsfrist in die Niederlande endlichverstrichen ist, endet das Kirchenasyl der Familie.Sie erhält seitdem kurzfristige Duldungen undbezieht Leistungen nach dem Asylbewerberleis-tungsgesetz. Die Asylzuständigkeit für FamilieGohari hat das BAMF bisher noch nicht erklärt.

"Nachwort: Am 25. Juli 2015 hat Lailoma Gohari in Frankfurt/M. ein gesundes Kind zur Welt gebracht."

Interview mit Thomas Volz, Pfarrer der Ev. Miriamgemeinde und Walter Sohrmann, Mitglied des Kirchenvorstandes und ehrenamtli-cher Unterstützer

Lebt die Familie nach Abschluss desKirchenasyls noch immer imGemeindehaus?

Thomas Volz: Das tut sie! Es ist ihr großerTraum, in Bonames bleiben zu können.Vor allem Lailoma hat hier etwas Ruhegefunden und sich gefangen. Und Husniageht keine hundert Meter von hier ent-fernt in die Schule, hat dort Freundegefunden und fühlt sich sehr wohl.

Wir versuchen deshalb vor Ort einebezahlbare Wohnmöglichkeit zu finden.Das braucht natürlich seine Zeit. Aber wirhaben ein Objekt ganz in der Nähe zumGemeindehaus in Aussicht und haben derFamilie deshalb angeboten, im Gemeinde-haus zu bleiben, bis alles geregelt ist.

Wir beschreiben Sie die Struktur derKommune und Ihrer Kirchengemeinde?

Thomas Volz: Bonames hat keine Villen,aber auch keine besonders große Zahlvon sozial benachteiligten Menschen.Große Gruppen von Flüchtlingen undAsylsuchenden gibt es nicht. Was es abergibt, ist eine Unterkunft zur Vermeidungvon Obdachlosigkeit, in der etwa 100Menschen mit ganz verschiedenen,

Kein Or t – Nirgends: Die sechsjährige Flucht der Familie Gohari 55

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immer mit Scheitern verbundenen, Bio-graphien leben. Diese Menschen unddamit auch soziale Not sind im Stadtbild– z.B. vor den Discountern – also durch-aus präsent und wahrnehmbar.

Es gibt hier einen Siedlungsbereich, indem nach dem 1. Weltkrieg Kriegsver-sehrte untergebracht waren. Nach dem2. Weltkrieg kamen Flüchtlinge und Hei-matvertriebene dazu. Ende der 50erJahre wurden dann einige Siedlungs- undHochhäuser gebaut, in die zumeist einfa-che Angestellte und Beamte und auchMenschen eingezogen sind, die ausunterschiedlichsten Gründen ihren Wohn-ort oder ihre Heimat gewechselt haben.

In unserer Kirchengemeinde gibt es eingefestigtes Selbstverständnis, das sichüber Jahre entwickelt hat: „Wir wollenGemeinde nicht nur für uns selbst sein,sondern auch für die Anderen.“ Dement-sprechend gibt es viele Projekte interna-tionaler Solidarität, die wir durchführenoder unterstützen – in Chile, in BurkinaFaso, in Äthiopien. Während des Bos-nien-Krieges Anfang der 90er Jahre hatdie Kirchengemeinde auch schon einmalFlüchtlinge beherbergt. Diese Perspekti-ve der Solidarität prägte und prägt nochimmer auch den Kirchenvorstand.

Wie verlief denn der Weg der Familie insKirchenasyl?

Walter Sohrmann: Wir haben das ThemaKirchenasyl seit Ende 2013 immer wie-der, zunächst aber abstrakt, im Kirchen-vorstand besprochen: Die Zahl derFlüchtlinge wurde immer größer und ihreNot immer offensichtlicher. Das Gefühl,dass wir uns damit auseinandersetzenund etwas tun müssen, nahm beständigzu. Im Herbst 2014 kam dann die Anfra-ge vom Evangelischen StadtdekanatFrankfurt am Main, ob wir dem Gedankenan ein Kirchenasyl grundsätzlich näher-

treten wollen. Und es kam das Angebot,uns im Kirchenvorstand über die notwen-digen Voraussetzungen und Rahmenbe-dingungen zu informieren.

Im Oktober 2014 gab es dann eine KV-Sitzung, bei der wir uns intensiv ausge-tauscht und dann den Beschluss gefassthaben, dass wir grundsätzlich zurGewährung von Kirchenasyl bereit sind.Wir waren uns darin einig, dass die not-wendigen Voraussetzungen – geeigneteRäumlichkeiten und ein Kreis von Perso-nen, die zur Unterstützung bereit sind –in der Gemeinde insgesamt gegebensind. Gebeten hatten wir das Stadtdeka-nat seinerzeit aber darum, uns im Fallder Fälle ausreichend Zeit zu lassen, umeinen personenbezogenen Beschluss imKirchenvorstand herbeiführen und dienötigen organisatorischen Vorbereitun-gen treffen zu können. Wir dachten dabeian einen Vorlauf von einer Woche.

Doch dann ging alles sehr viel schneller:Am Morgen des 10. November 2014bekamen wir vom evangelischen Stadt-dekanat die Information, dass eineafghanische Familie am nächsten Tag indie Niederlande abgeschoben werdensollte. Und wir bekamen die Fragegestellt: „Könnt ihr denen Kirchenasylgeben?“

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Thomas Volz: Wir haben dann im Kirchen-vorstand einen Umlaufbeschluss generiert,der glücklicherweise knapp zugunsten derGewährung von Kirchenasyl ausging. DieBedenken und Gegenstimmen richtetensich mehrheitlich nicht gegen das Kirchen-asyl an sich oder gegen die Menschen, umdie es ging, sondern gegen die Eile, diegeboten war und die manche für schädlichund gefährlich hielten.

Am Morgen des 11. November standenwir dann zu sechst zusammen undhaben erst mal lauthals auf das Stadtde-kanat geschimpft, das uns das einge-brockt hat. Dann haben wir die Ärmelhochgekrempelt. Wir haben das Zimmerim Gemeindehaus, in dem noch Tischeund Stühle gestanden haben, ausge-räumt, Teppiche und Matratzen beigeholtund auf die Schnelle einen Schrank, eineKochplatte, einen Kühlschrank undGeschirr organisiert. Bettwäsche undHandtücher bekamen wir aus der Klei-derkammer der benachbarten Kirchen-gemeinde Am Bügel, die ebenfalls „kir-chenasylerfahren“ war. Um 14 Uhr warenwir fertig und um 17 Uhr stand die Fami-lie vor uns.

Wie war die erste Begegnung und wieverliefen die ersten Tage?

Walter Sohrmann: Glücklicherweise warbei der ersten Begegnung eine Dolmet-scherin dabei. Insgesamt war es ein vor-sichtiges Sich-Betasten. Die Familiewusste ja nicht, wo sie hinkommt und wiesie aufgenommen wird. Und auch wir hat-ten nicht mehr als ein paar Informatio-nen zur Situation, aber keine Vorstellungdavon, wer uns da begegnen würde.

Diese Unsicherheiten sind aber schnell inden Hintergrund getreten, weil esschließlich genug zu tun gab. Wir habender Familie ihr Zimmer im Gemeindehausgezeigt und den ersten und für längere

Zeit letzten gemeinsamen Einkauf getä-tigt. Noch durften sie sich ja frei bewe-gen. Damit war das erste Eis dannschnell gebrochen.

Thomas Volz: Es war ja der Martinstag,an dem Familie Gohari zu uns kam.Abends gab es ein Martinsfest imbenachbarten Kindergarten. Da konntenwir den Kindern und ihren Eltern gleichsehr plastisch den Gedanken des Teilensmit Menschen in Not vor Augen führen.Denn auch sie mussten während des Kir-chenasyls etwas teilen: Im Gemeindehausgibt es nämlich keine Duschgelegenheit.Wir hatten mit der Leitung des Kinder-gartens vereinbart, dass die Familieabends nach Schließung der Einrichtungdie dortige Duschgelegenheit benutzendarf. Da gab es bei den Kindern undEltern auch keine zwei Meinungen. „Wasmacht man, wenn Menschen in Not sind?Ganz klar: Man hilft!“

Am Tag darauf war – wie es der Zufall will– Stadtsynode, also ein Zusammentreffender evangelischen Kirchengemeinden inFrankfurt. Dabei wurde auch informiert,dass es ein neues Kirchenasyl gibt. Es warbeeindruckend, wie viel positives Feed-back, wie viele Angebote der Unterstüt-zung und auch Geldspenden wir daraufhinbekommen haben. Wir haben also schonin den ersten Tagen die gute Erfahrunggemacht, nicht alleine zu sein.

Wie haben Sie die Betreuung der Familiein den insgesamt gut vier Kirchenasyl-Monaten organisiert?

Walter Sohrmann: Nach und nach habenwir im Keller des Gemeindehauses einenweiteren Raum so ausgestattet, dass dieFamilie ihn nutzen konnte. Dadurch gabes die Möglichkeit, dass jemand sichzurückziehen konnte, wenn gelernt wer-den musste oder Besuch kam. Die Fami-lie musste sich diesen Raum mit der

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Jugendgruppe der Gemeinde teilen. Daslief sehr problemlos und damit ergabsich immer wieder die Gelegenheit, neueKontakte zu knüpfen.

Dann ging es darum, eine Unterstützer-gruppe aufzubauen und die verschiede-nen Aufgaben zu verteilen. Pfarrer Volzhatte in einer E-Mail an Mitglieder derKirchengemeinde gefragt, wer Lust undZeit hat, sich zu engagieren. Wir hattendaraufhin relativ schnell fünfzehn biszwanzig Personen zusammen, darunterbesonders viele junge Mütter, die unter-schiedlich intensiv, aber alle zuverlässig,mit angepackt haben: beim Einkaufen,beim Deutschunterricht, bei Fahrdiens-ten, bei Hausaufgabenhilfe oder einfachnur als Gesprächspartner.

Husnia ist schon kurz nach Beginn desKirchenasyls hier zur Schule gegangen.Wir haben darauf vertraut, dass die Poli-zei kein siebenjähriges Kind auf demSchulweg verhaften wird. Trotzdem habenwir, um die Familie zu beruhigen, vom ers-ten Schultag an einen Hol- und Bring-Dienst organisiert. Es gab Wochenpläne,in die man sich eintragen konnte und dieSchule hatte eine „Notfallnummer“. Dakonnte sie anrufen, wenn der Unterrichtfrüher zu Ende war oder die Kleine auseinem anderen Grund früher als normalabgeholt werden musste.

Thomas Volz: Der Kreis der Unterstütze-rinnen und Unterstützer ist auch jetztnoch aktiv. Vieles läuft selbstständig undohne, dass wir viel organisieren müssen.Wir treffen uns – wenn nichts Besonde-res ansteht – nur etwa alle vier Wochenund tauschen uns darüber aus, wasgerade ansteht.

