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Klaus Brabänder: Haarspitzen

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Claudia Dupont hat ihre wundervolle Haarpracht durch eine Krebsbehandlung verloren. Auf einer Erholungsreise durch die Türkei besucht sie in Avanos das einzige Haarmuseum der Welt und entwickelt eine Psychose gegen die Frauen, die ihre Haarteile dort freiwillig abgegeben haben. Fortan beschließt sie, die Verräterinnen an der Natur zu verfolgen und ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Erst als Hauptkommissar Birk erkennt, dass es Zusammenhänge zwischen den Frauenmorden gibt, beginnt die Jagd nach dem Mörder. Doch Claudia Dupont ist auf der Hut.

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Kapitel 1

In der Höhle von Avanos

Ich erschrecke, als ich von hinten angesprochen werde.

„Ist Ihnen nicht gut, Miss?“, fragt der Reiseführer. Sein mitleidsvoller

Blick sagt mir, dass ich ein fürchterliches Bild abgeben muss. Er beugt

sich zu mir, berührt sanft meinen Arm und scheint sich tatsächlich

Sorgen um mich zu machen. Mit seiner Einschätzung liegt er völlig

richtig.

„Wenn Sie mir vielleicht ein Wasser besorgen wollen. Das wäre nett.“

„Selbstverständlich“, entgegnet er mit freundlichem Ton. „Sofort,

Miss.“

Mit sicherem Schritt geht Yakim durch den Gang nach vorne, und ich

frage mich, wie er das bei dieser Rumpelei bewerkstelligt, ohne der

Länge nach hinzuschlagen.

Der Reiseveranstalter hat in den Unterlagen einen klimatisierten Bus

zugesichert, und was das betrifft, hat er sogar Wort gehalten. Das war

allerdings das einzige, was an dem Gefährt funktionierte.

Stoßdämpfer scheint das Vehikel keine zu haben, eventuell

vorhandene Blattfedern sind wahrscheinlich gebrochen. Hinter

zerkratzten Fensterscheiben hüpft die Landschaft Kappadokiens

vorbei, als werde sie von einem gigantischen Erdbeben erschüttert.

Nur wenn der Bus anhält, werden die Insassen gewahr, dass dieses

Auf und Ab nicht der Gegend zuzuschreiben ist.

Yakim kommt mit einer Flasche Wasser in der Hand, entschuldigt sich

und bittet um Verständnis, dass er keinen Becher auftreiben konnte.

Der junge Türke ist in Deutschland aufgewachsen und spricht meine

Muttersprache ohne Akzent.

„Übermorgen in Ankara kommt ein anderer Bus“, verspricht er. „Dann

ist alles in Ordnung.“

Seit Antalya sind wir mehr als 500 Kilometer wie auf hoher See durch

die Landschaft gepflügt. Übermorgen! Drei Tage! Dazwischen liegen

mindestens weitere 800 Kilometer. Yakim gibt sich alle Mühe, die

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vierundzwanzig Teilnehmer bei Laune zu halten. Dennoch haben die

meisten bereits jetzt von der Tour die Nase voll.

Als ich mich für die vierzehntägige Rundreise entschieden hatte, war

ich den Ratschlägen der Ärzte gefolgt.

„Entspannen Sie sich. Gewinnen Sie Abstand. Schließen Sie sich einer

Gruppe an, fahren Sie irgendwohin, wo es etwas zu sehen gibt. Etwas,

was Sie interessiert und ablenkt. Meiden Sie jedoch ein Übermaß an

Sonneneinstrahlung. Seien Sie aktiv, meiden Sie allerdings körperliche

Überbelastung. Ein Klimawechsel schadet nicht. Fahren Sie bitte nicht

in die Tropen. Die Medikamente geben wir Ihnen mit. Planen Sie einen

Urlaub, höchstens zwei Wochen …“

Tausend nichtssagende Ratschläge. Nicht zu viel, nicht zu wenig. Nicht

zu heiß, nicht zu kalt. Bla, bla, bla …

Die Türkei schien ein gutes Ziel zu sein. Als Architektin interessiere ich

mich für die Gebäude in den großen Städten, ebenso für die

Architektur von Milet, Troja und Ephesos, sofern etwas davon übrig

geblieben war. Von den Sinterterrassen in Pamukkale und der

Landschaft Kappadokiens habe ich in den Reiseberichten gelesen,

darauf freue ich mich. Wäre nur dieses ewige Gehopse endlich zu

Ende.

