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20 21 Die Geschichte des bürgerschaftlichen Engagements ist wie ein starker, alter Baum mit vielen Wachstumsringen: Der erste Ring bildete sich am Anfang des 19. Jahrhunderts, als durch staatliche Reformen zunächst das politische Ehrenamt entstand. Als weiterer Ring kam Mitte des 19. Jahrhunderts das soziale Ehrenamt dazu, das erstmals institutionell in der Stadt Elberfeld eingeführt und deshalb als „Elberfelder Modell“ bezeichnet wurde. Das Vereinswesen seit dieser Zeit, mit seinem späteren Höhepunkt im Deutschen Kaiserreich nach 1871, hat viele neue Bereiche des Vereinsehrenamts entstehen lassen: Arbeiter- und Frauenbewegung, die Gewerkschaften, Schüt- zen, Turn- und Gesangsvereine, aber auch Fürsorgevereine, Freiwillige Feuerwehren, bürgerliche Bildungsvereine und das reiche religiös orientierte Vereinswesen erschlossen neue Tätigkeitsfelder. Um die Jahrhundertwende und verstärkt in der Weimarer Republik ab 1918 wurde in Bayern manche bisher ehrenamtlich versehene Tätigkeit von staatlichen Einrichtungen übernommen. Außerdem gründeten sich große Verbände, es entstand das Verbandsehrenamt, das sich in seiner Praxis aber kaum vom Ehrenamt im Verein unterschied. E Kleine Geschichte des bürgerschaftlichen Engagements in Bayern Arbeiterschaft Gründungswelle Laienkultur Frauenbewegung Wohlfahrt Vereine Fürsorge Selbsthilfe Soziale Not Neue Formen

Kleine Geschichte des bürgerschaftlichen Engagements in

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Die Geschichte des bürgerschaftlichen Engagements ist wie ein

starker, alter Baum mit vielen Wachstumsringen: Der erste Ring

bildete sich am Anfang des 19. Jahrhunderts, als durch staatliche

Reformen zunächst das politische Ehrenamt entstand. Als weiterer

Ring kam Mitte des 19. Jahrhunderts das soziale Ehrenamt dazu, das

erstmals institutionell in der Stadt Elberfeld eingeführt und deshalb

als „Elberfelder Modell“ bezeichnet wurde. Das Vereinswesen seit

dieser Zeit, mit seinem späteren Höhepunkt im Deutschen Kaiserreich

nach 1871, hat viele neue Bereiche des Vereinsehrenamts entstehen

lassen: Arbeiter- und Frauenbewegung, die Gewerkschaften, Schüt-

zen, Turn- und Gesangsvereine, aber auch Fürsorgevereine, Freiwillige

Feuerwehren, bürgerliche Bildungsvereine und das reiche religiös

orientierte Vereinswesen erschlossen neue Tätigkeitsfelder. Um die

Jahrhundertwende und verstärkt in der Weimarer Republik ab 1918

wurde in Bayern manche bisher ehrenamtlich versehene Tätigkeit

von staatlichen Einrichtungen übernommen. Außerdem gründeten

sich große Verbände, es entstand das Verbandsehrenamt, das sich

in seiner Praxis aber kaum vom Ehrenamt im Verein unterschied. E

Kleine Geschichte des bürgerschaftlichenEngagements in Bayern

ArbeiterschaftGründungswelleLaienkulturFrauenbewegungWohlfahrt

VereineFürsorgeSelbsthilfeSoziale NotNeue Formen

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Der „Stein“ des AnstoßesF Der totale Zugriff des Nationalsozia-lismus auf das Ehrenamt zerstörte ab1933 nicht nur viele Formen ehrenamt-licher Tätigkeit, sondern schaltete dieverbliebenen Reste im Dienste von Staatund Partei gleich. Obwohl ein ganzesVolk mobilisiert wurde, verdorrte derBaum des freiwilligen Engagements.Ein kräftiger neuer Jahresring bildetesich im Neuaufbau demokratischerStrukturen in der amerikanischen Zone,zu der Bayern ab 1945 gehörte. Die Wie-dergewinnung der Freiheit führte auchzu einer Wiederbelebung des bürger-schaftlichen Engagements – vor allemin der Politik, aber auch im kulturellenoder sozialen Bereich.

In den Nachkriegsjahrzehnten beweg-te sich die Freiwilligenarbeit auf ein-drucksvollem Niveau, auch wenn in denfünfziger und sechziger Jahren dieSicherung einer materiellen Existenzvielen Menschen weniger Raum für bür-gerschaftliches Engagement ließ. Nachwie vor war das Ehrenamt vor allem anVerband, Kirche und Verein gebunden.

Ein neuer Jahresring des Baums bür-gerschaftlichen Engagements in Bayernkam in den siebziger Jahren hinzu, alsBürgerinitiativen und Selbsthilfepro-jekte ehrenamtlich beispielsweise in derFriedens-, Umwelt- und Frauenpolitikaktiv wurden. Vor allem die junge Gene-

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ration fand so zu einer offeneren undhäufig auf ein konkretes Thema bezo-genen Form bürgerschaftlichen Engage-ments, die den traditionellen Vereinoder Verband eher umging. Folgerichtigwar der Begriff „Ehrenamt“ in dieserZeit auch „megaout“.

