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FUNKTIONENTHEORIE I VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007) 1. Komplexe Differenzierbarkeit In dieser Vorlesung werden die folgenden Standard-Symbole verwendet: - C ur die komplexe Ebene, - C * := C \{0}, - R ur die reelle Achse, - N ur die Menge der nat¨ urlichen Zahlen, die Null eingeschlossen, - N * := N \{0}, - Z ur die Menge der ganzen Zahlen. Es sei daran erinnert, dass sich C von der euklidischen Ebene R 2 nur dadurch unterscheidet, dass man eine Multiplikation zwischen je zwei Vektoren von R 2 er- kl¨ art hat. Die Struktur des euklidischen Raumes R 2 wird dabei nicht angetastet. Man bezeichnet diese Struktur auch als die unterliegende euklidische Struk- tur von C. Obwohl diese Stuktur nicht angetastet wurde, haben sich besondere Sprechweisen herausgebildet. So bezeichnet man die Elemente aus C meist nicht mehr als Vektoren sondern als komplexe Zahlen oder einfach als Zahlen, aber auch als Punkte. Die euklidische L¨ ange einer komplexen Zahl z heißt jetzt Betrag von z und wird stets mit |z| bezeichnet (im Unterschied zu kzk, was in der Theorie der euklidischen Vektorr¨ aume meistens verwendet wird). Begriffe wie Abstand, Offenheit, Abgeschlossenheit und Konvergenz beziehen sich immer auf die unterliegende euklidische Struktur von C. Zum Beispiel: Dass eine in C enthaltene Folge (z n ) nN gegen einen Punkt a C konvergiert, bedeutet lim n→∞ |z n - a| =0. Gegenstand der Funtkionentheorie sind Abbildungen f , die auf einer offenen Menge U C definiert sind und deren Werte in C liegen, was wir durch f : U C symbolisieren. Diese Abbildungen nennt man in der Funktionentheorie Funktio- nen oder komplexe Funktionen. ”Vergisst” man den Teil der Struktur von C, wodurch sich C von R 2 unterscheidet, so handelt es sich also um Abbildungen, die auf einer offenen Teilmenge des R 2 definiert sind und deren Werte in R 2 liegen. Solche Abbildungen kennen wir schon aus der Analysis II. In der Funktionetheo- rie interessiert man sich f¨ ur eine sehr spezielle Klasse davon, n¨ amlich f¨ ur die so genannten holomorphen oder komplex analytischen Funktionen, die wir jetzt definieren. Sei eine Funktion f : U C, U C offen, gegeben, und sei w U . Aus der Analysis mehrerer reeller Ver¨ anderlicher kennen wir dann bereits den Begriff des Grenzwertes (1.1) lim zw f (z) - f (w) z - w 1

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FUNKTIONENTHEORIE I

VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

1. Komplexe Differenzierbarkeit

In dieser Vorlesung werden die folgenden Standard-Symbole verwendet:- C fur die komplexe Ebene,- C∗ := C \ 0,- R fur die reelle Achse,- N fur die Menge der naturlichen Zahlen, die Null eingeschlossen,- N∗ := N \ 0,- Z fur die Menge der ganzen Zahlen.

Es sei daran erinnert, dass sich C von der euklidischen Ebene R2 nur dadurchunterscheidet, dass man eine Multiplikation zwischen je zwei Vektoren von R2 er-klart hat. Die Struktur des euklidischen Raumes R2 wird dabei nicht angetastet.Man bezeichnet diese Struktur auch als die unterliegende euklidische Struk-tur von C. Obwohl diese Stuktur nicht angetastet wurde, haben sich besondereSprechweisen herausgebildet. So bezeichnet man die Elemente aus C meist nichtmehr als Vektoren sondern als komplexe Zahlen oder einfach als Zahlen, aberauch als Punkte. Die euklidische Lange einer komplexen Zahl z heißt jetzt Betragvon z und wird stets mit |z| bezeichnet (im Unterschied zu ‖z‖, was in der Theorieder euklidischen Vektorraume meistens verwendet wird). Begriffe wie Abstand,Offenheit, Abgeschlossenheit und Konvergenz beziehen sich immer auf dieunterliegende euklidische Struktur von C. Zum Beispiel: Dass eine in C enthalteneFolge (zn)n∈N gegen einen Punkt a ∈ C konvergiert, bedeutet

limn→∞

|zn − a| = 0.

Gegenstand der Funtkionentheorie sind Abbildungen f , die auf einer offenenMenge U ⊆ C definiert sind und deren Werte in C liegen, was wir durch f : U → Csymbolisieren. Diese Abbildungen nennt man in der Funktionentheorie Funktio-nen oder komplexe Funktionen. ”Vergisst” man den Teil der Struktur von C,wodurch sich C von R2 unterscheidet, so handelt es sich also um Abbildungen, dieauf einer offenen Teilmenge des R2 definiert sind und deren Werte in R2 liegen.Solche Abbildungen kennen wir schon aus der Analysis II. In der Funktionetheo-rie interessiert man sich fur eine sehr spezielle Klasse davon, namlich fur die sogenannten holomorphen oder komplex analytischen Funktionen, die wir jetztdefinieren.

Sei eine Funktion f : U → C, U ⊆ C offen, gegeben, und sei w ∈ U . Aus derAnalysis mehrerer reeller Veranderlicher kennen wir dann bereits den Begriff desGrenzwertes

(1.1) limz→w

f(z)− f(w)z − w1

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2 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

bzw. den Begriff der Existenz dieses Grenzwertes. Es sei hier trotzdem daranerinnert: Man sagt, dass der Grenzwert (1.1) existiert, wenn es eine Zahl a ∈ Cgibt, so dass fur jede gegen w konvergente Folge (zn)n∈N mit zn 6= w fur alle n ∈ N

limn→∞

f(zn)− f(w)zn − w

= a.

gilt. Diese Zahl a bezeichnet man als den Grenzwert von (1.1). Schreibt man

a = limz→w

f(z)− f(w)z − w

,

so sind damit gleich zwei Aussagen gemeint, namlich erstens, dass der Grenzwert(1.1) existiert, und zweitens, dass er gleich a ist. Weiß man schon, dass der Grenz-wert (1.1) existiert und schreibt man

a := limz→w

f(z)− f(w)z − w

,

so meint man, dass dieser Grenzwert ab jetzt a genannt wird.

1.1. Definition. Sei f : U → C eine Funktion, U ⊆ C offen. Man sagt, dassdie Funktion f in einem Punkt w ∈ U komplex differenzierbar ist, wenn derGrenzwert

f ′(w) := limz→w

f(z)− f(w)z − w

existiert. Dieser Grenzwert f ′(w) heißt komplexe Ableitung oder einfach Ablei-tung von f im Punkt w.

Man sagt, dass die Funktion f auf U holomorph (oder komplex analytisch)ist, wenn sie in jedem Punkt aus U komplex differenzierbar ist. Die dann wohldefi-nierte Funktion

U 3 z −→ f ′(z)heißt komplexe Ableitung oder einfach Ableitung von f und wird mit f ′ be-zeichnet.

Die identische Abbildung idC : C→ C, d.h. die Funktion, die durch

idC(z) := z , z ∈ C,

definiert ist, ist holomorph auf C, und zwar gilt

id′C(z) = 1 fur alle z ∈ C.

