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erneut, ausgelöst unter anderem durch seinen Tod im Jahre 1996. Weinbergs anregender Artikel enthält neben angemessenen Dar- stellungen verschiedener Elemente der Kuhnschen Theorie auch be- rechtigte Kritikpunkte an Kuhn, Mißverständnisse seiner Theorie und die Skizze einer Gegenposition zu Kuhn, die vielen Physikern plau- sibel erscheinen wird. Ich diskutie- re im folgenden einen berechtigten Kritikpunkt, ein Mißverständnis und problematische Aspekte von Weinbergs Gegenposition zu Kuhn. In der Struktur vergleicht Kuhn wissenschaftliche Revolutionen mit Gestaltsprüngen, wie man sie bei Kippbildern erleben kann. Er will damit illustrieren, daß eine wissen- schaftliche Revolution typischer- weise eine neue Sichtweise beinhal- tet, die auch die bereits bekannten Phänomene in einem neuen Licht erscheinen läßt. So sieht man bei- spielsweise die Bohrschen sta- tionären Elektronenzustände im Lichte der Wellenmechanik als ste- hende Wellen. Mit dieser Sichtwei- se kann man viele Eigenschaften von Atomen verstehen, die aus der Perspektive des Bohrschen Atom- modells unerklärbar blieben. Der problematische Teil von Kuhns Be- schreibung besteht darin zu be- haupten, daß Wissenschaftler zu ei- ner früher einmal verwendeten, jetzt aber durch eine Revolution überwundenen Sichtweise nicht zurückkehren könnten. Bei Kuhn klingt das so, als seien Wissen- schaftler dazu prinzipiell nicht Forum 56 Physikalische Blätter 55 (1999) Nr. 3 0031-9279/99/0303-0056 $17.50+50/0 © WILEY-VCH Verlag GmbH, D-69451 Weinheim, 1999 Thomas Kuhn (1922 bis 1996) war einer der ein- flußreichsten Wis- senschaftshistori- ker und -philoso- phen dieses Jahrhunderts. Sein 1962 erschienenes Buch „The Struc- ture of Scientific Revolutions“ wur- de in über zwei Dutzend Sprachen übersetzt. Foto: Henry Perschak Prof. Dr. Paul Hoyningen-Huene, Universität Hanno- ver, Zentrale Ein- richtung für Wissen- schaftstheorie und Wissenschaftsethik, Oeltzenstr. 9, D-30169 Hannover Physik und Wissenschaftsge- schichte nehmen selten Notiz voneinander. Vielen Physikern erscheint die Nachbardisziplin als ziemlich uninteressant und ver- staubt. Tatsächlich aber sind in den letzten Jahrzehnten aus der Wissenschaftsgeschichte Kontro- versen hervorgegangen, die den Erkenntnisstatus der Physik betreffen, und die deshalb das Interesse mancher Physiker fan- den. Dazu gehört die Diskussion über die Wissenschaftstheorie Thomas Kuhns. Steven Weinberg hat unlängst einige von Kuhns Thesen aufgenommen und kriti- siert. Neben berechtigten Kritik- punkten enthält Weinbergs Essay auch einige Mißverständnisse. S teven Weinberg, Nobelpreis- träger für Physik des Jahres 1979, hat sich kürzlich im New York Review of Books kritisch zu den Thesen des Physikers, Wissen- schaftshistorikers und -philosophen Thomas Kuhn geäußert [1]. Thomas Kuhn ist die einflußreichste Persön- lichkeit der letzten Jahrzehnte in Wissenschaftsgeschichte, -soziolo- gie