Dies scheint sich in den achtziger undneunziger Jahren wieder zu relativieren.Eine neue Form der Freiwilligenarbeitist entstanden, der bisher letzte Jahres-ring des Ehrenamtbaumes. Das soge-nannte neue Ehrenamt kalkuliert dieverwendete Zeit für das Engagementgenauer, man engagiert sich mehr inzeitlich begrenzten Projekten und istvorsichtiger geworden, wenn es umlangfristige Mitgliedsbindung geht.

Das „neue Ehrenamt“ hat jedochkeineswegs das traditionelle politischeoder soziale Ehrenamt abgelöst. Nachwie vor gibt es in Bayern hunderttau-sende Freiwillige, die ihr Ehrenamt imVerein, der Kirchengemeinde oder imGemeinderat wahrnehmen und damitden weitaus größten Teil ehrenamtlicherArbeit in Bayern leisten. Der Baum frei-williger Tätigkeit braucht auch weiter-hin diesen lebendigen Kern.

Im Folgenden sollen die „Jahresringedes Ehrenamtsbaums“ anhand einigerwichtiger Beispiele etwas näher be-trachtet werden. L

H Das unentgeltliche Engagement fürdas Gemeinwohl begann mit den Refor-men der Freiherrn Stein und Harden-berg in Preußen Anfang des 19. Jahr-hunderts: Diese sahen die Mitarbeit desBürgertums an staatlichen, auch poli-tischen Aufgaben vor, um den damalsnoch auf König und Obrigkeit ausge-richteten Staat für die neuen Zeiten fitzu machen. Nicht zuletzt sollte dasehrenamtliche Engagement bürger-licher Honoratioren, wie es die preu-ßische Städteordnung von 1808 vorsah,das Gemeinwesen finanziell entlasten.Es war das Engagement einer Minder-heit: Nur etwa sechs Prozent der städ-tischen Bevölkerung konnten es sichleisten, unentgeltlich Aufgaben für denStaat zu übernehmen.

In Bayern setzte diese Entwicklungeinige Jahre später ein: Mit der Verfas-sung von 1818 gingen in Bayern derStaatsabsolutismus und die rigoroseZentralisierung der Ära Montgelas zuEnde. Vor allem die Bürger größererStädte sollten zu ehrenamtlicher Mit-arbeit in der Gemeindeverwaltungbewegt und so eine verantwortungs-volle Haltung gegenüber dem Staaterzeugt werden. So war zum Beispielder reformorientierte Großkaufmannund Mitinitiator der ersten deutschenEisenbahn, Georg Zacharias Platner, von

1818 bis 1843 Gemeindebevollmächtigter.Das Wahlrecht war allerdings an dasBürgerrecht gekoppelt, das nur Grund-besitzer oder steuerpflichtige Gewerbe-treibende besaßen.

Etwas später kamen zu den poli-tischen Ehrenämtern für wohlhabendebürgerliche Schichten auch berufs-bezogene Ehrenämter hinzu. Hand-werker hatten ab Mitte des 19. Jahr-hunderts beispielsweise Positionen inden Innungen zu besetzen. L

Kleine Geschichte des bürgerschaftlichenEngagements in Bayern

Georg Zacharias Platner, Mitinitiatorder ersten Deutschen Eisenbahn,war langjähriger ehrenamtlicherGemeindebevollmächtigter

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„Leibliche Hilfe und Worte des Trostes“ –Die bayerische CaritasH Eines der bedeutendsten Ergebnisseder Vereinsgründungen im Bayern des19. Jahrhunderts ist das Entstehen derbayerischen Caritas. Im Jahr 1845 kamenin München einige katholische Männerzusammen, um den Münchener Vin-zenzverein zu gründen. Die Vereini-gung wollte nicht nur Arme mit leib-licher Hilfe und Gabe unterstützen, son-dern auch „ohne unbescheidende Zu-dringlichkeit und zum richtigen Zeit-punkte“ Hilfesuchenden „Worte der Er-mahnung, der Belehrung und des Tros-tes“ im christlich-katholischen Sinn bie-ten. Die Vinzenzvereine, die sich nachund nach in Bayern von Süden nach Nor-den bildeten, wurden über Jahrzehntehinweg der wichtigste Träger katho-lischer Caritas-Arbeit. Sie verbandenverschiedene Schichten, da auch Hand-werker und nicht nur Männer bürger-licher Schichten im Verein tätig waren.

Schon vier Jahre vor dem Vinzenz-verein in München war 1841 in Augsburgder erste Elisabethenverein gegründetworden. Hier fanden sich katholischeFrauen zusammen, um armen notlei-denden Kranken zu helfen. Der Vereinverteilte bei Hausbesuchen Nahrungs-mittel, Geld, Heizmaterial, Wäsche undKleidung sowie, im Selbstverständnisder ehrenamtlich tätigen Frauen beson-ders wichtig, „geistige Almosen“. DieElisabethenvereine gehören zu den

ältesten katholischen Frauenvereinenüberhaupt und stellen so auch ein Stückfrüher Frauenemanzipation dar.

Aus diesen und vielen anderen katho-lischen Wohltätigkeitsvereinen und -stiftungen entstand 1917, am Ende desErsten Weltkrieges, der „KatholischeCaritasverband für das KönigreichBayern“ als Zusammenschluss der ein-zelnen Vereinigungen.

