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47 Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 11/2014 Verschiedenes Reinhard Güll Reinhard Güll ist Büroleiter der Abteilung „Informations- dienste, Veröffentlichungs- wesen, sozial- und regional- wissenschaftliche Analysen“ im Statistischen Landesamt Baden-Württemberg. 1 150 Jahre Amtliche Sta- tistik in Baden-Württem- berg, Stuttgart 1970, S. 34. 2 150 Jahre Amtliche Sta- tistik in Baden-Württem- berg, Stuttgart 1970, S. 36. Die amtliche Statistik hat sich Anfang des 19. Jahrhunderts in allen deutschen Staaten und somit auch in Württemberg in enger Ver- bindung mit der öffentlichen Verwaltung ent- wickelt. Erst mit der Institutionalisierung der öffentlichen Verwaltung konnte die amtliche Statistik eine größere Bedeutung gewinnen. Die Anfänge der amtlichen Statistik als einer den Staat betreffenden und dem Staat dienen- den Wissenschaft fielen in Deutschland in die Zeit der sich arrondierenden Staatenbildung der napoleonischen und nachnapoleonischen Zeit in den ersten Dekaden des vorletzten Jahrhunderts. Die sich damals herausbilden- den Verfassungsstaaten benötigten die Stati- stik als notwendiges Mittel zur Verwirklichung der geforderten Öffentlichkeit der Verwaltung. Die mit den Konstituierungen der Verfassungs- staaten einhergehenden Verwaltungsreformen setzten Kenntnisse von Land und Leuten vo- raus, die vornehmlich die amtliche Statistik er- heben und präsentieren konnte. So wurde die junge amtliche Statistik in Deutschland nach und nach ein unentbehrliches Mittel der Ge- setzgebung und Verwaltung. 1 Das erste königliche Dekret Im Königlich-Württembergischen Staats- und Regierungsblatt wurde Anfang Dezember 1820 in einem königlichen Dekret verkündet, dass für die Statistik und Topografie des Vaterlandes ein eigenes Büro zu errichten sei (Abbildung 1). Am 26. März 1821 wurde dann vom württem- bergischen Finanzdepartement verkündet, dass dieses „Statistisch-Topographische Bureau die Bestimmung habe, eine genaue und voll- ständige Landes-, Volks- und Ortskunde von Württemberg zu liefern und die in jedem Jahre sich ergebenden Veränderungen sorg- fältig zu sammeln, sodass jede Regierungsbe- hörde und jeder Württemberger fortdauernd eine richtige und umfassende Kenntnis von dem Zustand und den Verhältnissen des Vater- landes sich zu verschaffen Gelegenheit habe“. 2 Die Dienstaufsicht für das Statistisch-Topogra- phische Bureau lag in Württemberg von Beginn an beim Finanzressort. Das ist der historische Grund dafür, dass auch das heutige Statistische Landesamt Baden-Württemberg in der Dienst- aufsicht des Finanzministeriums liegt. Dies ist bundesweit nicht überall so, viele andere Sta- tistische Landesämter unterstehen der Dienst- aufsicht des jeweiligen Innenministeriums. Das Statistisch-Topographische Bureau war von Anfang an eine halb behördliche, halb wissen- schaftliche Anstalt eigener Prägung mit Aufga- ben auf den verschiedenartigen Gebieten der Landeskunde im engeren Sinne, der Statistik, der Topografie und seit 1854 auch der Meteo- rologie. Erst allmählich wurde die Statistik zur Hauptaufgabe. Von 1820 bis 1828 stand der Staatsminister für Finanzen Ferdinand Heinrich August von Weckherlin dem Bureau vor. Der Schwerpunkt der Arbeiten während Weckherlins Amtszeit waren Oberamtsbeschreibungen im Rahmen einer allgemeinen Landesbeschreibung. Die in den Oberamtsbeschreibungen darge- stellten wissenschaftlichen Erkenntnisse sollten in die Praxis der Verwaltung und des öffentlichen Lebens Eingang finden. Große Verdienste um die ersten Oberamtsbeschrei- bungen erwarb sich Johann Daniel Georg Memminger (Abbildung 2). Bereits 1812, also vor der Gründung des Stati- stisch-Topographischen Bureaus, veröffentlichte Memminger eine Beschreibung von „Cannstatt Kleine Geschichte der amtlichen Statistik in Württemberg Abbildung 1: Das Dekret von 1820