Aus der Unterstützungsarbeit sind inzwi-schen auch regelrechte Freundschaftenentstanden. Ich sehe zum Beispiel immerwieder Frauen, die mit ihren Kindern

nachmittags einfach mal im Gemeinde-haus vorbeischauen. Da wird dann Kaf-fee oder Tee getrunken und die Kinderspielen mit Husnia oder dem kleinen AliAsghar.

Gab es eine besondere Herausforderung inder Kirchenasyl-Zeit?

Walter Sohrmann: Die medizinische Ver-sorgung! Dabei war die psychotherapeu-tische Behandlung von Lailoma nicht ein-mal das größte Problem. Die lief überdas Evangelische Zentrum für Beratungund Therapie am Weißen Stein und hatteschon vor dem Kirchenasyl begonnen.Die Therapeutin kam einfach zu fest ver-einbarten Zeiten ins Gemeindehaus.

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„Meine Frau hat viele Probleme. Sie hat ihreEltern in Afghanistan zurücklassen müssenund Mutter, Vater und Geschwister seit sechsJahren nicht mehr gesehen. Sie ist oft krankseit wir auf der Flucht sind. In den Niederlan-den kam die Polizei manchmal jeden Tag zuuns, einmal auch mit Hunden. Meine Fraubraucht dringend Ruhe. Hier im Kirchenasylging es ihr besser. Auch wenn es nicht normalist, dass eine Familie über vier Monate lang ineinem einzigen Zimmer lebt und sich nicht freibewegen kann.“ Mohammad Mehdi Gohari

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Viel schwieriger war, dass Lailoma in derZeit des Kirchenasyls schwanger wurdeund die Schwangerschaft nicht ohne Komplikationen verlief. Wegen plötzlicherBlutungen mussten wir Lailoma in einerNacht- und Nebelaktion in die Notaufnah-me eines Krankenhauses bringen. Siewurde dort sorgfältig untersucht undkonnte Gott sei Dank weiterhin schwangerwieder mit uns zurück nach Hause fahren.Das Krankenhaus hat sich kulant gezeigt

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und nur eine kleine Rechnung gestellt, diedie Kirchengemeinde gezahlt hat. Dannaber mussten für die junge Frau regelmä-ßige Vorsorgeuntersuchungen bei einemGynäkologen organsiert und Medikamentebeschafft werden. Das hat viel Zeit inAnspruch genommen und einiges an Kos-ten verursacht. Aber jetzt freuen wir unsauf den Juli, wenn ihr Kind hoffentlich inFrankfurt zur Welt kommen soll.

Gab es in der Kirchengemeinde Bedenkenoder offen ausgesprochene Ablehnung?

Thomas Volz: Kritische – oder eher sor-genvolle – Fragen kamen am ehestenvon den Menschen, die unmittelbar vondem Kirchenasyl betroffen waren. ImGemeindehaus ist zum Beispiel auch dasGemeindebüro untergebracht. Und dieGemeindesekretärin war aus sehr nach-vollziehbaren Gründen zunächst skep-tisch. Nicht nur, dass die Familie in ihremunmittelbaren Arbeitsumfeld schlafen undwohnen sollte – nein: auch der einzigeWC-Raum auf der Etage musste gemein-sam genutzt werden. Was also, wollte siewissen, wenn wir uns zum Beispiel mor-gens auf dem Flur begegnen, der Mannvielleicht im Schlafanzug? Ihr war daszunächst unheimlich und sie bat darum,in der Zeit des Kirchenasyls in ein ande-

res Büro ausweichen zu können. Wirhaben ihr das natürlich freigestellt, sieaber auch ermutigt, zunächst einmal zusehen, ob es denn überhaupt Problemegibt. Und wir haben ihr zugesagt, dass indieser „Probezeit“ jederzeit eine weiterePerson anwesend ist. Das Eis gebrochenhat dann die kleine Husnia. Sie kam aneinem der ersten Kirchenasyltage insBüro und bot der GemeindesekretärinTee an. Der Kontakt war geknüpft, dieMitarbeiterin lernte die Eltern kennen …und arbeitete weiterhin im Gemeindehaus.Heute klopft der kleine Ali manchmal beiihr an, dann darf er reinkommen undauch mal auf dem großen Stuhl hinterdem großen Schreibtisch sitzen.

Außerdem haben wir im Gemeindehausim 1. Stock noch eine Mieterin. Sie sorg-te sich – ebenfalls verständlich – umihre Nebenkosten, wenn eine vierköpfigeFamilie einzieht; besonders weil Lailomalange Zeit nur bei eingeschaltetem Lichtschlafen konnte. Der Mieterin haben wirzugesagt, dass die Familie keinen Ein-fluss auf ihre Nebenkosten haben wirdund sie auf keinen Fall mehr bezahlenmuss als im Jahr zuvor.

Solche ganz praktischen Bedenken woll-ten ausgeräumt werden, aber darüberhinaus haben wir keinen einzigen Anrufoder Brief bekommen, in dem uns Ableh-nung entgegenschlug. Wir haben imGegenteil gerade auch von älteren Men-schen viel Unterstützung, Aufmunterungund auch kleine Spenden bekommen. Diesagten: „Wir mussten auch fliehen undwir wissen noch, wie das war!“

Wir haben darüber hinaus auch immerwieder größere Spenden von Gemeinde-mitgliedern bekommen, so dass das„Unternehmen Kirchenasyl“ – Standheute – für die Kirchengemeinde keinMinusgeschäft war. Wir haben insgesamt

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etwa € 3.500 für die Betreuung derFamilie im Kirchenasyl ausgegeben undungefähr dieselbe Summe durch Spen-den eingenommen. Das ist wahnsinnigerfreulich und ermutigend.

War Familie Gohari während desKirchenasyls im Gemeindeleben präsent?

Walter Sohrmann: Das war sie! Husnia hatmit Zustimmung der Eltern von Anfang anregelmäßig in der Jugendgruppe mitge-macht und auch aktiv am Kindergottes-dienst teilgenommen. Vor Weihnachten hatsie beim Krippenspiel auf dem Weih-nachtsmarkt mitgemacht. Besondersgefreut hat mich dabei, dass auch ihreMutter gekommen ist und zugesehen hat.Das ist in der Gemeinde durchaus zurKenntnis genommen worden.

Husnias Eltern ist es zwar wichtig, dassdas Mädchen in ihrem muslimischen Glau-ben zu Hause bleibt, und gehen deshalbmit ihr auch zur Moschee. Dass sie trotz-dem so offen sind, hat sicher mit gewach-senem Vertrauen und damit zu tun, dasswir ihnen von Anfang an versichert haben,nichts und niemanden bekehren zu wol-len. Und mit Offenheit und Transparenz,um die wir uns bemüht haben: Zum Bei-spiel haben wir den Eltern vor dem Krip-penspiel die Texte übersetzen lassen, dieHusnia mitgesungen und gesprochen hat.

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„Ich denke, egal ob Muslim, Christ, Hindu oderetwas anderes: jeder ist zuerst einmal einMensch. Es gibt einen Gott und viele Wege zuihm. Mich hat hier niemand gefragt, ob ich Muslim bin und ich habe niemanden gefragt, ober Christ ist. Das muss jeder selbst entscheidenund wir müssen uns gegenseitig respektieren!In Afghanistan ist das leider anders.“ Mohammad Mehdi Gohari

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Thomas Volz: Zwei Wochen nach demBeginn des Kirchenasyls hatten wir unser„Herbsttreiben“, ein Gemeindefest imSaal. Wir hatten die Familie Gohari einge-laden und sie ist zusammen mit einerehrenamtlichen Dolmetscherin tatsäch-lich dazugekommen. Das war wichtig fürdie schnelle Akzeptanz, denn zu demFest kommen überwiegend alteingeses-sene Gemeindemitglieder. Sie haben dieFamilie dort kennengelernt und ins Herzgeschlossen. Zur Teilnahme ermutigtwurde die Familie übrigens auch von denbeiden jungen Männern, die kurz zuvorin der Gemeinde Am Bügel im Kirchen-asyl gewesen waren.

Haben Sie sich von Anfang an umÖffentlichkeitsarbeit bemüht oder warenSie in dieser Hinsicht eher zurückhaltend?

Thomas Volz: Unser Prinzip war: Wirmüssen gegenüber der Gemeinde diegrößtmögliche Transparenz herstellen,um dauerhafte Akzeptanz und Unterstüt-zung zu gewährleisten. Darüber hinausaber haben wir versucht, den Bedürfnis-sen der Familie Rechnung zu tragen. Unddie hatte ihre guten Gründe, nicht stän-dig und schon gar nicht mit Foto in derPresse zu stehen. Und zwar nicht nurwegen der Traumatisierung von Lailoma,sondern auch, weil sie weiterhin ganzkonkret um ihr Leben fürchtet, wenn sienach Afghanistan zurück müsste.

Gab es im Verlauf der Kirchenasyls eineKrise, in der Sie nicht weiterwussten oderdie Entscheidung bereut haben?

Thomas Volz: In der Gemeindeversamm-lung im November, bei der wir das Kir-chenasyl vorgestellt haben, kam die Fra-ge auf: „Was machen wir eigentlich, wennalle Rechtsmittel ausgeschöpft sind unddie Familie trotzdem gehen muss?“

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Die Frage selbst hat keine Krise verur-sacht, aber auf eine immer noch mögli-che Krise verwiesen. Denn die Antwortdarauf ist nicht einfach. Für mich per-sönlich ist klar, dass wir in einem solchenFall andere noch laufende Kirchenasylenicht dadurch gefährden dürfen, dass wirdie Familie im Kirchenasyl belassen.

Für mich ist andererseits aber auch klar,dass in einem solchen Fall jeder Christsich aufgrund seines Christseins selbstprüfen und für sich selbst entscheidenmuss, welche Handlungsmöglichkeitenihm außerhalb des Kirchenasyls nochbleiben. Ich hoffe aber sehr, dass essoweit nicht kommt.

Können Sie uns eine Stelle aus der Bibelnennen, aus der Sie die Motivation IhresHandelns für Familie Gohari ableiten?

Thomas Volz: „Seid allezeit bereit,Rechenschaft abzulegen über die Hoff-nung, die in Euch ist.“ (1. Petrus 3.15)Das passt zu dem Selbstverständnisunserer Kirchengemeinde mit ihren vie-len Solidaritätsprojekten. Sie will nicht umsich selbst kreisen, sondern hat die Hoff-nung und den festen Willen, einen Unter-schied zu machen. Und das Kirchenasylmacht einen solchen Unterschied.

Wie lautet ihr abschließendes Fazit?