und -philosophie. Seine Bekanntheit basiert vor allem auf seinem Buch The Structure of Scientific Revolutions, das 1962 erstmals erschien und von dem mittlerweile weit über eine Million Exemplare in über zwei Dutzend Sprachen verkauft worden sind [2]. Die heute schon fast zur Alltags- sprache gehörenden Wörter „Para- digma“ und „Paradigmenwechsel“ wurden in diesem Buch eingeführt. Besonders in den 70er Jahren gab es eine intensive und z. T. heftige Diskussion um Kuhn, die in vielen Disziplinen geführt wurde. Im Zen- trum standen dabei zunächst der Begriff des Paradigmas und der dazu assoziierte Begriff der norma- len Wissenschaft. Die Diskussion verlagerte sich dann auf den Begriff der Inkommensurabilität, mit dem Kuhn größere Theoriewechsel, aber auch kleinere revolutionäre Ent- wicklungen charakterisierte (siehe Kasten). In den 90er Jahren intensi- vierte sich die Diskussion um Kuhn mehr in der Lage. Weinberg greift dies zu Recht an. Das stärkste Ar- gument gegen Kuhns Ansicht scheint mir zu sein, daß nach Kuhn Historiker diese früheren Weltsich- ten so authentisch wie möglich re- konstruieren sollen und das auch können. Warum sollte das Wissen- schaftlern verwehrt sein? Es scheint mir viel plausibler zu sein anzunehmen, daß Wissenschaftler kein besonderes Interesse daran ha- ben, zu einer überwundenen Sicht- weise auf eine historisch angemes- sene Weise zurückzukehren. Natür- lich kehren Wissenschaftler so, wie es Weinberg in seinem Artikel be- schreibt, z. B. zur Sichtweise der klassischen Physik zurück. Das Ziel ist dabei aber nicht eine historisch akkurate Rekonstruktion, sondern eine anwendungsfähige Theorie. Ob diese Theorie genau identisch mit irgendeiner ihrer tatsächlich histo- risch verwendeten Versionen ist oder nicht, ist Physikern ziemlich gleichgültig. Man sucht die im Lich- te der neuen Theorie beste bzw. am einfachsten handhabbare Version der älteren Theorie. Dies darum, weil sie bestimmte Leistungen lie- fert, die die neue Theorie zwar im Prinzip auch erbringen könnte, aber auf viel kompliziertere Weise oder faktisch überhaupt nicht. Kuhn und mit ihm viele andere Wissenschaftshistoriker und -philo- sophen sind der Meinung, daß die- jenigen Versionen einer Theorie, die nach einer Revolution weiter- verwendet werden, typischerweise Modifikationen der ursprünglichen Theorie im Lichte der neuen Theo- rie sind. „Im Lichte der neuen Theorie“ heißt insbesondere, daß man nun die Einschränkungen kennt, unter denen die ältere Theo- rie approximativ gilt. Natürlich ist Weinberg Recht zu geben, daß der formale Teil älterer Theorien dabei typischerweise unverändert über- nommen wird (der „harte“ Teil), und sich nur bestimmte ihrer Inter- pretationen ändern (der „weiche“ Teil). Gerade aber diese sich verän- dernden „weichen“ Teile hatte Kuhn im Blick, wenn er von Dis- kontinuitäten zwischen den sich Kommt die Physik der Wahrheit immer näher? Steven Weinberg kritisiert Thomas Kuhn Paul Hoyningen-Huene

