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204 Seiten, Paperback ISBN: 978-3-406-60198-9 Unverkäufliche Leseprobe © Verlag C.H.Beck oHG, München Klemens Ludwig Tibet 5., aktualisierte und ergänzte Auflage

Klemens Ludwig Tibet 5., aktualisierte und ergänzte Auflage · 2018-03-21 · Gegen eine auf das Wundersame konzen- ... rücksichtslosen Vernichtungsfeldzug, die tibetische Tradition

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204 Seiten, Paperback ISBN: 978-3-406-60198-9

Unverkäufliche Leseprobe

© Verlag C.H.Beck oHG, München

Klemens Ludwig Tibet 5., aktualisierte und ergänzte Auflage

Mystisches Shangri-Laund ungelöster Nationalitätenkonflikt

Keine Frage, Tibet ist in den vergangenen Jahrzehnten weltweitein Thema geworden. Bis in die 1980er Jahre hinein umgab

das Land auf dem Dach der Welt die Aura des Geheimnisvollen,die den Blick auf die Lebenswirklichkeit der rund 5,5 MillionenTibeterinnen und Tibeter eher verstellte. Ein mystisches Shangri-La, eine Insel der Glückseligen, unberührt von den Schattenseitender Technologie-Gesellschaft und besiedelt von Menschen, dieallein nach geistigen Werten statt nach materiellem Besitz streben:So erschien Tibet in den Projektionen mancher zivilisationskriti-scher Europäer.

Inzwischen bestimmt ein ganz anderes Tibet-Bild die Medien.Die Öffnung des Landes für den Tourismus und die anhaltendenProteste der Bevölkerung, die von der chinesischen Besatzungs-macht brutal niedergeschlagen werden, haben den Nationali-tätenkonflikt in Tibet ins Bewußtsein des Auslands gerückt. Dieweltweite Anerkennung des Dalai Lama, der 1989 den Friedens-nobelpreis erhielt, trug maßgeblich zu dieser Entwicklung bei.

In Wirklichkeit ist Tibet beides: ein Land, das in den Epochender Selbstbestimmung einen anderen Entwicklungsweg einge-schlagen hat als die meisten Staaten der Erde, sowie ein Land,dem ausgerechnet in der Phase der Entkolonisierung nach demZweiten Weltkrieg die Souveränität geraubt wurde.

Für die Faszination, die von Tibet ausgeht, gibt es einleuch-tende Gründe. Wegen seiner geographischen Abgeschiedenheithinter den Hängen des Himalaya war das Land bis in die 70erJahre unseres Jahrhunderts für Besucher kaum zugänglich. Politi-sche Wirren taten ihr übriges, den Zugang von Fremden in Gren-zen zu halten. Als die ersten Europäer 1661 die tibetische Haupt-stadt Lhasa erreichten, gehörten die großen indianischen ReicheAmerikas längst der Vergangenheit an und die Kolonisierung der„neuen Welt“ war bereits in vollem Gange. Alles noch Unbe-kannte und Verbotene regt die Phantasie und Sehnsüchte derMenschen bekanntlich besonders an.

Doch die Faszination Tibet hat tiefere Wurzeln, und die weni-gen westlichen Besucher trugen dazu bei, ihr neue Nahrung zu

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geben. Alexandra David-Néel etwa, die französische Religions-wissenschaftlerin und spätere Buddhistin, die zu Beginn des20. Jahrhunderts über 15 Jahre lang als Bettelpilgerin verkleidetin Tibet herumreiste, oder Heinrich Harrer, der österreichischeBergsteiger, der mit seinem Kollegen Peter Aufschnaiter währenddes Zweiten Weltkriegs aus einem englischen Gefangenenlager inNordwest-Indien an den Hof des Dalai Lama nach Lhasa floh,wußten gar wundersame Dinge zu berichten. Menschen, die al-lein durch ihre Körperwärme Schnee zum Schmelzen bringenkonnten, Dämonenbeschwörer und andere Magier existiertenwirklich.

Eine industrialisierte Welt, die die Grenzen ihres rationalisti-schen Weltbilds immer deutlicher erkennen muß, nahm undnimmt derartige Berichte natürlich mit großer Begierde auf. In Ti-bet erscheint alles anders, alle Gesetze auf den Kopf gestellt, alleGrenzen gesprengt.