Thomas Volz: Wir haben gute Erfahrungengemacht und würden es wieder tun! Wirsind persönlich bereichert worden undunser Gemeindeleben ist bereichert wor-den. Durch das Kirchenasyl sind Men-schen aktiv geworden, die vielleicht immernoch nicht jeden Sonntag in den Gottes-dienst gehen, die sich uns jetzt aberzugehörig fühlen und für die wir ihre Kirchengemeinde geworden sind. ■

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„Wenn ich sagen soll, wie ich mir die Zukunftwünsche: Wir leben in Deutschland, in Frank-furt, vielleicht in Bonn, in München oder inBerlin. Ich gehe arbeiten, wir haben ein Auto,meine Tochter ihr eigenes Zimmer. Deutsch-land ist unser Zuhause, unser Land geworden.Und Afghanistan ist für uns „nur noch“Geschichte, das Land, in dem wir viele Jahregelebt haben und das jetzt hinter uns liegt.“ Mohammad Mehdi Gohari

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Das Kirchenasyl von Daahir Abdullahi Osman (Somalia) in der Evangelischen Kirchengemeinde Hanau-Steinheim

„Lernt Gutes zu tun und fragt nach dem, wasrichtig ist!“ Jesaja 1.17

Sudan

Libyen

Somalia

Äthiopien

Italien

Deutschland

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Daahir Abdullahi Osman wird 1993 in SomaliasHauptstadt Mogadischu geboren und wächst dortzusammen mit acht Geschwistern bei seinenEltern auf. Seine Familie gehört der verachtetenMinderheit der Madhibaan an, die in Somalia amRande der Gesellschaft leben muss. Als jungerMann wird Daahir von Angehörigen eines macht-vollen Clans überfallen und bewusstlos geschla-gen. Die Männer heben ein Grab aus und wollenihn begraben. Daahir überlebt durch einen Zufall:die Täter werden gestört und müssen fliehen.Dennoch bleibt der junge Mann im Fokus vonGewalt und Unterdrückung.

Als die islamistische Al Shaabaab-Miliz im Februar2012 versucht, ihn unter Zwang zu rekrutieren,weigert sich Daaahir. Er wird mit dem Tod bedroht

und entschließt sich Hals über Kopf zur Flucht.Nachdem er sich ein paar Tage lang bei Freundenin Somalia versteckt gehalten hat, flieht DaahirAnfang März 2012 zu Fuß zunächst nach Äthio-pien. Ende April 2012 bricht er wieder auf, fliehtweiter nach Khartoum im Sudan. Dort bleibt Daa-hir für einige Monate, ehe er sich in einer Flücht-lingsgruppe zu Fuß auf den langen Weg durch dieSahara macht. Unterwegs werden sie von Wegela-gerern überfallen und um Geld erpresst. SiebenMitreisende, die kein Geld bei sich haben, werden

entführt und ermordet. Die anderen finden ihreLeichen kurze Zeit später in der Wüste. Nachsechs Wochen extremer Hitze am Tag und extre-mer Kälte in der Nacht erreichen die Überleben-den Libyen. Daahir wird gefangen genommen undinhaftiert. Die Haftbedingungen sind katastrophal,es gibt so gut wie nichts zu essen, Schläge sindan der Tagesordnung.

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„Ich kam Anfang September 2012 in Sabha inLibyen an. Dort wurde ich sofort gefangengenommen und in ein Gefängnis gebracht.Dort blieb ich für sechs Monate. Ich wurdesehr viel geschlagen im Gefängnis. Am Tagbekamen wir nur einmal etwas Brot. Ich bekameine Hautkrankheit, niemals sahen wir die Sonne und es war sehr warm dort drinnen, eswar ein Gefängnis unter der Erde.“ Daahir Abdullahi Osman

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Nach sechs langen Monaten in der Haft holt einlibyscher Offizieller Daahir aus dem Gefängnis undzwingt ihn dazu, ohne Lohn an seinem Haus mitzu-bauen. Erst nach drei Monaten gelingt Daahir dieFlucht. Er geht nach Tripolis und begibt sich dort indie Hände von Schleppern. Zusammen mit anderenFlüchtlingen wird er bis zur Überfahrt über das Mit-telmeer in einem großen Haus versteckt. Niemandin der Gruppe darf sprechen, wenn sie nach essenfragen, werden sie geschlagen. Nach sechs endlo-sen Wochen besteigt Daahir am 1. August 2013

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Beginn des Kirchenasyls:7. Juli 2014Ende des Kirchenasyls:5. November 2014

Zu Fuß durch die Sahara – Daahirs langer Marsch nach Europa

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zusammen mit 90 anderen Flüchtlingen ein etwa 9 Meter langes Schlauchboot. Sie verlieren die Orientierung, geraten in Seenot. Als sie nach dreiTagen auf See von einem tunesischen Schiffgesichtet, von der italienischen Küstenwache anBord genommen und nach Lampedusa gebrachtwerden, sind drei Menschen tot.

Fünf Tage lang bleibt Daahir auf Lampedusa. Erwird in dieser Zeit erkennungsdienstlich behan-delt, italienische Beamte sichern seine Fingerab-drücke. Er wird in ein Aufnahmelager in der Nähevon Rom geschickt, in dem etwa 2.000 Flüchtlin-ge untergebracht sind. Zusammen mit fünf ande-ren Flüchtlingen wird ihm dort ein provisorischzurechtgemachter Container zugewiesen. Daahirbekommt keinerlei materielle Unterstützung, diehygienischen Bedingungen sind furchtbar, die Ver-pflegung schlecht. Es gibt so gut wie keine medi-zinische Versorgung und keinerlei psychologischeUnterstützung. Niemand informiert ihn darüber,warum und wie lange er hier bleiben und wie esweitergehen soll.

Im Dezember 2013 wird Daahir von einem aufden anderen Tag ohne Begründung dazu aufge-fordert, die Einrichtung zu verlassen. Ihm drohtdie Obdachlosigkeit.

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„Ich war verzweifelt von der Situation in Italien.Ich hatte ja auf ein besseres Leben gehofft,aber als ich dort ankam, war ich überraschtüber die Unmenschlichkeit, die ich dort vor-fand. … Ich blieb vier Monate in diesemCamp. Ich denke, dort waren insgesamt 2.000Menschen, es war sehr überfüllt. Irgendwannhaben sie mich rausgeworfen. Das war im Win-ter und es war kalt. Ich wusste, ich kann hiernicht bleiben.“ Daahir Abdullahi Osman

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Ohne Unterstützung und ohne Perspektive in Ita-lien entschließt er sich zur Weiterflucht nachDeutschland. Er besteigt einen Zug im Rom und

kommt am 16. Dezember 2013 in Gießen an undstellt dort in der Hessischen Erstaufnahmeein-richtung einen Antrag auf Asyl. Anfang 2014 wirder von Gießen aus nach Hanau umverteilt. DieStadt weist ihm einem Platz in einem Übergangs-wohnheim für Wohnsitzlose im Stadtteil Steinheimzu, in dem auch über vierzig Flüchtlinge unterge-bracht sind. Das Heim liegt in unmittelbarer Nähezur evangelischen Kirchengemeinde.

Die Evangelische Kirchengemeinde Hanau-Steinheim

Etwa 2.600 Mitglieder zählt die evangelische Kir-chengemeinde in dem Hanauer Stadtteil Stein-heim, in dem insgesamt etwa 13.000 Menschenleben. Mehrheitlich gehört die Bevölkerung tradi-tionell dem katholischen Glauben an. Die evange-lische Kirchengemeinde wurde vor über 150 Jah-ren u. a. von Nachfahren hugenottischer Glau-bensflüchtlinge gegründet und war von Beginn andurch Flüchtlinge und deren Erfahrungengeprägt. Der starke Zuzug von Flüchtlingen undVertriebenen nach dem 2. Weltkrieg stärkte dieseIdentität zusätzlich.

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„Im Kirchenvorstand gibt es noch viele, die inFamilien mit einer Fluchterfahrung z.B. nachdem 2. Weltkrieg aufgewachsen sind. Für diewar völlig klar zu helfen. Es gab bei der Ent-scheidung über Kirchenasyl deshalb unter denMitgliedern keine kontroverse Debatte überdas Ob, sondern nur über das Wie.“ Pfarrerin Heike Zick-Kuchinke

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Orientierung an dem Gemeinwesen sowie Offenheitund die Bereitschaft zur Veränderung prägen dasSelbstverständnis der Kirchengemeinde bis in denheutigen Tag. Sie ist Trägerin des Familien- undGenerationenzentrums, das auf dem Kirchengelän-de errichtet wurde. Es ist das „Herz der Kirchenge-meinde“ und versteht sich als offener Begeg-nungs- und Lernort. Im benachbarten alten Pfarr-haus werden zurzeit in einer Umbaumaßnahmeneben der Pfarrwohnung Räumlichkeiten für dieTagespflege älterer Menschen geschaffen.

Neben einer Kindertagesstätte und einem gene-rationenübergreifenden Mehrzweckbereich gibtes in dem Familien- und Generationenzentrumverschiedene Jugend- und Veranstaltungsräume,in denen sich Eltern-Kind-Gruppen, Kinder,Jugendliche und Senioren treffen, der Posaunen-chor probt und Konzerte, Ausstellungen und Vor-

träge zu unterschiedlichsten Themen sowie Kin-derbibelwochen und Ferienspiele stattfinden. DasHaus ist zugleich Heimat für zahlreiche Initiativenund Zusammenschlüsse, die über die Kirchenge-meinde hinausgehen: Ökumenisches Forum mitden muslimischen Gemeinden in Hanau, Aktions-bündnis gegen AIDS, Initiative Erinnern undGedenken an die Opfer des Nationalsozialismus.Auch das Ökumenische Bündnis für Flüchtlingetrifft sich hier und bietet u.a. Deutschkurse undeinen offenen Treff für Flüchtlinge an.

Das Kirchenasyl

In seiner Unterkunft in Steinheim erhält DaahirOsman Anfang 2014 die Mitteilung, dass seinAsylantrag in Deutschland nicht bearbeitet wird.Am 24. Februar 2014 stellt man ihm die Abschie-beandrohung nach Italien zu, das nach der Dub-lin-Regelung der für ihn zuständige Asylstaat ist.Ein hiergegen gerichteter Eilantrag wird vom Ver-waltungsgericht Frankfurt/M. am 26. April 2014abgelehnt.

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„Ich bin nach Europa, um Sicherheit undSchutz für mein Leben zu finden. Wenn manmich nach Italien abschiebt, dann würde ichlieber sterben.“Daahir Abdullahi Osman

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Daahir wendet sich an die Initiative „Lampedusain Hanau“, die unter dem Dach der „DiakonischenFlüchtlingshilfe Hanau" Flüchtlinge unterstützt. DieInitiative hat sich im März 2014 zusammengefun-den, um über die katastrophale Lage von Asylsu-chenden in Italien und drohende Abschiebungenvon Flüchtlingen nach Italien zu informieren, dieBetroffenen sozial und rechtlich zu unterstützenund die Abschiebungen nach Italien politisch zubekämpfen. Sie übernimmt die Kosten für DaahirsRechtsbeistand und wendet sich hilfesuchend andie evangelische Kirchengemeinde in Steinheim.