Der Landes-Caritasverband Bayernbeschäftigt heute etwa 66.000 haupt-amtliche Mitarbeiter und gehört zu denSpitzenverbänden der Wohlfahrtspflegein Bayern. L

Kleine Geschichte des bürgerschaftlichenEngagements in Bayern

Treffen von 3.000 Sammlerinnenund Sammlern der Caritas inMünchen

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„Die Sänger, die Turner und die Schützen – die sind desReiches Stützen“ – Vereine und Ehrenamt im 19. JahrhundertH Vereine waren und sind neben dengrößeren Verbänden, Kirchen und Par-teien die wichtigste Organisationsformfür bürgerschaftliches Engagement. Im19. Jahrhundert, vor allem aber im Deut-schen Kaiserreich ab 1871, schlossen sichin den einzelnen Regionen zunächstMänner und etwas später auch Frauenzusammen, um kulturelle, religiöse,soziale oder politische Ziele gemeinsamzu verfolgen. Männergesangsvereinegehörten zu den ersten neu gegrün-deten Vereinen, aber auch politischeParteien traten zunächst als Vereine auf.Vielfach von nationaler Begeisterunggetragen, eckten die Turn-, Gesangs- undSchützenvereine zunächst bei derObrigkeit an, da Deutschland damals jaaus vielen einzelnen Königreichen,Fürstentümern und anderen Herr-schaftsgebieten bestand. Jeder Vereinbedeutete ein Stück weniger Obrig-keitsstaat, da Bürger eine Sache ohne

staatlichen Auftrag selbst in die Handnahmen, insofern ist die Geschichte derDemokratisierung auch untrennbar mitder Entwicklung des bürgerschaftlichenEngagements verbunden. Dabei warvieles, was die Vereine bewegen wollten,ganz im Sinne von König und Vaterlandgedacht.

Argwöhnischen Besuch eines mit-schreibenden Polizeibeamten bekamenvor allem die Arbeitervereine, die sichvon der bürgerlichen Vereinsbewegungabgesetzt hatten und eigene Lieder san-gen, eigene Feste feierten und Arbeiter-sport betrieben.

Ein augenfälliges Ergebnis der dama-ligen Vereinstätigkeit sind die vielenDenkmäler für bayerische Könige unddeutsche Kaiser, für Künstler und Wis-senschaftler in unseren Städten. Denk-malschutz und Geschichtsbewusstsein,aber auch soziales Engagement, began-nen sich in Vereinen zu organisieren. L

Im Sport entwickelte sich ab dem19. Jahrhundert ein reges Vereinsleben.

Das Bild zeigt die unterschiedlichenSportarten im Nürnberger Turnverein

St. Johannis

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Turnen und Fußball –Die Beharrlichkeit der Münchner LöwenH Im Zusammenhang mit der Grün-dungswelle von Vereinen im 19. Jahr-hundert kam es 1848 auch in Münchenzur Gründung eines Turnvereins. Am29. Juli 1848 erschien in der MünchnerZeitung „Neueste Nachrichten aus demGebiete der Politik“ folgende Bekannt-machung: „Heute Samstag den 29. Julibeginnt das geregelte Turnen auf demneuen Turnplatze (Müllerstraße 42, Ein-gang in den drei Linden).“ Schon bald

wurde den Mitgliedern jedoch laut Poli-zeianzeiger vom 6. Juli 1850 „jede fernereVersammlung, sowie das Tragen vonTurn- oder sonstigen Erkennungszei-chen strenge untersagt“. Trotz staat-licher Repressionen „turnte“ man weiter,hielt sich mit öffentlichen Auftrittenjedoch zurück und konnte 1860 den Ver-ein unter dem unverdächtigen Namen„Verein zur körperlichen Ausbildung“neu gründen.

Da revolutionäre Umtriebe ausblie-ben und Turnen staatlicherseits an sichgern gesehen war, konnten die Münch-ner bald ein Vereinshaus und eine ersteSportanlage errichten. Neue Schwierig-keiten gab es erst wieder, als die Mit-glieder 1899 auch Fußball spielen woll-ten. Dies war damals für einen Teil derdeutschen Turnerschaft keineswegs einesinnvolle bürgerschaftliche Betätigung,zumal dieser Sport aus England kam.Noch vor der Gründung des FC Bayernbegann man dennoch mit dem Trainingauf der Schyrenwiese. Die Konflikte umden Fußball im Turnverein waren aller-dings nicht ausgestanden, und erst inden dreißiger Jahren war Fußball undTurnen offiziell gemeinsam im „Turn-und Sportverein München von 1860“möglich. Die „Sechziger“ (benannt nachdem Gründungsjahr ihres Vereins) sindso ein gutes Beispiel für die Beharr-lichkeit bürgerschaftlichen Engage-ments, das manche bürokratische Hürdezu überstehen weiß. L

H Zu den zentralen Aufgaben der Ge-sellschaft, die auf das Ehrenamt zu-kamen, gehörte der Brandschutz, der bisMitte des 19. Jahrhunderts per Ver-ordnung Aufgabe aller Bürger einesOrtes war. Die Koordination der Lösch-arbeiten lag dabei meist beim Bürger-meister, der eine vielköpfige Lösch-kommission leitete. Brandbekämpfungwar damit weder professionell noch be-sonders engagiert. Hier sahen in vielenOrten Bürger ein sinnvolles ehren-amtliches Betätigungsfeld.

