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1 Thomas Pilz Kitsch als Stil Der letzte Stil und das ironische Bekenntnis Vortragstext, Frankfurt a.d. Oder, 2007 Einleitung. Kitsch, Stil. Das Schöne und das Abgeschmackte Unter dem Titel Kitschstil und Kitschzeitalter veröffentlicht Norbert Elias 1934 in der Emigrantenzeitschrift Der Ausweg eine Studie über die Unmöglichkeit einer adäquaten Stilbildung in der bürgerlich geprägten kapitalistischen Gesellschaft. Elias entwickelt in soziologischen und historischen Kategorien eine kühne These: Waren es in der höfischen Gesellschaft noch Epochen und der von einer herrschenden Elite getragene gute Geschmack, die stilbildend wirkten, so kommen nach dem Niedergang der höfisch dominierten Gesellschaftsordnung nur noch Individuen oder kleine Gesellschaftsgruppen als StilBildner in Frage. Elias nennt sie ‚Spezialisten’: Künstler und Schriftsteller, aber auch Kunsthändler und Verleger, die in einer individualisierten Zeit ein hoch entwickeltes Bewusstsein für die Qualität von Kunstwerken entwickeln. Kein Stil – verstanden als „Geschlossenheit der Ausdrucksmittel“ (Elias 1934/2004: 3) – kann in der Massengesellschaft eine formalästhetisch verbindliche Synthese herstellen. Denn was in gebildeten Kreisen als ästhetisch avanciert und ‚wahr’ gilt, hat keine Beziehung zu den unartikulierten Sehnsüchten und stummen Bedürfnissen der Masse. Was das Bedürfnis der entwurzelten Massen – verkörpert durch das Dienstmädchen 1 in seinem sentimentalen Gefühl – in der kapitalistischen Gesellschaft befriedigt, ist Kitsch: „Charakteristisch für die Problematik des Kitsches ist es dabei, dass die Ausdrucksform dieses Dienstmädchengefühls so unwahr und fast lächerlich wirkt, obgleich die Gefühlsnot dahinter (...) absolut echt ist.“ (33) Elias versucht den Begriff ‚Kitschstil’ als paradoxen Epochenbegriff zu etablieren. Er übernimmt dabei zentrale Begriffe, die im klassischen Diskurs der Ästhetik entwickelt worden sind: der Ausdruck und die Formgebung, der gute Geschmack und seine Bildung, die Repräsentation und die Geschmackssicherheit. Das ‚Kitschzeitalter’ ist gekennzeichnet durch die Kluft 1 Von Dienstmädchen spricht Norbert Elias; schon 1927 hatte Siegfried Kracauer in einer Artikelserie in der Frankfurter Zeitung diesen Typus von Betrogenen in Bezug auf die Filmindustrie entwickelt, s. Kracauer 1992.

Kitsch als Stil gekuerzt[1] - Atelier für Architektur · Der Kitsch ist kein homogenes Phänomen. Was als kitschig zu bewerten ist, bleibt stets umstritten, weil die Grenze zwischen

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Thomas Pilz 

Kitsch als Stil 

Der letzte Stil und das ironische Bekenntnis 

Vortragstext, Frankfurt a.d. Oder, 2007 

 

Einleitung. Kitsch, Stil. Das Schöne und das Abgeschmackte 

Unter dem Titel Kitschstil und Kitschzeitalter veröffentlicht Norbert Elias 1934 

in der Emigrantenzeitschrift Der Ausweg eine Studie über die Unmöglichkeit 

einer adäquaten Stilbildung in der bürgerlich geprägten kapitalistischen 

Gesellschaft. Elias entwickelt in soziologischen und historischen Kategorien 

eine kühne These: Waren es in der höfischen Gesellschaft noch Epochen und 

der von einer herrschenden Elite getragene gute Geschmack, die stilbildend 

wirkten, so kommen nach dem Niedergang der höfisch dominierten 

Gesellschaftsordnung nur noch Individuen oder kleine Gesellschaftsgruppen 

als Stil‐Bildner in Frage. Elias nennt sie ‚Spezialisten’: Künstler und 

Schriftsteller, aber auch Kunsthändler und Verleger, die in einer 

individualisierten Zeit ein hoch entwickeltes Bewusstsein für die Qualität von 

Kunstwerken entwickeln. Kein Stil – verstanden als „Geschlossenheit der 

Ausdrucksmittel“ (Elias 1934/2004: 3) – kann in der Massengesellschaft eine 

formalästhetisch verbindliche Synthese herstellen. Denn was in gebildeten 

Kreisen als ästhetisch avanciert und ‚wahr’ gilt, hat keine Beziehung zu den 

unartikulierten Sehnsüchten und stummen Bedürfnissen der Masse. Was das 

Bedürfnis der entwurzelten Massen – verkörpert durch das Dienstmädchen1 

in seinem sentimentalen Gefühl – in der kapitalistischen Gesellschaft 

befriedigt, ist Kitsch: „Charakteristisch für die Problematik des Kitsches ist es 

dabei, dass die Ausdrucksform dieses Dienstmädchengefühls so unwahr und 

fast lächerlich wirkt, obgleich die Gefühlsnot dahinter (...) absolut echt ist.“ 

(33) Elias versucht den Begriff ‚Kitschstil’ als paradoxen Epochenbegriff zu 

etablieren. Er übernimmt dabei zentrale Begriffe, die im klassischen Diskurs 

der Ästhetik entwickelt worden sind: der Ausdruck und die Formgebung, der 

gute Geschmack und seine Bildung, die Repräsentation und die 

Geschmackssicherheit. Das ‚Kitschzeitalter’ ist gekennzeichnet durch die Kluft 

1 Von Dienstmädchen spricht Norbert Elias; schon 1927 hatte Siegfried Kracauer in einer Artikelserie in der Frankfurter Zeitung diesen Typus von Betrogenen in Bezug auf die Filmindustrie entwickelt, s. Kracauer 1992.

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zwischen der ‚echten’ Sehnsucht der Masse und dem künstlerischen Ausdruck 

der Kunst‐Spezialisten: „Der Begriff ‚Kitsch’ aber ist nichts anderes als ein 

Ausdruck für diese Spannung zwischen dem reich durchgebildeten Geschmack 

der Spezialisten und dem unentwickelten, unsicheren Geschmack der 

Massengesellschaft. (...) Und die ganze Verachtung des Spezialisten für den 

ungebildeten Geschmack der kapitalistischen Gesellschaft, aber auch die 

Tragik dieser Konstellation, bei der die Spezialisten, seien es Künstler, Händler 

oder Verleger, aus wirtschaftlichen Gründen Produkte vertreiben und 

herstellen müssen, die sie selbst verachten, kommt in dieser ursprünglichen 

Fassung des Begriffs ‚Kitsch’ schon unmittelbar zum Ausdruck.“ (25f) 