Die meisten Passagiere dösen vor sich hin. Daran können auch Yakims

redliche Bemühungen, die vorbeiholpernde Landschaft zu erklären,

nichts ändern. Yakim muss gegen den Fahrtlärm anschreien, weil auch

die Lautsprecheranlage ihren Geist aufgegeben hat. Zu dem Getöse des

quietschenden und knarrenden Busses, dessen Getriebe sich lautstark

zu Wort meldet, kommt das Stakkato des Reiseführers, der die Sätze

schneller herausschleudert, als das menschliche Ohr deren Sinn

verarbeiten kann. Diese Reise habe ich mir völlig anders vorgestellt,

von Entspannung kann keine Rede sein.

Als Yakim mitteilt, man werde in zehn Minuten Avanos erreichen, um

dort eine Töpferei zu besichtigen, sind die Touristen froh, dass die

Schaukelei endlich ein Ende haben wird, wenn auch nur

vorrübergehend.

Das Wetter in Kappadokien ist Ende September angenehm warm und

sonnig. In fast eintausend Meter Höhe über dem Meeresspiegel liegt

Avanos unter einem strahlend blauen, fast wolkenlosen Himmel. Ich

vertrage dieses Klima besser als die drückende Hitze von Antalya.

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Durch den Kopfschleier dringt ein kühlender Windhauch, der

erträglicher ist als die aufgestaute Hitze unter der Perücke, die ich

sonst zu tragen pflege.

Es hatte lange Wochen gedauert, bis ich mich daran gewöhnt hatte,

eine Perücke tragen zu müssen. Schließlich hatte ich einsehen müssen,

dass es keine andere Möglichkeit gibt, den kahlen Kopf zu verbergen.

Das sei nur vorübergehend, hatten die Ärzte versichert. In ein paar

Wochen würden die Nachwirkungen der Chemotherapie abklingen.

Nach vier Monaten hatte sich kein neuer Haarwuchs eingestellt. Die

Ärzte konnten nicht erklären, wieso das Nachwachsen ausblieb, sie

kümmerten sich auch nicht weiter darum. Für sie war das ein

Kollateralschaden, der angesichts der Schwere der Krankheit

akzeptiert werden musste. Nach einigem Zureden hatte ich mich damit

abgefunden, dass es schlimmer hätte kommen können. Akzeptiert

habe ich den Verlust meiner wundervollen Haarpracht bis heute nicht.

Vielleicht wird es noch schlimmer kommen. Der Krebs ist nicht besiegt

und kann jederzeit wieder ausbrechen. Gewissheit werde ich nie

bekommen. Die Angst bleibt.

Doch bevor ich länger darüber nachdenken kann, treibt Yakim die

Touristen zusammen, als wären sie eine Herde von Schafen. Er

dirigiert uns zu einer Höhle, an deren Eingang ein Verkaufsstand

aufgebaut ist, hinter dem einheimische Frauen Tee, Wasser und

Obstsäfte gegen ein geringes Entgelt anpreisen. Ältere Männer bieten

flaschenweise Wein aus dem Anbau der Umgebung an. Die Touristen

versorgen sich mit Getränken und stehen in kleinen Gruppen

zusammen.

Die Reisegruppe besteht ausschließlich aus deutschsprachigen

Teilnehmern, das erleichtert die Kommunikation untereinander. Mir

ist das egal. Ich suche weder Anschluss, noch habe ich Lust auf triviale

Gespräche. Wenn immer es möglich ist, sondere ich mich von der

Gruppe ab und versuche, das Land auf eigenen Wegen zu entdecken.

Nur mit Yakim wechsele ich manchmal ein paar Worte, wobei ich

hoffe, dass der das auf Dauer nicht falsch versteht. Falls nicht, muss ich

ihm zu passender Gelegenheit klarmachen, dass ich keine näheren

Kontakte wünsche.