Die bayernweit erste Initiative zurGründung einer Freiwilligen Feuerwehrentstand 1847 in Regensburg. Allerdingsscheiterte der Vorstoß zunächst, weilder Magistrat die politische Sprengkrafteines solchen Zusammenschlusseslatent liberal gesinnter Bürger fürchtete:Wie viele Freiwillige Feuerwehren hatteauch die Regensburger ihre Wurzeln inder örtlichen Turnerschaft. Schließlich

war die Feuerwehr nicht dem Bürger-meister unterstellt, wie dies bei denspontanen Brandbekämpfungstruppender Fall war, sondern es gab einengewählten Kommandanten. Die Mit-gliedschaft in den Wehren war freiwillig,interne Beschlüsse erfolgten nach demMehrheitsprinzip.

Obwohl die Regierung der Oberpfalzbeim Magistrat in den folgenden Jahrenimmer wieder die Einrichtung einerFreiwilligen Feuerwehr anmahnte,dauerte es noch ganz elf Jahre, ehe dieSkepsis der Stadtväter überwunden war:Während in Augsburg bereits 1849 dieerste Freiwillige Feuerwehr gegründetwerden konnte, wurde in Regensburgnach zähem Ringen schließlich erst 1858eine Freiwillige Feuerwehr ins Lebengerufen.

Heute gibt es in Bayern annähernd7.800 Freiwillige Feuerwehren mit335.000 Aktiven. L

Kleine Geschichte des bürgerschaftlichenEngagements in Bayern

Bürgerschaftliches Engagement als Lebensrettung –Die Freiwilligen Feuerwehren

Die erste Fußballmannschaft des TSV1860 München um 1910

Feuerwehrübung um 1900 in derMünchner Residenz

Page 5: Kleine Geschichte des bürgerschaftlichen Engagements in

„Frauenwohl“ und Flucht aus „saurem Alltag“ –Bürgerschaftliches Engagement und FrauenemanzipationH Im Unterschied zum politischenEhrenamt engagierten sich im Bereichder Sozialarbeit schon früh Frauen. Sietaten dies in Vereinen, während in der„professionellen“ städtischen Sozial-und Armenfürsorge die wichtigstenÄmter von Männern besetzt waren. Fürdie bürgerlichen Frauen kam der sozia-len Arbeit als Betätigungsfeld auch des-wegen eine so hohe Bedeutung zu, weildies damals die einzige Möglichkeit war,die Isolation ihres privaten Daseins auf-zubrechen und sich sinnvoll zu beschäf-tigen. Viele empfanden als Besserge-stellte auch eine moralische Verpflich-tung gegenüber Notleidenden. Vor al-lem im Ersten Weltkrieg wurde einestarke Einbindung der Frauen in sozialeBereiche aufgrund des Männermangelsselbstverständlich.

Ein gutes Beispiel für die sozialeArbeit von Frauen ist der Nürnberger„Verein Frauenwohl“. 1893 im Anschlussan die 17. Tagung des Allgemeinen Deut-schen Frauenvereins in Nürnberg ge-

gründet, verfolgte der Verein das Ziel,„dem weiblichen Geschlecht zu helfendurch eigene weibliche Kraft“. Mit etwa2.500 Mitgliedern erreichte der VereinFrauenwohl unter dem Vorsitz Helenevon Forsters eine sehr hohe Akzeptanz.Die Mitglieder, unter ihnen viele Frauenaus der städtischen Honoratioren-schicht, hofften, dass die männlichdominierte Gesellschaft des deutschenKaiserreichs ihnen für ihr ehrenamt-liches Engagement und die dadurchunter Beweis gestellte PflichterfüllungGleichberechtigung, insbesondere dasWahlrecht, freiwillig zugestehen würde.Der Verein organisierte abendlicheUnterrichtskurse in Handarbeiten undFremdsprachen für Mädchen und Frau-en, eröffnete 1898 das erste Wöchner-innenheim Bayerns, das mit großemErfolg bis 1918 betrieben wurde, undübernahm 1900 die neue NürnbergerFrauenarbeitsschule, die sich zum Semi-nar für Hauswirtschaftslehrerinnenweiter entwickelte.

Ganz andere Beweggründe für bür-gerschaftliches Engagement hattenFrauen aus den unteren Schichten. Siesuchten nicht nach sinnvoller Betä-tigung, um freie Zeit zu füllen, sonderneinen Ausgleich zum harten Berufsall-tag und eine Verbesserung ihrer Lebens-situation. Der 1905 in Straubing gegrün-dete „Katholische Arbeiterinnen- undDienstmädchenverein“ veranstalteteVorträge zu „Zeit-, Berufs- und Standes-

fragen“, organisierte Versammlungen,bot Näh-, Strick- und Flickkurse und vorallem „edle Geselligkeit“, wo die „sauereWochenarbeit vom Schimmer des Tros-tes und der Freude verklärt wird, wo sie[die Frau] neu gestärkt und gehobenhinaustritt in den Kampf des Lebens“.Der Verein lebte vom unermüdlichenEinsatz Antonia Lauchers und vieler an-derer freiwillig Tätiger. L