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Nach einer kurzen Zeit der ausführlichen Bera-tung und vieler Gespräche beschließt der Kirchen-vorstand einstimmig, Daahir Kirchenasyl zugewähren. Am 7. Juli 2014 bezieht er zwei Räumein dem alten Pfarrhaus auf dem Kirchengelände,das er bis zum Ende der Überstellungsfrist nachItalien Anfang November 2014 nicht mehr verlas-sen wird. Schnell finden sich in der Kirchenge-meinde und darüber hinaus Unterstützerinnenund Unterstützer, die sich für Daahir engagieren.Sie kaufen ein, waschen Wäsche, geben Deutsch-unterricht, stehen als Mediziner im Fall einerKrankheit bereit. Der junge Mann revanchiertsich, indem er im Garten und bei anderen Arbei-ten in und um das Familien- und Generationen-haus herum mithilft. Regelmäßig bekommt DaahirBesuch von anderen befreundeten Flüchtlingenaus seiner ehemaligen Unterkunft, die wie dasKirchengelände in der Ludwigstraße liegt.

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„Ich bin sehr glücklich, dass die Gemeindemich aufgenommen und vor der Abschiebungbewahrt hat. Sie haben mir in den vier Mona-ten sehr geholfen. Sie helfen mir immer noch!Dafür möchte ich mich von ganzem Herzenbedanken. Mein Leben ist jetzt viel besser undich habe Hoffnung auf ein gutes Leben für dieZukunft.“ Daahir Abdullahi Osman

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Die katastrophalen Zustände in dem Wohnheimwerden zum Thema unter den Unterstützerinnenund Unterstützern – sie gründen das „Ökumeni-sche Bündnis für Flüchtlinge“, das sich nicht nurweiterhin für Daahir engagiert, sondern sichdarüber hinaus auch um die Flüchtlinge in derLudwigstraße kümmert und gegen viele Wider-

stände versucht, die dortige Unterbringungs- undBetreuungssituation zu verbessern. Sie führenpolitische Gespräche, bieten ehrenamtlich Sozial-beratung und Deutschunterricht für die Flüchtlin-ge an, richten im Familien- und Generationenhauseinen offenen Treff und in der Unterkunft selbsteinen Meeting-Point ein und initiieren vor Ortunter anderem ein Gartenprojekt und bieten Fahr-radworkshops an.

Nachdem Daahirs Überstellungsfrist nach Italienam 28. Oktober 2014 endgültig verstrichen ist,endet sein Kirchenasyl am 5. November 2014.Die Stadt Hanau stellt ihm eine Duldung aus undweist weit entfernt von der Kirchengemeinde eineUnterkunft im Hanauer Stadtgebiet zu. In derUnterkunft in der Ludwigsstraße gibt es nachAuskunft städtischer Verantwortlicher keinenPlatz für Daahir. Auf die Einleitung eines Asylver-fahrens und die Anhörung seiner Fluchtgründedurch das Bundesamt für Migration und Flüchtlin-ge wartet er zurzeit noch vergebens.

Trotzt der räumlichen Entfernung ist der Kontaktzwischen Daahir und der Kirchengemeinde nichtabgerissen. Er pflegt den Kontakt, ist immer wie-der zu Gast und erfährt auch weiterhin Unterstüt-zung. Die Kirchengemeinde finanziert ihm zurzeitaus Spendenmitteln einen Deutsch-Intensivkursan der Volkshochschule in Hanau.

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„Ich will noch mehr Deutsch lernen unddanach vielleicht hier in Hanau eine guteArbeit finden. Es wäre schön, wenn ich weitermit den Menschen zusammen sein könnte, dieich kennengelernt habe und die mir viel gehol-fen haben. Ich komme immer wieder hierher indie Gemeinde, um den Kontakt zu halten.“ Daahir Abdullahi Osman

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Interview mit Pfarrerin Heike Zick-Kuchinke, Mitgliedern des Kirchen-vorstandes und ehrenamtlichen Un-terstützerinnen von Daahir AbdullahiOsman

Wir wurde die Bitte um Kirchenasyl fürDaahir an die Gemeinde herangetragen?

Pfarrerin Heike Zick-Kuchinski: Der Kon-takt kam über Wolfgang Bauer zustande,der Berufsschulpfarrer in Hanau ist und inder Diakonischen Flüchtlingshilfe in Hanaumitarbeitet. Wir sind gut befreundet. Wolf-gang wusste über die Flüchtlingsinitiative„Lampedusa in Hanau von einem Flücht-ling, der in Steinheim in der Unterkunft inder Ludwigstraße lebte. Er berichtete vonden dramatischen Gründen für die Fluchtdes jungen Mannes, von seinen schlim-men Erfahrungen auf der Flucht unddavon, dass er von der Abschiebung nachItalien bedroht ist. Dieser junge Mann warDaahir Abdullahi Osman

Wolfgang Bauer fragte mich, ob wir unsvorstellen können, ihm Kirchenasyl zugewähren. Wir haben das dann im Kir-chenvorstand diskutiert und uns dabeiauch mit Kolleginnen und Kollegen ausHanau ausgetauscht. Das war wichtig,denn wir hatten bei aller grundsätzlichenBereitschaft ein besonderes Problem. Dasalte Pfarrhaus, in dem das KirchenasylPlatz finden musste, sollte umgebaut wer-den. Die Anträge dafür waren seit langemgestellt und es war aus verschiedenenGründen klar, dass wir mit dem Umbaubeginnen müssen, sobald die Genehmi-gung vorliegt. Es stand also die Befürch-tung im Raum, dass der Umbau und dasKirchenasyl zeitlich zusammenfallen könn-ten. Da wollten wir uns für den Fall allerFälle der Unterstützung der Brüder undSchwestern aus Hanau versichern.

Anschließend gab es ein erstes Treffenmit Daahir. Daran hat auch Herwig Put-sche von der Lampedusa-Initiative teilge-nommen, mit dem Osman schon vertrautwar. Und auch die hauptamtlichen Mitar-beitenden im Familien- und Generationen-haus hier auf dem Gelände haben wir ein-bezogen. Es war uns von Anfang an wich-tig, transparent zu sein und bei der Ent-scheidung über das Kirchenasyl alle mit-zunehmen, die schließlich in irgendeinerForm damit zu tun haben würden. Alles inallem dauerte es wenig mehr als eineWoche, bis die Entscheidung gefallen war.

Welche Reaktionen gab es auf dieEntscheidung?

Burkhard Huwe, Vorsitzender des Kir-chenvorstandes: Wir wollten auf keinenFall heimlich und ohne Erklärung agieren.Es ist kein Zufall, dass das Kirchengeländeoffen und jederzeit zugänglich ist. Es istAusdruck unseres Selbstverständnissesals offene Kirchengemeinde und als inte-graler Bestandteil der „Steinheimer Stadt-gesellschaft“. Diesen Öffnungsprozess

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haben wir schon vor zehn Jahren mit dem„Familien- und Generationenhaus“ einge-leitet. Seitdem arbeiten wir überkonfessio-nell und mit allen gesellschaftlichen Initiati-ven und Gruppen, die in Steinheim etwasbewegen wollen. Wir denken, leben undhandeln im Sozialraum eines vielfältigenStadtteils. Und wir tun das in der Überzeu-gung, dass jeder Mensch ein Gotteskindist und Anspruch auf würdevolle Aufnah-me und respektvolle Begegnung hat.

Pfarrerin Heike Zick-Kuchinski: Deshalbhaben wir zum Beispiel die Eltern ausder Kindertagesstätte hier sofort nachder Entscheidung des Kirchenvorstandsüber das Kirchenasyl informiert. Da gabes erfreulicherweise ausschließlich positi-ve Rückmeldungen und konkrete Unter-stützungsangebote. Überhaupt sind inder Kirchenasylzeit viele Externe zu unsgekommen und haben sich engagiert:Leute aus Freikirchen ebenso wie Men-schen, die mit Kirche erst mal nichts ver-bindet, die sich aber für Flüchtlinge ein-setzen wollten und hier eine Möglichkeitgesehen haben.

Wie war beispielsweise Ihr Weg zur Unterstützungsarbeit?

Silvia Kleinschmidt, ehrenamtliche Unter-stützerin: Ich bin im Zuge des Konfirman-denunterrichts meines Sohnes schon voreiniger Zeit zum Ehrenamt in der Kircheund darüber dann auch mit Daahir inKontakt gekommen.: Ich kümmere michu.a. um Sachspenden für einen jährli-chen großen Flohmarkt am Erntedank-fest, die im Pfarrhaus in der Zeit des Kirchenasyls zwischengelagert wurden.So habe ich Daahir fast jeden Tag dortgetroffen, kennengelernt und angefan-gen, mich zu engagieren. Erst nur fürihn, später dann auch ganz allgemein inder Flüchtlingsarbeit. Ich gebe zum

Beispiel jetzt zweimal pro Woche beimInternationalen Bund für Sozialarbeitehrenamtlich Deutschunterricht fürFlüchtlinge.

Heidrun Rudolph, ehrenamtliche Unter-stützerin: Ich bin Mitglied im Kirchen -vorstand. Als ich Daahir vor der Entscheidung über das Kirchenasyl kennengelernt hatte, wollte ich schnellauch konkret etwas für ihn tun. Dabei istes eher meine Sache, mich auf die soziale Begleitung und die Arbeit im Hintergrund zu konzentrieren: Einkäufeerledigen, Fahrdienste übernehmen, densozialen Kontakt pflegen. Die Ausein -andersetzung mit Behörden ist nichtmeine Sache. Die überlasse ich anderen,die das lieber und besser machen.

68 Aus gutem Grund – Kirchenasyle in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau

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Hatte das Kirchenasyl über den Einzelfallhinaus auch individuelle oder politischeAuswirkungen auf Sie persönlich oder aufdie Kirchengemeinde insgesamt?

Silvia Kleinschmidt: Daahir wurde oft vonFreunden aus der Unterkunft in der Lud-wigstraße besucht. Die haben erzählt, wel-che Probleme es dort gibt: Fenster, diemitten im Winter kaputtgehen und nichtrepariert werden, kein warmes Wasser inder Küche und so weiter und so fort. Sol-che Missstände und ein Besuchsberichtvon Frau Zick-Kuchinke aus der Unter-kunft waren letztlich die Initialzündung fürdie Gründung unseres „ArbeitskreisFlüchtlinge“, in dem ich mich stark enga-giere und mit dem wir gegen viele Wider-stände der Stadt und der Objektverant-wortlichen versuchen, die Situation in derLudwigstraße zu verbessern.