Kleine Geschichte der amtlichen Statistik in Württemberg · in einem königlichen Dekret verkündet, dass für die Statistik und Topografie des Vaterlandes ein eigenes Büro zu errichten

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Page 1: Kleine Geschichte der amtlichen Statistik in Württemberg · in einem königlichen Dekret verkündet, dass für die Statistik und Topografie des Vaterlandes ein eigenes Büro zu errichten

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Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 11/2014 Verschiedenes

Reinhard Güll

Reinhard Güll ist Büroleiter der Abteilung „Informations-dienste, Veröffentlichungs-wesen, sozial- und regional- wissenschaftliche Analysen“ im Statistischen Landesamt Baden-Würt temberg.

1 150 Jahre Amtliche Sta-tistik in Baden-Württem-berg, Stuttgart 1970, S. 34.

2 150 Jahre Amtliche Sta-tistik in Baden-Württem-berg, Stuttgart 1970, S. 36.

Die amtliche Statistik hat sich Anfang des 19. Jahrhunderts in allen deutschen Staaten und somit auch in Württemberg in enger Ver­bindung mit der öffentlichen Verwaltung ent­wickelt. Erst mit der Institutionalisierung der öffentlichen Verwaltung konnte die amtliche Statistik eine größere Bedeutung gewinnen. Die Anfänge der amtlichen Statistik als einer den Staat betreffenden und dem Staat dienen­den Wissenschaft fielen in Deutschland in die Zeit der sich arrondierenden Staatenbildung der napoleonischen und nachnapoleonischen Zeit in den ersten Dekaden des vorletzten Jahrhunderts. Die sich damals herausbilden­den Verfassungsstaaten benötigten die Stati­stik als notwendiges Mittel zur Verwirklichung der geforderten Öffentlichkeit der Verwaltung. Die mit den Konstituierungen der Verfassungs­staaten einhergehenden Verwaltungsreformen setzten Kenntnisse von Land und Leuten vo­raus, die vornehmlich die amtliche Statistik er­heben und präsentieren konnte. So wurde die junge amtliche Statistik in Deutschland nach und nach ein unentbehrliches Mittel der Ge­setzgebung und Verwaltung.1

Das erste königliche Dekret

Im Königlich-Württembergischen Staats- und Regierungsblatt wurde Anfang Dezember 1820 in einem königlichen Dekret verkündet, dass für die Statistik und Topografie des Vaterlandes ein eigenes Büro zu errichten sei (Abbildung 1). Am 26. März 1821 wurde dann vom württem-bergischen Finanzdepartement verkündet, dass dieses „Statistisch-Topographische Bureau die Bestimmung habe, eine genaue und voll-ständige Landes-, Volks- und Ortskunde von Württemberg zu liefern und die in jedem Jahre sich ergebenden Veränderungen sorg-fältig zu sammeln, sodass jede Regierungsbe-hörde und jeder Württemberger fortdauernd eine richtige und umfassende Kenntnis von dem Zustand und den Verhältnissen des Vater-landes sich zu verschaffen Gelegenheit habe“.2 Die Dienstaufsicht für das Statistisch-Topogra-phische Bureau lag in Württemberg von Beginn an beim Finanzressort. Das ist der historische Grund dafür, dass auch das heutige Statistische Landesamt Baden-Württemberg in der Dienst-

aufsicht des Finanzministeriums liegt. Dies ist bundesweit nicht überall so, viele andere Sta-tistische Landesämter unterstehen der Dienst-aufsicht des jeweiligen Innenministeriums.

Das Statistisch-Topographische Bureau war von Anfang an eine halb behördliche, halb wissen-schaftliche Anstalt eigener Prägung mit Aufga-ben auf den verschiedenartigen Gebieten der Landeskunde im engeren Sinne, der Statistik, der Topografie und seit 1854 auch der Meteo-rologie. Erst allmählich wurde die Statistik zur Hauptaufgabe. Von 1820 bis 1828 stand der Staatsminister für Finanzen Ferdinand Heinrich August von Weckherlin dem Bureau vor. Der Schwerpunkt der Arbeiten während Weckherlins Amtszeit waren Oberamtsbeschreibungen im Rahmen einer allgemeinen Landesbeschreibung. Die in den Oberamtsbeschreibungen darge-stellten wissenschaftlichen Erkenntnisse sollten in die Praxis der Verwaltung und des öffentlichen Lebens Eingang finden. Große Verdienste um die ersten Oberamtsbeschrei-bungen erwarb sich Johann Daniel Georg Memminger (Abbildung 2).