Kleine Geschichte des bürgerschaftlichenEngagements in Bayern

Zuschneidekursdes Vereins Frauenwohl

Katholischer Arbeiterinnen-und Dienstmädchenverein Straubingum 1929

Helene von Forstereine der wichtigsten Vertreterinnen derbürgerlichen Frauenbewegung

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Politischer Kampf und soziale Not –Arbeiterbewegung und bürgerschaftliches EngagementH Ein wesentliches Ergebnis ehren-amtlicher Tätigkeit des 19. Jahrhundertsin Bayern ist der Aufbau einer orga-nisierten Arbeiterbewegung – auch hierauf dem Vereinsweg. Zunächst warenes in den wachsenden Industriere-gionen bürgerliche Liberale, die mit Ar-beiterbildungsvereinen auf die sozialenProbleme der Arbeiterschaft reagierten.Im März 1864 gründeten schließlich 16Handwerksgesellen in Augsburg dieerste bayerische Sektion des Allge-meinen Deutschen Arbeitervereins(ADAV). Die gut organisierten undselbstbewussten Gesellen aus demDruckereigewerbe gehörten zu denführenden Köpfen der Arbeiterbewe-gung in Augsburg. Ab 1871 gab es ineinzelnen Stadtteilen Augsburgs „Sozial-demokratische Vereine“, nachdem sichschon in den Jahren nach 1850 katho-

lische und protestantische Gesellen-vereine gegründet hatten. Auch die Zeitdes Sozialistengesetzes von 1878 bis1890, als politische Vereinigungen derArbeiterschaft verboten waren, über-stand man durch Neu- und Umgrün-dungen von Vereinen. Spätestens mitder ersten sozialdemokratischen Frak-tion im bayerischen Landtag 1893 wardie Arbeiterbewegung trotz des Verbotsauch auf Parteiebene in Bayern einefeste politische Größe geworden. Eindichtes Geflecht von Vereinen mit sport-lichen, kulturellen und sozialen Zielenentstand im Arbeitermilieu – für vieledie wichtigste Beschäftigung nach derArbeit und Ergebnis des Engagementszahlreicher Freiwilliger vom Übungs-leiter im Arbeitersportverein bis zumOrganisator von Ausflügen für Jugend-liche. L

H„Jeder Deutsche hat nach Maßgabeder Gesetze die Pflicht zur Übernahmeehrenamtlicher Tätigkeiten“ – mit die-sem Satz gab Artikel 132 der WeimarerVerfassung der Ehrenamtlichkeit Verfas-sungsrang, meinte hier jedoch vor allemdas Ehrenamt in der Rechtspflege, etwaals Schöffe. Weitestgehende Versamm-lungs- und Vereinsfreiheit ermöglichteneine noch breitere Palette bürgerschaft-

lichen Engagements als in den Jahrenvor 1918. Gleichzeitig setzte in vielenBereichen ehrenamtlicher Tätigkeit einezunehmende Professionalisierung ein.In der Armenfürsorge etwa war es einAnspruch des neuen Staates, dies nichtmehr nur bürgerschaftlichem Engage-ment zu überlassen, sondern selbst ver-stärkt über Wohlfahrtsämter mit haupt-amtlichen Angestellten einzugreifen. L

Soziale Hygiene und Wohlfahrtsstaat –Freiwilligenarbeit in der Weimarer Republik

Volkshochschulen und LaienkulturH Im kulturellen Bereich spielte dasbürgerschaftliche Engagement seit derWeimarer Republik eine noch größereRolle. So ist die Volkshochschulbewe-gung ein bleibendes Ergebnis freiwil-liger Initiativen der Weimarer Republik,die dann allerdings zu einem Teil profes-sionalisiert wurde. Viele Theatervereineund Freundeskreise von Museen be-legen eindrucksvoll das Engagementdes Bürgertums für wichtige Kultur-einrichtungen. Ein kultureller Ausdruckder modernen Zeiten waren die Sprech-und Bewegungschöre, die mit freiwilligengagierten Laien eigens für dieseTheaterform geschriebene Stücke auf-führten.

Die ehrenamtliche Laienkulturbe-wegung betraf nicht nur die Städte.Auch in den ländlichen Regionen kames, wie etwa in Schliersee, vermehrt zur

Gründung von Bauerntheatern. DasBauerntheater der kleinen oberbaye-rischen Gemeinde hat bis heute einenguten Ruf. Ein herausragendes Beispielfür freiwillige Arbeit bei Theaterauf-führungen sind die OberammergauerPassionsfestspiele. Sie wurden zwarschon lange vor dem Aufblühen kultu-reller Bereiche während der WeimarerZeit, nämlich 1633 nach einem Pest-gelübde, ins Leben gerufen, erlebtenaber gerade in der Zeit nach dem ErstenWeltkrieg einen großen Aufschwung.Die schon 1910 zu verzeichnende einzig-artige Massenwirksamkeit setzte sichbei den Inszenierungen in der WeimarerZeit fort. Die Festspiele, die alle zehnJahre ein ganzes Dorf mobilisieren,werden heute noch ehrenamtlichorganisiert. Auch die Mitspieler erhaltenkeine Gagen. L