Pfarrerin Heike Zick-Kuchinke: Als wir imOktober vergangenen Jahres zum erstenMal in die Einrichtung gegangen sind,waren darin 41 Personen in Zimmern mitbis zu 6 Schlafplätzen eingepfercht. Fürjeweils fünfzehn Personen gab es eineeinzige Toilette, die Küche war nicht

funktionsfähig, an verschiedensten Stel-len fand sich Schimmel an den WändenEs war gruselig!

Weil es dort keinen Aufenthaltsraum gibt,haben wir als Erstes in unserem Zentrumeinen offenen Treff für Flüchtlinge einge-richtet. Es hat eine Weile gedauert, abermittlerweile kommen jeden DienstagFlüchtlinge aus der Unterkunft hierher,um Tischfußball zu spielen, zu kochen,zu reden. Durch diese Vernetzung ist dieEmpörung über die Zustände in der Lud-wigstraße gewachsen und sind weitereInitiativen entstanden: Die einen habensich sehr erfolgreich darum gekümmert,dass die Sportvereine sich öffnen undFlüchtlinge dort beitragsfrei Fußball oderTischtennis spielen können. Anderehaben einem besonders begabtenFlüchtling zum Beispiel kostenlosenMusikunterricht vermittelt, begleitenFlüchtlinge zu Behörden oder gebenehrenamtlich Deutschunterricht.

Inzwischen gibt es einmal pro Wochezusätzlich noch einen Treff in der Unter-kunft selbst. Dort schenken Ehrenamtli-che Kaffee oder Tee aus und stehen denFlüchtlingen für Gespräche zur Verfü-gung. Das war anfangs nicht einfach,denn wir haben damit natürlich auch inein System eingegriffen, in dem es eige-ne Regeln gab und gibt. Auf allen Seiten– und nicht nur bei der Stadt – gab esPersonen, die an der neuen Öffentlich-keit im Haus nicht interessiert waren.Der provisorische Treff wurde anfangszweimal regelrecht zerstört. Aber inzwi-schen gibt es im Hof sogar ein kleinesGartenprojekt, wo die Flüchtlinge inKübeln und Wannen ihr Gemüse und Obstanbauen können.

Burkhard Huwe: Die politische Dimensionhinter Daahirs Fall – das Dublin-Systemund die soziale Situation von Flüchtlingen

Zu Fuß durch die Sahara – Daahirs langer Marsch nach Europa 69

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– haben wir über das Engagement in derUnterkunft zwar nicht erst kennenge-lernt, aber doch in seiner Tragweite bes-ser verstanden. Als Deutscher hat maneher ein Grundvertrauen in Gesetze. Mandenkt und glaubt, dass sie mit Gerechtig-keit und Menschlichkeit schon irgendwiein Einklang zu bringen sind. Wenn mandann aber im Detail sieht, was dieseGesetze für die Menschen bedeutet, wel-chen Ungewissheiten Flüchtlinge ausge-setzt werden und wer an ihnen z.B. beider katastrophalen Unterbringung auchnoch bares Geld verdient, dann sträubensich einem einfach die Nackenhaare.

Pfarrerin Heike Zick-Kuchinke: Da hatsich vor allem im Hinblick auf die Unter-kunft in der Ludwigstraße durch unserungeliebtes Engagement zwar etwasgetan, aber es ist doch ein sehr zähesGeschäft. Und weil das alles so mühseligist und wir uns nicht verkämpfen wollen,denken wir gerade intensiv darübernach, ob das „Ökumenische Bündnis fürFlüchtlinge“ nicht selbst ein Wohnprojektfür Flüchtlinge initiieren und auf die Bei-ne stellen könnte.

Warum sollten wir nicht einfach ein Hausoder eine Wohnung anmieten und dieFlüchtlinge gescheit betreuen? Da gibt

es auch in unserer Nähe z. B. in Egels-bach gute Vorbilder, von denen wir ler-nen könnten. Wir hätten es dann selbstin der Hand, wie die Sache läuft, undmüssten uns nicht ständig mit Bremsernund Bedenkenträgern und mit denenrumschlagen, die auf dem Rücken derFlüchtlinge Geld verdienen.

Gibt es ein Bibelwort, das Sie und dieKirchengemeinde beim Kirchenasylgeleitet hat?

Pfarrerin Heike Zick-Kuchinke: Im Grund-stein unseres Familien- und Generationen-hauses sind zwei Bibelstellen genannt:„Einer trage des andern Last, so werdetihr das Gesetz Christi erfüllen“ (Galater6.2.) und „Lernt Gutes zu tun und fragtnach dem, was richtig ist!“ (Jesaja 1.17).

Diese Worte ziehen sich wie ein roterFaden durch unsere Gemeindearbeit undpassen auch zur Erfahrung des Kirchen-asyls. Wir wollen uns nicht mit menschun-würdigen und ungerechten Verhältnissenabfinden und sind in unserer Arbeit des-halb auch nicht selten bewusst unbequem– und wollen das auch bleiben. Wir wollenuns selbst und andere immer wieder kri-tisch nach dem fragen, was „richtig“ ist.Und wir wollen da der „Stachel im Fleisch“sein, wo wir glauben, dass etwas nicht„richtig“ ist. In diesem Sinne Gutes zu tunmuss man immer wieder lernen. Mit Daa-hir zusammen konnten wir das! Und wirkonnten miteinander Lasten tragen.

Aber nicht nur: Wir konnten auch mitei-nander feiern und lachen – und zwar auf„Augenhöhe“: Wir haben mit ihm und sei-nen Freunden gemeinsam das Fastenbre-chen gefeiert und während der WMzusammen Fußball geschaut. Er ist ein Teilunserer Gemeinde und wir sind für ihn einTeil seines Lebens geworden. Und dasdauert an, auch nach dem Kirchenasyl. ■

70 Aus gutem Grund – Kirchenasyle in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau

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Als Flüchtling geboren! Khalids Geschichte 71

Kirchenasyl von Khalid (42) aus Syrien in der Evangelischen Martin-Luther-Kirchengemeinde Wirges

„Was ihr für einen meiner geringsten Brüdergetan habt, das habt ihr mir getan“Matthäus 25,40

SyrienGriechenland

MazedonienSerbien

Türkei

Ungarn

Deutschland

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72 Aus gutem Grund – Kirchenasyle in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau

Seit seiner Geburt lebt Khalid (42 Jahre) als staa-tenloser Palästinenser in einem palästinensischenFlüchtlingslager in der Nähe von Damaskus. Trotzdieser schwierigen Startbedingung hat er erfolg-reich Maschinenbau studiert und einen gutenArbeitsplatz in einem Unternehmen in der Ölför-derbranche gefunden. Für seine Frau, seinenneunjährigen Sohn und seine sechsjährige Toch-ter hat er es damit zu bescheidenem Wohlstandgebracht. Das ändert sich im Jahr 2011, als derblutige Bürgerkrieg in Syrien beginnt.

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„I am a stateIess Palestinian in Syria and therefore was a refugee from the very begin-ning of my life. However, when 2011 the warin Syria started, my family and me became refugees once again. But for us as Palestini-ans the borders are closed. We are not allowed to go e.g. into to Libanon, to Jordania,to Saudi-Arabia. We had to flee from area toarea within Syria to be safe at least for a while. Khalid

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Als islamistische Kampftruppen des IS in dasFlüchtlingslager vordringen, in dem die palästi-nensische Flüchtlingsfamilie lebt, wird sie zurerneuten Flucht gezwungen – zunächst innerhalbSyriens. Doch der unberechenbare Krieg folgtihnen und holt sie immer wieder ein. Weil die Lagefür die Familie immer dramatischer und ausweglo-ser wird, fassen Khalid und seine Frau den Ent-schluss, alles auf eine Karte zu setzen. Khalidbringt seine Frau und seine beiden Kinder zu Ver-wandten, bei denen sie bis auf weiteres sichersind. Er will versuchen, für seine Familie und fürsich selbst eine Zukunft in Europa zu finden. Kha-lids dritte Flucht beginnt.

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„In our situation you can’t flee as a familiy. It isway too expensive and – even more important– way too dangerous. The plan was that I tryto reach a safe haven in Europa and that I collect my familiy very soon.“ Khalid

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Per Bus flieht er am 13. August 2014 an diesyrisch-türkische Grenze. Er überwindet sie zuFuß, flieht zunächst über Istanbul nach Izmir undvon dort aus nach etwa einer Woche mit der „Hil-fe“ von Schleppern in einem völlig überfüllten

Als Flüchtling geboren! Khalids Geschichte

Beginn des Kirchenasyls:28. April 2015Ende des Kirchenasyls:dauert an

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Als Flüchtling geboren! Khalids Geschichte 73

Schlauchboot auf eine griechische Insel. Unter-wegs geraten die mehr als dreißig Flüchtlinge,darunter Frauen und Kinder, mitten auf dem Meerin akute Seenot, weil der viel zu schwache Außen-bordmotor ausfällt. Irgendwie gelingt es denFlüchtlingen, den Motor zu reparieren und irgend-wie landen sie schließlich völlig entkräftet in Grie-chenland an.

Dort werden Khalid und die anderen von der Poli-zei aufgegriffen und gefangen genommen. Es istdie erste von vielen Inhaftierungen, die Khalid aufseiner Flucht noch erleiden wird. Erst nach zehnTagen wird er wieder freigelassen und aufgefor-dert, Griechenland innerhalb eines Monats zu ver-lassen. Khalid geht nach Athen und organisiertdort seine Weiterflucht nach Serbien.

Zusammen mit vierzig weiteren Flüchtlingen wirder in einem Minibus von Athen aus nach Polikas-tro in der Nähe der griechisch-mazedonischenGrenze gebracht. Die Grenze nach Mazedonienüberwindet er zu Fuß und zu Fuß marschiert Kha-lid dann entlang der Bahnschienen quer durchdas Land bis zur serbischen Grenze. Es regnetununterbrochen und die Nächte sind kalt. Trotz-dem schlafen Khalid und seine Weggefährtenmeist auf offener Straße. Kurz vor der serbischenGrenze werden sie von Unbekannten überfallen,bedroht und beraubt.

Sie passieren die mazedonisch-serbische Grenzeund werden erst kurz vor Belgrad von serbischenSicherheitskräften in einem PKW aufgegriffen undinhaftiert. Gegen Bezahlung einer Strafe und mitder Auflage, Serbien innerhalb von drei Tagenwieder zu verlassen, kommen sie wieder frei. Kha-lid geht zu dem Flüchtlingscamp einer nicht-staat-lichen Hilfsorganisation in der Nähe von Belgradund organisiert von dort aus seine Weiterfluchtüber Ungarn nach Deutschland. Wieder muss ersich dazu Fluchthelfern anvertrauen.