Bereits 1812, also vor der Gründung des Stati-stisch-Topographischen Bureaus, veröffentlichte Memminger eine Beschreibung von „Cannstatt

Kleine Geschichte der amtlichen Statistik in Württemberg

Abbildung 1: Das Dekret von 1820

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Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 11/2014Verschiedenes

und seiner Umgebung“ (Abbildung 3) und 1817 von „Stuttgart und Ludwigsburg mit ihren Umgebungen“.

Von 1822 bis 1840 führte er die Geschäfte des Statistisch-Topographischen Bureaus. Ab 1818 war Memminger auch Herausgeber der Württ-embergischen Jahrbücher für Statistik und Landeskunde (Abbildung 4). Neben Memminger war Regierungsrat Christian Kausler geschäfts-führendes Mitglied des Bureaus. Er verfasste die Oberamtsbeschreibungen von Herrenalb, Liebenzell, Wildbad und Neuenbürg. Auf Weckherlin folgten in kurzen Abständen von 1828 bis 1840 als Amtsvorstände: Finanzminister Freiherr von Varnbühler, Staatsrat von Herzog, Staatsrat Gärtner und Staatsrat von Goppelt.

Das neue Statut

Unter dem Eindruck der Generalkonferenzen des Deutschen Zollvereins, in denen maßgeb-lich auch die Erhebungsmerkmale der Zollver-einszählungen festgelegt wurden, und den er-sten internationalen statistischen Kongressen in Brüssel (1853) und Paris (1856) wurde dann das Statistisch-Topographische Bureau zur Zentral-stelle für die Landesstatistik erweitert und die Aufgabenstellung durch ein umfassen des Sta-tut neu geregelt. Im Statut von 1856 wurden die Geschäftsaufgaben wie folgt festgelegt:

1. Die allgemeine Landestatistik in Beziehung auf Grund und Boden, Bevölkerung, Feldbau und Viehzucht, Gewerbe und Industrie, Handel und Verkehr.

2. Die administrative Statistik der Innenverwal-tung, der Rechtspflege, des Schulwesens, des Staatseinkommens und des Staatsaufwandes.

3. Im Bereich der Topografie die Fortführung und Vervielfältigung der aufgrund der Landes-vermessung bearbeiteten Karten und die Voll-endung der Beschreibung des Königreiches nach Oberamtsbezirken.

4. Die Zusammenstellung der meteorolo-gischen Beobachtungen, die seit 1854 als weiteres Aufgabengebiet dem Bureau zuge-ordnet waren.

Durch das Statut war somit eine neue Grund-ordnung für das Statistisch-Topographische Bureau geschaffen worden. Als statistische Zentralstelle stand es fortan unter der Leitung eines Amtsvorstandes, der damit auch die Ge-samtverantwortung für alle amtlichen Statistiken hatte, die davor in Teilen noch in der Weisungs-befugnis anderer Ministerien lagen. Bereits 1850 hatte Christoph von Herdegen die Leitung übernommen. Bis zu seinem Tod 1861 sorgte er vor allem für eine inhaltliche Aufwertung der Jahrbücher für Statistik und Landeskunde, indem er zahlreiche namhafte Autoren für diese Publikationsreihe gewinnen konnte.

Der Herdegen nachfolgende Amtsvorstand war Staatsrat Gustav von Rümelin. Er ver-suchte in seiner neuen Funktion zunächst in seiner Abhandlung „Zur Theorie der Statistik“ eine fundierte Erläuterung dafür zu geben, was Statistik ist. Nach Rümelins Ansatz ist

Abbildung 2: Johann Daniel Georg Memminger

Abbildung 3: Titelblatt einer Oberamtsbeschreibung

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3 150 Jahre Amtliche Sta-tistik in Baden-Württem-berg, Stuttgart 1970, S. 41.