Um die Erfrischungen zu sich zu nehmen, bleiben den Urlaubern nur

wenige Minuten. Yakim treibt die Gruppe weiter, hinein in die Höhle,

in der sich eine Töpferei befindet. So jedenfalls erklärt es Yakim. In der

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Höhle sind jedoch nicht nur Tonwaren ausgestellt. Die Wände sind

vollgehängt mit Teppichen unterschiedlichster Farben, Muster und

Größen. Der Boden ist zugestellt mit Schüsseln, Vasen, Skulpturen und

fast allem, was aus Ton herzustellen ist. In der Mitte bleiben nur

schmale Gänge, durch die alle Touristen an den Ausstellungswaren

entlang laufen müssen. Yakim geht voran.

Ich will nichts kaufen. Teppiche interessieren mich nicht. In meiner

Wohnung ist dafür kein Bedarf. Vasen und Geschirr besitze ich zur

Genüge. Es sind Hinterlassenschaften meiner Mutter,

Verzweiflungsgeschenke ehemaliger Kunden und Aufmerksamkeiten

von Bekannten, die mich vor meiner Krankheit regelmäßig besucht

hatten.

Als bekannt wurde, dass ich schwer erkrankt war, hatten sich alle

zurückgezogen. Ich hatte schnell begriffen, dass es ihnen unangenehm

war, sich mit einer Totkranken zu unterhalten. Vielleicht hatten sie

einfach keine Kraft dazu, oder keine Zeit, oder…

Nach meiner Entlassung aus der Klinik hatten einige Wenige versucht,

wieder Kontakt zu mir aufzunehmen. Ich wollte das nicht, und ich will

es bis heute nicht. Es ist nicht mehr dasselbe, und das wird es auch nie

wieder sein.

Yakim hält auf einem freien Platz inmitten der Höhle und spricht zu

seinen Schäfchen.

„Meine Damen und Herren. Wir befinden uns hier in Avanos, in

Kappadokien, im Herzen der Türkei. Diese Leute…“, dabei zeigt er auf

die Frauen und Greise, die hinter ihren Tonwaren vor den Wänden mit

den Teppichen sitzen, „…diese braven Menschen bieten Ihnen die

Waren der Umgebung an. Gute Ware, garantiert handgefertigt!

Schauen Sie die Teppiche, sie sind wunderschön. Ich versichere

Ihnen…“

Weiter höre ich nicht mehr zu. Ich kenne die Leier von anderen

Verkaufsveranstaltungen, zu denen Yakim uns geschleppt hat.

Einmalig niedrige Preise, einmalige Qualität, einzigartig auf der Welt,

die ganze Reihe der Superlative wird Yakim jetzt auspacken.

Mit meinen Gedanken bin ich woanders. Ich gehe im Geiste die

Reiseroute durch und hoffe, dass ich die nächsten Tage einigermaßen

heil überstehen werde. Im Augenblick fühle ich mich wieder stark, das

Wasser hat mir geholfen. Trotzdem traue ich dem Frieden nicht.

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Die eigentliche Herausforderung wartet in der Heimat auf mich. Seit

zwei Jahren bin ich aus dem Geschäft, und ich habe Angst davor, in den

Alltag der Arbeitswelt zurückzukehren.

„Du musst es nicht tun“, sage ich mir immer wieder. „Kein Mensch

zwingt dich dazu.“

Nein, ich will es, weil ich gerne als freie Architektin arbeite, und weil

mir mein Beruf immer sehr viel Freude bereitet hat. Mitzuerleben, wie

aus einer Idee ein Werk aus Glas, Beton, Holz und Stein wird, wie ein

Gedanke Gestalt annimmt, in die das Leben einzieht, ist ein

faszinierendes Erlebnis.

Des Geldes wegen bräuchte ich mir das alles nicht anzutun. Die

Ersparnisse, die Erbschaft nach dem Tod meiner Eltern, die

Mieteinnahmen, die Wertpapiere, ich könnte auch ohne Arbeit gut

über die Runden kommen. Aber das ist nicht das, was ich will. Da sind

noch so viele Ideen und Aufgaben, die darauf warten, dass ich ihnen

eine Form gebe. Die danach rufe, umgesetzt zu werden.