Gemeinsam mit anderen Flüchtlingen bringt manihn zur serbisch-ungarischen Grenze. Es gelingtihnen zwar, unbemerkt nach Ungarn zu gelangen,

dort aber stranden sie in der Nähe der GrenzstadtSzeged. Die Autos, die die Gruppe weiter nachDeutschland bringen sollen, erscheinen nicht. Kha-lid und die anderen verstecken sich in einem ver-lassenen Haus und warten auf die zugesagteUnterstützung. Doch sie sind Betrügern zum Opfergefallen. Nicht die Fluchthelfer erscheinen, sondernungarische Sicherheitskräfte stürmen nach zweiTagen das Haus und verhaften die Flüchtlinge. DieArt und Weise der Verhaftung und die Haftbedin-gungen sind menschenunwürdig.

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„They treated us like animals. They fixed ourhands with plastic cable ties. They closed itmuch too tight. I kindly asked to widen it a little bit. A policeman looked at me … andclosed it even tighter. They shouted lout all thetime, some of us were beaten. They broughtus to a prison that consisted of somethinglooking like animal cages and they gave usfood in a way you feed animals.“ Khalid

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Nach massiver Einschüchterung durch die Sicher-heitskräfte und aufgrund falscher Informationenstellt Khalid nach einem Tag unwissentlich einenAsylantrag. Er wird daraufhin freigelassen unddazu aufgefordert, sich in einer Unterkunft in derNähe von Budapest einzufinden. Stattdessen mie-tet er sich zusammen mit anderen Flüchtlingen fürzwei Tage und Nächte in eine Wohnung in Buda-pest ein und organisiert – erneut mit Fluchthel-fern – die Weiterreise nach Deutschland überÖsterreich. In einem PKW überwindet Khalid am1. Oktober 2014 zum ersten Mal die österrei-chisch-deutsche Grenze. Er wird nach Stuttgartgebracht, wo er noch am selben Tag Asyl bean-tragt und zunächst in der Erstaufnahmeeinrich-tung in Karlsruhe (Baden-Württemberg) unterge-bracht und kurz darauf an die Erstaufnahmeein-richtung in Trier weitergeleitet wird.

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Die Evangelische Martin-Luther-Kirchenge-meinde in Wirges

Die im rheinland-pfälzischen Westerwaldkreisgelegene kleine Stadt Wirges und ihre Umgebungsind traditionell katholisch geprägt. Durch dieGründung einer Glasfabrik Im Jahr 1895 zogenevangelische Christen als Arbeitskräfte zu. Weilihre Zahl stark anstieg, baute man im Jahr 1897für die nunmehr 600 Gemeindemitglieder eine Kir-che. Seit damals ist die Gemeinde durch Zuzügestetig gewachsen. Den jüngsten Wachstumsschubbrachte die Übersiedelung vieler Spätaussiedleraus den Nachfolgestaaten der UdSSR in den 90erJahre. Heute gehören 2.650 Gemeindemitgliederzur Martin-Luther-Kirchengemeinde. Die Kirche,das Gemeindehaus, das Pfarrhaus und die evan-gelische Kindertagesstätte befinden sich zueinan-der benachbart auf einem insgesamt gut 7.000Quadratmeter großen Areal in einer Wohngegendam Eingang der Stadt.

In der Stadt und in der Kirchengemeinde gibt esseit langem eine grundsätzliche Offenheit für dasThema „Flucht und Migration“. Dazu haben u.a.die zuziehenden Spätaussiedler, aber auch eineVielzahl von Veranstaltungen in den letzten Jah-ren beigetragen. Zuletzt wurde im EvangelischenGemeindehaus anlässlich des 70. Jahrestags desKriegsendes 1945 eine Kunst- und Fotoausstel-lung gezeigt, die an die Bedeutung des Friedens

für die Menschen erinnert und in der die Erfah-rung von Flucht und Vertreibung eine wichtigeRolle spielt. Auch das Engagement der Kirchenge-meinde für eine syrische Flüchtlingsfamilie vorzwei Jahren hat vor Ort viele für die Belange vonFlüchtlingen sensibilisiert. Die Familie solltedamals wegen der Dublin-Regelung nach Polenabgeschoben werden und war davon bedroht,auseinandergerissen zu werden.

Immer wieder gab und gibt es in der Kirchenge-meinde Veranstaltungen zu diesem Themenkreis,zuletzt wurde in den Räumen im Gemeindehausanlässlich des 70. Jahrestags des Kriegsendes1945 eine Kunst- und Fotoausstellung gezeigt. Inder Ausstellung, die an die Bedeutung des Frie-dens für die Menschen erinnern will, spielt auchdie Erfahrung von Flucht und Vertreibung einewichtige Rolle.

Khalids langer Weg ins Kirchenasyl

Ende Oktober 2014 wird Khalid aus der Erstauf-nahmeeinrichtung in Trier dem Westerwaldkreiszugewiesen. Dort wird ihm eine Unterkunft in derStadt Wirges zugeteilt. Kurz darauf erhält er dennegativen Bescheid zu seinem Asylantrag. DasBundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF)stellt aufgrund der Dublin-Regelung seine Nicht-zuständigkeit fest, setzt Khalid eine Ausreisefristbis zum 13. April 2015 und droht ihm andernfalls

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Als Flüchtling geboren! Khalids Geschichte 75

die Abschiebung an. Sein Rechtsanwalt klagtgegen den Bescheid und beantragt gleichzeitig,dass Khalid bis zur Entscheidung über die Klagenicht abgeschoben wird.

Gleichzeitig bereitet Khalid sich für den Fall vor,dass seine Klage keinen Erfolg haben sollte. Ersucht Hilfe bei einer Beratungsstelle der Caritasund wendet sich auf deren Rat hin Mitte März andie Evangelische Kirchengemeinde in Wirges. DerPfarrer der Gemeinde erkennt den Ernst der Lageund wird umgehend aktiv. Er informiert den Kir-chenvorstand, bittet den Pfarrer der schon Kir-chenasyl gewährenden Nachbargemeinde inHöhr-Grenzhausen um Beratung und stellt denKontakt zu den für Kirchenasyl zuständigen Per-sonen in der EKHN und der Diakonie Hessen her.Nach intensiver Beratung und Diskussionbeschließt der Kirchenvorstand nur einen Tagspäter, Khalid Kirchenasyl zu gewähren, sobald eserforderlich ist. Die notwendigen Vorbereitungenund Planungen gehen Pfarrer, Kirchenvorstandund Mitglieder der Kirchengemeinde sofort an.

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„Wenn ich jemanden vor mir habe, der Hilfebraucht, dann kann ich den nicht aus formalis-tischen Gründen wegschicken und sagen: ‚Tutmir leid, ich mache das nicht!‘ Dann muss ichhelfen!“ Pfarrer Wilfried Steinke

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Noch bevor Khalids Frist zur Ausreise nachUngarn am 13. April 2015 ausläuft, lehnt daszuständige Verwaltungsgericht seine Klage undseinen Antrag auf Aussetzung der Abschiebungab. Doch hiervon erfährt Khalid nichts. SeinAnwalt versäumt es, ihn oder die Kirchengemein-de zu informieren. Am 14. April 2015 um 5 Uhr inder Nacht wird Khalid von Polizeibeamtengeweckt, die in großer Zahl in seine Unterkunfteingedrungen sind. Der völlig verstörte Flüchtling

hat gerade noch Zeit, einige Sachen zusammen-zuraffen, dann wird er zum Flughafen nach Frank-furt am Main gebracht und um 8 Uhr morgensnach Budapest abgeschoben.

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„I was shocked! The moment I entered theplane, my only thought was: ‚I lost my childrennow.‘ After all what they did to me in Szeged, I couldn't imagine to build a future for us inHungary!“ Khalid

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Khalid ist verzweifelt und wehrlos. In Budapestwird er der ungarischen Polizei übergeben und inGewahrsam genommen. Man teilt ihm mit, dasssein erster Asylantrag eingestellt worden ist,nachdem er Ungarn verlassen hat und fordert ihnauf, einen neuen Asylantrag zu stellen. Khalid weigert sich. Er muss den Behördenmitarbeiterndaraufhin schriftlich versichern, in Ungarn keinenAsylantrag stellen zu wollen und freiwillig nachSerbien auszureisen.

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76 Aus gutem Grund – Kirchenasyle in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau

Weil seine Papiere angeblich erst am nächstenMorgen fertig gemacht werden können, soll ersolange in Haft bleiben. Nach allem was gesche-hen ist, hofft Khalid über Nacht zu Kräften zukommen und am nächsten Morgen weitersehenzu können. Doch völlig überraschend wird er mit-ten in der Nacht rüde geweckt. Man drückt ihmseine Papiere in die Hand, fordert ihn - trotz sei-ner Bitte, bis zum nächsten Morgen bleiben zukönnen - zum Mitkommen auf und setzt ihn aneiner weit abgelegenen Straße aus.

Insgesamt viermal versucht Khalid innerhalb dernächsten 12 Tage, Budapest wieder zu verlassenund Zuflucht in einem sicheren Land zu finden.Dreimal wird er wieder aufgegriffen und zurückgebracht. Der erste Versuch mit dem Zug endetschon bald nachdem er die ungarische Haupt-stadt in Richtung Österreich verlassen hat, derzweite erst eine einzige Station vor der österrei-chischen Grenze. Der dritte Versuch führt ihn miteinem PKW zwar bis nach Wien, aber auch dortkann er nicht Fuß fassen. Er lebt kurzzeitig aufder Straße und muss schließlich mit dem Zugnach Budapest zurückkehren.

Erst im vierten Versuch gelingt es Khalid mitUnterstützung von Fluchthelfern, versteckt ineinem Kraftfahrzeug nach Deutschland einzurei-sen. Am 27. April gegen Mitternacht trifft erzusammen mit sieben weiteren Flüchtlingen inPassau ein. Mit dem Taxi fahren sie gemeinsamnach München. Von dort aus fährt Khalid noch inderselben Nacht mit dem Zug über Frankfurt amMain nach Montabaur. Vom dortigen Bahnhofläuft er zu Fuß bis in das etwa 10 Kilometer ent-fernte Wirges, wo er um 8.15 Uhr morgens an derTür des Pfarrhauses läutet. Khalid, der seitBeginn seiner Flucht im August 2014 etwa 25Kilogramm Körpergewicht verloren hat, stehtübernächtigt und völlig ausgemergelt vor demPfarrer der Gemeinde. Er ist in seinem Kirchen-asyl angekommen.

Das Kirchenasyl in der Evangelischen Kir-chengemeinde Wirges

Seit dem 28. April 2014 lebt Khalid in einem klei-nen Zimmer im Erdgeschoss des Pfarrhauses. ImZimmer nebenan ist das Gemeindebüro unterge-bracht, in der Etage darüber leben der Pfarrerund seine Ehefrau. Khalid kommt langsam zurRuhe und zu Kräften – und er schöpft neue Hoff-nung.