Kommt die Physik der Wahrheit immer näher?/Steven Weinberg kritisiert Thomas Kuhn

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erneut, ausgelöst unter anderemdurch seinen Tod im Jahre 1996.

Weinbergs anregender Artikelenthält neben angemessenen Dar-stellungen verschiedener Elementeder Kuhnschen Theorie auch be-rechtigte Kritikpunkte an Kuhn,Mißverständnisse seiner Theorieund die Skizze einer Gegenposition

zu Kuhn, die vielen Physikern plau-sibel erscheinen wird. Ich diskutie-re im folgenden einen berechtigtenKritikpunkt, ein Mißverständnisund problematische Aspekte vonWeinbergs Gegenposition zu Kuhn.

In der Struktur vergleicht Kuhnwissenschaftliche Revolutionen mitGestaltsprüngen, wie man sie beiKippbildern erleben kann. Er willdamit illustrieren, daß eine wissen-schaftliche Revolution typischer-weise eine neue Sichtweise beinhal-tet, die auch die bereits bekanntenPhänomene in einem neuen Lichterscheinen läßt. So sieht man bei-spielsweise die Bohrschen sta-tionären Elektronenzustände imLichte der Wellenmechanik als ste-hende Wellen. Mit dieser Sichtwei-se kann man viele Eigenschaftenvon Atomen verstehen, die aus derPerspektive des Bohrschen Atom-modells unerklärbar blieben. Derproblematische Teil von Kuhns Be-schreibung besteht darin zu be-haupten, daß Wissenschaftler zu ei-ner früher einmal verwendeten,jetzt aber durch eine Revolutionüberwundenen Sichtweise nichtzurückkehren könnten. Bei Kuhnklingt das so, als seien Wissen-schaftler dazu prinzipiell nicht

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56Physikalische Blätter55 (1999) Nr. 30031-9279/99/0303-0056$17.50+50/0© WILEY-VCH Verlag GmbH,D-69451 Weinheim, 1999

Thomas Kuhn(1922 bis 1996) wareiner der ein-flußreichsten Wis-senschaftshistori-ker und -philoso-phen diesesJahrhunderts. Sein1962 erschienenesBuch „The Struc-ture of ScientificRevolutions“ wur-de in über zweiDutzend Sprachenübersetzt. Foto: Henry Perschak

Prof. Dr. Paul Hoyningen-Huene,Universität Hanno-ver, Zentrale Ein-richtung für Wissen-schaftstheorie undWissenschaftsethik,Oeltzenstr. 9, D-30169 Hannover

Physik und Wissenschaftsge-schichte nehmen selten Notizvoneinander. Vielen Physikernerscheint die Nachbardisziplin alsziemlich uninteressant und ver-staubt. Tatsächlich aber sind inden letzten Jahrzehnten aus derWissenschaftsgeschichte Kontro-versen hervorgegangen, die denErkenntnisstatus der Physikbetreffen, und die deshalb dasInteresse mancher Physiker fan-den. Dazu gehört die Diskussionüber die WissenschaftstheorieThomas Kuhns. Steven Weinberghat unlängst einige von KuhnsThesen aufgenommen und kriti-siert. Neben berechtigten Kritik-punkten enthält Weinbergs Essayauch einige Mißverständnisse.

S teven Weinberg, Nobelpreis-träger für Physik des Jahres1979, hat sich kürzlich im New

York Review of Books kritisch zuden Thesen des Physikers, Wissen-schaftshistorikers und -philosophenThomas Kuhn geäußert [1]. ThomasKuhn ist die einflußreichste Persön-lichkeit der letzten Jahrzehnte inWissenschaftsgeschichte, -soziolo-gie und -philosophie. SeineBekanntheit basiert vor allem aufseinem Buch The Structure ofScientific Revolutions, das 1962erstmals erschien und von demmittlerweile weit über eine MillionExemplare in über zwei DutzendSprachen verkauft worden sind [2].Die heute schon fast zur Alltags-sprache gehörenden Wörter „Para-digma“ und „Paradigmenwechsel“wurden in diesem Buch eingeführt.Besonders in den 70er Jahren gabes eine intensive und z. T. heftigeDiskussion um Kuhn, die in vielenDisziplinen geführt wurde. Im Zen-trum standen dabei zunächst derBegriff des Paradigmas und derdazu assoziierte Begriff der norma-len Wissenschaft. Die Diskussionverlagerte sich dann auf den Begriffder Inkommensurabilität, mit demKuhn größere Theoriewechsel, aberauch kleinere revolutionäre Ent-wicklungen charakterisierte (sieheKasten). In den 90er Jahren intensi-vierte sich die Diskussion um Kuhn