Wäre da nicht der Schritt in die Öffentlichkeit, in den Focus der Blicke

all derer, die mich von früher kennen. Sie werden abschätzen und

austesten, wie ich mich verändert habe. Mit einer Mischung aus

Mitleid, Anteilnahme und Scheinheiligkeit werden sie mir

gegenübertreten und gleichzeitig hinter meinem Rücken tuscheln,

dass ich ein paar Kilo zugenommen habe, und das die Perücke mein

hüftlanges schwarzes Naturhaar nicht im Entferntesten ersetzen kann.

Ich frage mich, ob ich all dem gewachsen sein werde, ob es mir

gelingen wird, mit meiner früheren Nonchalance auch weiterhin die

schwierigsten Probleme anzugehen. Diese Zweifel hatte ich schon in

der Klinik meiner psychologischen Betreuung gegenüber geäußert.

„Muss ich mich damit abfinden, bereits im Alter von vierzig Jahren ein

Außenseiter zu sein?“, hatte ich gefragt.

„Zum Außenseiter werden Sie, wenn Sie sich selbst dazu machen“,

hatte die Psychologin geantwortet. Ich empfinde das im Nachhinein als

Standardantwort aus einem Lehrbuch.

„Hallo, Miss Claudia!“ Yakims Zuruf reißt mich aus meinen Gedanken.

„Es geht weiter. Bitte folgen Sie uns!“

Die Gruppe hat sich bereits in Bewegung gesetzt, ohne dass ich das

bemerkt habe. Durch ein Felsportal geht es in eine weitere Höhle, an

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deren Eingang Yakim seine Schützlinge um sich schart. Ich trete als

Letzte in die Runde und stoße mir gehörig den Kopf an der

Durchgangsöffnung, die nicht für eine hochgewachsene Person

ausgelegt ist. Beinahe wäre mir das Tuch vom Kopf gerutscht, und ich

muss mich beherrschen, um nicht aufzuschreien.

Der kleine Mann neben Yakim ist wenig mehr als fünfzig Jahre alt. Er

ist außerordentlich beleibt, hat eine Halbglatze und strahlt über das

ganze Gesicht. Yakim hält bedeutungsvoll einen Arm in die Höhe und

zeigt mit dem anderen auf seinen Begleiter.

„Meine Damen und Herren! Das ist mein Freund Jusuf. Herr Jusuf ist

ein bedeutender Mann. Was Sie gleich sehen werden, ist einzigartig

auf der ganzen weiten Welt. Glauben Sie mir!“

Ich wende mich ab. Wieder eine der langatmigen, Nerv tötenden

Verkaufspräsentationen. Doch Yakim erhebt seine Stimme und

erweckt meine Neugier.

„Was wir jetzt besichtigen, ist das einzige Museum für menschliche

Haare auf dem ganzen Erdball.“

Die Worte durchdringen meine Gehörgänge, treffen in meinem Gehirn

wie ein Schlagbolzen auf das Geschoss und lösen einen Blitz aus.

„Mein Freund Jusuf möchte Sie nicht nur einladen, seine

wunderschönen Kacheln oder Töpfereien zu kaufen. Besuchen Sie

auch das Haarmuseum! Jede der Damen ist aufgefordert, eine kleine

Strähne ihres Haares abzugeben. Jusuf wird Ihnen behilflich sein. Sie

dürfen Ihren Name und Ihre Adresse auf einen Zettel schreiben und

dazu fügen. So wird alles an die Wand geheftet, für ewige Zeiten. Ein

Stück von Ihnen wird in dieser Höhle bleiben. Ist das nicht eine

wunderbare Geschichte? Geben Sie Jusuf ein wenig Geld für das

Museum, …“

Ich höre Yakims Worte wie durch eine Wand aus Watte. Ich kann nicht

erklären, was in diesem Augenblick mit mir geschieht. In meinem Kopf

explodierte etwas! Schmerzlos. Lautlos. Ein geräuschloses Feuerwerk

ohne Farben. Nur Blitze. Hell. Dunkel.

Die Blitze fressen sich ein, nehmen Besitz von meinem Denken,

formen sich zu langen Fäden, Haaren aus Blitzen. Ich stehe mittendrin

in diesem Gewitter. Ohne Haare, der kahle Schädel von Blitzen

umwoben. Wie lange dieses tonlose Inferno in meinem Kopf wütet,

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kann ich nicht sagen. Als der Nebel sich lichtet, stehe ich alleine im

Raum und höre aus der Ferne Yakims Stimme. Die Gruppe ist in einen

tiefer gelegenen Bereich der Höhle weitergegangen. Langsam und

benommen gehe ich hinterher.