Statistik „die methodische Beobachtung und Zählung von Merkmalen menschlicher oder anderer Gruppen von Erscheinungen und deren wissenschaftliche Verwertung“. Rümelin wendet sich damit bewusst von der traditionellen Auffassung der Statistik als Staatenkunde ab.3 Ab 1867 wirkte Rümelin zusätzlich als Professor für Statistik und vergleichende Staatenkunde an der Universität in Tübingen. Von Rümelin beschäftigte sich in seiner Lehr- und Forschungs-tätigkeit vor allem mit demografischen Themen, insbesondere mit den Lehren von Malthus. Thomas Robert Malthus lebte von 1766 bis 1834 und war ein britischer Ökonom, der zu den Vertretern der klassischen Nationalökonomie gezählt wird.

Von 1873 bis 1877 war Karl Victor von Riecke Amtsvorstand, dann bis 1880 Direktor des Statistisch-Topographischen Bureaus. Bereits seit 1863 war Riecke ordentliches Mitglied des Bureaus. 1872 wurde er auf dem Internationalen Statistischen Kongress in Abwesenheit in die permanente Kommission des Internationalen Statistischen Instituts (ISI) gewählt, dessen Ehrenmitgliedschaft ihm 1886 angetragen wurde. Riecke verstärkte die statistisch orientierte vaterländische Landesbeschreibung. Er profi-lierte sich daneben als international gefragter Finanz wissenschaftler und erhielt auf dem ISI-Kongress in Stockholm den Auftrag, die inter-nationale Finanzstatistik zu bearbeiten. Er ver-

stärkte die Beziehungen zu den historischen Vereinen in Württemberg. Ab 1878 ließ Riecke die Würt tembergischen Vierteljahreshefte für Landesgeschichte als Beihefte der Württember-gischen Jahrbücher für Statistik und Landes-kunde herausgeben. 1880 wurde er zum Direk-tor des Steuerkollegiums (Staatsminister für Finanzen) berufen.

Nach Riecke kamen in schneller Folge die Amtsvorstände Georg von Schneider (1881 – 1886), Otto von Knapp (1886 – 1892), Otto von Schneider (1892 – 1894), Hermann von Zeller (1894 – 1904) und Franz von Stumpf (1904 – 1907). Unter Zellers Amtsvorstandsschaft erschien 1901 als Datensammlung das erste „Statistische Handbuch für das Königreich Württemberg“ und eine vierbändige Landes-beschreibung für das Königreich Württem-berg (Abbildung 5). 1903 wurde von König Wilhelm II. von Württemberg der durch von Zeller vorgeschlagenen „Errichtung einer geologischen Abteilung beim Statistischen Landesamt“ durch den Staatsminister für Finanzen zugestimmt, wodurch die Behörde ein zusätzliches Aufgabengebiet erhielt. In diese Zeit fiel auch der Umzug in das neue Amtsgebäude in der Büchsenstraße in Stutt-gart (Abbildung 6).

Das Württembergische Statistische Landesamt

In die Amtszeit von Karl von Haffner (1907 – 1922) fielen der Erste Weltkrieg und der Wech-sel der Regierungsform Deutschlands von der Monarchie zur parlamentarischen Republik. Während seiner Amtszeit wurde 1914 die Amtsbezeichnung Präsident für den Leiter des Statistischen Landesamtes eingeführt. In Fortsetzung seiner Funktion im königlichen statistischen Amt war er der erste Präsident des – nun republikanischen – Württember-gischen Statistischen Landesamtes. Während des Ersten Weltkrieges in der Zeit Haffners mussten in Württemberg wie in den anderen deutschen Staaten neben den originär statisti-schen Arbeiten schwierige und umfangreiche Sonderaufgaben der kriegswirtschaftlichen Versorgungsregelungen erbracht werden. So wurden zwischen 1914 und 1918 etwa vierzig kriegswirtschaftliche Erhebungen durchge-führt wie die regelmäßigen Aufnahmen der Getreide- und Mehlvorräte und des Kartoffel-verbrauchs. Ferner gab es Bestandsaufnah-men über Leder, Häute, Fette, Öle, Hülsen-früchte, Milch, Zucker, Obst, Gemüse, Heu und Stroh. Ab 1917 musste dann noch die Zahl der Selbstversorger und der Versorgungs-berechtigten ermittelt werden.