mehr in der Lage. Weinberg greiftdies zu Recht an. Das stärkste Ar-gument gegen Kuhns Ansichtscheint mir zu sein, daß nach KuhnHistoriker diese früheren Weltsich-ten so authentisch wie möglich re-konstruieren sollen und das auchkönnen. Warum sollte das Wissen-schaftlern verwehrt sein? Esscheint mir viel plausibler zu seinanzunehmen, daß Wissenschaftlerkein besonderes Interesse daran ha-ben, zu einer überwundenen Sicht-weise auf eine historisch angemes-sene Weise zurückzukehren. Natür-lich kehren Wissenschaftler so, wiees Weinberg in seinem Artikel be-schreibt, z. B. zur Sichtweise derklassischen Physik zurück. Das Zielist dabei aber nicht eine historischakkurate Rekonstruktion, sonderneine anwendungsfähige Theorie. Obdiese Theorie genau identisch mitirgendeiner ihrer tatsächlich histo-risch verwendeten Versionen istoder nicht, ist Physikern ziemlichgleichgültig. Man sucht die im Lich-te der neuen Theorie beste bzw. ameinfachsten handhabbare Versionder älteren Theorie. Dies darum,weil sie bestimmte Leistungen lie-fert, die die neue Theorie zwar imPrinzip auch erbringen könnte,aber auf viel kompliziertere Weiseoder faktisch überhaupt nicht.

Kuhn und mit ihm viele andereWissenschaftshistoriker und -philo-sophen sind der Meinung, daß die-jenigen Versionen einer Theorie,die nach einer Revolution weiter-verwendet werden, typischerweiseModifikationen der ursprünglichenTheorie im Lichte der neuen Theo-rie sind. „Im Lichte der neuenTheorie“ heißt insbesondere, daßman nun die Einschränkungenkennt, unter denen die ältere Theo-rie approximativ gilt. Natürlich istWeinberg Recht zu geben, daß derformale Teil älterer Theorien dabeitypischerweise unverändert über-nommen wird (der „harte“ Teil),und sich nur bestimmte ihrer Inter-pretationen ändern (der „weiche“Teil). Gerade aber diese sich verän-dernden „weichen“ Teile hatteKuhn im Blick, wenn er von Dis-kontinuitäten zwischen den sich

Kommt die Physik der Wahrheit immer näher?

Steven Weinberg kritisiert Thomas Kuhn

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ablösenden Theorien sprach1). DieVeränderung der „weichen“ Teileder älteren Theorie im Lichte derneuen liefert Argumente für denZweifel an der von Weinberg geheg-ten Vorstellung, daß der Wissen-schaftsprozeß als Annäherung andie Wahrheit verstanden werdenkann. Mehr dazu weiter unten.

Nur kurz möchte ich auf einMißverständnis von Kuhns Theorieeingehen, dem Weinberg – wie vieleandere vor ihm – zum Opfer fällt.Dieses Mißverständnis betrifft dieInkommensurabilität, einen dermeistdiskutierten Begriffe, der aufKuhn (und den ebenfalls sehr be-kannten Philosophen Paul Feyer-abend) zurückgeht. Für Weinbergbesteht Inkommensurabilität in derParadigmaabhängigkeit der Maßstä-be, mit denen Theorien beurteiltwerden. Das würde zu ziemlich ab-rupten Änderungen dieser Maßstä-be während wissenschaftlicher Re-volutionen führen, was seinerseitseinen vernünftigen Leistungsver-gleich konkurrierender Theorienvereiteln würde (dies hat übrigenszu dem (Irr-)Meinung geführt,Kuhn würde wissenschaftlichenFortschritt überhaupt leugnen!).Dem hält Weinberg zu Recht entge-gen, daß in der Physikgeschichtesolche Änderungen von Maßstäbenrelativ sanft („evolutionär“) vorsich gegangen seien und deshalb dieTheoriebeurteilung nicht unmöglichgemacht hätten.