Kleine Geschichte des bürgerschaftlichenEngagements in Bayern

Der Radclub Solidarität im NürnbergerStaddteil Ziegelstein um 1923 vor dem

gemeinsamen Aprilausflug

Das Schlierseer Bauerntheater 1926

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Gleichgeschaltetes bürgerschaftliches Engagementim Nationalsozialismus

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Ehrenamt im Wohlfahrtsstaat

Vom Roten zum Grünen Kreuz

H Auch ein „Profi“ in der Fürsorgearbeitder Weimarer Republik, nämlich derNürnberger Wohlfahrtsreferent Dr.Hermann Heimerich, war sich der wei-terhin bestehenden Bedeutung der Frei-willigenarbeit im Sozialbereich bewusst.„Wir dürfen also nicht schmollend bei-seite stehen und warten, bis uns der Zu-kunftsstaat in den Schoß fällt, sondernmüssen in die unmittelbare Fürsorge-arbeit eintreten und sie nach unserenAnschauungen zu gestalten versuchen“– mit diesen programmatischen Wortenbeschrieb er die Aufgaben und Ziele der1919 gegründeten Arbeiterwohlfahrt inBayern, die auf der ehrenamtlichen Mit-

arbeit vieler Aktiver beruhte und die erselbst in Nürnberg mitgründen half.Eine der wichtigsten Aufgaben in denKrisenjahren der Weimarer Republikwar die Kinderfürsorge mit Kinder-ferienlagern, Ferienwanderungen, vorallem aber die Kinderspeisungen für be-dürftige Kinder. In Schweinfurt organi-sierten die Freiwilligen der dortigenArbeiterwohlfahrt unter Leitung vonGretel Baumbach Massenspeisungenfür die örtlichen Schulkinder. Im Wirts-haus „Zur Blauen Glocke“ erhielten dieSchweinfurter Schulkinder ein warmeMahlzeit von ortsansässigen Wirtengespendet. L

H Eine der größten Organisationen fürFreiwillige, das Rote Kreuz, wuchs eben-falls während der Weimarer Republik inBayern und erschloss sich neue Bereiche.Studenten der Universität Münchenhatten in den siebziger Jahren des 19.Jahrhunderts den ersten Zug des RotenKreuzes in Bayern aufgebaut. Die schnellwachsende Organisation hatte beiAusbruch des Ersten Weltkrieges schon216 Kolonnen mit über 10.000 ehren-amtlichen Helfern. Während der Wei-marer Republik bildeten sich zahlreiche

weitere Ortsgruppen. Vor allem bei derBehandlung von in den Bergen Verun-glückten verbesserte man die Arbeitimmer weiter. 1927 schließlich kam esin diesem Zusammenhang zur Tren-nung des Bergführer-Rettungsdienstes„Grünes Kreuz“ vom Roten Kreuz. DieBergrettung ist auch heute noch inOberbayern ein wichtiger und ver-gleichsweise riskanter ehrenamtlicherDienst am Nächsten, der vom „GrünenKreuz“, dem Alpenverein und der Berg-wacht versehen wird. L

H Die nationalsozialistische Propagandapredigte die „Volksgemeinschaft“ undmachte mit Schlagworten wie „Du bistnichts, dein Volk ist alles“ den Dienst amVolksganzen quasi zur nationalenPflicht. Eigeninitiative war im Staat derGleichschaltung nicht gefragt. Zahl-reiche traditionsreiche Organisationenund Vereine, in denen sich Ehrenamt-liche engagiert hatten, wurden ver-boten. Dies betraf keineswegs nur dieerklärten politischen Gegner vomArbeitersamariterbund bis zu den Ge-werkschaften, sondern auch kirchlicheJugendorganisationen. Das Rote Kreuzund die Caritas bekamen in Form derNationalsozialistischen Volkswohlfahrt(NSV) eine gleichgeschaltete Konkur-renz. Das Winterhilfswerk, eine Aktionzur Linderung der Not infolge der Win-terarbeitslosigkeit, wurde 1933 von denfreien Wohlfahrtsverbänden auf die NSVübertragen. Die Haussammlungen undder Straßenverkauf von Abzeichen er-folgten zwar ehrenamtlich, hatten aller-dings häufig nichts mehr mit wirklichfreiwilligem Engagement einzelner zutun, sondern glichen eher einer medien-gerecht inszenierten Propaganda-Aktion. Zahlreiche Prominente, örtlichePolitiker, Schauspieler, Sportler undselbst der Elefant „Assam“ vom Zirkus

Krone wurden als Sammler eingesetzt.Die NSV wurde nicht nur durch ehren-amtliches Engagement und staatlichorganisierte Sammelaktionen, sondernauch durch Zwangsabgaben zur größ-ten Wohlfahrtsorganisation der Welt.