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„Before I came here, I had no idea what to doand whom to trust. That has changed now. Imet a lot of people here who try to under-stand and support me. That is something thatfeels good. Another very important thing is myfamiliy. I left Syfria to build a good future formy children and for my wife. When I had to goback to Hungary, I lost all my hope. That hopeis back now and gives me power. I once againfeels responsibility for my familiy. That’s whyyou can say, that the Kirchenasyl renewed mylife. I’m very grateful for that.“ Khalid

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Khalid hat Familienanschluss. Oft wird zusammengekocht, gegessen oder gemeinsam in dem gro-ßen Garten gearbeitet, der das Anwesen umgibt.Seine Erlebnisse auf der Flucht haben Khalid vor-sichtig werden lassen. Wenn er sich zwischen demPfarrhaus, dem Gemeindehaus und der Kinderta-gesstätte hin- und herbewegt, achtet er sorgfältigdarauf, das Kirchengelände nicht um einen Fuß-breit und nicht für eine Sekunde zu verlassen. Einenger Kreis von Unterstützerinnen und Unterstüt-zern aus der Kirchengemeinde, dem Kirchenvor-stand und den Mitarbeitenden des Pfarramts undder Kindertagesstätte kümmert sich um Khalid.Sie gehen einkaufen, geben Deutschunterricht,stehen als Gesprächspartner zur Verfügung.

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Als Flüchtling geboren! Khalids Geschichte 77

Auch wenn die Verantwortlichen gegenüber denMedien mit größter Zurückhaltung agieren, um sei-ne Familie in Syrien nicht unnötig zu gefährden, istKhalid im Leben der Gemeinde durchaus präsent.Als er den Gemeindemitgliedern am Pfingstsonntagim Gottesdienst vorgestellt wird, löst das eine Welleder Hilfsbereitschaft und Solidarität aus: Nebenzahlreichen Geldspenden und Angeboten derUnterstützung wird Khalid von einem Mitglied derGemeinde sogar eine Wohnung in Aussicht gestellt,die er nach seiner Asylanerkennung zusammen mitseiner Familie beziehen könnte.

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„Ich habe keinen Einzigen aus unsererGemeinde gehört, der Kritik geübt oder gesagthat: „Das ist illegal!“ Im Gegenteil. Das, was wir getan haben, ist durchgehend positiv auf-genommen worden.“ Pfarrer Wilfried Steinke

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Doch bis dahin ist es noch ein weiter und schwe-rer Weg. Noch bis Ende des Jahres droht Khalidaufgrund der Dublin-Regelung die Rücküberstel-lung nach Ungarn. Mindestens so lange wird ervoraussichtlich auf den Schutz der Kirchenge-meinde angewiesen sein. Ein wenig Hoffnungmacht allen Beteiligten, dass die EvangelischeKirche in Hessen und Nassau dem Bundesamt für

Migration und Flüchtlinge kürzlich Khalids Fall mitder Bitte um eine erneute Prüfung noch einmalvorgelegt hat. Die christlichen Kirchen in Deutsch-land und das Bundesamt für Migration undFlüchtlinge hatten sich im Februar 2015 auf einsolches Konsultationsverfahren verständigt, umdringenden Einzelfällen gerecht werden zu kön-nen, ohne dass die Flüchtlinge Kirchenasyl inAnspruch nehmen oder langfristig im Kirchenasylverbleiben müssen. Doch auch diese Entschei-dung wird noch viel Zeit in Anspruch nehmen.

Seine und die Zukunft seiner Familie sieht Khalidauf alle Fälle in Deutschland – egal wie lange esdauern wird. Für ihn führt kein Weg mehr zurücknach Syrien, wo die palästinensischen Flüchtlings-lager dem Erdboden gleichgemacht wurden undder Krieg tiefen Hass zwischen den Menschengesät hat, den er mit seiner Familie nicht erntenwill und nicht erdulden kann.

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„My wish for the future: Living in Wirges together with my children and my wife. I some-times watch the children in the Kindergartenin the neigbourhood and imagine my daughterplaying around with them one day. LearningGerman for sure, working for sure … and getthe german nationality one day. Not for me,but for my children. Remember we are state-less. To become Germans would give them thechance to live in peace and in dignity“Khalid

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Interview mit Pfarrer Wilfried Steinkesowie mit Heidi Wilken und Hannelore Höhn, beide Mitglied desKirchenvorstandes

Welche Gründe haben Sie dazu veranlasst,sich so engagiert für Khalid einzusetzenund ihm mit dem Kirchenasyl einePerspektive geben?

Pfarrer Wilfried Steinke: Für mich istnatürlich zuallererst mein Glaube aus-schlaggebend gewesen. „Was ihr füreinen meiner geringsten Brüder getanhabt, das habt ihr mir getan“ heißt es imMatthäus-Evangelium und das bringt esfür mich auf einen einfachen Nenner.

Und ein weiterer Grund ist für mich wich-tig: Ich persönlich fühle mich in meinemVerständnis von Kirche und Glauben Die-trich Bonhoeffer sehr verbunden. Für ihnstanden nicht die Gesetze, sondern derMensch und die Frage nach dem WillenGottes im Mittelpunkt. Angesichts derseinerzeitigen Verhältnisse hatte er alleguten Gründe für diese Haltung. Außer-dem bin ich Pfarrer der EvangelischenKirche in Hessen und Nassau, die Die-trich Bonhoeffer ebenfalls sehr nahe-steht und ihre Gemeinden vielleicht auchdeshalb ganz großartig unterstützt,wenn sie z.B. durch die Gewährung vonKirchenasyl den Menschen in den Mittel-punkt ihres Handelns stellen wollen.

Hannelore Höhn: Für mich sind Empathieund Anteilnahme die zentralen Punkte,die allen anderen vorangehen. Ich versu-che die schlimme Lage nachzuempfin-den, in der sich Khalid befindet, weil erseiner Frau und seinen Kindern in einernoch furchtbareren Situation Hoffnungund eine Perspektive geben will. Hierausund aus dem Gebot der Nächstenliebe,das ja in allen Religionen verankert ist,ziehe ich meine Motivation zur Unterstüt-zung von Khalid

Heidi Wilken: Für mich ist das Engage-ment im Kirchenasyl auch ein Zeichendafür, dass ich nicht damit einverstandenbin, wie mit Flüchtlingen in unserem Landumgegangen wird. Ich setze mich mitganzer Kraft für einen Menschen ein, derdem so genannten Flüchtlingsrecht zumOpfer zu fallen droht. Und ich hoffe, dassich damit auch dazu beitrage, diesesRecht so zu ändern, dass es sich inZukunft mit Humanität und Gerechtigkeitin Einklang bringen lässt.

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Als Flüchtling geboren! Khalids Geschichte 79

Hatte das Kirchenasyl unabhängig vonKhalid positive Auswirkungen auf dieUnterstützung und das Eintreten fürFlüchtlinge vor Ort?

Pfarrer Wilfried Steinke: Eher würde ichsagen, dass sich unser Kirchenasyl naht-los in die vor Ort bereits etablierte Kulturder Solidarität und Unterstützung fürFlüchtlinge einreiht. Es gibt in der Stadtschon seit längerem Personen und Initia-tiven, die Flüchtlinge unterstützen, undimmer wieder auch Veranstaltungen zumThema Asyl in den Räumen der Kirchen-gemeinde. In der Verbandsgemeindearbeiten wir seit Ende des letzten Jahresgemeinsam mit der öffentlichen Verwal-tung und mit anderen an Konzepten undMaßnahmen zur Ausgestaltung einer Will-kommenskultur für Flüchtlinge vor Ort.Und im benachbarten Selters eröffnetdie Diakonie in Kürze eine Kleiderkam-mer, die Asylsuchende kostenlos mitgebrauchter Kleidung versorgen wird.

Gab es in der Zeit des Kirchenasyls einebesondere Herausforderung oder Krise?

Pfarrer Wilfried Steinke: Es ist eine riesigeHypothek, wenn ein Mensch in Not nachnur zwei Tagen sagt: „I trust you!“ Ich hat-te wahnsinnige Angst zu versagen undKhalids Erwartungen nicht gerecht zu wer-den. Als ich dann erfahren hatte, dass erabgeschoben worden ist, da ist für micheine Welt zusammengebrochen. Ich habemich gefragt, was ich falsch gemacht habeund warum ich es nicht verhindern konnte.Ich hatte die Befürchtung, dass die Sacheunwiderruflich zu einem schlimmen Endegekommen ist und ich Khalids Vertrauennicht gerecht geworden war. Glücklicher-weise hat sich das nicht bestätigt. Ich hof-fe, dass das so bleibt.

Würden Sie noch einmal Kirchenasylgewähren, wenn sich ein Flüchtling in Notan Sie wendet?

Pfarrer Wilfried Steinke: Ja, denn es warsinnvoll! Ja, denn ich habe von Khalidgenauso viel zurückbekommen, wie ichihm gegeben habe. Ja, denn ich habevon meiner Kirche, meiner Gemeinde,meinem Vorstand und vielen anderenUnterstützung bekommen! Ja, denn ichhabe erfahren, dass die Netze tragen!Ja, denn für mich fallen im KirchenasylWille und Pflicht zusammen! Warum alsosollte ich etwas so Richtiges nicht wiedertun, wenn es notwendig ist? ■

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Fragen an Dr. Volker Jung, Kirchen -präsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), und Dr. Wolfgang Gern, Vorstandsvor -sitzender der Diakonie Hessen

Je nach Standpunkt wird Kirchenasyl imgesellschaftlichen Diskurs ganz unter -schiedlich betrachtet. Mal gilt es alsInstrument, mit dem die Kirchen aufunzulässige Art und Weise versuchen, daseuropäische Asylrecht zu unterlaufen. Malwird es als letztes humanitäres Mittel –also als ultima ratio – verstanden, umeinem Menschen zu seinem Recht zu ver -helfen, dem Unrecht und eine existenzielleNotlage drohen. Wie ist Ihre Lesart desKirchenasyls?

Wie halten Sie es mit dem Kirchenasyl?

Dr. Wolfgang Gern: Es geht beim Kirchen-asyl nicht um einen „Gnadenakt“, sondernum die Frage, wie wir als Menschen einan-der gerecht werden und uns das geben,was wir auf dem Weg zu mehr Menschlich-keit einander schuldig sind. Kirchenasyl istein extremer Grenzfall, in dem zwei wichti-ge moralische Güter gegeneinander abge-wogen werden müssen: Auf der einen Seite steht die dringende Hilfe angesichtseiner drohenden Verletzung der Grund-und Menschenrechte einer Person. Aufder anderen Seite steht das hohe Gut derRechtsstaatlichkeit, zur der die Einhaltungder Gesetze gehört. Die Spannung zwischen beiden muss und kann in einerDemokratie ausgehalten werden. Und esgehört zur Tradition der Kirchen, auf diese Spannung hinzuweisen.