Um das einzusehen, muss man sich davon uberzeugen, dass fur jeden Punkt w ∈ Cund jede gegen w konvergente Folge (zn)n∈N mit zn 6= 0 fur alle n

limn→∞

idC(zn)− idC(w)zn − w

= 1

gilt. Das ist naturlich trivial, denn nach Definition von idC gilt fur jedes n

idC(zn)− idC(w)zn − w

=zn − w

zn − w= 1.

Verabredung: In der Funktionentheorie ist es ublich, die Funktion idC mit z zubezeichnen (so wie man in der reellen Analysis die Funktion idR mit x bezeichnet).Wir sprechen also auch von der Funktion z, wenn wir die Funktion idC meinen(weil es kurzer ist). Andererseits ist es auch ublich, die Punkte von C mit z zubezeichnen. Wir sprechen also oft auch von dem oder einem Punkt z. Dies fuhrt

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FUNKTIONENTHEORIE I 3

nicht zu Verwechslungen, wenn man darauf achtet, dass aus dem Zusammenhanghervorgeht, was gemeint ist.

Die obige Aussage uber idC hort sich dann so an: Die Funktion z ist holo-morph auf C, und ihre Ableitung ist uberall gleich 1.

Etwas verwirrend ware dagegen die folgende Formulierung: Die Funktion z istholomorph auf C, und es gilt z′(z) = 1 fur alle z ∈ C, weil hier der Buchstabez in einem Atemzug zwei verschiedene Bedeutungen hat.

Besser ist, wenn man dann auch verschiedene Buchstaben verwendet, z.B. so:Die Funktion z ist holomorph auf C und es gilt z′(ζ) = 1 fur alle ζ ∈ C.

Mit z bezeichnet man die Abbildung von C auf C, die jeder Zahl ζ ∈ C ihrekonjugiert komplexe Zahl zuordnet.

Zur Erinnerung: Ist ζ eine komplexe Zahl mit dem Realteil x und dem Ima-ginarteil y, d.h. ζ = x + iy, x, y ∈ R, so bezeichnet man die Zahl ζ := x − iy alsdie konjugiert komplexe Zahl von ζ.

Die Funktion z ist ein Beispiel fur eine Funktion, die nicht holomorph ist. Sieist in keinem Punkt w ∈ C komplex differenzierbar. In der Tat, sei w ∈ C. Dannbetrachten wir die Folgen

ζn := w +1n

und ηn := w +i

n, n = 1, 2, . . . .

Beide Folgen konvergieren gegen w (die erste in Richtung der reellen Achse und diezweite in Richtung der imaginaren Achse). Ware z in w komplex differenzierbar, somussten die Grenzwerte

limn→∞

ζn − w

ζn − wund lim

n→∞ηn − w

ηn − w

existieren und gleich sein. Dies ist aber nicht der Fall, denn die beiden Grenzwerteexistieren zwar, sie sind aber nicht gleich:

limn→∞

ζn − w

ζn − w= lim

n→∞

1n1n

= 1 aber limn→∞

ηn − w

ηn − w= lim

n→∞− i

nin

= −1.

1.2. Satz (Stetigkeit holomorpher Funktionen). Sei f : U → C eine Funktion,U ⊆ C offen. Ist f in einem Punkt w ∈ U komplex differenzierbar, so ist f indiesem Punkt w stetig. Folglich gilt: Ist f auf U holomorph, so ist f auf U stetig.

Beweis. Aus

limz→w

f(z)− f(w)z − w

= f ′(w)

folgt insbesondere, dass es ein ε > 0 gibt mit∣∣∣∣f(z)− f(w)

z − w

∣∣∣∣ ≤ |f ′(w)|+ 1 fur alle z ∈ U mit |z − w| ≤ ε.

Folglich gilt

|f(z)− f(w)| ≤ (|f ′(w)|+ 1)|z − w| fur alle z ∈ U mit |z − w| ≤ ε.

Damit haben wir gezeigt, dass f im Punkt w nicht nur stetig, sondern sogarLipschitz-stetig ist. ¤

1.3. Satz (Komplexe Ableitung von Linearkombinationen). Es seien f, g : U → Czwei auf einer offenen Menge U ⊆ C definierte Funktionen, die in einem Punkt

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4 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

w ∈ U beide komplex differenzierbar sind. Dann ist fur je zwei komplexe Zahlenα, β auch die Funktion αf + βg im Punkt w komplex differenzierbar und es gilt

(αf + βg)′(w) = αf ′(w) + βg′(w).

Beweis.

αf ′(w) + βg′(w) = α limz→w

f(z)− f(w)z − w

+ β limz→w

g(z)− g(w)z − w

= limz→w

(αf + βg)(z)− (αf + βg)(w)z − w

= (αf + βg)′(w).

¤

1.4. Satz (Produktregel fur die komplexe Ableitung). Es seien f, g : U → C zweiauf einer offenen Menge U ⊆ C definierte Funktionen, die in einem Punkt w ∈ Ukomplex differenzierbar sind. Dann ist auch das Produkt fg im Punkt w komplexdifferenzierbar und es gilt

(fg)′(w) = f ′(w)g(w) + f(w)g′(w).

Beweis. Da f und g in w komplex differenzierbar sind, gilt

f ′(w) = limz→w

f(z)− f(w)z − w

und g′(w) = limz→w

g(z)− g(w)z − w

.

Da g in w stetig ist (Satz 1.2), gilt

g(w) = limz→w

g(z)

Zusammen ergibt das

f ′(w)g(w) + f(w)g′(w) = limz→w

f(z)− f(w)z − w

limz→w

g(z) + f(w) limz→w

g(z)− g(w)z − w

= limz→w

f(z)g(z)− f(w)g(z) + f(w)g(z)− f(w)g(w)z − w

= limz→w

(fg)(z)− (fg)(w)z − w

= (fg)′(w).

¤

Aus den Satzen 1.3 und 1.4 und der Tatsache, dass die Funktion z holomorphist, erhalten wir nun bereits einen gewissen Vorrat an holomorphen Funktionen aufC, namlich die komplexen Polynome. Dabei versteht man unter einem komplexenPolynom eine Funktion p : C→ C der Form

(1.2) p(z) = a0 + a1z + a2z2 + . . . + anzn , z ∈ C,

wobei die a0, . . . , an gewisse Konstanten sind, die man als die Koeffizienten desPolynoms p bezeichnent. Außerdem folgt aus diesen beiden Satzen, dass die kom-plexe Ableitung eines Polynoms der Form (1.2) durch

p′(z) = a1 + 2a2z + 3a3z2 . . . + nanzn−1 , z ∈ C,

gegeben ist.

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FUNKTIONENTHEORIE I 5

1.5. Satz (Quotientenregel fur die komplexe Ableitung). Sei f : U → C eineFunktion, U ⊆ C offen, die in einem Punkt w ∈ U komplex differenzierbar ist. Istaußerdem f(w) 6= 0, so ist die Funktion 1/f (die dann wohldefiniert ist in einergewissen Umgebung von w, wegen der Stetigkeit von f in w (Satz 1.2)) ebenfallskomplex differenzierbar in w und es gilt

(1.3)(

1f

)′(w) = − f ′(w)(

f(w))2 .