Viele Menschen, die sich im Natio-nalsozialismus freiwillig engagierten,wurden damit auch zu Instrumentendes Regimes. Vom Blockwart, der seineNachbarn bespitzelte, bis zum SA-Mannoder zu den Jugendlichen, die Gruppenund Gliederungen in der Hitler-Jugend(HJ) und im Bund deutscher Mädel(BdM) führten, waren wohl nicht we-sentlich weniger Menschen als vor 1933„ehrenamtlich“ aktiv. Kennzeichen ihrerTätigkeit war jedoch die Uniform, der„Marschtritt der Kolonnen“, die rassis-tische Ausrichtung gegen Juden undandere Minderheiten, der Gehorsamund Drill. Der demokratische Impuls,der lange Zeit zur Geschichte der Frei-willigenarbeit gehörte, war damit ver-loren und konnte sich erst wieder nachder Befreiung durch die Alliierten ent-wickeln. L

Kleine Geschichte des bürgerschaftlichenEngagements in Bayern

Der erste professionell geführteKindergarten der Arbeiterwohlfahrt

in Bayern um 1927, Loher Moos

Sanitäter des Roten Kreuzes bei derÜbung um die Jahrhundertwende

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Zwischen Trümmerzeit, Wirtschaftswunder und neuen Formen –Bürgerschaftliches Engagement nach 1945H Schutträumung war nach den Zer-störungen des Zweiten Weltkrieges eineder ersten und vordringlichsten Auf-gaben. Die zahlreichen „Trümmer-frauen“ und anderen freiwilligen Helferhatten daran ihren Anteil, auch wenndie Enttrümmerung schwer zerstörterStädte wie München, Nürnberg, Würz-burg oder Augsburg nicht ausschließlichmit ehrenamtlichen Helfern geleistetwerden konnte.

Jedoch waren in Bayern nicht nur dieStädte zerstört, sondern auch die Men-schen vielfach körperlich und seelischschwer geschädigt und materiell amEnde. Schon früh setzte hier bürger-schaftliches Engagement ein, um Kriegs-beschädigten zu helfen, die ohne Hilfenur schwer wieder ihre Existenz hättenaufbauen können. Ein Beispiel vonvielen: Bereits im Juni 1945, einen Monatnach dem Ende des Zweiten Weltkrieges,begann in Rosenheim Karl Weishäuplmit der Beratungstätigkeit für Kriegs-beschädigte – noch ohne Erlaubnis derBesatzungsmacht und gegen mancheVorbehalte. In beharrlicher ehrenamt-licher Arbeit gelang es nach und nach,die Beratungsstelle auf eine feste Basiszu stellen und schließlich Ende 1946auch einen bayerischen Verbund zugründen, den „Verband der Körper-behinderten, Arbeitsinvaliden undderen Hinterbliebenen in Bayern e.V.“.Es war dies der Vorläufer des „Verbandsder Kriegsbeschädigten, Kriegs-

hinterbliebenen und SozialrentnerDeuschlands” (VdK), dessen spätererPräsident Weishäupl 1974 wurde.

Auch das demokratische politischeLeben reorganisierte sich, und geradehier spielte das bürgerschaftliche En-gagement eine große Rolle: So gab esbereits im Jahr 1945 vielfältige Bestre-bungen, mit der Christlich-SozialenUnion eine große Volkspartei zu grün-den, was dann schließlich im Januar1946 – nach der formellen Zulassungdurch die US-Militärregierung – zurlandesweiten Gründungsversammlungder CSU führte. Der erste Landes-vorsitzende war Josef Müller, wegenseiner studentischen Ferienarbeit in derLandwirtschaft auch als „Ochsen-Sepp“bekannt.

Eine bemerkenswerte ehrenamtlicheInitiative der unmittelbaren Nachkriegs-zeit in Bayern, die Menschen wieder aufdie Beine bringen wollte, ging vonAntonie Nopitsch aus: Sie kümmertesich um Unterbringung und Arbeits-beschaffung für Flüchtlingsfrauen undgründete zusammen mit Elly Heuss-Knapp das Deutsche Müttergenesungs-werk, dessen Zentrale sich ab 1950 inStein bei Nürnberg befand. Freiwilligen-arbeit war beim Müttergenesungswerk,ein Kennzeichen für die soziale Arbeitnach 1945 allgemein, eng mit haupt-amtlicher, professioneller Arbeit ver-zahnt. Dies galt für die Caritas genausowie für die Arbeiterwohlfahrt: In den

Sammlung desMüttergenesungswerkes kurz nach

dem Zweiten Weltkrieg

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fünfziger und sechziger Jahren warenviele Menschen vor allem damit be-schäftigt, ihre materielle Existenz aufsichere Beine zu stellen. Der zuneh-mende wirtschaftliche Aufschwung er-möglichte es zudem, stärker auf profes-sionelle, bezahlte Arbeitskräfte zu set-zen. Dieser Ausbau staatlicher Institu-tionen und professioneller Verbands-strukturen verschob das Verhältniszwischen professionellem Handeln undbürgerschaftlichem Engagement. Über-all wurden den ehrenamtlichen Vereins-vorsitzenden nun hauptamtliche Ge-schäftsführer an die Seite gestellt, ohnedie es kaum mehr möglich gewesenwäre, die wachsenden sozialen Organi-sationen und Einrichtungen zu führen.