    Aus historischer Distanz betrachtet erscheint der Text von Elias 

zugleich vertraut und ein wenig überraschend, sperrig, fremd. Vertraut sind 

die Motive der Kritik der Massengesellschaft und die Analyse der 

Kulturindustrie (vgl. Horkheimer und Adorno 1969: 128ff) im Rahmen einer 

kulturtheoretisch ausgearbeiteten Entfremdungstheorie; überraschend 

erscheint die These, dass Kitsch das bestimmende Charakteristikum einer 

Epoche ist, die durch keinen verbindlichen Stil die Geschlossenheit ihrer 

kulturellen Ausdrucksformen findet. Überraschend erscheint dies, weil wir mit 

dem Motiv vertraut sind, dass mit dem Niedergang der höfischen – und in 

ihrer autoritären Struktur zweifellos stilbildenden – Gesellschaft die erste 

Moderne (vgl. Habermas 1985: 59ff) beginnt. Diese erzeugt in den Künsten 

einerseits das Konzept der Avantgarde als Prinzip der Selbstvergewisserung 

durch permanente Erneuerung2; und belastet jede anspruchsvolle Kunst mit 

der Aufgabe, das Kunstwerk zu einem Ort der erscheinenden Wahrheit und 

seine Schönheit zur Form dieser Wahrheit zu machen. Jede Kunst trachtet 

dann zugleich nach Schönheit und Wahrheit. In der Suche nach Schönheit 

erprobt sie die Möglichkeiten der umfassenden Zustimmung zum Dasein; in 

der Suche nach Wahrheit verhindert sie, dass diese Zustimmung durch 

Ausblendung des Schreckens der Welt und des Schmerzes des individuellen 

Bewusstseins in der Welt entstehen kann. Beschönigen gilt nicht. Das zu 

leichte Einverständnis, das sich jenseits des möglichen Weltwissens 

aufzurichten versucht, muss aus dem Bereich der philosophisch 

anspruchsvollen Kunst ausgeschieden werden. Daher wird es zunehmend 

anstrengend, Kunst schön zu finden. Seit den späten Streichquartetten von 

2 Zur Dialektik des Neuen als Garant des kulturellen Archivs vgl. Groys 2000: 7ff.

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Beethoven sind Dissonanzen aller Art eine unverzichtbare Qualität des 

Schönen im Anspruchsraum der Kunst. Kunst, die Versöhnung verheißt, muss 

den Widerspruch, den Riss, den Schmerz überwinden (statt ihn zu leugnen), 

um jenes tiefe Ja! aussprechen zu können, das Nietzsche als Voraussetzung 

jedes freien Handelns gekennzeichnet hat: nur aus der tiefsten Zustimmung 

zum eigenen Dasein, nur im Ja! der tiefsten Nacht werden wir erlöst vom 

Zwang zum Anders‐Tun‐Müssen. In der Perspektive einer philosophischen 

Psychologie beschreibt Nietzsche in unzähligen Textfragmenten den Übergang 

vom Zwang zur Reaktion zur ersten freien Handlung. Die Schönheit ist es, 

durch die wir auf der Höhe des Bewusstseins jene Zustimmung zum Dasein 

erleben, die den Übergang von der reactio (aus Zwang zur Veränderung) zur 

actio (aus Gelassenheit) ermöglicht. Frei sind wir erst, wo wir vollkommen 

zustimmen können. 

  Die Möglichkeiten dieser Zustimmung werden am Kunstwerk erprobt; 

das Erlebnis dieser Zustimmung nennen wir Schönheit. Der philosophisch 

anspruchsvoll gewordene Kunstbegriff muss jedes zu leichte Einverständnis 

ausscheiden. Das zu leichte Kunstwerk wird zunächst als abgeschmackt 

gekennzeichnet; später entsteht daraus mit Notwendigkeit der Diskurs des 

Kitsches. Deshalb ist die Auseinandersetzung mit dem Kitsch und seinen 

Erscheinungsformen bis heute überall da ein Thema, wo es darum geht, dem 

Begriff der Schönheit in der Moderne Kontur zu verleihen. Zugleich wird aus 

dieser Konstellation verständlich, warum jeder epochal 'verbindliche' Stil in 

der Moderne zweifelhaft werden muss. Die Kunst im Anspruchsraum der 

Wahrheit wird flüchtig, angespannt, nervös; ihre Schönheit tritt nur 

momenthaft auf. Jede Ordnung, die das Schöne aus dem Fluss der 

Wahrnehmung reißen will, um es in die Sphäre des Zeitlosen zu heben, muss 

suspekt erscheinen. (Das Museum ist das Archiv dessen, was einmal schön 

war – und zunächst kein Ort, an dem Schönheit entsteht.) Sofern Stil 

untrennbar mit formaler Ordnung und der Wiederkehr identischer Elemente 

verbunden ist, wird er zu einer Chiffre des Unwahren: eine Gewohnheit, die 

genau in jenem Moment falsch wird, in dem sie entsteht. Im Aufbruch liegt 

die Wahrheit, nicht in der Wiederholung; in der Transformation entsteht das 

Schöne, nicht in der Zeitlosigkeit. Ordnung ist, was war; wahr ist, was im 

Augenblick möglich wird. Daher wird Stil zu einer Kategorie der retrospektiven 

Beschreibung. Kein Künstler sucht mehr nach einem Stil. Wer einen Stil 

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etablieren will, indem er noch einmal macht, was er schon konnte, errichtet 

keinen Stil, sondern wird zum Epigonen der eigenen Fähigkeiten. So entsteht 

Manierismus, nicht Stil. 

  Doch was bewirkt der Verlust von Stil als kulturstiftender Kategorie 

jenseits des Ausnahme‐Erfahrungsraums avancierter Kunst? Können wir in der 

Alltagserfahrung auf die Wirkung von stilbildenden Elementen verzichten? 

Wie wirkt sich das Verblassen von Stil als Geschlossenheit der Ausdrucksmittel 

in der Alltagskultur aus? 

  Der Text von Norbert Elias entsteht in einer Zeit, in der die 

Überwindung aller Stile pathetisch gefordert wird: in Kunst, Architektur, 

Musik und Literatur sollen Stilbildungen durch Ideen und Haltungen ersetzt 

werden. Die Qualität von Kunst entsteht nicht aus dem Willen zum 

einheitlichen Erscheinungsbild, sondern aus der Radikalität der angewendeten 

Methode. Dass gerade jene, die diese Forderung am vehementesten 

artikuliert haben, später stilbildend gewirkt haben, zeigt die Paradoxie des 

Stil‐Begriffs in der Moderne: was Revolte war, kann Stil werden. Weil jeder Stil 

durch eine typische Formensprache charakterisiert ist, steht er im Verdacht, 

konventionell, routiniert und oberflächlich zu sein. Können wir uns heute die 

bewusst angestrebte Bildung eines Stils – in der Literatur, in der Architektur, 

in der Kunst – vorstellen, die nicht sofort in die Gefahrenzone des Kitsches 

abgleitet? Oder ist – auf der Ebene der bewusst inszenierten Lebensstile – ein 

mit Ironie gelebtes Bekenntnis zum Kitsch der letzte noch mögliche Stil? 

 

1. Kitsch: Drei Annäherungen 

Der Kitsch ist kein homogenes Phänomen. Was als kitschig zu bewerten ist, 

bleibt stets umstritten, weil die Grenze zwischen den erhabenen 

Ausdrucksformen und ihren Verfehlungen im Kitsch beweglich bleibt. Fast 

jede Kunst kann, ihrer innere Tendenz folgend, in Kitsch umschlagen, wenn sie 

hohe Grade der Intensität erreicht. Insofern ließe sich die These vertreten, der 

Kitsch sei niemals lau oder lasch; umgekehrt gehört es zu den akzeptierteren 

Merkmalen des Kitsches, das Seichte mit dem Kunstvollen und das Gefällige 

mit dem Schönen zu verwechseln. 