Beweis. Da f in w komplex differenzierbar und stetig ist, gilt

− f ′(w)(f(w)

)2 = −limz→w

f(z)−f(w)z−w

f(w) limz→w

f(z)= − lim

z→w

f(z)− f(w)f(w)f(z)(z − w)

= limz→w

1f(z) − 1

f(w)

z − w,

was (1.3) ist. ¤

1.6. Satz (Kettenregel fur die komplexe Ableitung). Sei f : U → C eine auf eineroffenen Menge U ⊆ C definierte Funktion, und g : V → C sei eine auf einer offenenMenge V ⊆ C definierte Funktion mit g(V ) ⊆ U . Weiter sei w ∈ V ein Punkt, sodass die Funktion g in w komplex differenzierbar ist und die Funktion f in g(w)komplex differenzierbar ist. Dann ist die Komposition f g im Punkt w komplexdifferenzierbar und es gilt

(f g)′ (w) = f ′(g(w)

)g′(w).

Beweis. Sei (zn)n∈N eine beliebige gegen w konvergente Folge mit zn 6= w fur allen. Wir mussen zeigen, dass die Folge

(1.4)f(g(zn)

)− f(g(w)

)

zn − w

gegen f ′(g(w)

)g′(w) konvergiert.

1. Fall: g(zn) 6= g(w) fur alle n. Dann gilt fur alle n

f(g(zn)

)− f(g(w)

)

zn − w=

f(g(zn)

)− f(g(w)

)

g(zn)− g(w)g(zn)− g(w)

zn − w,

wobei bereits klar ist (da g in w komplex differenzierbar ist), dass der zweite Faktorfur n → ∞ gegen g′(w) konvergiert. Da g in w stetig ist und f in g(w) komplexdifferenzierbar ist, konvergiert aber auch der erste Faktor, und zwar gegen f ′

(g(w)

).

2. Fall: Es gibt unendlich viele n mit g(zn) = g(w). Dann gilt

g′(w) = limn→∞

g(zn)− g(w)zn − w

= 0,

denn wir wissen, dass dieser Grenzwert existiert (da g in w komplex differenzierbarist) und, da die Folge unendlich viele Nullen enthalt, kann das nur die Null sein.Wir mussen also zeigen, dass auch die Folge (1.4) gegen null konvergiert. Fur dieTeilfolge mit g(zn) = g(w) ist das sicher der Fall, denn diese besteht aus lauterNullen. Fur die andere Teilfolge ergibt sich aus dem schon behandelten 1. Fall, dassdiese gegen f ′

(g(w)

)g′(w) konvergiert, was wegen g′(w) = 0 ebenfalls gleich null

ist. ¤

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6 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

2. Die Cauchy-Riemannsche(n) Differentialgleichung(en)

Aus der Analysis II kennen wir schon die Begriffe partielle und totale Diffe-renzierbarkeit. Wir wollen das jetzt mit dem neuen Begriff der komplexen Diffe-renzierbarkeit vergleichen. Dazu seien x und y die kanonischen reellen Koordinatenauf C, d.h. x sei die Funktion, die jeder komplexen Zahl ihren Realteil zuordnet,und y sei die Funktion, die jeder komplexen Zahl ihren Imaginarteil zuordnet, und∂/∂x, ∂/∂y seien die dazugehorigen partiellen Ableitungs-Abbildungen.

2.1. Definition. Sei f : U → C eine Funktion, U ⊆ C offen, die in einem Punktw ∈ U partiell differenzierbar ist, d.h. fur welche

∂f

∂x(w) und

∂f

∂y(w)

existieren. Sei u der Realteil, und v der Imaginarteil von f , d.h. u, v seien diereellwertigen Funktionen auf U mit f = u + iv. Offenbar ist dann die Gleichung

(2.1)∂f

∂x(w) = −i

∂f

∂y(w)

aquivalent zu dem Gleichungssystem

∂u

∂x(w) =

∂v

∂y(w)

∂v

∂x(w) = −∂u

∂y(w) .

(2.2)

Die Gleichung (2.1) heißt Cauchy-Riemannsche Differentialgleichung odereinfach Cauchy-Riemann-Gleichung, und das Gleichungssystem (2.2) heißtCauchy-Riemannsches Differentialgleichungssystem oder einfach Cauchy-Riemann-System. Bei der Gleichung (2.1) spricht man auch von der komplexenSchreibweise des Systems (2.2). Umgekehrt spricht man bei (2.2) von der reellenSchreibweise von (2.1).

2.2. Satz. Sei f : U → C eine Funktion, U ⊆ C offen. Weiter sei w ∈ U . Dannsind die folgenden beiden Bedingungen aquivalent:

(i) Die Funktion f ist in w komplex differenzierbar.(ii) Die Funktion f ist im Punkt w total differenzierbar, d.h. (nach Definition

der totalen Differenzierbarkeit) es gibt eine reell-lineare 1 Abbildung A : C→ C mit

(2.3) limz→w

f(z)− f(w)−A(z − w)|z − w| = 0,

und diese Abbildung A ist sogar komplex linear.Sind diese beiden aquivalenten Bedingungen erfullt, so ist die lineare Abbildung

A aus Bedingung (ii) der Operator der Multiplikation mit f ′(w), d.h. es gilt

(2.4) A(z) = f ′(w) · z fur alle z ∈ C.

Weiter gilt dann

(2.5) f ′(w) =∂f

∂x(w) = −i

∂f

∂y(w).

1Eine Abbildung A : C→ C heißt reell linear, wenn A(αz + βw) = αA(z)+ βA(z) gilt fur allez, w ∈ C und alle α, β ∈ R. Gilt das sogar fur alle α, β ∈ C, so heißt sie komplex linear .

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FUNKTIONENTHEORIE I 7

Insbesondere gilt also die Cauchy-Riemann-Gleichung (2.1) bzw. das dazuaquivalente System (2.2).

Beweis von Satz 2.2. Sei zunachst die Bedingung (i) erfullt. Dann definieren wireine komplex-lineare Abbildung A : C → C durch (2.4). Fur diese Abbildung giltdann, nach Definition von f ′(w),

0 = limz→w

(f(z)− f(w)

z − w− f ′(w)

)= lim

z→w

f(z)− f(w)− f ′(w)(z − w)z − w

= limz→w

f(z)− f(w)−A(z − w)z − w

.

Angesichts der Tatsache, dass der Grenzwert ganz rechts gleich null ist, bleibt dieserGrenzwert gleich null, wenn man im Nenner z − w durch |z − w| ersetzt, denn dasandert nichts am Betrag des Ausdrucks hinter dem Limeszeichen. Es gilt also (2.3).Damit ist (i) ⇒ (ii) bewiesen.

Es sei nun Bedingung (ii) erfullt und A sei die lineare Abbildung aus dieserBedingung. Da A dann komplex-linear ist, muss es eine komplexe Zahl c geben,namlich c = A(1), so dass A(z) = cz gilt fur alle z ∈ C. Dann besagt (2.3), dass

limz→w

f(z)− f(w)− c(z − w)|z − w| = 0

ist. Da dieser Grenzwert gleich null ist, bleibt er gleich null, wenn man im Nenner|z − w| durch z − w ersetzt, d.h. es gilt auch

limz→w

(f(z)− f(w)

z − w− c

)= lim

z→w

f(z)− f(w)− c(z − w)z − w

= 0.