Ohne Frage haben Religion und Magie in einem Land wie Ti-bet schon immer eine zentrale Rolle gespielt, und nicht wenigeBerichterstatter mutmaßten, gänzlich ohne ironischen Unterton,die Menschen in einer solchen Höhenlage seien den Götternzwangsläufig näher. Gegen eine auf das Wundersame konzen-trierte Sichtweise wenden sich jedoch zunehmend mehr Euro-päer, die sich aus tiefem religiösen Interesse mit Tibet und demBuddhismus, wie er dort gelehrt wird, befassen.

Seit dem Zweiten Weltkrieg hat das Interesse an Tibet eineneue Dimension erhalten. Das Land wurde Opfer einer gewaltsa-men Annexion durch den großen Nachbarn China. Von 1959 bis1976 versuchte die chinesische Volksbefreiungsarmee in einemrücksichtslosen Vernichtungsfeldzug, die tibetische Tradition bisauf den Grund zu zerstören. Vermutlich etwa eine Million Men-schen und nahezu alle Klöster und Tempel fielen dem Terror zumOpfer.

Von diesem Trauma hat sich das Land bis heute nicht erholt.Dazu kommt eine neue Bedrohung. Statt des offenen Terrors der1960er und 1970er Jahre sorgen die Sinisierung, d.h. die Ansied-lung von Chinesen und die zunehmende Bedeutung der chinesi-schen Sprache, sowie die ökologische Ausbeutung für eine grund-legende Umgestaltung Tibets, die vielleicht nie mehr rückgängigzu machen ist. Alle tibetischen Städte haben heute eine chinesi-

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sche Bevölkerungsmehrheit, und im historischen Tibet, ein-schließlich der östlichen Provinzen Kham und Amdo, stellen dieChinesen knapp zwei Drittel der Bevölkerung. „Time is runningout“ (Die Zeit läuft davon), warnt der Dalai Lama immer wie-der eindringlich.

Ungeachtet der schwierigen Situation erkennen Realpolitikervon Washington über Berlin bis New Delhi die chinesischen An-sprüche auf Tibet an und unterstützen China damit letztlich beider Zerstörung der tibetischen Kultur. Auf der anderen Seite er-weisen viele Menschen der tibetischen Kultur in der wohl härte-sten Bewährungsprobe ihrer Geschichte besondere Achtung. Dieswissen die Tibeter sehr zu schätzen, wie der Dalai Lama hervor-hebt: „Sehen Sie, wenn es einer Nation oder einer Gemeinschaftgut geht, wenn sie aufstrebt, kommen viele Menschen, nicht un-bedingt immer nur als Freunde. Aber wenn es mit einer Nationoder einem Individuum abwärts geht, wenn es ihm schlecht geht,und es kommen trotzdem so viele Menschen, dann betrachte ichsie als ehrliche Freunde.“

Bislang hat sich die chinesische Führung von der weltweitenSympathie für Tibet noch kaum beeindrucken lassen. WeitererDruck von außen, aber auch gut vorbereitete Besuche in Tibet,die den Menschen das Gefühl geben, nicht vergessen zu sein, kön-nen eine konkrete Hilfe sein. Voraussetzung für beides sind fun-dierte Informationen. Dieses Buch möchte einen Beitrag dazuleisten.

Wer sich umfassend mit der tibetischen Kultur vertraut macht,muß zwangsläufig von manchen Klischees Abstand nehmen.Auch im traditionellen Tibet gab es nicht nur Heilige und Magier.Intrigen und offene Kämpfe waren unter den Mächtigen ebensoverbreitet wie Armut und Abhängigkeit unter der einfachen Be-völkerung. Mancher Abt verfolgte nicht nur göttliche Ziele, undBuddhas Gebot, nicht zu töten, ging in den Auseinandersetzun-gen bisweilen unter. Auch diese Widersprüchlichkeit ist Bestand-teil des tibetischen Erbes.

Viele Aspekte, wie etwa die facettenreiche tibetische Kultur,können leider nicht erschöpfend behandelt werden, doch infor-miert eine Literaturliste im Anhang über weitere Publikationen.Neben den Hintergrundinformationen zur Geschichte, Kulturund aktuellen Lage enthält das Buch auch Anregungen für Rei-

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sende. Besuche in einem besetzten Land verlangen immer eine be-sondere Sensibilität, und gerade Tibet eignet sich nicht als Landzum „Abhaken“.