  Wie bei allen Begriffen, die gleichermaßen im kulturtheoretischen wie 

im alltäglichen Diskurs als Kampfvokabel und Schimpfwort in Stellung 

gebracht werden, droht die Bezeichnung von Gegenständen, Haltungen und 

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Gefühlen als kitschig denjenigen zu verraten, der das Kitschurteil fällt. Sage 

mir, was du für kitschig hältst, und ich zeige dir, wie es um dein 

Kunstverständnis bestellt ist. Derselbe Kunst‐ oder Kulturgegenstand, von 

zwei Personen unterschiedlicher sozialer Herkunft bewundert, erscheint 

einmal als Kitsch, ein anderes mal als diffizile Kunst. Traditionelle Gewänder, 

aus alltäglich gelebter lokaler Tradition entstanden und mit der Kraft rituell 

geprägter Lebensformen verbunden, sind eine authentische Artikulation 

innerhalb eines lokalen Kulturstromes; und verwandeln sich zu Kitsch im Blick 

jener, die sie von außen ‚verehren’, ohne Teil des Lebens zu werden, aus dem 

sie sprechen. Jetzt wird die Tracht zum Kostüm. Adolf Loos wurde nicht müde, 

die Verlogenheit und Lächerlichkeit des Städters darzustellen, der die 

ländlichen Lebensformen als Bild des noch intakten Lebens in seiner 

malerischen Schönheit konsumiert: „Die Bauernhäuser erscheinen diesen 

Herren exotisch, was sie mit dem Wort malerisch umschreiben. Malerisch 

erscheinen die Kleidung der Bauern, ihr Hausrat und ihre Häuser nur uns. Die 

Bauern selbst kommen sich gar nicht malerisch vor, auch ihre Häuser sind es 

für sie nicht. Sie haben auch nie malerisch gebaut.“ (Loos 1912/1995: 114)3 

Jedes kulturelle und gesellschaftliche Umfeld kennt seinen je individuellen 

Absturz in den Kitsch: Immer kann etwas zu gefällig werden; immer kann das 

bejahende Einverständnis anspruchslos und weltarm werden. Der Kitsch ist 

ein Phänomen der Übergangszonen und der mehrfachen Codierungen; seine 

Ränder sind konstitutiv unscharf, sein Gehalt so wenig eindeutig wie unser 

Verhältnis zur Sehnsucht und den Methoden ihrer Befriedigung. 

  Duldet der Kitsch Distanz? – Hier, denke ich, ist eines der wenigen 

‚harten’ Merkmale des Kitsches bezeichnet. Weil der Kitsch uns intensiv 

berührt, duldet er für den Konsumenten keine Distanz. Man ist im Zustand der 

Ergriffenheit – oder man sieht distanziert zu, wie andere verfallen. (Ich werde 

später darüber sprechen, wie auch dieses Merkmal sich verwandelt, sobald 

das ironische Bekenntnis zum Kitsch als elaborierte Haltung in der 

Gesellschaft gelebt wird.) Ohne den Anspruch zu erheben, dem Phänomen in 

enzyklopädischer Breite gerecht zu werten, möchte ich zunächst drei Akzente 

3 An anderer Stelle sagt Loos: „Auch ich gebe zu, dass mir die alten Traditionen sehr gut gefallen. Das gibt mir aber noch kein Recht, von meinem Nebenmenschen zu verlangen, sie meinetwegen anzulegen. Die Tracht, die in einer bestimmten Form erstarrte Kleidung, die sich nicht mehr weiter entwickelt, ist immer das Zeichen, dass ihr Träger es aufgegeben hat, seinen Zustand zu verändern. Die Tracht ist die Verkörperung der Resignation.“ (Loos 1898/2000: 128)

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setzen, die den Kitsch im Verhältnis zum architekturtheoretischen Diskurs des 

Schönen betreffen. 

 

a. Coole Kiste Kitsch 

In seiner Suche nach Qualitäten der Baukunst beschreibt Steen Eiler 

Rasmussen unter dem Stichwort Romantik einen Spaziergang, der ihn durch 

einen parkartigen Fichtenwald am Rande Dessaus führt: „Den Zugang zu 

diesem Wege bildet eine klassische Tempelruine: sechs Säulen mit einem 

Architrav, ein sorgfältig ausgeführtes Stück Theater aus dem 18. Jahrhundert, 

jener sentimentalen Zeit, da man den Gärten und Parken eine besondere 

Stimmung geben wollte mit Grotten, Ruinen, gotischen Kapellen, 

Einsiedeleien und Schweizerhäusern, so dass man sich in ferne Länder 

versetzt fühlen konnte, fern aller Unruhe und allem Kriegsgeschrei der 

napoleonischen Zeit. Ein wenig weiter schauten zwischen den hohen dunklen 

Bäumen einige kreideweiße Häuser hervor. Was man sonst über diese Häuser 

sagen mag, es muss zugestanden werden, dass sie reichlich mit gewissen 

Zutaten des damals geltenden Modernismus ausgestattet waren: Die Balkone, 

die sich um die Hausecken legten, wo sie allerdings am meisten dem Zug 

ausgesetzt waren, sollten mit ihrem Stahlrohrgeländer und der sonstigen 

Ausstattung einer Kommandobrücke, in Erinnerung an ein stolzes 

Dampfschiff, die freudigen Gefühle einer Fernreise wecken, fern von jeglicher 

Inflation. Am Ende des Weges stand eine kleine Loggia mit dem 

Palladiobogen, ein Spielzeug fürstlicher Laune, ein Ort, an dem man sich nach 

Italien versetzt glauben konnte, in das Arkadien der Goethezeit. So hat die 

Romantik in der Baukunst viele Verkleidungen. Das Ziel ist aber immer das 

gleiche: die Gedanken des Beschauers von der nüchternen Wirklichkeit 

wegzuführen, zu fremden Ländern oder vergangenen Zeiten. Gemeinsam für 

alle Romantik ist, dass sie nicht die rein künstlerischen, in diesem Fall die 

architektonischen Mittel selbst wirken lässt, sondern die Vorstellungen, die 

der Betrachter mit ihnen verbindet.“ (Rasmussen 1940: 17) Rasmussen 

beschreibt zwei Merkmale, die sich auch am Phänomen des Kitsches 

beobachten lassen: Auch der Kitsch hat viele Verkleidungen; auch der Kitsch 

versucht, durch semantische Anreicherung – von Bauwerken und Büchern, 

Kunstwerken und Alltagssituationen – die Gedanken des Beschauers von der 

nüchternen Wirklichkeit wegzuführen. Der Kitsch hat Verkleidungen und führt 

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aus der Welt. 

  Ebenso wie es Ruinenromantik, Ingenieursromantik oder 

Palladioromantik gibt, können wir verschiedene Erscheinungsformen des 

Kitsches in der Architektur beobachten: es gibt den Kitsch des Heroischen, des 

Seichten, des Klassischen, des Süßlichen; aber ebenso den Kitsch des 

Weichen, den Kitsch der Tiefe, den Kitsch des Modernismus, den Kitsch des 

Bitteren – und den Kitsch des Coolen. Darf man ungeniert freundlich sein? 

Wer kann es sich leisten, lieblich zu erscheinen? Also ist auch unsere 

Architektur cool, wie unser flammendes Herz. Der gejodelten Architektur 

steht die Architektur der coolen Kiste zur Seite, die in Exzessen der 

Nüchternheit sich selbst und ihre geometrische Prägnanz feiert. In der 

Perfektion ihrer Details und der Schroffheit ihrer Erscheinung im Kontext baut 

sie ihre ‚moderne’ Gegenwelt, die der Eigengesetzlichkeit ihrer selbst 

auferlegten Regeln (Ehrlichkeit der Konstruktion ...) mehr Aufmerksamkeit 

schenkt als dem möglichen Reichtum ihres Welt‐ und Lebensbezugs. Auch 

darin liegt Intensität, gepaart mit Vereinfachung, Weltabwendung, Reinheit. 