Die Leistung Ehrenamtlicher in Sport,Kultur, Sozialarbeit, Kirche und Politikblieb jedoch auch in den fünfziger und

sechziger Jahren eindrucksvoll. Dies wirddeutlich, wenn man bedenkt, dass esdamals im Bayern vor der Gebietsreformüber 4.300 kreisangehörige Gemeinden– mit entsprechenden politischen Ehren-ämtern auf kommunaler Ebene – gab.Der Erfolg von älteren Vereinen wie demBund Naturschutz, der bereits 1913 ge-gründet wurde, belegen die Lebendig-keit des Ehrenamts in seiner traditio-nellen Form bis heute. Einer der wesent-lichen Beiträge des Bund Naturschutzwar die Initiative zur Errichtung desNaturparks Bayerischer Wald im Jahr1970. Bei diesem ersten NationalparkDeutschlands war nicht nur die Durch-setzung der Idee, sondern auch derSchutz des Gebietes und die dadurchanfallende praktische Arbeit ein Ver-dienst vieler freiwilliger Helfer. L

Kleine Geschichte des bürgerschaftlichenEngagements in Bayern

Kinderaktion des Bund Naturschutz

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Bürgerinitiativen und SelbsthilfeH Ab Ende der sechziger Jahre entwi-ckelte sich eine neue Form der Frei-willigenarbeit, ohne dass dabei das tra-ditionelle Ehrenamt verschwundenwäre. Aber es verlor an Bedeutung durchdie noch stärker auf Effektivität aus-gerichteten Strukturen in Verbändenund im politischen Gemeinwesen: DieZahl hauptamtlich Beschäftigter etwabei Wohlfahrtsverbänden stieg ständigan, Freiwilligkeit verlor dementspre-chend an Gewicht. Die Gebietsreformin Bayern von 1974 halbierte die Zahlder etwa 70.000 kommunalpolitischenMandate, die es zuvor in Bayern gege-ben hatte.

Andererseits setzten nun zahlreichealternative Initiativen die Traditionfreiwilliger Arbeit auf andere Weise fort.Immer mehr trat bürgerschaftlichesEngagement in neuen sozialen Bewe-gungen in den Vordergrund. Der eigene

Kinderladen, Selbsthilfegruppen auf ver-schiedenen Gebieten, kleine Theaterund Kunstprojekte – all dies und vielesandere versprach durch ehrenamtlichesEngagement einen direkten Erfolg aufeinem klar umrissenen Interessengebiet.Vielfach richtete sich das bürgerschaft-liche Engagement auch gegen einekonkrete Maßnahme im unmittelbarenLebensumfeld, den Neubau einer Straßeoder einer Mülldeponie. Die oberpfäl-zischen Bürgerinitiativen gegen dieWiederaufbereitungsanlage in Wackers-dorf zeigen, dass hier keine Konfliktegescheut wurden.

Der Projekt- und Initiativcharaktervieler „Alternativprojekte“ ist seit An-fang der achtziger in die Jahre gekom-men. Auch hier sind, wie bei den großenVerbänden, Tendenzen zur Profes-sionalisierung unverkennbar. L

H Dem steht ein „neues Ehrenamt“ ge-genüber, das sich heute nicht mehralleine aus politischen Idealen oderchristlichen Grundwerten speist. DieWerte von Persönlichkeit und Selbst-entfaltung sind – wie überall in derGesellschaft – auch in der Geschichtedes bürgerschaftlichen Engagementswahrzunehmen. Die Ehrenamtlichenarbeiten nicht mehr ausschließlich fürandere, sondern unter dem Gesichts-punkt, auch für sich selbst etwas zu tun:Sie wollen ihre individuellen Interessenverwirklichen und eigene Fähigkeitenund Kompetenzen entfalten.

Der Pathos des Dienstes am Allge-meinwohl ist hier einem nüchternerenUmgang mit dem Ehrenamt gewichen.Zahlreiche „Freiwilligen-Agenturen“,also Organisationen, die ehrenamtlicheTätigkeiten vermitteln und sozusagenden Markt koordinieren, sind dafür einIndiz.

Nachdem in den neunziger Jahrendas Forsa-Institut ermittelte, dass 73 Pro-zent der Deutschen bereit sind, sich ineinem Ehrenamt zu engagieren, scheintes tatsächlich oft nur am mangelndenManagement zu liegen, wenn der Pro-zentsatz der wirklich freiwillig Tätigennicht ähnlich hoch ist.

So findet mit dem „neuen Ehrenamt“auch eine Annäherung zwischen ver-schiedenen Kulturen und Milieus statt.Das traditionelle Ehrenamt, noch immerder Kern des Baumes der Ehrenamtlich-keit in Bayern, bekommt Zuwachs durchMenschen, die sich nicht so stark bindenwollen oder können. Staat, Städte, Ge-meinden, Vereine und Kirchen suchenverstärkt den Kontakt zu bürgerschaft-lich Engagierten, entwickeln neue Kon-zepte und versuchen so eine neue Kulturfreiwilliger Tätigkeiten zu entwickeln.

Was wäre Bayern ohne die vielen Eh-renamtlichen, die es über Jahrhundertemitprägten? Sie taten es oft still undbescheiden. Dass heute ihre Leistungöffentlich viel stärker herausgestelltwird, gehört zur neuen Kultur des bür-gerschaftlichen Engagements und da-mit auch zu einer neuen Wertschätzungdes Ehrenamtes. L

Eine neue Form der Freiwilligenarbeit

Kleine Geschichte des bürgerschaftlichenEngagements in Bayern

Das „neue Ehrenamt“ macht Werbung:Stand des Zentrums Aktiver Bürger,Nürnberg

Mutter-Kind-Gruppeum 1980