Dies besagt aber gerade (nach Definition), dass f im Punkt w komplex differen-zierbar ist und

(2.6) f ′(w) = c = A(1)

gilt. Damit ist auch die Richtung (ii) ⇒ (i) bewiesen. Außerdem haben wir mit(2.6) auch gleich die Beziehung (2.4) gezeigt.

Wir zeigen noch (2.5). Da die totale Ableitung von f im Punkt w komplex linearist, ist ihre Jacobi-Matrix von der Form (vgl. Aufgabe 4 der ersten Ubungsserie)

(a −bb a

).

Das bedeutet aber gerade, dass im Punkt w die Cauchy-Riemannschen Differenti-algleichungen (2.2) bzw. die dazu aquivalente Gleichung (2.1) gilt. Das heißt, es giltdas zweite Gleichheitszeichen in (2.5).

Wir betrachten nun die gegen w konvergente Folge

ζn := w +1n

, n = 1, 2, . . . .

Da der Grenzwert (1.1) nach Voraussetzung existiert und gleich f ′(w) ist, gilt dann

f ′(w) = limn→∞

f(w + 1

n

)− f(w)1n

.

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8 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

Da die Folge (ζn) in x-Richtung gegen w konvergiert, ist dann (nach Definition von∂/∂x) der rechts stehende Grenzwert außerdem gleich zu der partiellen Ableitung

∂f

∂x(w).

Damit ist auch das erste Gleichheitszeichen in (2.5) gezeigt. ¤

Es gibt Gegenbeispiele, die zeigen, dass aus dem Erfulltsein der Cauchy-RiemannGleichung in nur einem Punkt noch nicht die totale Differenzierbarkeit in diesemPunkt folgt. Andererseits kennen wir aus Analysis II den folgenden Satz: Dafur, dasseine Funktion f : U → C, U ⊆ C offen, in jedem Punkt aus U total differenzierbarist, reicht es aus, dass f auf U stetig differenziebar ist, d.h. dass die beiden partiellenAbleitungen ∂f/∂x und ∂f/∂y uberall auf U existieren und stetig sind. Damiterhalt man aus Satz 2.2:

2.3. Folgerung. Sei f : U → C eine Funktion, U ⊆ C offen, von der schonbekannt ist, dass sie auf U stetig differenzierbar ist. Dann sind die folgenden beidenBedingungen aquivalent:

(i) f ist holomorph auf U .(ii) In jedem Punkt w ∈ U gilt die Cauchy-Riemann-Gleichung (2.1) bzw. das

dazu aquivalente System (2.1).

Aus Analysis II wissen wir bereits, dass partiell differenzierbare Funktionen,deren partielle Ableitungen uberall gleich null sind, lokal konstant (d.h. konstant aufjeder Zusammenhangskomponente ihres Definitionsgebiets) sind. Deswegen ergibtSatz 2.2 bzw. Folgerung 2.3:

2.4. Folgerung. Ist f : U → C, U ⊆ C offen, eine holomorphe Funktion mit f ′ ≡ 0auf U , so ist f lokal konstant.

2.5. Folgerung. Eine holomorphe Funktion, deren samtliche Werte reell sind, istlokal konstant. In der Tat, sei h : U → R, holomorph, U ⊆ C offen. Da der Ima-ginarteil von h gleich null ist, nimmt das Cauchy-Riemann-System (2.2) (dass nachSatz 2.2 fur alle w ∈ U erfullt sein muss) die Form

∂h

∂x(w) =

∂h

∂y(w) = 0

an, was nur fur lokal konstante Funktionen h moglich ist.

2.6. Folgerung. Der Imaginarteil (bzw. Realteil) einer holomorphen Funktion istbis auf eine lokal konstante Funktion durch den Realteil (bzw. den Imaginarteil) ein-deutig bestimmt. Das sieht man wie folgt: Angenommen wir haben zwei holomorpheFunktionen f, g : U → C, U ⊆ C offen, mit gleichem Imaginarteil. Dann ist dieFunktion h := f − g auf U holomorph und reell-wertig, womit man die Behauptungaus der vorangegangenen Folgerung erhalt.

2.7. Definition. Sei U ⊆ C offen. Eine reellwertige Funktion ϕ : U → R heißtharmonisch auf U , wenn sie auf U zweimal stetig differenzierbar ist und wenn

(2.7)∂2ϕ

∂x2+

∂2ϕ

∂y2= 0 auf U.

Die Gleichung (2.7) heißt Laplace-Gleichung.

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FUNKTIONENTHEORIE I 9

2.8. Folgerung. Sei f : U → C eine holomorphe Funktion, U ⊆ C offen. Zusatzlichsei vorausgesetzt, dass f auf U zweimal stetig differenzierbar ist.2 Dann sind derReal- und der Imaginarteil von f harmonisch auf U .

Beweis. Seien u der Realteil- und v der Imaginarteil von f , also f = u+ iv. Wendetman zuerst die erste der beiden Cauchy-Riemann-Gleichungen (2.2) an, vertauschtdann die beiden partiellen Ableitungen und benutzt man schließlich die zweite derGleichungen (2.2), so erhalt man

∂2u

∂x2=

∂2v

∂x∂y=

∂2v

∂y∂x= −∂2u

∂y2,

was dasselbe ist wie (2.7). ¤

2.9. Bemerkung. Unter der Voraussetzung, dass U ⊆ C eine einfach zusam-menhangende3 offene Menge ist, gilt auch die Umkehrung der Aussage aus Fol-gerung 2.8: Fur jede harmonische Funktion u : U → R gibt es eine holomorpheFunktion f : U → C, so dass u der Realteil von f ist (bzw. der Imaginarteilder ebefalls holomorphen Funktion if): Das folgt aus der Exaktheit geschlossenerDifferentialformen uber solchen Mengen. Fur diejenigen, die das kennen, hier dereinfache Beweis:

Wir betrachten die Differentialform

ϕ := −∂u

∂ydx +

∂u

∂xdy.

Diese Form ist geschlossen, denn, da u harmonisch ist, gilt

dϕ = −∂2u

∂y2dy ∧ dx +

∂2u

∂x2dx ∧ dy =

(∂2u

∂y2+

∂2u

∂x2

)dx ∧ dy = 0.

Da U einfach zusammenhangend ist, folgt daraus, dass f exakt ist. Es gibt also einebeliebig oft stetig differenzierbare Funktion v : U → R mit dv = ϕ, d.h.

∂v

∂xdx +

∂v

∂ydy = −∂u

∂ydx +

∂u

∂xdy.

Die letzte Gleichung ist aber nur eine andere Schreibweise fur die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen (2.2). Das heißt, die Funktion f := u + iv,von der wir schon wissen, dass sie in allen Punkten aus U total differenzierbar ist (sieist sogar beliebig oft stetig differenzierbar auf U), erfullt die Cauchy-RiemannschenDifferentialgleichungen. Nach Satz 2.3 ist sie also holomorph.