Unter einem Schild mit der Aufschrift „Museum“ in vielerlei Sprachen

sitzt eine Frau mittleren Alters, die dezent die Hand aufhält. Die Geste

ist unmissverständlich. Ich gebe ihr einen Fünf-Lira-schein. Ich

durchschreite den Eingangsbereich, bleibe völlig überwältigt stehen

und lasse den Blick schweifen.

Ringsum an Wänden und Decke hängen Haarsträhnen, es müssen

Tausende sein. Wild durcheinander, die Ausrichtung nur der

Schwerkraft gehorchend, anscheinend mit Nägeln angeheftet, jede

Einzelne mit einem Zettel versehen, auf dem der Name des ehemaligen

Besitzers geschrieben steht.

Ängstlich und fasziniert zugleich trete ich näher an eine Wand heran.

Da hängen blondes oder schwarzes Haar, brünette Strähnen neben

roten, gelockte Büschel und glatte Zöpfe, die gesamte Vielfalt, welche

die Natur erschaffen kann, keines ist dem anderen gleich, allenfalls

ähnlich. Jedes ein Unikat, wie sein Träger, der sich seiner Zier entledigt

hat. Geblieben ist ein Stück Papier, auf dem der einstige Träger seine

ehemalige Zugehörigkeit dokumentiert hat.

Ich spüre, wie eine unsägliche Wut in mir aufsteigt. Ein Hass auf alle,

die sich freiwillig getrennt haben, von dem, was Gott ihnen geschenkt

hat. Selbst wenn es nur Teile des Kopfschmucks sind, so etwas

herzugeben, ist schändlich, jedenfalls, wenn es ohne Not geschieht.

Wie gerne hätte ich etwas behalten von meiner Zierde, die einmal

mein ganzer Stolz war. Meine Haare hatten die bewundernden Blicke

meiner Kollegen und Kunden auf sich gezogen. Nichts davon ist mir

geblieben, nicht eine Strähne, kein einziges Haar. Die Idiotinnen, deren

Haare hier an den Wänden hängen, geben ihren Schmuck freiwillig ab.

Was für eine Schande! Wie einen Hund ins Tierheim, weil man seiner

überdrüssig ist! Ohne Reue, ohne Schamgefühl, verantwortungslos,

einfach so!

Mit zitternden Beinen tappe ich an der Wand entlang, mit jedem

Schritt wird es schlimmer. Bestürzung, Wut, Hass! Ich stelle mir vor,

wie die Personen ausgesehen haben mochten, als sie ihre Natur

geopfert haben. Wer sind diese schamlosen Verräterinnen? Neugierig

lese ich die Namen auf den Zetteln.

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Shelly from Great Britain…

Nancy from Southfolk

Nadine, France…

Anna, Sverige…

Kathy, Washington DC

Ich entdecke Namen von Städten, von denen ich nie etwas gehört

habe. Teils leserlich, teils in einer ihr unbekannten Schrift, einige in

Druckbuchstaben, wieder andere in einer undefinierbaren Klaue.

Ich stolpere weiter, nehme nur noch die Haare wahr, habe den

Anschluss zu Yakim und der Gruppe verloren, verschwinde in meiner

eigenen Welt, umgeben von Bildern, die eines gemeinsam haben: Sie

zeigen mich selbst wie in einem Spiegel, mit wechselnder Haarpracht.

Die Strähnen und Locken an der Höhlenwand springen auf mein

Haupt, bedecken es wechselweise, so als stritten sie darum, welches

Haarteil für immer dort Platz nehmen darf. Ich weiß nicht, wie lange

ich in dieser schrecklichen Faszination verharrt habe, als die Dame

von der Eingangspforte mich sachte an der Schulter berührt. Das jagt

mir trotz des behutsamen Kontakts einen fürchterlichen Schrecken

ein.

„Miss…“, sie hat gütige, verständnisvolle Augen, obwohl es unmöglich

ist, dass die türkische Frau meine absurden Träumereien erahnen

kann. „Bitte… Gruppe gehen…“ Sie zeigt in die Tiefe der Höhle und

nickt mir mit einem Lächeln zu.