80 Aus gutem Grund – Kirchenasyle in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau

messen lässt. Dass am Ende der größteTeil der Fälle mit einem Bleiberecht odereinem geordneten Asylverfahren endet,spricht für das Kirchenasyl. Es ist einMoratorium in Kirchenmauern. Dabeibleibt völlig klar: Das Gewaltmonopol desStaates gilt ohne Ausnahme, auch für dieKirchen.

Dr. Volker Jung: Das Kirchenasyl ist keinverbrieftes Recht. Aber es wird meinesErachtens aus guten Gründen vomRechtsstaat akzeptiert. Es ist ein respek-tiertes Moratorium, das noch einmalGelegenheit gibt, alle Aspekte des Einzel-falls zu prüfen. Mit der Akzeptanz desKirchenasyls stärkt der Rechtsstaat sichselbst und zeigt, dass er sich selbstimmer wieder an der Wahrung der Men-schenrechte und der Menschenwürde

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Dr. Volker Jung: Dem ist nicht so ist, fastschon im Gegenteil: Durch die früheBeratung von Kirchengemeinden gelingtes immer wieder, Kirchenasyle zu verhin-dern, weil andere Lösungen gefundenwerden. Darüber hinaus besteht ein gro-ßer Bedarf bei Kirchengemeinden undFlüchtlingsinitiativen, ihren „Fall“ juris-tisch bewerten zu lassen und im Falleines Kirchenasyls genau zu bedenken,was alles vorbereitet und getan werdenmuss. Die Durchführung eines Kirchen-asyls ist ja eine ausgesprochen anstren-gende Angelegenheit, die alle Beteiligtenstark fordert und auch belastet.

Dr. Wolfgang Gern: Ich weiß es aus eige-ner Erfahrung: Die im Kirchenasyl Enga-gierten machen es sich nicht leicht undsie wissen ziemlich genau, auf welcheStrapazen sie sich einlassen. Zur Diako-nie Hessen gehört die „Clearingstelle Kir-chenasyl“. Ihre Arbeit macht immer wie-der deutlich, wie eng die Entscheidungfür ein Kirchenasyl mit einer gelebtenWillkommenskultur für Flüchtlinge zusam-menhängt. Da kümmern sich Haupt- undEhrenamtliche z.B. um einen jungenSomali, organisieren den Deutschunter-richt, halten Ausschau nach einem Aus-bildungsplatz, und dann soll der jungeMann nach sechs oder neun Monatenplötzlich abgeschoben werden, nach Italien, Bulgarien, Ungarn, in die völligePerspektivlosigkeit. Das verstehen dieMenschen nicht, und manche sind nichtbereit, das einfach hinzunehmen.

Etwa 80 Prozent aller Kirchenasyle werdengewährt, weil Flüchtlingen in der Regelbinnen sechs Monaten die Abschiebung inein anderes europäisches Land droht. Sosieht es die sogenannte Dublin-Verordnung vor. Wird diese Frist durch einKirchenasyl überschritten, muss dasAsylgesuch in Deutschland durchgeführtwerden. Angesichts dessen wird denKirchen manchmal vorgeworfen, dieDublin-Regelung durch das Kirchenasylgenerell torpedieren zu wollen.

Dr. Volker Jung: Die aktuellen Kirchen-asyle bei solchen Dublin-Fällen sind keinegenerelle, abstrakte Kritik an diesemSystem. Wohl aber sind die Kirchenasylein Dublin-Fällen ein Symptom dafür, dassdiese europäische Zuständigkeitsrege-lung hinterfragt werden muss. Bietet sienoch einen wirksamen Flüchtlingsschutz?Ich denke, dass es das ist, worüber wireigentlich sprechen sollten, statt überdas Kirchenasyl zu streiten. Worum esStaat und Kirchen eigentlich und gemein-sam gehen sollte, ist eine Alternativezum Dublin-System, eine Alternative, diesich in erster Linie an den Interessen derSchutzsuchenden orientiert. Wir habendafür konkrete Vorschläge gemacht.Gäbe es diese Alternative, wäre die große Mehrheit der aktuellen Kirchen-asyle sofort beendet. Ein erster Schrittkönnte sein, das Dublin-Überstellungs-verfahren vorübergehend auszusetzen.

Dr. Wolfgang Gern: Auch die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Im Jahr2014 gab es im Rahmen des Dublin-Verfahrens 35.115 ÜbernahmeersucheDeutschlands an andere europäischeMitgliedstaaten. Bei 27.157 Personenstimmten die anderen Staaten der Über-stellung zu. Tatsächlich überstellt wurdenlediglich 4.772 Personen. Das heißt: Weitmehr als 20.000, die hätten abgescho-ben werden können, sind faktisch aus

Wie halten Sie es mit dem Kirchenasyl? 81

Die EKHN ist eine der Evangelischen Kirchen,in denen es aktuell verhältnis mäßig vieleKirchenasyl gewährende Ge meinden gibt.Zugleich fällt auf, dass die EKHN und dieDiakonie Hessen ihren Kirchengemeindenein umfassendes Be ratungs- und Unter -stützungsangebot machen. Was sagen Siezum Vorwurf, dass dadurch für das Kirchen -asyl geworben wird?

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den unterschiedlichsten Gründen staat-licherseits nicht überstellt worden. Imgleichen Zeitraum gab es bundesweit440 Personen im Kirchenasyl. Siemachen gerade mal zwei Prozent dernicht überstellten Personen aus. In derEKHN waren es 26 Kirchenasyle im Jahr2014, aktuell sind es 11. Hier handelt essich um dringend notwendige Einzelfall-hilfe. Aber es liegt auch auf der Hand,dass das Dublin-System gescheitert ist.

Anfang des Jahres gab es ein Spitzen treffenzwischen den für Asylfragen zuständigenBundesbehörden und den christlichenKirchen. Hintergrund waren laute Überle -gungen des BMI, die Durch führung vonKirchenasylen zu erschweren, indem dieÜberstellungsfrist an den zuständigenDublin-Staat von sechs auf 18 Monateverlängert wird. Was ist dabei heraus -gekommen und was sind die Folgen?

Dr. Volker Jung: Bei diesen Gesprächenhaben wir uns mit dem Bundesamt fürMigration und Flüchtlinge auf ein Konsul-tationsverfahren verständigt. Kirchenver-treter/innen haben mittlerweile die Mög-lichkeit, Einzelfälle erneut vom Bundes-amt überprüfen zu lassen. Dabei gab esmeines Wissens bisher sowohl positiveals auch negative Ergebnisse. Es ist abernoch zu früh für ein Resümee. Beide Sei-ten haben vereinbart, diese Form derZusammenarbeit bis zum Spätherbst2015 zu erproben und sie dann auszu-werten. Danach will das Bundesamt mitteilen, ob es zukünftig die im Raumstehende Fristverlängerung tatsächlichgeben wird.

Dr. Wolfgang Gern: Ich will hier nurandeuten, welche praktischen Konse-quenzen eine solche Fristverlängerungaus meiner Sicht haben würde. Kirchen-gemeinden müssten dann ihr Kirchenasylviel länger, bis zu eineinhalb Jahrendurchhalten. Vermutlich würden danneinige Gemeinden vor einem Kirchenasylzurückschrecken, weil sie fürchten, dasssie es nicht so lange durchhalten. Aberdas würden meiner Einschätzung nachkeineswegs alle Kirchengemeinden sosehen. Vor allem würde es aber die Stim-mung in den Gemeinden, die sich nichtnur beim Kirchenasyl, sondern auchsonst so intensiv für eine Willkommens-kultur engagieren, deutlich verschlech-tern. Das sollte unbedingt vermiedenwerden. Der Beitrag der Gemeinden zurIntegration der Flüchtlinge, die bei unsbleiben, ist zu kostbar und wird auchdringend gebraucht, weil er zum sozialenFrieden beiträgt. Wir bemühen uns in derDiakonie Hessen, alles dafür zu tun,angesichts der absehbaren großenHerausforderungen bei der Flüchtlings-aufnahme buchstäblich die Lasten miteinander zu teilen. ■

82 Aus gutem Grund – Kirchenasyle in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau

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den unterschiedlichsten Gründen staat-licherseits nicht überstellt worden. Imgleichen Zeitraum gab es bundesweit440 Personen im Kirchenasyl. Siemachen gerade mal zwei Prozent dernicht überstellten Personen aus. In derEKHN waren es 26 Kirchenasyle im Jahr2014, aktuell sind es 11. Hier handelt essich um dringend notwendige Einzelfall-hilfe. Aber es liegt auch auf der Hand,dass das Dublin-System gescheitert ist.

Anfang des Jahres gab es ein Spitzen treffenzwischen den für Asylfragen zuständigenBundesbehörden und den christlichenKirchen. Hintergrund waren laute Überle -gungen des BMI, die Durch führung vonKirchenasylen zu erschweren, indem dieÜberstellungsfrist an den zuständigenDublin-Staat von sechs auf 18 Monateverlängert wird. Was ist dabei heraus -gekommen und was sind die Folgen?

Dr. Volker Jung: Bei diesen Gesprächenhaben wir uns mit dem Bundesamt fürMigration und Flüchtlinge auf ein Konsul-tationsverfahren verständigt. Kirchenver-treter/innen haben mittlerweile die Mög-lichkeit, Einzelfälle erneut vom Bundes-amt überprüfen zu lassen. Dabei gab esmeines Wissens bisher sowohl positiveals auch negative Ergebnisse. Es ist abernoch zu früh für ein Resümee. Beide Sei-ten haben vereinbart, diese Form derZusammenarbeit bis zum Spätherbst2015 zu erproben und sie dann auszu-werten. Danach will das Bundesamt mitteilen, ob es zukünftig die im Raumstehende Fristverlängerung tatsächlichgeben wird.

Dr. Wolfgang Gern: Ich will hier nurandeuten, welche praktischen Konse-quenzen eine solche Fristverlängerungaus meiner Sicht haben würde. Kirchen-gemeinden müssten dann ihr Kirchenasylviel länger, bis zu eineinhalb Jahrendurchhalten. Vermutlich würden danneinige Gemeinden vor einem Kirchenasylzurückschrecken, weil sie fürchten, dasssie es nicht so lange durchhalten. Aberdas würden meiner Einschätzung nachkeineswegs alle Kirchengemeinden sosehen. Vor allem würde es aber die Stim-mung in den Gemeinden, die sich nichtnur beim Kirchenasyl, sondern auchsonst so intensiv für eine Willkommens-kultur engagieren, deutlich verschlech-tern. Das sollte unbedingt vermiedenwerden. Der Beitrag der Gemeinden zurIntegration der Flüchtlinge, die bei unsbleiben, ist zu kostbar und wird auchdringend gebraucht, weil er zum sozialenFrieden beiträgt. Wir bemühen uns in derDiakonie Hessen, alles dafür zu tun,angesichts der absehbaren großenHerausforderungen bei der Flüchtlings-aufnahme buchstäblich die Lasten miteinander zu teilen. ■

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Diakonie HessenBereich Flucht, Interkulturelle Arbeit, Migration

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