Tatsächlich sind Kuhn und Wein-berg an diesem Punkt der Sachenach der gleichen Meinung. Dennfür Kuhn gibt es einen Satz von paradigmaunabhängigen wissen-schaftlichen Werten, die die Maß-stäbe für die Theorienbewertungabgeben (siehe [3], Abs. 4.3c). Da-zu gehören die Genauigkeit, dieReichweite, die Fruchtbarkeit, dieVorhersagekraft, die Einfachheitund die Konsistenz der Theorie.Diese Werte können aber verschie-den konkretisiert und zueinanderverschieden gewichtet werden. Dieszeigt sich beim historischen Wandelder Werte innerhalb einer Disziplinund beim Vergleich von Werten ver-schiedener Disziplinen. Wertände-rungen finden insbesondere in derFolge tiefergehender Theoriewech-sel statt, ohne daß dadurch aber einleistungsbezogener Theorienver-gleich unmöglich würde. Allerdingskann der Theorienvergleich da-durch delikater werden. Beispiels-weise war es in der Physik vor derEinführung der Quantenmechanik

ein unumstößlicher Wert funda-mentaler Theorien, deterministischzu sein. Diese Eigenschaft ist einebestimmte Konkretisierung desWertes der Genauigkeit: In einemdeterministischen Universum müs-sen fundamentale Theorien deter-ministisch sein. Diese Konkretisie-rung des Wertes der Genauigkeitwurde aufgegeben, als klar wurde,daß es keine Alternative zu der (ingewissem Sinn) indeterministischenQuantenmechanik gab. Die positiveBewertung der Quantenmechanikergab sich auf der Basis andererwissenschaftlicher Werte wie derVorhersagekraft und der Konsi-stenz, die schließlich für die aller-meisten Physiker indeterministischefundamentale Theorien akzeptabelmachten. Einsteins diesbezüglicheWeigerung zeigt allerdings, daß dasAbgehen vom Ideal deterministi-scher Theorien nicht absolut zwin-gend war. Die Theoriewahl zwingtmanchmal zu einer Abwägung ver-schiedener Bewertungsgesichts-punkte.

Der schwierigste kontroversePunkt zwischen Weinberg undKuhn ist die Frage, ob man die Wis-senschaftsentwicklung, insbesonde-re die Physikentwicklung, als eineAnnäherung an die Wahrheit ver-stehen kann. Weinbergs Bild deswissenschaftlichen Fortschrittsscheint folgendes zu sein: In der

wissenschaftlichen Revolution des16. und 17. Jahrhunderts entstanddie moderne Wissenschaft, die sichdurch die Elimination der Fehlerder vorangehenden Tradition aus-zeichnet, insbesondere durch dieVerabschiedung des Aristotelismus.Seitdem ist insbesondere die Physikauf dem Weg zur Wahrheit in demSinn, daß alle aufeinanderfolgen-den physikalischen Theorien immerbessere Approximationen an dieWahrheit sind. Kuhns Beschreibungwissenschaftlicher Revolutionen istnur für die wissenschaftliche Revo-lution des 16. und 17. Jhdts. ange-messen, insbesondere für den Über-gang von der Aristotelischen zur Galilei-Newtonschen Dynamik.Charakteristisch für diesen Über-gang ist, daß die Vorgängertheorieals falsch erkannt und dementspre-chend in der späteren Wissen-schaftspraxis auch nicht mehr ver-wendet wurde. Die Theorie- oderParadigmenwechsel innerhalb derneuzeitlichen Physik haben demge-genüber einen anderen Charakter.In ihnen wird eine bestimmte Ap-proximation an die Wahrheit durcheine bessere Approximation ersetzt.In bestimmten physikalischen Si-tuationen genügt nach wie vor eineweniger gute Approximation an dieWahrheit, wie sie von der älterenund einfacheren Theorie geliefertwird. Dementsprechend wird die