Ein Hinweis noch zur Transkription: Das Buch gibt tibetischeNamen und Bezeichnungen in der populären Umschrift wieder,die sich zum Teil an der Aussprache in der anglisierten Form ori-entiert. Es verzichtet auf die nur wenigen Experten vertrautewissenschaftliche Schreibweise.

Ich bedanke mich sehr herzlich für Kritik, Hinweise, sachkun-dige Begleitung sowie viel Zeit und Geduld bei Ludmilla Tüting,Jan Andersson, Christina Silva und ganz besonders Ute und Tse-wang Norbu.

Zuschauer bei einer Vorstellung des traditionellen, bis ins 15. Jh.zurückreichenden tibetischen Schauspiels während des Zhotanfestes

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LAND UND LEUTE

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Leben auf dem Dach der Welt

Entstehungsgeschichte, geographische Aufteilung, Vegetation

Besucher, die aus der westchinesischen Provinz Sichuan kom-mend mit dem Flugzeug in Tibet eintreffen, werden zunächst

vielleicht enttäuscht sein: Vom sagenumwobenen Schneeland Ti-bet, das Assoziationen an winterliche Alpenhänge und eine ver-zauberte weiße Natur geweckt haben mag, keine Spur; zumindestnicht im zentralen Tsangpotal, in dem auch die Hauptstadt Lhasaliegt. Stattdessen graue Einöde, Mondlandschaft. Der erste Ge-danke: Hier sollen Menschen leben?

Doch dieser erste Eindruck muß bei einem längeren Aufenthaltrasch revidiert werden. Tibet entpuppt sich als ein Land mit gro-ßen Gegensätzen und immer neuen Überraschungen. UnendlicheSteppengebiete prägen ebenso seinen Charakter wie schneebe-deckte Achttausender oder ausgedehnte Waldgebiete mit Bambus-hainen, die wohl kaum jemand auf dem Dach der Welt erwartenwürde. Viele Forscher zeigen sich immer wieder von der einzig-artigen Großzügigkeit aller Landesteile beeindruckt, die selbstmanch trockenen Wissenschaftler ins Schwärmen geraten läßt.

Mit 2,5 Mio km2 erstreckt sich Tibet über eine Fläche, die etwasiebenmal so groß ist wie Deutschland. Umgeben von den Berg-massiven des Himalaya, die im Süden 8000 m sowie im Osten undWesten 6000 m überschreiten, liegt ein besiedeltes Hochplateau,das von 3600 m auf 5200 m ansteigt. Dabei ist der Himalaya nichtnur das höchste, sondern auch das jüngste Gebirge der Erde. Imfrühen Tertiär, vor über 50 Millionen Jahren, war dort noch einMeer. Während der Kontinentalverschiebungen, als sich die Erd-oberfläche in der jetzigen Form herausgebildet hat, schob sich diesogenannte Gondwanascholle, der indische Subkontinent, in fünfSchüben nach Norden und löste mit dem Druck auf die zentral-asiatischen Festmassen die Herausbildung dieses Gebirgsmassivesaus. Der Drang des indischen Subkontinents nach Norden hält inabgeschwächter Form bis heute an, so daß sich der Himalaya jähr-lich um weitere 10 cm aufwölbt, von denen Erosion und andereWitterungseinflüsse jedoch etwa zwei Drittel wieder abtragen.

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Tibet liegt auf einem subtropischen Breitengrad, entsprechenddem Mittelmeer. Es hat heute die Funktion eines Heizaggregatsfür die Erdoberfläche, denn die Gesteinsmassen führen die steileinfallenden Sonnenstrahlen der Atmosphäre wieder zu. DieSchneegrenze liegt bei etwa 6200 m. Der traditionellen Schul-geographie zufolge hat es während der letzten Eiszeit vor etwa25000 Jahren in Tibet nicht wesentlich anders ausgesehen alsheute. Diese These wurde in den vergangenen Jahren jedoch vondem Göttinger Geologieprofessor Matthias Kuhle erschüttert.Gestützt auf Gletscherspuren, die in trockenen Tälern Süd- undWesttibets in nur 2000 m Höhe gefunden wurden, besagt seineThese, daß Tibet während der Kälteperiode weitgehend mitSchnee und Eis bedeckt war. Schwankungen in der Erdumlauf-bahn hatten einen Temperatursturz von 3,5 ° ausgelöst; dieSchneegrenze sank auf etwa 4000 m, und das Land wurde damitso etwas wie der Motor der Eiszeit: Die schnee- und eisbedeckteOberfläche konnte die Sonnenstrahlen nicht länger in die Erd-atmosphäre abgeben, sondern warf sie zu 90% in den Weltraumzurück. Dieser „Ausfall der Heizung“ verstärkte den globalenTemperatursturz und führte allerorten zu einem Vorrücken derGletscher in klimatisch gemäßigte Zonen. Erst als die Erdumlauf-bahn in ihre ursprüngliche Form zurückgefunden hatte und dieTemperaturen weltweit wieder anstiegen, ging auch in Tibet dieSchnee- und Eisgrenze allmählich auf die heutigen Höhen zurück.