Der Weltschmerz ist kitschfähig, der Blues, der rohe Beton, der Alkoholismus, 

das Scheitern: Es lässt sich daraus ein Gefühl präparieren, in dem sich das 

Leben emotional einrichten kann. 

 

b. Noch schöner 

Die Szene ist bekannt. Die gefährlichsten Lichtstimmungen sind 

Sonnenuntergänge, die eine bewegte Landschaft – kulissenhaft gestaffelte 

Weinberge, eine Stadtsilhouette im Gegenlicht, ein Küstenstreifen – in 

schweres, melancholisches Licht tauchen. Vielleicht hat man ein Glas Wein zur 

Hand, oder Whisky, für den Blues. Mit der Intensität der Farben steigt die 

Neigung, nichts mehr zu sagen. Aber einer tut es: „Noch schöner ist schon 

kitschig.“ – Ohne seine Ironie zu verkennen: der Satz scheint bedenkenswert. 

Wie ist das Konzept von Schönheit konstruiert, wenn diese durch Steigerung 

in Kitsch umschlagen kann? 

  Es sind die klassischen Attribute des Schönen, die hier aufgerufen 

werden: das Angenehme, das Süße, das Überwältigende, das Erlösende. 

Ästhetisierung? Kann das Naturspektakel als solches jemals Kitsch sein, oder 

sind es unsere Empfindungen und Haltungen, die kitschig genannt werden 

können? Welche Bedeutung die Unterscheidung zwischen dem Naturschönen 

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und dem Kunstschönen hat, wird sofort deutlich, wenn wir das beobachtete 

Naturspektakel mit dem Abbild (als Foto oder Bild, als Film‐ oder 

Romanszene) in der Kunst vergleichen. Kant hatte gute Gründe, das 

Naturschauspiel da, wo es überwältigend wird, erhaben zu nennen, nicht 

schön. 

  Warum ist der Sonnenuntergang in der Natur erhaben und droht als 

Darstellung in der Kunst nicht schön zu sein, sondern in den Kitsch zu 

entgleiten? Auch hier scheint eine weitere Differenzierung erforderlich. Nicht 

jede Darstellung von Sonnentergängen in der bildenden Kunst muss in die 

Gefahrenzone des Kitsches gleiten. Wenn Turner oder Monet den 

Turbulenzen von Lichtstimmungen nachjagen, entstehen Bilder von 

erschütternder Schönheit – und zwar auch dann, wenn sie süßlich und 

verheißungsvoll erscheinen. Aber sie werden niemals gefällig, weil sie von 

einer Aufregung durchwirkt sind, die nach Realität sucht. Keine Sehnsucht, die 

kurzerhand befriedigt wird, kein Erwartung, die Bestätigung findet. 

  Wir gelangen so zu einer Bestimmung des Kitsches durch 

mangelhaften Realitätsdrang. Wenn in jeder anspruchsvollen Kunst das 

Mysterium des Realismus beunruhigend wirksam ist, dann ist es gerade dieses 

Merkmal, das dem Kitsch fehlt. Das Geheimnis jeder verfeinerten, 

energischen Architektur ist, einem Wort Louis Sullivans folgend, die Suche 

nach Realitäten; jedes Kunstwerk will eine wahre oder zumindest 

wahrheitsfähige Sicht der Welt etablieren. Nietzsche sprach von der Kultur als 

dem Kampf um die Durchsetzung einer Weltinterpretation. Ich will die These 

vertreten, dass Kitsch genau da entsteht, wo der Realitätsdrang im Werk und 

im Rezipienten zu schwach ausgebildet ist; jedenfalls schwächer ausgebildet 

ist als der Drang, vorhandene Sehnsüchte affirmativ zu befriedigen. Der 

Genuss von Kitsch ist keine Erfahrung, die uns verändert, sondern eine 

Befriedigung, die uns in dem bestätigt, was wir schon sind. Der Kitsch führt 

nicht in die Welt, sondern stabilisiert eine Art, an der Welt vorbeizugehen. – 

Aber eben darin zeigt sich die sekundäre Wahrheit am Kitsch, die Wahrheit 

‚hinter’ dem erscheinenden Kitsch: denn nichts erscheint so authentisch und 

unverfälscht wie die Sehnsucht, die falsche Welt durch gesteigerte 

Gefühlsintensität als die tröstende, rettende herbeizubeschwören. Das ist das 

echte Gefühl im falschen Gesang der Dienstmädchen, dem Norbert Elias den 

Respekt nicht verweigern konnte. 

9

  Der Übergang von der Schönheit zum Kitsch erfolgt, einem Gedanken 

Adornos folgend, in der Moderne durch die von keiner Realitätssuche mehr 

verunsicherte „Illusion eines reinen Reichs der Schönheit, das rasch als Kitsch 

sich decouvriert.“ (Adorno 1970: 475) Schönheit lebt nur im Augenblick ihrer 

Entdeckung, nicht im Bedürfnis, sie zu fixieren. Das wirkt zurück auch auf das, 

was Kunst als schön dechiffriert hat. Das zitierte Schöne, das wiederholte 

Schöne verliert schon seine Kraft. „Was Kunst war, kann Kitsch werden. 

Vielleicht ist diese Verfallsgeschichte, eine der Berechtigung von Kunst, ihr 

wahrer Fortschritt.“ (467) 

 

c. Der Kitsch und der Alarm 

Adornos Diktum, es gebe kein richtiges Leben im Falschen, lässt sich auch als 

Kritik des Kitsches lesen. „Haben Sie noch nie jemanden falsch singen gehört 

mit echtem Gefühl?“ fragt Regine in Musils Drama Die Schwärmer. Eines der 

klassischen Bestimmungsstücke des Kitsches zielt genau auf diese 

Verwicklung: der Kitsch ist wahr in der Verlogenheit. Denkbar prägnant 

erscheint das Verhältnis von Attraktion und Angst, Verführung und Distanz in 

einer Sentenz von Burghart Schmidt dargestellt: „In jedem Menschen steckt 

darum Kitsch, weil Kitsch der kürzeste Weg zur Versöhnung mit den 

Lebensumständen zu sein scheint, und warum soll man nicht den einfachsten 

Weg einschlagen? Aber wiederum: warum soll man?“ (Schmidt 1994: 14)4 Die 

dialektische Satzbewegung (Warum nicht? Andererseits: warum?) inszeniert 

beides: unsere verkrampfte Angst vor dem Kitsch und zugleich den Grund für 

den Alarm, den wir verspüren, sobald wir allzu angenehm berührt werden. 

Wo wir den Alarm verspüren, fühlen wir uns unterschätzt: so einfach und 

unmittelbar lassen wir uns nicht einnehmen. Wo auch immer emotionale 

Intensität erzeugt wird, schützt uns der Kitsch‐Alarm davor, die Beherrschung 

des Gefühls zu verlieren. Wer das Kitschurteil fällt, schafft Distanz – und 

erhebt den Anspruch, souverän zu sein. Also befriedigt die Abwehr gegen den 

Kitsch nur das Bedürfnis, sich herauszuhalten? 