Die Theorie Kuhnsstellt ein Phasen-oder Ablaufmodellfür die Entwick-lung naturwissen-schaftlicher Grund-lagendisziplinenauf (siehe zur Ein-führung [4], weiter-führend [3]). Nacheiner „vornorma-len“ Phase, diedurch Schulstreitig-keiten gekenn-zeichnet ist, bildet sich eine „nor-male“ Phase, in der ein breiterKonsens der Fachleute hinsichtlichder Grundlagen der Disziplin herrscht. Der Kernpunkt diesesKonsenses sind konkrete, heraus-ragende wissenschaftliche Leistun-gen, die weitere Forschungsarbeitermöglichen, die sich an ihnen ori-entiert. Diese vorbildgebenden,konkreten wissenschaftlichen Lei-stungen nannte Kuhn Paradigmen.In der Phase normaler Wissen-schaft werden die Grundlagen desFaches nicht in Frage gestellt; viel-mehr versucht man, das schon ge-wonnene Wissen zu präzisierenund seine Anwendungen auszu-dehnen. Die Phase normaler Wis-senschaft geht zu Ende, wenn we-sentliche Anomalien auftauchen,

die sich innerhalb des gegebenenRahmens auch nach größeren An-strengungen nicht auflösen lassen.Dann beginnt eine Phase „außer-ordentlicher Wissenschaft“, in derversucht wird, den bisherigen For-schungsrahmen zu modifizierenbzw. grundsätzlich neue Ideen zuentwickeln. Das Ziel ist dabei, diewesentlichen Anomalien aufzulö-sen, gleichzeitig aber möglichstviele der bisherigen Forschungser-gebnisse beizubehalten bzw. zu re-produzieren. Gelingt dies mit neu-en paradigmatischen, konkretenwissenschaftlichen Leistungen, soist eine wissenschaftliche Revoluti-on vollzogen und eine neue Phasenormaler Wissenschaft kann begin-nen. Typischerweise unterscheidetsich der neue Forschungsrahmen

vom alten auch inbegrifflicher Hin-sicht: Manche deralten Begriffe wer-den ausrangiert,andere ändern ih-re Bedeutung, bis-weilen auf subtileWeise, und neueBegriffe werdeneingeführt. Typi-scherweise ändernsich damit auchgrundlegende Vor-

stellungen darüber, was die konsti-tutiven Bestandteile des Univer-sums und ihre Eigenschaften sind.Weil diese Vorstellungen vielfachvöllig selbstverständlich gewordensind und ihre Geltung daher völligfraglos war, spricht Kuhn auch da-von, daß sich mit einer wissen-schaftlichen Revolution „die Weltändert“. Die begrifflichen Dispa-ritäten zwischen den vor- undnachrevolutionären Vorstellungenbezeichnet Kuhn mit dem Begriffder Inkommensurabilität. Der Lei-stungsvergleich von inkommensu-rablen Theorien ist aufgrund ihrerbegrifflichen Unterschiede etwasheikel; er reduziert sich nicht aufeinen quasi-mechanischen Ver-gleich der Vorhersagen der beidenTheorien.

Junge Frau oder alte Hexe? Tho-mas Kuhn vergleicht wissenschaft-liche Revolutionen, wie z. B. dieKopernikanische Revolution oderden Übergang von der Newton-schen Physik zur Relativitätstheo-rie, mit Gestaltsprüngen, wie mansie bei Kippbildern erleben kann:Bekannte Phänomene erscheinenplötzlich in einem ganz neuenLicht.

Hauptzüge von Kuhns Wissenschaftsphilosophie

1) Bohr hatte übrigenssehr ähnliche Vorstellun-gen: Das Korrespondenz-prinzip, das den quanti-tativen Anschluß derQuantenmechanik an dieklassische Physik ver-langt, setzt die begriffli-che Diskontinuität zwi-schen beiden Theorienkeineswegs außer Kraft.