Geographisch wird Tibet in vier verschiedene Zonen aufgeteilt,die sich grundlegend voneinander unterscheiden: 1. Die nordwest-liche Hochgebirgssteppe, 2. die von fruchtbaren Tälern durchzo-genen Schneeberge Osttibets, 3. das zentraltibetische Tsangpotal,4. das Himalayamassiv im Süden. An den geographischen Be-dingungen orientierte sich im traditionellen Tibet ungefähr auchdie politisch-administrative Aufteilung mit den Provinzen Ngariim Westen, Kham und Amdo im Osten sowie U und Tsang imZentrum.

Im Norden und Nordwesten erstreckt sich auf 4600 bis5000 m Höhe eine wüstenähnliche, weitgehend unbewohnteHochebene mit geringer Vegetation. Sie ist ohne natürlichen Ab-fluß zum Meer und nahezu ohne Niederschlag. Im Winter sinkendie Temperaturen unter -40 °C; im Sommer können sie bei stän-diger Sonneneinstrahlung über 25 ° erreichen. Trockene Stürme –

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der sogenannte Gegenmonsun – tun ihr übriges, um Leben in die-ser Region härtesten Bedingungen auszusetzen. Nach Osten hinwerden die Steppengebiete niedriger und lebensfreundlicher. VieleSeen, zumeist salzhaltig, bestimmen den Charakter der Land-schaft.

Die östliche Begrenzung Tibets bilden die Provinzen Amdo undKham. Das nördlicher gelegene Amdo war das Tor für die Be-siedlung Tibets und später für die Kontakte mit den Mongolenund Chinesen. Diese Region ist von extremen Gegensätzen ge-prägt. Schneebedeckte Berge von 6000 m Höhe werden von tiefenTälern mit erstaunlicher Vegetation durchzogen. Hier entspringendie großen Flüsse Südostasiens: der Yangtse (Yangzi), der Me-kong, der in China Langcang Jiang heißt, und der Salween. Dasgemäßigte Klima in den Flußtälern ermöglicht Ackerbau undViehhaltung. Im Südosten befinden sich zudem ausgedehnteWaldgebiete bis auf eine Höhe von 4500 m. In besonders günsti-gen Zonen gedeihen sogar Bambushaine. Die Waldfläche Tibetsbetrug vor der chinesischen Invasion 220000 km2.

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Die Ruinen des KlostersPuntsoling in Zentraltibet

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Das eigentliche Kernland Tibets bildet das Tal des Tsangpo,besser bekannt unter seinem indischen Namen Brahmaputra, süd-lich der großen Steppen. An einem nördlichen Nebenfluß desTsangpo, dem Kyichu, liegt die Hauptstadt Lhasa. Das Tsangpo-tal wird in zwei Provinzen unterteilt: U mit dem Zentrum Lhasaim Osten sowie Tsang mit dem Zentrum Shigatse, der zweitgröß-ten Stadt des Landes, im Westen. Hier herrschen klimatisch rechtgemäßigte Bedingungen mit Durchschnittswerten von 20 °C imSommer und –3 ° im Winter. Verschiedene Getreidearten, Kartof-feln und sogar Obst gedeihen; allerdings bleibt der jährliche Nie-derschlag gering. Ursache dafür ist das Himalaya-Zentralmassiv,das sich südlich des Tsangpotales nach Nordwesten hinzieht. Esbildet für die Wolkenmassen des indischen Subkontinents ein na-hezu unüberwindliches Hindernis und beschert den Regionen zuseinen Füßen – Nordindien, Nepal, Sikkim und Bhutan – einenaußerordentlich reichhaltigen Niederschlag mit einer entspre-