3. Der Cauchysche Integralsatz fur Dreiecke

Aus Analysis I oder II kennen wir den Begriff des Integrals einer stuckweisestetigen reellwertigen Funktion uber einem reellen Intervall.4 Es ist klar, wie mandiesen Begriff auf komplexwertige Funktionen erweitert, namlich so: Ist [α, β] einabgeschlossenes reelles Intervall, −∞ < α < β < ∞, und ist f : [α, β] → C eine

2Spater, in Abschnitt 7, Theorem 7.4, werden wir sehen, dass man diese zusatzliche Voraus-setzung weglassen kann, denn jede holomorphe Funktion ist sogar beliebig oft differenzierbar.

3Das sind Mengen ”ohne Locher” - die genaue Definition geben wir in Abschnitt 6, Theorem6.7.

4Sei [α, β] ein abgeschlossenes Intervall auf der reellen Achse. Eine Funktion f : [α, β] → Cheißt stuckweise stetig, wenn f auf [α, β] stetig ist und wenn es endlich viele Punkte α = t1 <t2 < . . . < tk = β gibt, so dass f auf jedem [tj , tj+1], 1 ≤ j ≤ k − 1, stetig ist.

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10 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

stuckweise stetige Funktion mit dem Realteil u und dem Imaginarteil v, so setztman ∫ β

α

f :=∫ β

α

f(t)dt :=∫ β

α

u(t)dt + i

∫ β

α

v(t)dt.

Vieles, was man uber Integrale reeller Funktionen weiß, gilt auch im komplexenFall. Zum Beispiel sieht man leicht, dass auch fur beliebige komplexe Zahlen c

c

∫ β

α

f(t)dt =∫ β

α

cf(t)dt

gilt. Nicht ganz so einfach ist es mit der fur reellwertige Funktionen trivialenAbschatzung ∣∣∣∣∣

∫ β

α

f

∣∣∣∣∣ ≤∣∣β − α

∣∣ maxα≤t≤β

|f(t)|.

Diese Abschatzung gilt auch fur komplexwertige Funktionen, was aber nicht sofortzu sehen ist, weswegen wir das als Satz formulieren und beweisen.

3.1. Satz. Ist [α, β] ein abgeschlossenes reelles Intervall, −∞ < α < β < ∞, undist f : [α, β] → C eine stetige Funktion, so gilt

∣∣∣∣∣∫ β

α

f(t)dt

∣∣∣∣∣ ≤∫ β

α

|f(t)| dt ≤∣∣β − α

∣∣ maxα≤t≤β

|f(t)|.

Beweis. Wir konnen o.B.d.A.∫ β

αf(t)dt 6= 0 annehmen und

c =

∣∣∣∫ β

αf(t)dt

∣∣∣∫ β

αf(t)dt

setzen. Dann ist |c| = 1 und es gilt∣∣∣∣∣∫ β

α

f(t)dt

∣∣∣∣∣ = c

∫ β

α

f(t)dt =∫ β

α

cf(t)dt =∫ β

α

Re (cf)(t)dt + i

∫ β

α

Im (cf)(t)dt,

wobei Re (cf) der Realteil und Im (cf) der Imaginarteil der Funktion cf ist. Da dererste Summand ganz rechts reell ist, wahrend der zweite Summand eine rein ima-ginare Zahl5 ist, und da ganz links eine reelle Zahl steht, muss der zweite Summandganz rechts gleich null sein. Damit folgt

∣∣∣∣∣∫ β

α

f(t)dt

∣∣∣∣∣ =∫ β

α

Re (cf)(t)dt ≤∫ β

α

∣∣ Re (cf)(t)∣∣dt

≤∫ β

α

∣∣cf(t)∣∣dt =

∫ β

α

∣∣f(t)∣∣dt ≤

∣∣β − α∣∣ max

α≤t≤β|f(t)|.

¤

Wir wollen diesen auf reellen Intervallen bekannten Integralbegriff nun auf all-gemeinere Kurven ausdehnen. Zuerst betrachten wir Intervalle, die aber jetzt nichtmehr auf der reellen Achse liegen mussen, sondern irgenwo und irgendwie in derkomplexen Ebene.

5So nennt man Zahlen der Form it mit t ∈ R.

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FUNKTIONENTHEORIE I 11

3.2. Definition. Unter einer geraden Strecke oder einfach einer Strecke odereinem Intervall in C verstehen wir eine Punktmenge der Form

(3.1) S(a, b) =

tb + (1− t)a∣∣∣ 0 ≤ t ≤ 1

,

wobei a und b zwei Punkte in C sind - die Endpunkte der Strecke S(a, b). Liegendie beiden Endpunkte auf der reellen Achse, so sind sie bereits durch die Ordnungs-relation der reellen Achse angeordnet. Im Allgemeinen ist das jedoch nicht der Fall,und wir haben zwei gleichberechtigete Moglichkeiten der Anordnung. Wir werdensagen, dass die Strecke S(a, b) gerichtet ist, wenn eine dieser beiden Moglichkei-ten, d.h. eines der geordneten Paare (a, b) oder (b, a), ausgezeichnet ist.6 Mit [a, b]bezeichnen wir die gerichtete Strecke, die durch die Wahl von (a, b) entsteht, undmit [b, a] bezeichnen wir die gerichtete Strecke, die durch die Wahl von (b, a) ent-steht. Mit dem Symbol [a, b] ist also das Paar

(S(a, b) , (a, b)

)gemeint und nicht

nur die Menge S(a, b). Der Einfachheit halber werden wir das Symbol [a, b] aberauch benutzen, um die Menge S(a, b) zu bezeichnen - aus dem Zusammenhang wirdklar sein, was gemeint ist.

Fur jede gerichtete Strecke [a, b] in C und jede stetige Funktion f : [a, b] → Cdefinieren wir

(3.2)∫

[a,b]

f :=∫

[a,b]

f(z) dz :=b− a

|b− a|

|b−a|∫

0

f

(a + t

b− a

|b− a|)

dt.

Dieses Integral entsteht also, indem man die Strecke [a, b] gemeinsam mit dervon ihr getragenen Funktion f auf das reelle Intervall [0, |b − a|] legt, und zwarso dass a auf 0 und b auf |b − a| zu liegen kommt, dann die mitbewegte Funktionf uber diesem Intervall integriert und das Integrationsergebnis mit der auf demEinheitskreis liegenden Zahl

b− a

|b− a|multipliziert, d.h. wenn man das Ingtegrationsergebnis als im Nullpunkt beginnen-den Vektor interpretiert und um den Winkel dreht, den b− a mit der reellen Achsebildet. Unmittelbar aus der Definition dieses Integrals folgt

(3.3)∫

[a,b]

f =∫

[a,c]

f +∫

[c,b]

f , falls c ∈ [a, b],

fur alle a, b ∈ C und jede stetige Funktion f : [a, b] → C. Weiter erhalt man mit derSubstitution t → |b− a| − t die Beziehung

∫ |b−a|

0

f

(a + t

b− a

|b− a|)

dt = −∫ 0

|b−a|f

(a +

(|b− a| − t) b− a

|b− a|)

dt

= −∫ 0

|b−a|f

(b− t

b− a

|b− a|)

dt =∫ |a−b|

0

f

(b + t

a− b

|a− b|)

dt,

6Mit (a, b) ist also das geordnete Paar und nicht etwa das gerichtete offene Intervallta + (1− t)b

∣∣∣ 0 < t < 1

gemeint. Letzteres werden wir (sofern es auftauchen sollte) mit ]a, b[

bezeichnen.