  Wir verraten uns nicht nur durch das, was wir schön finden; wir geben 

4 Im Buchtext jedoch ohne den Schlusssatz (Aber wiederum: warum soll man?) – dieser abschließende Satz der gesamten Sentenz erscheint nur im Klappentext des ganz in rosa und lila eingehüllten Buches. – An anderer Stelle spricht Schmidt vom „Kitsch in seiner Übereile zur Versöhnung (...), die sich stets den leichtesten Weg sucht gegenüber den Fragen.“ (1994: 40)

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uns auch zu erkennen, wo wir den Kitsch geißeln. Nicht nur an unserer 

Faszinationsfähigkeit sind wir zu erkennen, sondern auch an unserem 

Bedürfnis nach Distanz und Klarheit. Wo die Fähigkeit zu begeistern und 

Gefühle zu wecken, pauschal in die Kitschzone abgeschoben wird, entsteht 

eine Ordnung, die in primitiver Klarheit jede differenzierteren 

Ausdrucksformen – in den Künsten und im Leben – ersticken muss. Ähnliches 

gilt für das akademische Misstrauen gegen jede Kunst, die in der Lage ist, ein 

breites Publikum unmittelbar anzusprechen: verändert sich die Qualität von 

Mozarts Musik oder die Kraft der Bilder van Goghs, nur weil sie rund um den 

Globus Menschen zu erreichen vermögen? 

  Dass sich hinter dem Misstrauen gegenüber jeder Kunst, die ein breites 

Publikum unmittelbar anspricht, oft nur ein akademisches Ressentiment 

verbirgt, hat der Künstler Giselbert Hoke in seinen Vorlesungen am Institut für 

Künstlerische Gestaltung der Grazer Architekturfakultät an der leichtfertigen 

Ablehnung gegenüber Malern erläutert, die malerisch Architektur entwerfen. 

Hoke schildert seine Wanderungen in Chile, seinen Weg in lebensbedrohliche 

Höhen in den Anden. Es gehört – auch das vielleicht ein Klischee, das 

erhebliche Kitschpotentiale in sich trägt – zu den Eigenheiten solcher 

Erfahrungs‐Wege, dass der Wanderer vom Weg abkommt. Mit der Einsamkeit 

steigt die Bedrohung, mit der Verzweiflung die Fähigkeit, intensiv zu erleben. 

Endlich trifft der Wanderer auf eine ärmliche Siedlung. Drei Wellblechhütten 

samt schwachem Lichtschein in der Dämmerung verheißen notdürftigen 

Schutz gegen ein menschenfeindliches Klima. Auch hier kann sich Leben 

erhalten, abgedrängt ins Extreme. Der Wanderer klopft an. Zwei alte 

Menschen öffnen und erkennen den Zustand des Wanderers. Er wird in die 

beheizte Stube gebeten. Hier wird das Wenige, das die Ärmsten haben, 

selbstverständlich geteilt. Wieder zu Kräften gekommen, entdeckt der 

Wanderer den unerbittlichen Gestaltungswillen und Ordnungssinn auch in der 

extremen Armut. An der Rückwand der Hütte, der Eingangstüre 

gegenüberliegend, baut sich altarhaft eine Art Regal auf, in dem die wenigen 

lagerfähigen Lebensmittel geordnet aufbewahrt werden. Darüber, an der 

Wand, ein Bild; die Postkartenreproduktion eines Gemäldes von Friedensreich 

Hundertwasser. – Nach einer langen Pause fordert Hoke seine Studenten zum 

Arbeiten auf: Versuchen Sie, ein Bild zu malen, dass eine dermaßen universale 

Sprache zu sprechen vermag. Und schweigen Sie zu Hundertwasser, als Maler 

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und als Architekt. 

 

2. Stil. Eine Skizze 

Jedes Werk (der Kunst, der Architektur, der Musik, der Literatur, der 

Bekleidung), aber auch jede Haltung (im Leben, in der Gesellschaft, gegenüber 

der Natur), hat Eigenschaften, deren Kombination als Stil bezeichnet werden 

können. Ein Ensemble von Merkmalen wird als charakteristisch erachtet und 

kann als Identitätskriterium dienen. Sobald wir ein Ensemble von solchen 

Merkmalen, sofern sie bewusst gewählt oder ausgebildet sind, mit einem 

Namen benennen, sprechen wir (und zwar vollkommen korrekt) von Stil. Was 

wiedererkennbar ist, hat Stil. Was wir persönlichen Stil nennen, definiert die 

Eigenart, an der wir die Werke von jemandem identifizieren.  

  Wer – oder was – kann Stil haben? Der Katalog scheint endlos: vom 

persönlichen Stil bis zum Stil einer Epoche, vom Filmstil einer Autorengruppe 

bis zum Stil des frühen Picasso, vom ironischen Stil eines Schriftstellers bis 

zum Monumentalstil von Kulissen, vom Redestil bis zum Fahrstil, vom 

Ernährungsstil bis zum Regierungsstil, von der Stilistik eines Weines bis zum 

Lebensstil etc. Die Liste zeigt, dass eine Definition zu kurz greifen muss, die Stil 

nur als die Wiederkehr von gleichen Formelementen in Kunstwerken versteht. 

Zwei Elemente kehren jedoch in jeder Bestimmung von Stil wieder: Stil ist 

immer das Ergebnis von bewusster menschlicher Gestaltung; Stil entfaltet sich 

nur durch die Wiederholung in der Zeit. 

  Auch als deskriptive Kategorie erscheint der Begriff Stil schwer 

ersetzbar. Dabei gilt: stilbildend ist, worauf man sich später beziehen kann – 

und das gilt auch da, wo der Urheber eines ‚Stils’ diesen nicht als Stil geprägt 

hat, sondern frei von jeder stilistischen Gewohnheit sein wollte.. – Ich möchte 

die Paradoxie des Stilbegriffs in der Moderne kurz anhand der lichten Gestalt 

Le Corbusiers erläutern. 

  In Vers une Architecture formuliert Corbusier 1922 die Forderung nach 

Erneuerung der Baukunst durch Überwindung von ‚Stilen’ als gestaltgebenden 

Elementen in der Architektur: 

„Die Baukunst hat nicht mit ‚Stilen’ zu schaffen. 

Die Stile Ludwigs XIV., XV., XVI. oder der gotische Stil sind für die 

Architektur das, was eine Feder im Haar einer Frau ist; manchmal sehr 

hübsch, aber nicht immer, und mehr nicht. 

12

Die Architektur hat wichtigere Bestimmungen. Zur Erhabenheit fähig, 

rührt sie durch ihre Sachlichkeit unsere stärksten Urinstinkte an und 

wendet sich gleichzeitig durch ihre Abstraktion an unsere höchsten 

Fähigkeiten. Die architektonische Abstraktion hat das Eigentümliche 

und Großartige an sich, dass sie, im rohen Tatsächlichen wurzelnd, 

dieses vergeistigt; denn die rohe Tatsächlichkeit ist nichts anderes als 

Stoffwerdung, als Symbol für die mögliche Idee. Die rohe 

Tatsächlichkeit wird nur durch die Ordnung, die man in sie hineinträgt, 

durchlässig für die Idee. Die Empfindungen, welche die Architektur in 

uns hervorruft, werden durch unbestreitbare, unabweisbare, heute 

fast vergessene physische Bedingungen ausgelöst. Baukörper und 

Außenhaut sind die Elemente, in denen sich Baukunst offenbart. 

Baukörper und Außenhaut werden bestimmt durch den Grundriss. Aus 

dem Grundriss entsteht alles. Wer keine Phantasie hat, dem ist nicht 

zu helfen.“ (Le Corbusier 1922/1982: 37f) 

Es scheint bis heute plausibel: schlimmer als jeder Stil ist die Pluralbildung des 

Wortes; weil ‚die Stile’ suggeriert, dass man aus einem vorhandenen Fundus 

von Stilen beliebig jenen auswählen könne, der gerade passt. – Was für eine 

subtile Attacke gegen die Vorstellung einer Kunst, die mit Notwendigkeit die 

ihr eigene, einzig wahre Gestalt sucht! 