„Ja, danke! Entschuldigung, ich… ich weiß… ich gehe schon.“

Ich gehe durch das Spalier der Trophäen, immer noch benommen,

fasziniert und abgestoßen zugleich. Die Wände scheinen

zusammenzurücken, drohen, mich zu erdrücken. Trotz der

künstlichen Beleuchtung wird es immer dunkler. Ich taste mich

vorwärts, kaum in die Lage, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Eine

Ewigkeit scheint zu vergehen, ehe ich zu der Gruppe stoße, die in einer

Ausweitung der Höhle versammelt ist und Jusufs Worten lauscht, die

Yakim übersetzt.

Jusuf erzählt die Geschichte der Höhle und des Museum. Ich stehe so

weit hinten, dass ich kaum etwas verstehe. Als Jusuf geendet hat,

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applaudieren die Zuhörer. Einige Frauen scharen sich um die beiden

Sprecher, während der Rest der Gruppe dem Ausgang zustrebt.

Mit Entsetzen beobachte ich, dass Jusuf bei einer der Frauen Hand

anlegt, wobei er eine Locke ihres Haares um einen Finger dreht. In

seiner Faust blitzt eine Schere auf, und mit raschem Schnitt trennt er

eine Haarpartie aus dem Nackenbereich der jungen Frau. Unter dem

Applaus der umher Stehenden überreicht er ihr das Büschel und einen

Zettel, wobei er sie auffordert, Namen und Adresse zu notieren. Die

Prozedur wiederholt sich bei den anderen Frauen. Nach und nach

heftet Jusuf die Trophäen an die freien Stellen der Höhlenwand.

Ich erzitterte. Unüberwindbarer Ekel steigt mir die Kehle hinauf,

gegen diese Idiotinnen, die ihren Körper ohne Lohn verkaufen, nur um

der Hoffnung willen, dass ihr Haar irgendwo im entlegensten Winkel

der Welt, in der Abgeschiedenheit der kappadokischen Einöde an der

Wand einer bedeutungslosen Höhle hängt, um ab und an von anderen

unbenannten Menschen würdelos angegafft zu werden. Mir wird übel

und schwindlig, so dass ich mich an der Wand abstützen muss. Dabei

berühre ich ein Büschel, bei dessen Kontakt ich erstarre. Es ist eine

lange schwarze Haarsträhne, spiegelglatt, eine feine Eleganz

ausstrahlend mit einem seidig matten Glanz, so als lebe das Haar

immer noch, für sich alleine, ohne Wurzel und Kontakt zu seiner

ehemaligen Besitzerin. Edel und hochmütig hängt es da, als wollte es

sagen, schau her, bewundere meine Schönheit, labe dich an mir, sei

neiderfüllt, aber verachte die, die mich zurückgelassen hat in das

Schicksal der Einsamkeit.

Ich kann den Blick nicht abwenden. Einst hat solches Haar meinen

Kopf geschmückt, mit der gleichen geheimnisvollen Würde, mich

geadelt und gekrönt. Das hier war eine Schande, ein Skandal

ohnegleichen. Voller Wehmut und Trauer streiche ich über die Strähne

an der Wand.

„Miss Claudia, bitte nicht anfassen!“

Yakims Stimme lässt mich zusammenfahren. Als ich den Arm

zurückziehe, merke ich, dass der Zettel an meiner Hand hängenbleibt.

In einem Reflex schließe ich die Faust.

„Schon gut“, entgegne ich und gehe auf wackligen Beinen zum Ausgang

der Höhle.

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Draußen werden Erfrischungen gereicht, Postkarten und Souvenirs

angeboten. Ich trinke hastig einen Traubensaft. Kurz darauf wird die

Gruppe in den Bus getrieben, das nächste Etappenziel wartet. Als ich

wieder alleine in meiner Reihe am Fenster sitze und mich

unbeobachtet fühle, öffne ich die Faust und blicke auf den Zettel, der

eben noch in der Höhle an dem wundervollen Haar gehangen hat.

Anonym verbleibt es jetzt dort, kein Mensch wird je erfahren, wem es

dereinst gehört hat. Ich alleine halte diese Information in Händen.