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12 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

und somit

(3.4)∫

[a,b]

f = −∫

[b,a]

f

fur alle a, b ∈ C und jede stetige Funktion f : [a, b] → C. Aus Satz 3.1 folgt dieAbschatzung

(3.5)

∣∣∣∣∣∣∣

[a,b]

f

∣∣∣∣∣∣∣≤ |b− a|

[a,b]

|f | ≤ |b− a| maxζ∈S[a,b]

∣∣f(ζ)∣∣.

fur alle a, b ∈ C und jede stetige Funktion f : [a, b] → C.Nun verallgemeinern wir das auf beliebige Polygonzuge.

3.3. Definition. Unter einem Polygonzug verstehen wir sowohl ein n-Tupelp1, . . . , pn von Punkten aus C als auch das Paar, welches aus diesem n-Tupel undder Menge

(3.6)n−1⋃

j=1

[pj , pj+1] =n−1⋃

j=1

S(pj , pj+1)

(vgl. (3.1)) besteht. Fur beides benutzen wir die Bezeichnung [p1, . . . , pn]. (Aus demZusammenhang wird klar sein, was gemeint ist.) p1 heißt Anfangspunkt, und pn

heißt Endpunkt von [p1, . . . , pn].Ein Polygonzug [p1, . . . , pn] heißt geschlossen, falls p1 = pn.Ist U eine Teilmenge von C und P = [p1, . . . , pn] ein Polygonzug, so werden wir

sagen, dass P in U verlauft oder dass P ein Polygonzug in U ist, falls P ⊆ Ugilt, d.h. falls die Menge (3.6) in U enthalten ist.

Ist [p1, . . . , pn] ein Polygonzug und f : [p1, . . . , pn] → C eine stetige Funktion(wobei mit dieser Schreibweise gemeint ist, dass die Menge (3.6) das Definitionsge-biet von f ist), so definieren wir

(3.7)∫

[p1,...,pn]

f :=∫

[p1,...,pn]

f(z) dz :=n−1∑

j=1

[pj ,pj+1]

f.

Ist [p1, . . . , pn] eine Polygonzug in C, so bezeichnet man die Zahl

∣∣[p1, . . . , pn]∣∣ :=

n−1∑

j=1

|pj+1 − pj |

als die Lange von P . Aus der Abschatzung 3.5 folgt dann unmittelbar, dass furjeden Polygonzug [p1, . . . , pn] in C und jede stetige Funktion f : [p1, . . . , pn] → Cgilt:

(3.8)

∣∣∣∣∣∫

[p1,...,pn]

f

∣∣∣∣∣ ≤∣∣[p1, . . . , pn]

∣∣ maxζ∈[p1,...,pn]

∣∣f(ζ)∣∣.

Besonders interessant sind die geschlossen Polygonzuge der Form [a, b, c, a], diewir als Dreicke oder als orientierte Dreiecke bezeichnen, denn die Punkte a, b, c

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FUNKTIONENTHEORIE I 13

bestimmen ein Dreieck mit den gerichteten Strecken [a, b], [b, c] und [c, a] als Sei-ten. Fur jedes Dreieck [a, b, c, a] bezeichnen wir die dazugehorige abgeschlosseneDreiecksflache mit F ([a, b, c, a]) oder F [a, b, c, a], d.h.

(3.9) F [a, b, c, a] :=

ra + sb + tc∣∣∣ r, s, t ∈ [0, 1] , r + s + t = 1

.

Fundamental fur die Funktionentheorie ist das folgende

3.4. Theorem (Cauchyscher Integralsatz fur Dreiecke). Sei f : U → C eine holo-morphe Funktion, U ⊆ C offen. Ist dann [a, b, c, d] ein Dreieck mit

(3.10) F [a, b, c, a] ⊆ U,

so gilt

(3.11)∫

[a,b,c,a]

f = 0.

Bevor wir dieses Theorem beweisen, betrachten wir einen einfachen Spezialfall,der sofort aus dem Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung folgt. Wirbeginnen mit folgender

3.5. Definition. Ist f : U → C eine holomorphe Funktion, U ⊆ C offen, so verstehtman unter einer Stammfunktion von f eine holomorphe Funktion F : U → C mitF ′ = f auf U .

Da eine holomorphe Funktion, deren komplexe Ableitung uberall verschwindet,lokal konstant ist (Folgerung 2.4), ist die Differenz zweier Stammfunktionen dersel-ben holomorphen Funktion f stets lokal konstant.

Wie wir spater sehen werden, besitzt nicht jede holomorphe Funktion eineStammfunktion. Trivial (aber trotzdem wichtig fur den Beweis des CauchyschenIntegralsatzes) ist die Bemerkung, dass jedes Polynom a0 + a1z + . . . + anzn eineStammfunktion besitzt, namlich (zum Beispiel) das Polynom

a0z +12a1z

2 + . . . +1

n + 1anzn+1.

Wir benotigen nun auch die folgende Variante der Kettenregel:

3.6. Lemma. Sei f : U → C eine holomorphe Funktion, U ⊆ C offen, und seiγ : [α, β] → U eine stetig differenzierbare Funktion, α, β ∈ R, α < β. Dann ist f γstetig differenzierbar auf [α, β] und fur alle t ∈ [α, β] gilt

(3.12) (f γ)′(t) = γ′(t) · (f ′ γ)(t).

Beweis. Durch eine einfache Modifizierung des Beweises von Satz 1.6 (die wir unshier sparen) zeigt man zuerst, dass die Funktion f γ in jedem Punkt t ∈ [α, β]differenzierbar ist und dass (3.12) gilt. Die Stetigeit von (f γ)′ folgt dann wegender Stetigkeit von f ′, γ und γ′ aus (3.12). ¤

3.7. Lemma. Sei f : U → C eine holomorphe Funktion, die auf U eine Stamm-funktion F besitzt, U ⊆ C offen. Dann gilt fur je zwei Punkte a, b mit [a, b] ⊆ U

[a,b]

f = F (b)− F (a).

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14 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

Beweis. Nach dem vorangegangenen Lemma ist

ϕ(t) := F

(a + t

b− a

|b− a|)

, t ∈ [0, |b− a|],

eine stetig differenzierbare Funktion auf[0 , |b− a|] mit der Ableitung

ϕ′(t) =b− a

|b− a|f(

a + tb− a

|b− a|)

.

Daraus folgt∫

[a,b]

f =b− a

|b− a|∫ |b−a|

0

f

(a + t

b− a

|b− a|)

dt =∫ |b−a|

0

ϕ′(t)dt,

und weiter, mit dem Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung (der naturlichauch fur komplex-wertige Funktionen gilt),

[a,b]

f = ϕ(|b− a|)− ϕ(0) = F (b)− F (a).

¤

Aus dem vorangegangenen Lemma erhalt man nun sofort:

3.8. Folgerung. Sei f : U → Ceine holomorphe Funktion, U ⊆ C offen, die auf Ueine Stammfunktion F besitzt. Dann gilt fur jeden Polygonzug [p1, . . . , pn] ⊆ U

[p1,...,pn]

f = F (pn)− F (p1).