Physikalische Blätter55 (1999) Nr. 358

Forum

frühere Theorie auch weiter in derWissenschaft verwendet, typischer-weise in ihrer ausgereiftesten For-mulierung. Der Wissenschaftsfort-schritt ist dadurch insgesamt kumu-lativ.

Ironischerweise ist dieses Bildder Wissenschaftsentwicklung ge-nau dasjenige Bild, gegen das Kuhn,beginnend mit der Struktur wissen-schaftlicher Revolutionen, seinganzes Leben lang argumentierthat. Für Kuhn (und viele andereHistoriker) ist erstens der Bruchdurch die wissenschaftliche Revolu-tion des 16. und 17. Jhdts. viel klei-ner als vielfach angenommen.Zweitens sind für ihn die Theorie-wechsel innerhalb der modernenNaturwissenschaften tiefergehendals das beispielsweise von Weinberggesehen wird. Unter anderem diesmacht drittens die Vorstellung einerAnnäherung des Wissens der neu-zeitlichen Wissenschaft an dieWahrheit suspekt.

1) Es gibt viele Punkte der Konti-nuität zwischen der Aristotelischenund der Galilei-Newton-Tradition.Beispielsweise ist es ein reiner My-thos, daß man sich in der Aristoteli-schen Tradition auf begrifflicheHerumturnerei beschränkt habe.Auch bei Aristoteles hat die Beob-achtung von Naturphänomenengroße Bedeutung. Diese Kontinuitä-ten insbesondere der Forschungs-weise machen, trotz der natürlichauch vorhandenen Diskontinuitä-ten, mißtrauisch gegenüber der Be-hauptung, daß vor Galilei alle Re-sultate der Naturforschung im we-sentlichen falsch und nach ihm alleim wesentlichen richtig seien.

2) Es ist ein insbesondere für diePhysikentwicklung unleugbaresFaktum, daß sowohl die Menge alsauch die Genauigkeit der quantita-tiv behandelbaren Probleme in denletzten vier Jahrhunderten in gera-dezu unvorstellbarer Weise gewach-sen sind. Zugleich aber gab es beiden größeren Theoriewechselnauch größere begriffliche Änderun-gen. Mit den Änderungen vonGrundbegriffen haben sich aber ty-pischerweise auch grundlegendeontologische Vorstellungen geän-dert, d. h. die Vorstellungen darü-ber, was es im Universum gibt undwie dies grundsätzlich beschaffenist. Wenn man kein professionellerWissenschaftshistoriker ist, hatman, so Kuhn, von der Dramatikdieser Veränderungen häufig einunzureichendes Bild (siehe [2] Kap.11). Das liegt daran, daß sowohl in

der naturwissenschaftlichen Ausbil-dung als auch in populären Darstel-lungen von Wissenschaft gänzlichausrangierte Theorien praktisch in-existent sind. Was weiß man schonvon der Aristotelischen Dynamikoder der Phlogiston-Chemie? Ähn-liches gilt von Theorien, die in ge-wisser Weise überholt sind, aberdennoch im Ingenieurwesen undauch der Naturwissenschaft selbstweiterverwendet werden. Man lerntdiese Theorien nicht in ihren histo-risch originalen Formen kennen,

Der schwierigste kontroversePunkt zwischen Weinbergund Kuhn ist die Frage, obman die Physikentwicklungals eine Annäherung an dieWahrheit verstehen kann.

sondern in Formen, die den nach-folgenden Theorien bereits in be-stimmten Hinsichten angeglichensind (das mag nicht den Formalis-mus der Theorien betreffen). Dahererscheinen in der Rückschau dieseTheorien ihren Nachfolgern ähnli-cher, als sie es historisch tatsächlichwaren. Der Gesamteffekt ist, daßdie Kontinuitäten der neuzeitlichenWissenschaftsgeschichte größer er-scheinen, als sie es tatsächlich sind.