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Lebensader Tsangpo

Im Westhimalaya, in der Provinz Ngari, entspringen der Sutlej, derIndus und der Tsangpo. Auch die Ganges-Quellen liegen nicht weitentfernt im Süden. Der Tsangpo ist die Lebensader Tibets. Sein Ur-sprung ist so mysteriös wie vieles auf dem Dach der Welt, denn einegenaue Quelle gibt es nicht. Er speist sich aus der Umgebung desManasarovar. Die Tibeter glauben, daß er – wie die anderen großenFlüsse – zunächst die heiligen Orte umrundet, um die Götter zuehren. Weniger mysteriös ist sein Lauf von West nach Ost. Im Westenist sein Flußtal weit und sein Wasserstand extrem unterschiedlich, jenach Trocken- und Regenzeit. An seinem Ufer finden sich Sand-dünen, die an eine Wüste erinnern. Der langsam dahinziehende Flußhat in Jahrmillionen Felsen zu Sand zerrieben, mit unermeßlicherKraft. Unterhalb von Shigatse, der ersten großen Stadt an seinem Lauf,ändert der Tsangpo sein Gesicht. Sein Bett gleicht bisweilen einemreißenden Gebirgsbach,der sich durch enge Felsschluchten hindurch-gewunden hat. Hier konnte er sich gegen die Gesteinsmassen nicht soleicht durchsetzen, doch aufgehalten haben die Felsen seinen Wegnicht. Im Südosten Tibets bilden nur noch schroffe Felswände seineUmgebung, in der Leben kaum mehr möglich ist. Im rechten Winkelwendet er sich nach Süden zum indischen Subkontinent. Dabei über-windet er auf 500 km über 3000 Höhenmeter. 2900 km nach seinemQuellgebiet endet seine Reise im Golf von Bengalen.

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chend üppigen Vegetation. In einigen Gegenden Bhutans liegt diejährliche Niederschlagsmenge mit 4000 mm im Durchschnittzehnmal so hoch wie im Tsangpotal.

In den vergangenen vierzig Jahren haben chinesische Geologenreichhaltige Bodenschätze entdeckt, so Gold, Eisen, Blei, Zink,Kohle, Mangan, Schwefel, Chrom, Uran und Erdöl.

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Kailash und Manasarovar, Orte der Götter

Vieles gilt als heilig auf dem Dach der Welt, doch über allemragt, im wahrsten Sinne des Wortes, der Kailash. Er mißt zwar nur6741m – also deutlich weniger als das Himalaya-Zentralmassiv –,steht aber allein und weithin sichtbar im Transhimalaya. Seine Formgleicht einer gigantischen Stupa, einem Ort für die Beisetzung vonReliquien. Jede der vier recht gleichmäßigen Seiten ist nach einerHimmelsrichtung ausgerichtet. Sein Gipfel ist immer schneebedeckt,die Tibeter nennen ihn deshalb Kang Rinpoche, Juwel des Schnees. Diese Besonderheiten machen den Kailash seit Menschengedenkenzum Zentrum der Verehrung der asiatischen Religionen. Die Hindussehen in ihm den Sitz des Gottes Shiva, die Buddhisten betrachten ihnals äußeres Symbol des mythischen Weltenberges Meru, als Achse desKosmos, die Himmel, Erde und Unterwelt miteinander verbindet. Jainsund Bön-Anhänger sehen den Kailash als Wiege ihrer Religion. Be-sondere Verdienste erlangt, wer den Berg umrundet, 55 km beträgtdie Strecke. Dabei legen die Bön-Anhänger den Weg gegen den Uhr-zeigersinn zurück, die anderen mit ihm. Manche messen die Streckemit ihrem Körper ab; das heißt, sie werfen sich nieder, berühren mit derStirn den Boden und treten mit den Füßen an die Stelle, wo die Stirnden Boden berührt hat. Eine solche Strapaze dauert etwa drei Wo-chen. Wer es gar schafft, den Kailash 108 mal zu umrunden, erlangtnach buddhistischer Lehre die Erleuchtung noch in diesem Leben.Südlich vom Kailash liegt der Manasarovar-See, der im Gegensatz zuden meisten anderen tibetischen Seen Süßwasser enthält. An seinemUfer treten häufig hohe Wellen auf, während es in der Mitte ruhigist. Der Manasarovar umfaßt 330 km2 und hat eine runde Form. Da-durch gilt er als Symbol der lebensspendenden Sonne. Für die Hin-dus ist er ein Werk ihres obersten Gottes Brahma. In der religiö-sen Bedeutung steht er dem heiligen Fluß Ganges nicht nach. Sowurde ein Teil der Asche Mahatma Gandhis in ihn gestreut. Für dieBuddhisten ist er die wichtigste Quelle der Reinigung. Der Manasa-rovar kann nur im Winter, wenn alles gefroren ist, vollständig um-rundet werden, denn sein Ufer ist zum Teil sehr sumpfig.