Insbesondere gilt fur jeden geschlossenen Polygonzug [p1, . . . , pn−1, p1] ⊆ U∫

[p1,...,pn−1,p1]

f = 0.

Beweis von Theorem 3.4. Wir setzen zur Abkurzung D0 = [a, b, c, a] und un-terteilen das Dreieck D0 wie folgt in 4 kongruente Teildreicke D1

0, D20, D3

0, D40: Wir

bilden die drei Mittelpunkte

A :=b

2+

c

2, B :=

a

2+

c

2, C :=

a

2+

b

2der Seiten von D0 und setzen D1

0 := [a,C, B, a], D20 := [C, b,A, C], D3

0 :=[A, c,B, A] und D4

0 := [C, A, B,C]. Dann gilt offenbar

F (D0) = F (D10) ∪ F (D2

0) ∪ F (D30) ∪ F (D4

0)

und aufgrund der Voraussetzung F (D0) ⊆ U (ohne die die Behauptung des Theo-rems nicht gilt, wie wir spater sehen werden) sind alle Seiten dieser 4 Dreiecke inU enthalten. Wir konnen deswegen f auch uber diese 4 orientierten Teildreieckeintegrieren. Aus den Formeln (3.3) und (3.4) folgt dann

D0

f =∫

D10

f +∫

D20

f +∫

D30

f +∫

D40

f.

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FUNKTIONENTHEORIE I 15

Mindestens eins der 4 rechts stehenden Integrale muss dann mindestens so grosswie ein Viertel des links stehenden Integrals sein, d.h. es gibt ein j ∈ 1, 2, 3, 4 mit

∣∣∣∣∣∣

D0

f

∣∣∣∣∣∣≤ 4

∣∣∣∣∣∣∣

Dj0

f

∣∣∣∣∣∣∣.

Wir setzenD1 := Dj

0

und notieren, dass fur dieses Dreieck gilt:∣∣∣∣∣∣

D0

f

∣∣∣∣∣∣≤ 4

∣∣∣∣∣∣

D1

f

∣∣∣∣∣∣, F (D1) ⊆ F (D0) und

∣∣D1

∣∣ =12

∣∣D0

∣∣.

Wir verfahren nun mit dem Dreieck D1 genauso wie eben mit D0. Das ergibt einDreieck D2 mit∣∣∣∣∣∣

D1

f

∣∣∣∣∣∣≤ 4

∣∣∣∣∣∣

D2

f

∣∣∣∣∣∣, F (D2) ⊆ F (D1) und

∣∣D2

∣∣ =12

∣∣D1

∣∣.

Die Fortsetzung dieser Prozedur (vollstandige Induktion) ergibt eine Folge von Drei-ecken

(Dj)j∈N mit D0 = [a, b, c, a],

(3.13)

∣∣∣∣∣∣

Dn

f

∣∣∣∣∣∣≤ 4

∣∣∣∣∣∣∣

Dn+1

f

∣∣∣∣∣∣∣n ∈ N,

(3.14)∣∣Dn+1

∣∣ =12

∣∣Dn

∣∣ , n ∈ N,

und

(3.15) F (Dn+1) ⊆ F (Dn) , n ∈ N.

Fur unser Ausgangsdreieck D0 = [a, b, c, a] erhalt man aus (3.13) und (3.14) dieAbschatzungen

(3.16)

∣∣∣∣∣∣∣

[a,b,c,a]

f

∣∣∣∣∣∣∣≤ 4n

∣∣∣∣∣∣

Dn

f

∣∣∣∣∣∣, n ∈ N,

und

(3.17)∣∣Dn

∣∣ =12n

∣∣D0

∣∣ , n ∈ N.

Aus (3.15) und (3.17) folgt nun die Existenz genau eines Punktes z0 ∈ F (a, b, c, a)mit

(3.18) z0 =∞⋂

n=0

F (Dn).

In der Tat, wahlt man fur jedes n einen Punkt wn ∈ F (Dn), so erhalt man wegen(3.15) und (3.17) eine Cauchy-Folge

(wn

)n∈N, denn nach (3.17) konvergiert die

Folge der Summen der Seitenlangen von Dn gegen null, weswegen offenbar auch dieFolge der Durchmesser von F (Dn) gegen null geht. Da C vollstandig ist, muss diese

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16 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

Folge gegen ein z0 ∈ C konvergieren, und, da die Folge(wn

)n∈N wegen (3.15) von

einer Stelle ab in jeder der Dreiecksflachen F (Dn) liegt und diese Dreiecksflachenabgeschlossen sind, muss auch der Grenzwert z0 in jedem F (Dn) liegen. Fur diesesz0 gilt also die Richtung ”⊆” in (3.18). Dass man sogar Gleichheit hat, folgt daraus,dass die Durchmesser der F (Dn) gegen null konvergieren.

Da die Funktion f in diesem Punkt z0 komplex differenzierbar ist, gilt

limz→z0

∣∣∣∣f(z)− f(z0)

z − zo− f ′(z0)

∣∣∣∣ = 0.

(An dieser Stelle des Beweises - und nur hier - benutzen wir, dass f holomorph ist.)Da die Durchmesser der F (Dn) gegen null konvergieren und z0 zu jedem F (Dn)gehort, folgt daraus

(3.19) εn := supz∈F (Dn) , z 6=z0

∣∣∣∣f(z)− f(z0)

z − zo− f ′(z0)

∣∣∣∣ −→ 0

fur n →∞. Aus der Definition von εn folgt∣∣∣f(z)− f(z0)− f ′(z0)(z − z0)

∣∣∣ ≤ εn|z − z0| fur alle z ∈ F (Dn) , n ∈ N.

Da z0 ∈ F (Dn) und somit |z − z0| ≤ |Dn| gilt fur alle z ∈ F (Dn) und n ∈ N (dennder Durchmesser von Dn ist offenbar ≤ dem Umfang |Dn|), folgt weiter

(3.20)∣∣∣f(z)− f(z0)− f ′(z0)(z − z0)

∣∣∣ ≤ εn|Dn| fur alle z ∈ F (Dn) , n ∈ N.

Da komplexe Polynome eine Stammfunktion haben, gilt nach Folgerung 3.8 au-ßerdem

(3.21)∫

Dn

(f(z0) + f ′(z0)(z − z0)

)dz = 0 fur alle n ∈ N.

Daraus folgt mit (3.16)∣∣∣∣∣∣∣

[a,b,c,a]

f

∣∣∣∣∣∣∣≤ 4n

∣∣∣∣∣∣

Dn

(f(z)− f(z0)− f ′(z0)(z − z0)

)dz

∣∣∣∣∣∣.

Mit (3.8) und (3.20) erhalt man weiter∣∣∣∣∣∣∣

[a,b,c,a]

f

∣∣∣∣∣∣∣≤ 4n|Dn| max

z∈Dn

∣∣∣f(z)− f(z0)− f ′(z0)(z − z0)∣∣∣ ≤ 4n|Dn|2εn.