  Corbusier macht sich das Pathos der modernen Kunst in ihrer strengen 

Haltung zu eigen. Kunst, sagt er, sei eine „bitterernste Angelegenheit“, die 

ihre heiligen Stunden hat. Und auch hier, wie bei Adolf Loos, finden wir die 

Verdammung jeder Form von Ornament: „Es gilt ein Missverständnis zu 

zerstreuen: wir sind verdorben durch Verwechslung von Kunst mit dem 

Respekt vor dem Dekor. Verwirrung des Kunstgefühls, das sich mit 

tadelnswertem Leichtsinn allem mitteilt und Theorien und Pressefeldzügen 

Vorschub leistet, die von Dekorateuren geführt werden, welche ihre eigene 

Zeit nicht kennen.“ (84) In der Umkehrung entsteht so die Forderung der 

unmittelbaren Zeitbezogenheit und Gegenwärtigkeit der Baukunst‐als‐Kunst. 

In einer jener pathetisch wiederholten Einleitungspassagen des Manifests 

heißt es mit ungebremst hymnisch‐prophetischem Ton: 

„Ein großes Zeitalter ist angebrochen. 

Ein neuer Geist ist in der Welt. 

Es gibt eine Fülle von Werken des neuen Geistes; man begegnet ihnen 

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vor allem in der industriellen Produktion. 

Die Architektur erstickt am alten Zopf. 

‚Stile’ sind Lüge. 

Der Stil ist eine Wesenseinheit, die alle Werke einer Epoche 

durchdringt und aus einer fest umrissenen Geisteshaltung hervorgeht. 

Unsere Zeit prägt täglich ihren Stil. 

Leider sind unsere Augen noch nicht fähig, ihn zu erkennen.“ (76)5 

Es erscheint eine zweite Form von Stil (diesmal im Singular), die dem Poly‐

Stylismus der klassizistisch‐eklektizistisch geschwätzigen und in ihrem 

Formalausdruck bemüht beliebigen Tradition den Mono‐Stylismus des 

modernen Avantgardismus entgegenstellt. Es ist klar, dass Stil in dieser 

Bedeutung etwas grundsätzlich anderes intendiert, als dem Stilreservoir der 

Geschichte einen weiteren hinzuzufügen. Die kategoriale Differenz erfassen 

wir sofort, wenn wir in der zitierten Textpassage Stil (in der Singularform) 

durch den Begriff Zeitgeist ersetzen. Es erscheint dann die Forderung nach der 

adäquaten Wahrnehmung dieses Zeitgeistes im Prozess der „Durchbildung der 

Form“. Doch wie spricht der Zeitgeist? Wo artikuliert er sich? 

  Augen sehen: Autos, Flugzeuge, Ozeandampfer. Industrielle 

Erzeugnisse von hoher funktioneller Prägnanz und mit ausgefeiltesten 

Detailausbildungen, die es in ihrer Eleganz und Schönheit mit der 

Architravzone des Parthenon‐Tempels (Le Corbusier 1922/1982: 111) 

aufnehmen können. Hier findet Le Corbusier die Leitbilder einer neuen 

Baukunst, die von allen Traditionalismen befreit ist. Hier erscheint der Stil, 

den der Geist der Gegenwärtigkeit täglich prägt – frei von Gewohnheit und 

Dekor, weil kein formaler Stilwille ihn verzopft. Und es erscheint bis heute 

plausibel, dass ein Automobil den Zeitgeist (als Ausdruck dessen, was im 

Augenblick möglich wird) präziser verkörpert als eine Vorstadtvilla im 

toskanischen (oder nordischen oder neogotischen oder ‚modernen’ etc.) Stil. 

  An die Bildkraft von Ozeandampfern und Autos knüpfen sich für 

Corbusier Überlegungen zur funktionellen Prägnanz und das Motiv der  5 Auch Adorno widmet dem Begriff des Stils und seiner Paradoxie eine lange Textpassage innerhalb der Ästhetischen Theorie: „Nie reichte der Stilbegriff unmittelbar an die Qualität von Werken heran; die ihren Stil am genauesten zu repräsentieren scheinen, haben stets den Konflikt mit ihm ausgetragen; Stil selbst war die Einheit von Stil und seiner Suspension. Jedes Werk ist Kraftfeld auch in seinem Verhältnis zum Stil, selbst noch in der Moderne, hinter deren Rücken sich ja gerade dort, wo sie dem Stilwillen absagte, unter dem Zwang des Durchbildens etwas wie Stil konstituierte.“ (1970: 307). Oder, kurz gesagt, Adorno im Lapidarstil: „Vollkommene Negation des Stils scheint in Stil umzuschlagen.“ (308)

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eingeforderten Typenbildung – eine wesentliche Voraussetzung für die 

Effektivität und präzise Durchbildung industriell produzierter Gegenstände. 

Die Fähigkeit, sich von Ozeandampfern begeistern zu lassen, führt Corbusier 

zugleich in die Gefahrenzone der Übernahme von Formbildern. Der Dampfer 

wird zur intensiv erlebten Metapher: die weite Sehnsucht, die Anwesenheit 

des Fernen, der Glanz auf dem Sonnendeck und die Verheißungskraft einer 

weiß lackierten Reling: Die Kraft der Bilder entsteht dabei nicht nur aus der 

Intelligenz der Typisierung und der funktionellen Brillanz der 

Raumorganisation, sondern ebenso in der verheißungsvollen Symbolik der 

großen Reise – eben an dem, was Rasmussen bei seinem Spaziergang im 

Fichtenwald als Ingenieursromantik entdeckte: eine semantisch und bildhaft 

aufgeladene Architektur, deren Attribute als Stilelemente beschreibbar 

werden. Das Ergebnis dieser Beschreibung ist bekannt: es etabliert sich der 

Internationale Stil. 

  Nichts veranschaulicht die Paradoxie des Stilbegriffs in der Moderne so 

klar wie dieser Internationale Stil. Die pathetische Moderne des frühen 20. 

Jahrhunderts, als deren Sprachrohr wir Corbusier zitiert haben, wollte alle 

Stile überwinden, die als formale Kategorie formuliert werden; an deren Stelle 

sollten die Klarheit von Konstruktionsprinzipien und die Haltung der freien, 

individuellen Gestaltung, die Intelligenz funktioneller Brillanz und quasi‐

industrielle Typenbildung gesetzt werden. Diese Haltung wollte a priori nicht 

stilbildend sein, musste ihr doch jede Verwendung von Stilelementen als 

unadäquat und als Vereinfachung erscheinen. – Aber auch den so 

geschaffenen Werken blieb es nicht erspart, zitiert zu werden. Die Moderne 

war gegen jede Form von zitierendem Traditionalismus angetreten; ihre 

Reintegration in den historischen Kontext zeigt: durch den Akt des Zitierens 

erstarrt auch das freie Spiel der Elemente zum Stil. Denn Stil wird, was sich 

formal zitieren lässt. 

  Die Epigonen machen den Stil, und sie verteidigen ihn. Die mitunter 

grotesken und durchaus lächerlichen Konsequenzen solcher ungebetenen 

Traditionsmacher hat Tom Wolfe in From Bauhaus to our  House beschrieben. 

Wolfe wirft einen boshaften Blick auf die Reaktion der Bewohner in einer 

Stilikone des Internationalen Stils: „Ich habe erlebt, wie die Besitzer eines 

solchen Orts durch dessen Helles & Grelles & Reines & Feines & Leeres & 

Hehres an den Rand des sinnlichen Entzugskomas getrieben wurden. 