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Die Tierwelt

Die Tierwelt Tibets ist außerordentlich vielfältig. An den zahlrei-chen Seen und Sümpfen tummeln sich ungezählte Insekten und49 verschiedene Amphibien- und Reptilienarten wie Frösche,Kröten, Echsen und Schlangen. Auch Gänse, Wasseramseln, Hau-bentaucher, Möwen und Watvögel geben sich in den feuchtenGebieten ein Stelldichein. In der Wald- und Steppenregion lebenunter anderem Dohlen, Amseln, Schneefinken, Felsentauben, Kö-nigshühner sowie verschiedene Fasanenarten. Auch der Königder Lüfte, der Adler, ist in Tibet heimisch. Insgesamt verzeichnenchinesische Wissenschaftler 532 Vogelarten. Eine mythologischwichtige Rolle spielen die Schwarzhalskraniche. Sie galten im al-ten Tibet als heilig. Aufgrund ihrer religiösen Bedeutung wurdensie während der chinesischen Kulturrevolution in den 60er Jahrenstark dezimiert. Im Tsangpotal sind sie gänzlich verschwunden.In den abgelegenen Steppengebieten konnten sich einige wenigeExemplare halten, die heute wieder unter besonderem Schutzstehen.

In den Wäldern der östlichen Landesteile leben Luchse, Leo-parden und Pandas; in höher gelegenen Regionen sogar nochWölfe, Bären, Füchse, Murmeltiere, Schneeleoparden und Pfeif-hasen. Letztere wurden bis auf 6000 m Höhe gesichtet. Die Step-pengebiete bieten zudem Gazellen, Schafen und Wildeseln (Ki-angs) eine Heimat. Daneben gibt es in den Steppen eine spezifischtibetische Tierart, ohne die menschliches Leben auf dem Dach derWelt vermutlich gar nicht denkbar wäre: die Yaks, Verwandte desin Europa bereits ausgestorbenen Auerochsen. Während sich dieBezeichnung Yaks für die zotteligen Tiere außerhalb Tibetsdurchgesetzt hat, nennen die Einheimischen nur die männlichenso; die weiblichen heißen Dri. Wildyaks sind nur noch in den un-wirtlichen Weiten Nordwest-Tibets anzutreffen. Das war nochvor nicht allzu langer Zeit anders, wie der Himalaya-ZoologeUlrich Gruber bedauert: „Bis zum Ende des neunzehnten Jahr-hunderts gab es riesige Herden mit bis zu 20000 Exemplaren,heute ist der Wildyak bereits sehr selten geworden; moderneJagdwaffen und die Möglichkeit, Yaks von Geländewagen aus zuschießen, haben zu einer Dezimierung der Herden geführt, dieman nur mit der Ausrottung des nordamerikanischen Bisons ver-

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gleichen kann.“ Yaks sind äußerst genügsam und ernähren sichvon Moos, Flechten und Steppengräsern. Sie können deshalb amweitesten in die von anderen Säugetieren gemiedenen nordwest-lichen Steppengebiete eindringen. Zoologen und Geographen un-terscheiden die Steppen sogar nach den jeweils anzutreffendenTierarten. Auf die Wildyaksteppe im Nordwesten folgt die mitt-lere Kiangsteppe und dann die südöstliche Gazellensteppe. DieChinesen haben auch alle Säugetiere statistisch erfaßt und kamenauf 191 Arten.

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Auf tibetischen Thankas werden Tiere meist phantasiereich und lebensvolldargestellt, wie die Wasser trinkende Kuh und ihr saugendes Kalb

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