3) Diese Veränderungen im hi-storischen Bild haben nun auchKonsequenzen für die Plausibilitätder Vorstellung, die Wissenschafts-entwicklung würde sich auf dieWahrheit zubewegen. Die Tatsache,daß in quantitativer Hinsicht dieTheorien immer besser gewordensind, ist allein kein Argument fürdie Wahrheitsannäherung. Manch-mal sind Modelle, die bewußt un-realistisch sind, in ihrer Vorhersa-gekraft besser als ihre realistische-ren Alternativen (man denke etwaan das Tröpfchenmodell des Atom-kerns, das die theoretischen Grund-lagen für das Verständnis der Kern-spaltung lieferte). Ontologisch aberist beispielsweise in der Abfolge derTheorien über das, was wir heuteals Gravitation bezeichnen, wenigKonvergenz zu sehen. Wegen dergrößeren Kontinuität zwischen moderner und vorneuzeitlicherWissenschaft darf man dabei dieletztere nicht einfach ausblenden.Einsteins Allgemeine Relativitäts-theorie, in der Gravitation geome-trisiert ist, ist in dieser Hinsicht derkorrespondierenden AristotelischenTheorie viel ähnlicher als der vonDescartes oder Newton. Ähnlich ist in den Vorstellungen von den

„elementaren“ Bestandteile der Ma-terie wohl keine Konvergenz auszu-machen (was bei so wenigen Glie-dern der Folge, d. h. naturwissen-schaftlichen Theorien, ohnehinproblematisch ist).

Noch ernster ist der Einwand,daß nicht klar ist, was es überhauptheißen soll, Theorien würden sichauf die Wahrheit zubewegen. Er-stens bräuchte man einen einiger-maßen gut definierten Raum, deralle nur denkbaren Theorien alsElemente enthält (inklusive allerrestlos wahren Theorien). Zweitensbräuchte man einen auf diesemvieldimensionalen Raum definiertenBegriff des Abstands, der Abstands-vergleiche von Theorien ermöglicht.Drittens muß man die Annäherungeiner historisch vorgegebenenTheorienfolge an die jeweilige wah-re Theorie feststellen können, ohnediese wahre Theorie zu kennen.Wie können wir aber dann dieAnnäherung an diese wahre Theo-rie, die ein globales Fehlerminimumdarstellt, von einer Annäherung anein bloß lokales Fehlerminimumunterscheiden? All dies zeigt, daßman mit der „Annäherung an dieWahrheit“ mit einer Metapher ope-riert, die einzulösen, d. h. in eini-germaßen verständliche oder garoperationalisierbare Begriffe zuübersetzen, überaus problematischist. Damit ist natürlich nicht gesagt,daß eine Explikation des Begriffsder Wahrheitsannäherung grund-sätzlich unmöglich ist. Aber dieAuffassung, daß die Beschreibungder Wissenschaftsentwicklung alseiner Annäherung an die Wahrheiteine gehaltvolle Beschreibung ist,wird sehr problematisch.

Literatur[1] S. Weinberg, „The Revolution That

Didn’t Happen“. The New YorkReview of Books, 8. 10. 1998,www.nybooks.com

[2] T. S. Kuhn, The Structure of Scien-tific Revolutions. University of Chi-cago Press, Chicago 1962, 2. Aufl.1970. Übs.: Die Struktur wissen-schaftlicher Revolutionen, Suhr-kamp, Frankfurt 1967, 2.Aufl.(1976)

[3] P. Hoyningen-Huene, Die Wissen-schaftsphilosophie Thomas S.Kuhns. Rekonstruktion und Grund-lagenprobleme. Vieweg, Wiesbaden1989

[4] P. Hoyningen-Huene, „Thomas S.Kuhn: Die Struktur wissenschaftli-cher Revolutionen (The Structureof Scientific Revolutions, 1962)“.In: Interpretationen. Hauptwerkeder Philosophie: 20. Jahrhundert.Reclam, Stuttgart 1992