Vorsichtig falte ich den Zettel auseinander und lese den Namen und

die Herkunft des Spenders.

Der Ort liegt keine 40 Kilometer von meinem Wohnort entfernt.

Tausende Kilometer von zuhause habe ich traumhaft schöne Haare

entdeckt, deren ehemalige Besitzerin in meiner unmittelbaren Nähe

lebt. Das kann kein Zufall sein! Das ist Fügung, davon bin ich

überzeugt. Wenn es ein Zeichen ist, was will es mir sagen? Ich sehe

nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Am nächsten Etappenziel

werde ich die Rundreise abbrechen!

Kapitel 2

An der Bettinger Mühle

Seit ein Uhr in der Nacht war Hannes in der stickigen Backstube der

alten Bettinger Mühle damit beschäftigt, den Teig zu kneten und zu

portionieren. Immer wieder wischte er sich mit dem rechten Oberarm

den Schweiß von der Stirn. Nach zwei Stunden hatte er die ersten

Laibe in den Ofen geschoben. Jetzt war es halb sieben in der Frühe,

und die ersten hundert Brote für die Gäste des Mühlenfestes waren

fertig.

Hannes gönnte sich eine Pause, goss Kaffee aus der Thermoskanne in

seinen Pott und ging nach draußen. An der frischen Luft konnte er für

einige Minuten der Hitze des Backofens entfliehen. Noch lag der

Mühlenhof friedlich und ruhig im milden Licht des beginnenden Tages.

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Nichts deutete darauf hin, dass hier in wenigen Stunden hunderte

Besucher beim Essen und Trinken zusammensitzen würden.

Seit fast zwanzig Jahren, kurz nachdem der historische Mühlenverein

im Jahre 1994 gegründet worden war, galt Hannes als treues Mitglied

der Mühlenfreunde. Nach jedem Sommerfest auf dem Gelände der

Mühle schwor er, sich diese Knochenarbeit des Brotbackens für

hunderte von Menschen im nächsten Jahr nicht mehr anzutun. Wenn

dann die Zeit gekommen war, der Bürgermeister lange genug auf ihn

eingeredet hatte, und die Presse den Veranstaltungskalender

veröffentlichte, stand er doch wieder bereit und wollte seine geliebte

Backstube niemand anderem überlassen.

Kein Fest hatte er bislang versäumt, auch nicht, nachdem er vor drei

Jahren in den Ruhestand gegangen war und den Beruf als Hausmeister

in der Willibrodschule an den Nagel gehangen hatte. Damals hatte er

seiner Frau geschworen, mit ihr auf Reisen zu gehen. Viel rum

gekommen war er seitdem nicht, stattdessen trieb er sich noch öfter

auf der Mühle herum und gab Kurse im Brotbacken.

Die Kühle des Morgens und der starke Kaffee ließen die Lebensgeister

von Hannes Küster schnell zurückkehren. Er überquerte den

Mühlenhof und spazierte durch das Tor über die Brücke des

Mühlengrabens hinüber zur Mühleninsel. Das Bild der Insel zwischen

Mühlengraben und dem Bachbett der Prims wurde beherrscht von der

uralten mächtigen Linde, durch deren Krone die ersten

Sonnenstrahlen fielen und ein idyllisches Schattenspiel auf die

Grasfläche warfen.

Der mächtige Baum, das satte Grün der Insel mit den Wiesenblumen,

das Plätschern des Mühlenbaches, das war alles, wonach Hannes sich

sehnte. Ibiza, Mallorca oder eine Kreuzfahrt durch das Mittelmeer

konnten dieses heimatliche Fleckchen nicht ersetzen.

Hannes ging hinüber zur Linde unter deren Blätterdach er auf einer

Bank Kraft für die nächsten Stunden sammeln wollte. Bis zum

Nachmittag würde er aus der Backstube nicht mehr herauskommen.

Genüsslich nahm er einen Schluck Kaffee.

Er hatte die Linde noch nicht erreicht, als er spürte, dass an diesem

Morgen irgendetwas anders war als sonst. Etwas stimmte nicht! Als er

näher an den Baum herankam, erkannte er den Grund für sein ungutes

Gefühl: Auf der Bank saß eine Person!