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Verzweifelt suchten sie ein Gegengift, waren um Gemüt bemüht und mussten 

doch nach Farben darben. Sie versuchten, die obligatorischen weißen Sofas 

unter Knautschkissen aus Thai‐Seide in jeder nur vorstellbaren rebellischen 

irisierenden Schattierung von Magenta, Rosa und tropischem Grün zu 

begraben. Aber der Architekt kam zurück (er kommt immer zurück) wie das 

Gewissen eines Calvinisten (...).“ (1981/2001: #)6 

 

3. Kitsch in Progress 

Auch der Kitsch ist dynamisch. Metamorphosen des Kitsches entstehen, wenn 

das gesellschaftlich etablierte Wertesystem von Oben und Unten, Vorne und 

Hinten in Bewegung gerät. Es kommt zwangsläufig zu Neubewertungen, die 

ihrerseits neue Haltungen und Produkte erzeugen, über deren Status als 

Kitsch, Kunst oder Gag nicht von vornherein Klarheit besteht. 

  Der gesellschaftliche Bedeutungswandel des Kitsches wird heute 

anhand folgender Phänomene sichtbar: (1.) Die effektive Aufhebung bzw. 

Überwindung eines innerkulturellen Immunsystems, das hohe von niederer 

Kultur trennt; nach der theoretischen Forderung der Überwindung dieser 

Dichotomie seit den 1960er Jahren kann in den vergangenen Jahren das reale 

Verblassen ihrer Wirksamkeit beobachtet werden. (2.) Die (teilweise von der 

‚Kulturindustrie’ inszenierte) Retro‐Welle, die das, was z.B. im 

Architekturdiskurs als postmodernes Zitat klassifiziert war, zum alltäglichen 

Spielgeld der ästhetischen Codes gemacht hat (und dabei die jüngere 

Vergangenheit sehr nah an die Gegenwart herangeführt hat). (3.) Kitsch 

6 Eine ebenso differenzierte wie komprimierte Darstellung der Paradoxie und Selbsteinengung durch den Internationalen Stil gibt Hermann Czech mit besonderer Rücksicht auf die Geschichte der sich bildenden Moderne in Wien: „Aber die Kriterien des ‚Internationalen Stils’ geben, bloß linear betrachtet, eben den unzureichenden Begriff der Moderne. Der zureichende Begriff der Moderne erfordert nicht nur, dass zu jedem Kriterium des Internationalen Stils jeweils das Gegenteil denkmöglich ist, sondern auch, dass jedes Stilkriterium in verschiedenen Zusammenhängen völlig verschiedene Bedeutungen annehmen kann. Wenn die Moderne sich nämlich nicht als Auffinden der Weltordnung versteht, kann ihre Bewährung nur im tatsächlichen Leben liegen. Die Kontroverse zwischen Loos und Hoffmann betrifft eben diesen Punkt: ist die Moderne bereits im modernen Leben – im Menschen mit den ‚modernen Nerven’ – angelegt oder muss sie als Stil von oben her entworfen werden? Im Wien der letzten Jahrhundertwende gab es Leute, die wunderschöne Sachen machen konnten: Klimt, Schnitzler, Hofmannsthal, Richard Strauss (...) Aber in derselben Stadt gab es Kokoschka, Karl Kraus, Schönberg, Freud, Wittgenstein – die vermitteln konnten, dass Kunst nicht so sehr mit Schönheit, sondern mit Wahrheit zu tun hat. Auch das ist Inhalt der Kontroverse Loos-Hoffmann: Es geht um Wahrheit, um eine wirkliche Vernetzung mit einem Bild des Menschen und der Gesellschaft; bloße Schönheit ist geradezu verdächtig. (...) Je dichter am Leben die Architektur bleibt, desto komplexer ist sie; ‚einfach’ kann sie nur werden, indem sie davon abhebt.“ (Czech 1996: 146)

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korrespondiert mit dem ‚wahren Gefühl’, er ist immer intensiv; er unterstützt 

oder erzeugt das starke einfache Gefühl, jenseits der Brüche durch Reflexion 

und Bewusstsein. Daher geht es im Kitsch immer um eine Purifizierung und 

ein Zu‐seinem‐Recht‐Kommen des beleidigten ersten Gefühls. (Die Strenge 

und Kühle der modernen Baukunst, die bis heute eher logisch‐faszinierend als 

gemütvoll‐wärmend ist, provoziert regelmäßig das Entstehen jener emotio‐

nalen Gegenwelten, in denen die Idyllen schamlos einfach ‚schön’ geraten – 

von den historisierenden Stadtvisionen des new urbanism bis zu Thermen im 

vor Erkennbarkeit nur so strotzenden Hundertwasser‐Stil.) 

  In einer umfangreichen Studie über das heterogene Feld des Kitsches 

hat Hans‐Dieter Gelfert einige markante Konturen nachgezeichnet. Gelfert 

unterscheidet zwischen zwei Haupttendenzen des Kitsches: „Regression und 

Projektion prägen weithin sichtbar die bürgerliche Kultur.“ (2000: 66) Das 

zentrale Motiv ist dabei Purifizierung: das Herstellen – wie in der Chemie, aus 

der der Begriff entlehnt ist – von reinen und unverfälschten Zuständen und 

Identitäten, vorsichtiger: sozialen Rollen. (Gelfert illustriert das Motiv an 

Beispielen aus der Literatur.) In allen kitschanfälligen Romanen haben die 

Figuren diese ‚Reinheit’ klar umrissener Rollenbilder und wesenhaft stilisierter 

Charaktere: jeder Vater ein Schutzherr, jede Mutter eine Zuflucht, jeder Mann 

ein echter Kerl, jede Frau ein wahrer Abgrund: es ist diese Form von 

Stilisierung, in der viele Merkmale des Kitsches zusammenlaufen. Diese 

Merkmale erscheinen in immer wieder verwandelter Form. Ihre Elemente 

sind: 

  a. Vereinfachung durch Harmonisierung. Störungen der Harmonie sind 

Verfehlungen; sie bewirken keine Transformation, sondern erzeugen 

Zufriedenheit und Selbstbestätigung, wenn sie spurlos eliminiert sind. 

Zugleich Verleugnung von Komplexität. 

  b. Überwindung des Mehrdeutigen und Zweifelhaften und Herstellen 

von Eindeutigkeit, Ordnung, Orientierung. Verbunden mit Sentimentalisierung 

und Intensivierung des Gefühls: Anbindung des Neuen an bekannte Gefühle. 

  c.Versprechen einer besseren Welt, die zugleich die erste Welt war, die 

noch in Ordnung war. Der Kitsch baut eine Welt, in der wir uns in 

vollkommener Fraglosigkeit einrichten können. Diese Welt ist gediegen 

möbliert mit Versatzstücken von hohem emotionalem Gewohnheitswert. 

 

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4. Spiel mit Versatzstücken 

Die moderne Attacke gegen ‚die Stile’ ist nicht zu denken ohne das den 

Arbeitsmethoden der Industrie entlehnte Motiv der Typenbildung. 

Wiederkehrende Elemente – Module – werden in ihrer Funktion und Form 

optimiert, um in der Kombination effektive und leistungsstarke Maschinen zu 

erzeugen. Einzelelemente, in Serie gefertigt, werden zu Ganzheiten 

kombiniert. Die Serienfertigung produziert intelligente Versatzstücke. 

  Von Stil sprechen wir, wo wiederkehrende Formelemente zu einem 

Ganzen kombiniert sind. Stile erzeugen standardisierte Lösungen für häufig 

auftretende Probleme. Stile bilden verwandte Ausdrucksmittel, die sich in 

eine Geschlossenheit zueinander stellen lassen. Stile bestehen aus der 

absichtsvollen Kombination von Versatzstücken. 