Abbildung 4: Titelblatt eines Jahrbuchs

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4 150 Jahre Amtliche Sta-tistik in Baden-Württem-berg, Stuttgart 1970, S. 61.

Der nächste Präsident des Württembergischen Statistischen Landesamtes war Hermann Julius Losch (Abbildung 7). Bereits 1904 besuchte Losch in seiner Funktion als leitender Mitarbeiter der amtlichen Statistik Württembergs das Bu-reau of the Census in Washington und lernte dort Holleriths Lochkartenverfahren kennen. Für die Volkszählung 1910 konnte Losch, gestützt auf eingehende Rentabilitätsuntersuchungen, mit Zustimmung des württembergischen Finanz-ministeriums einen Vertrag mit der Deutschen Hollerithgesellschaft (später IBM) abschließen.

Das Württembergische Statistische Landesamt führte damit die maschinelle Datenverarbeitung

in Württemberg ein. Aus organisatorischen und sozialpolitischen Gründen wurde die maschinelle Datenverarbeitung nach dem Ersten Weltkrieg eingestellt. Im Ersten Weltkrieg war Losch Mitglied des wirtschaftlichen Kriegsaus-schusses und danach Vorstand der Landes-preisstelle. Losch war einer der ersten Statistiker, der sich mit der volkswirtschaftlichen Gesamt-rechnung und der Sozialproduktsberechnung beschäftigte. Er verfasste über 40 Publikationen insbesondere zu „Volksvermögen, Volksein-kommen und ihre Verteilung“. Als erster Stati-stiker beschäftigte er sich mit der Pendelwan-derung, der Losch den wissenschaftlichen Namen gibt. Losch vereinbarte 1927 mit dem Schwäbischen Albverein, dass dieser jährlich mindestens 25 000 Wanderkarten im Maßstab 1 : 50 000 abnahm, damit wurde trotz knapper Haushaltsmittel die rasche Erscheinungsfolge der Wanderkarten garantiert. In Loschs Ära fiel aufgrund der Zentralisation in der Weimarer Republik eine Aufgabenausweitung der Auf-tragsstatistik für das Deutsche Reich, die somit weit umfangreicher als vor 1914 war. Hierbei handelte es sich in der Hauptsache um föde-rierte Reichsstatistiken, deren Bearbeitung durch die Statistischen Landesämter nach ein-heitlichen Richtlinien erfolgte oder um Reichs-statistiken, bei denen die Ämter nur als erhe-bende Stelle eingeschaltet waren oder lediglich eine gesonderte Auswertung des Er-hebungsmaterials vornahmen. Daneben war und blieb die Hauptaufgabe die Sammlung, Verarbeitung und Veröffentlichung von Angaben über alle staatlichen und gesellschaftlichen Er-scheinungen, die für Verwaltung und Wissen-schaft bedeutungsvoll sein konnten. Loschs Präsidentschaft endete 1930.4

Otto Müller (1930 – 1933), der Nachfolger von Losch war, trat in seiner kurzen Amtszeit nicht besonders in Erscheinung. In dieser Zeit wurde das Amt de facto von Otto Trüdinger, seinem Stellvertreter, geführt. Trüdinger war ein Schüler von v. Rümelin und trat bereits 1893 in den statistischen Dienst. Von 1915 bis 1923 war er zunächst zweiter, dann erster Vor-sitzender der Landespreisstelle. Trüdinger engagierte sich für eine erfolgreiche Weiterent-wicklung der Landwirtschaftsstatistiken.

Das Ende und der Neuanfang

Karl Hermann Seeger (1933 – 1938), der ab 1929 ständiger Delegierter des württember-gischen Finanzministeriums beim Württem-bergischen Statistischen Landesamt war, übernahm 1933 die Leitung des Amtes. Während seiner Amtszeit wurden die Abteilungen Mete-orologie, Topografie und Geologie vom Statis-

Abbildung 5: Auszug aus „Das Königreich Württemberg“

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5 150 Jahre Amtliche Sta-tistik in Baden-Württem-berg, Stuttgart 1970, S. 72.

6 150 Jahre Amtliche Stati-stik in Baden-Württem-berg, Stuttgart 1970, S. 82.