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Hannes war weder ängstlich noch schreckhaft, aber wenige Schritte

später jagte es ihm eine Gänsehaut über den Rücken.

Die Frau, die in merkwürdiger Pose auf der Bank saß, war ihm

bekannt. Dora Bergers Oberkörper war seitlich abgekippt, ihr Kopf

nach hinten geneigt. Die Augen waren weit aufgerissen, mit starrem

Blick auf ein unbekanntes Ziel. Hannes kannte Dora seit ihrer Kindheit.

Sie war es ganz ohne Zweifel.

„Dora!“, sagte Hannes beinahe flüsternd. „Dora, hallo“, diesmal viel

kräftiger, als könne er dadurch eine Antwort aus der Stille des

Morgens erzwingen.

Als Dora Berger nicht antwortete und weiterhin reglos sitzen blieb,

spürte Hannes, dass sich seine schlimmste Vorahnung bestätigte: Dora

Berger war tot! Obwohl er noch nie eine Leiche aus der Nähe gesehen

hatte, war er sich sicher. Die starren Augen und die merkwürdige

Körperhaltung sprachen für sich und ließen keinen anderen Schluss

zu.

Näher als zwei Schritte traute sich Hannes nicht an Dora heran. Sie

hatten im gleichen Karnevalsverein gefeiert und oft miteinander

geredet, aber ihre Leiche machte Hannes Angst. Ihm zitterten die Knie,

das Herz schlug ihm bis zum Halse, als er überlegte, was er jetzt tun

sollte.

Dass er die Polizei rufen musste, war klar, aber leichter gesagt als

getan. Sein Handy hatte er nicht dabei, weil es in der Backstube

ohnehin keinen Funkkontakt gab. Den Schlüssel zum Büro im

Hauptgebäude hatte der Vereinsvorstand. Vor neun Uhr würde sich

von den Herren bestimmt keiner blicken lassen. Zur Mühle war

Hannes in der Nacht von seiner Frau gebracht worden, weil die am

Morgen den Wagen zum Einkauf brauchte. Demnach blieb nur eine

Möglichkeit, um Hilfe zu holen: zu Fuß!

Hannes wollte losrennen, als ihm einfiel, dass er noch zwanzig Brote

im Ofen hatte. Dora Berger war ohnehin nicht mehr zu helfen, da galt

es wenigstens die Brote zu retten. Er kehrte zurück in die Backstube

und leerte den Ofen, währenddessen er fieberhaft überlegte, an wen er

sich wenden konnte. Er fand eine Lösung und marschierte los.

Der Bürgermeister wohnte auf der anderen Seite der Hauptstraße, nur

wenige Gehminuten von der Mühle entfernt. Zu ihm hatte Hannes

immer noch gute Kontakte und ein vertrauensvolles Verhältnis,

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14 Klaus Brabänder: Haarspitzen

vielleicht sogar ein besseres als zu Zeiten, als der Bürgermeister noch

sein Chef war. Falls der noch nicht am Frühstückstisch saß, musste er

ihn eben aus dem Bett klingeln. Auf jeden Fall wäre Hannes das

Problem los, und sein Ex-Chef würde wissen, was zu tun war,

schließlich war er der Bürgermeister. Hannes fand die Idee genial und

marschierte los. Wenige Minuten später klingelte er bei seinem

ehemaligen Chef, der kurz darauf im Morgenmantel in der Tür

erschien.

„Moin, Chef. Unter der Linde sitzt eine Leiche“, stammelte Hannes.

„Moin, Hannes. Mach keinen Quatsch, warst du zu lange am Backofen?“

„Nee, ehrlich. Es ist Dora. Sie sitzt auf der Bank und ist tot.“

„Bist du sicher? Was ist passiert?“

„Keine Ahnung, aber es ist Dora. Eindeutig. Irrtum ausgeschlossen.“

„Komm rein, ich ruf die Polizei und zieh mich an. Trink eine Tasse

Kaffee! Willst du einen Schnaps? Du zitterst am ganzen Körper.“

„Ich weiß nicht…. Ich glaub, ich lauf lieber zurück.“

„Wenn sie tot ist, wird sie uns wohl kaum abhauen“, antwortete der

Bürgermeister und wählte die Nummer der Polizei.