  Kitsch lebt durch die harmonisierende Verbindung vetrauter Elemente, 

bestätigender Klischees und bewährter Versatzstücke. Diese Versatzstücke 

können Haltungen, Motive oder Metaphern sein, aber auch Gegenstände 

oder – etablierte Stilelemente. Wer sich die Synthese aus den drei 

beschriebenen Arten von Versatzstücken vor Augen führen will, kann einen 

Blick auf die zeitgenössische Fertigteilhausproduktion werfen.7 Hier gilt: 

Serienfertigung mal Stilelement ist Kitsch.  

  Industrielle Versatzstücke sind anonym. Lassen sich personalisierte 

Ensembles von Versatzstücken denken? Die Frage führt uns sofort zu dem, 

was wir als persönlichen Stil (oder: Charakter) in der Architektur bezeichnen. 

Was identifizierbar ist und ‚Wiedererkennungswert’ hat, das hat ‚Stil’; was Stil 

hat, trägt eine Handschrift. Und die tendiert stets dazu, Versatzstücke zu 

erzeugen, die zu Manierismen werden. Können wir uns eine Schönheit 

vorstellen, die aus Versatzstücken zusammengeschraubt wird?  

 

5. Kitsch als Stil 

Wenn die Idyllenwelt‐Schönheit unerträglich wird, ohne dass sich die 

Sehnsucht danach verflüchtigt, tritt die aktuelle Strategie im reflektierten 

Umgang mit dem Kitsch auf: das Bekenntnis zum Zitat mit Ironie. Im Modus 

eines fragilen Als‐Ob spielen wir mit den Verheißungen und 

Identitätsangeboten; und bleiben doch stolz, niemals vergessen zu können, 

dass es keinen Rückweg in die einfache erste Welt gibt. 

7 Vgl. als Beispiel: www.stilhaus.com

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  Die heitere Kombinatorik von kitschfähigen Versatzstücken ist auch 

eine Anmerkung zur tiefen Weisheit des milden und sensiblen Umgangs mit 

Konventionen, weil auch Konventionen Realitäten sind, deren direkte 

Leugnung psychosozial in die Unwahrheit oder in die Irre führen muss. Die 

erfahrbare, lebbare Alltagswelt ist kein Kunstseminar mit immanentem 

Prüfungscharakter. Wenn es im Sinne avancierter Kunst immer um die 

Einrichtung von garantiert stil‐freien Zonen geht, löst das einen aberwitzigen 

Stress aus und erzeugt bizarre Zustände im emotionalen Haushalt des 

Publikums. 

  Durch die Etablierung von Kitsch als Stil (und durch das damit 

eröffnete Spiel mit Kitsch) wird der Kitsch als Erfahrungsfeld erschlossen. 

Durch den ironischen und bekennerhaften Umgang mit dem an sich 

schlechten Geschmack wird jener Raum möglicher Erfahrungen in den 

ästhetischen Diskurs zurückgeholt, der von der technisch kühlen Moderne 

ausgemustert worden war. Dem ästhetischen Diskurs wird dadurch eine 

frivole Komplexität zurückgegeben, die er in den reduktionistischen 

Ausformungen seines Ordnungs‐ und Überwindungspathos verloren hatte. 

Durch den ironischen Umgang mit dem Kitsch wird das, womit Kitsch 

korrespondiert, indem er es unterschätzt, als Realität zurückgeholt in den 

bewusst erfahrenen Experimentalraum des Schönen. Die Renaissance von 

Reiz und Rührung (vgl. Liessmann 2004: 19ff) geschieht durch die Kitsch‐

Stilisierung und die damit verbundene Ironisierung auf einem Niveau hoher 

Reflexivität und Bewusstheit. Auch wo Gegenstände, die jahrzehntelang aus 

den Sphären der hohen Kultur ausgeschlossen waren, zum Kult erhoben 

werden, geschieht dies nicht regressiv, sondern heiter provokativ. Eine zweite 

Aufmerksamkeit erspürt mögliche Feinheiten jenseits der kahlen 

Landschaften, die uns die avantgardistische Moderne beschert hat.8 

  Kitsch als Stil ist keine Bestätigung, sondern bewirkt eine 

überraschende Sensibilisierung. Denn Kitsch als Stil erscheint vor allem als 

Haltung, die ein komplexes Verhältnis zum Kitsch aufbaut, ohne dadurch 

neuen Kitsch hervorzubringen. Als Haltung bleibt sie stets experimentell und 

reflexiv. Es geht ihr nicht um Kitsch als Gegenstand oder Werk, das für andere 

8 Liessmann betont diesen Aspekt in seinem jüngsten Buch über Kitsch: „Der zum Kultgegenstand erhobene Kitsch der 1950er Jahre, ebenso wie die Rehabilitierung von Kitsch an sich, gehorcht allerdings noch einem anderen Motiv: Es handelt sich letztlich um eine sublime Rache an den Zumutungen der avantgardistischen Moderne.“ (Liessmann 2002: 73)

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gemacht wird, sondern es ist eine spannungsreiche, individuelle oder auch 

kollektive Selbsterfahrung, die vor allem die eigene Existenz und das darin 

eingeschlossene Mysterium der sich verfeinernden oder verschließenden 

Empfindungsfähigkeit als Medium der bewussten Gestaltung ergreift. Es 

kommen so gesteigerte Formen der Aufmerksamkeit zustande, die eine 

zunehmend differenzierte Gestaltung und eine sich immer weiter 

verfeinernde Schönheit – als Medium des Fortschritts – einfordern.

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Literatur: 

 

 

Adorno, Theodor W. (1970), Ästhetische Theorie. Frankfurt a.M. 

Czech, Hermann (1996), „Selbstkritik der Moderne“ (1995). In: ders., Zur 

Abwechslung. Ausgewählte Schriften zur Architektur. Wien:144‐148. 

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Nachwort von Herman Korte, Sonderausgabe. Münster. 

Gelfert, Hans‐Dieter (2000), Was ist Kitsch? Göttingen. 

Groys, Boris (2000), Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien. 

München. 

Habermas, Jürgen (1985), Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt. 

Horkheimer, Max und Theodor W. Adorno (1969), Dialektik der Aufklärung. 

Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M. 

Kracauer, Siegfried (1992), „Die Ladenmächen gehen ins Kino“. In: ders., Der 

verbotene Blick. Beobachtungen, Analysen, Kritiken. Leipzig: 156‐171. 

Le Corbusier (1982), Ausblick auf eine Architektur (1922). Braunschweig und 

Wiesbaden. 

Liessmann, Konrad Paul (2002), Kitsch! Oder Warum der schlechte Geschmack 

der eigentlich gute ist. Wien. 

Liessmann, Konrad Paul (2004), Reiz und Rührung. Über ästhetische 

Empfindungen. Wien. 

Loos, Adolf (1995), „Heimatkunst“ (1912). In: ders., Über Architektur, ed. Adolf 

Opel. Wien: 110‐117. 

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Ausgewählte Schriften, ed. Adolf Opel. Wien: 127‐133. 

Rasmussen, Stehen Eiler (1940), Nordische Baukunst. Beispiele und Gedanken 

zur Baukunst unserer Zeit in Dänemark und Schweden. Berlin. 

Schmidt, Burghart (1994), Kitsch und Klatsch. Fünf Wiener Vortragsessays zu 

21

Kunst, Architektur und Konversation. Wien. 

Wolfe, Tom (2001), Mit dem Bauhaus leben (1981). Aus dem 

Amerikanischen von Harry Rowohlt. Berlin undWien.