7 Näheres zu den Ur-sprüngen der badischen amtlichen Statistik ent-hält der Aufsatz von Güll, Reinhard: Kleine Geschichte der amt-lichen Statistik in Baden, in: Statistisches Monats-heft Baden-Württem-berg 7/2014, S. 46 ff.

tischen Amt losgelöst. Obwohl die damalige Reichsführung versuchte, die Aufgabengebiete der Länder und ihrer Behörden mehr und mehr zu beeinflussen, gelang es Seeger, die wissen-schaftliche Arbeitsweise der württembergischen Statistik zu erhalten. 1938 trat Seeger in den Ruhestand. 1939 nach Kriegsbeginn bis 1943 wurde er für den statistischen Dienst reaktiviert, da viele jüngere Statistiker als Soldaten in den Krieg ziehen mussten.

Josef Griesmeier (1938–1945) war der letzte Amtsleiter des Württembergischen Statistischen Landesamtes. Er begann 1929 seinen statisti-schen Dienst im Württembergischen Statisti-schen Landesamt. Von 1938 bis 1945 leitete er als Direktor das Amt, der Titel Präsident war nach der Abtrennung der vorgenannten Abtei-lungen abgeschafft worden. Griesmeier war gewähltes Mitglied des Internationalen Statis-tischen Institutes und im Vorstand und später Ehrenmitglied der Deutschen Statistischen Ge-sellschaft. Ab 1936 lehrte Griesmeier Statistik an der Universität Tübingen, die ihn 1941 zum Honorarprofessor ernannte. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er Lehrbeauftragter an der TH Stuttgart. Forschungsschwerpunkte Griesmeiers waren die Zusammenhänge zwischen wirtschaft-licher und sozialer Entwicklung, Wanderungs-bewegungen seit der Bauernbefreiung, Urba-nisation und Pendelwanderung. Tiefgreifende Wirkungen auf die Arbeiten und den Dienstbe-trieb löste der Beginn des Zweiten Weltkrieges aus. Im Jahr 1941 wurden die landeskundlichen Arbeiten bedingt durch personelle Engpässe ganz eingestellt. Infolge der Intensivierung des Luftkrieges wurde 1943 der Hauptteil des Amtes nach Wildbad verlegt, das alte Amtsge-bäude in Stuttgart ging bei einem Fliegerrangriff in Flammen auf.5

Bedingt durch die Aufteilung Deutschlands nach Kriegsende in verschiedene Besatzungs-zonen gab es ab 1945 im ehemaligen Land Württemberg kein einheitliches Statistisches Landesamt mehr. Das Amtsgebäude in Stutt-gart war weitgehend zerstört, nur die in den tiefen Kellerräumen gelagerten Akten und Ar-chivalien waren erhalten geblieben. Durch die Teilung des Landes Württemberg und den Zusammenschluss Nordbadens mit Nord-württemberg erhielt das Statistische Landes-amt in Stuttgart per ministerieller Verfügung die Federführung für die beiden jetzt in Karls-ruhe und Stuttgart angesiedelten Statistischen Ämter des neuen Bundeslandes Württemberg-Baden. Der Karlsruher Amtsleiter Paul Jostock wechselte sehr bald nach Stuttgart und leitete von da aus beide Ämter in Personalunion. Die französische Militärregierung errichtete in Tü-bingen im Oktober 1947 ein „Statistisches Landesamt für Württemberg-Hohenzollern“. Das Tübinger Amt war nicht für das neue Lan-desgebiet zuständig, sondern betreute dane-ben auch noch bis 1952 den bayrischen Kreis Lindau mit, der als einziger Landesteil des von den Amerikanern besetzten Bayern zur franzö-sischen Besatzungszone gehörte.6 An dieser organisatorischen Aufteilung der amtlichen Statistik im ehemaligen Land Württemberg sollte sich auch nichts mehr ändern, bis es 1952 zur Neugründung des Bundeslandes Ba-den-Württemberg und in Folge 1953 zur Grün-dung eines Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg mit Sitz in Stuttgart kam.7

Weitere Auskünfte erteilt Reinhard Güll, Telefon 0711/641-20 08, [email protected] 6: Ehemaliges Amtsgebäude in Stuttgart

Abbildung 7: Hermann Julius Losch