Mit (3.17) erhalt man daraus schließlich:∣∣∣∣∣∣∣

[a,b,c,a]

f

∣∣∣∣∣∣∣≤ |D0| εn fur alle n ∈ N.

Wegen εn → 0 ist das nur moglich, wenn das links stehende Integral verschwindet.¤

Eine erste wichtige Konsequenz des Cauchyschen Integralsatzes fur Dreiecke istdie Existenz von Stammfunktionen auf sternformigen Gebieten.

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FUNKTIONENTHEORIE I 17

3.9. Definition. Eine Menge U ⊆ C heißt sternformig, wenn es einen Punktz0 ∈ U gibt, so dass fur jeden Punkt z ∈ U die Strecke [z0, z] in U enthalten ist.

3.10. Satz. Sei U ⊆ C eine sternformige offene Menge. Dann besitzt jede auf Udefinierte holomorphe Funktion auf U eine Stammfunktion.

Beweis. Sei z0 ∈ U wie in Definition 3.9, und sei f : U → C holomorph. Dann istdurch

F (z) :=∫

[z0,z]

f , z ∈ U,

eine Funktion F : U → C korrekt definiert. Es stellt sich heraus, dass dieses F eineStammfunktion von f ist. Dazu mussen wir zeigen, dass fur jedes w ∈ U

(3.22) limz→w

F (z)− F (w)z − w

= f(w)

gilt. Sei w ∈ U gegeben. Wir wahlen ein ε > 0, so dass Kε(w) ⊆ U . Dann istfur jedes z ∈ Kε(w) die gesamte Flache des Dreiecks [z0, w, z, z0] in U enthalten.Daraus folgt mit dem Cauchyschen Integralsatz fur Dreiecke und (3.4)

0 =∫

[z0,w]

f +∫

[w,z]

f +∫

[z,z0]

f = F (w)− F (z) +∫

[w,z]

f

und somitF (z)− F (w)

z − w=

1z − w

[w,z]

f =1

z − w

[w,z]

f(w) +1

z − w

[w,z]

(f − f(w)

)

fur alle z ∈ Kε(w) mit z 6= w. Da, wie man direkt an der Definition (3.2) desIntegrals sieht,

∫[w,z]

1 = z − w gilt, folgt daraus

F (z)− F (w)z − w

=1

z − w

[w,z]

f = f(w) +1

z − w

[w,z]

(f − f(w)

),

was mit der Abschatzung (3.8)∣∣∣∣F (z)− F (w)

z − w− f(w)

∣∣∣∣ ≤ maxζ∈[w,z]

∣∣f(ζ)− f(w)∣∣

ergibt. Da f holomorph und somit stetig ist, folgt daraus (3.22). ¤Mit Folgerung 3.8 erhalt man daraus unmittelbar:

3.11. Folgerung. Seien U eine sternformige offene Menge, f : U → C eine holo-morphe Funktion und [p1, . . . , pn] ein Polygonzug in U , der geschlossen ist, d.h. furden p1 = pn gilt. Dann gilt ∫

[p1,...,pn]

f = 0.

3.12. Folgerung. Ist U eine sternformige offene Menge und ist f : U → C eineholomorphe Funktion, so gilt fur je zwei Polygonzuge [p1, . . . , pn] und [q1, . . . , qm]in U mit gleichem Anfangs- und Endpunkt, d.h. p1 = q1 und pn = qm,

(3.23)∫

[p1,...,pn]

f =∫

[q1,...,qm]

f.

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18 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

Beweis. Unmittelbar aus der Definitionsgleichung (3.7) folgt∫

[p1,...,pn,qm−1,...,q1]

f =∫

[p1,...,pn]

f +∫

[pn,qm−1,...,q1]

f.

Nach Folgerung 3.11 ist das links stehende Integral gleich null, denn p1 = q1.Außerdem ist ∫

[pn,qm−1,...,q1]

f =∫

[qm,...,q1]

f,

denn pn = qm. Also gilt

0 =∫

[p1,...,pn]

f +∫

[qm,...,q1]

f.

Da wegen (3.4) ∫

[qm,...,q1]

f = −∫

[q1,...,qm]

f

ist, folgt daraus (3.23). ¤

4. Die Integration holomorpher Funktionen langs beliebigerstetiger Kurven

Unter einer stetigen Kurve (oder einem stetigen Weg) verstehen wir einebeliebige stetige Abbildung γ : [α, β] → C, wobei α, β ∈ R und α ≤ β. Ist diese Ab-bildung stetig differenzierbar, so heißt γ stetig differenzierbare Kurve, und istsie stuckweise stetig differenzierbar, so heißt sie stuckweise stetig differenzierbar.Ist γ : [α, β] → C eine stetige Kurve, so definieren wir:

• γ(α) heißt Anfangspunkt und γ(β) heißt Endpunkt von γ.• γ heißt geschlossen, wenn γ(α) = γ(β).• Die Menge γ([α, β]) :=

γ(t)

∣∣ α ≤ t ≤ β

heißt Bild von γ.• Ist U eine Teilmenge von C, so werden wir sagen, dass γ in U verlauft

oder in U enthalten ist, falls γ([α, β]) ⊆ U . Wir schreiben dafur aucheinfach γ ⊆ U .

• Wir sagen, dass U eine Umgebung von γ ist, wenn U eine Umgebungvon γ([α, β]) ist.7

• Unter einer Zerlegung des Intervalls [α, β] (oder der Kurve γ) verstehenwir ein n-Tupel (t1, . . . , tn) von Zahlen mit α = t1 ≤ t2 ≤ . . . ≤ tn = β. Ist(t1, . . . , tn) eine Zerlegung von [α, β], so heißt die Zahl

max1≤j≤n−1

(tj+1 − tj)

die Feinheit von (t1, . . . , tn).• Sind (t1, . . . , tn) und (s1, . . . , sm) Zerlegungen von [α, β], so heißt

(s1, . . . , sm) Verfeinerung von (t1, . . . , tn), falls fur jedes 1 ≤ k ≤ n ein1 ≤ j ≤ m existiert mit sj = tk.8

7Wenn nicht ausdrucklich etwas anderes gesagt wird, so meinen wir mit Umgebung stets eineoffene Umgebung.

8Der Fall, dass die beiden Zerlegungen gleich sind, ist dabei nicht ausgeschlossen.

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FUNKTIONENTHEORIE I 19

• Ist γ : [α, β] → C eine stetige Kurve und U ⊆ C eine Umgebung von γ, sosetzen wir

(4.1) dist(γ,C \ U

)=

minα≤t≤β , z∈C\U

|z − γ(t)| falls U 6= C∞ falls U = C.

Dieses dist (γ,C \U) bezeichnen wir als Abstand von γ zum Rand vonU . Wir notieren, dass stets dist (γ,C \ U) > 0 gilt.

4.1. Definition. Sei γ : [α, β] → C eine stetige Kurve und U ⊆ C eine Umgebungvon γ, und sei ε > 0. Wir werden sagen, dass ε bezuglich γ und U hinreichendklein ist, falls9

∣∣γ(s)− γ(t)∣∣ <

12

dist(γ,C \ U

)fur alle α ≤ s, t ≤ β mit |s− t| ≤ ε.

Eine Zerlegung (t1, . . . , tn) des Intervalls [α, β] heißt hinreichend fein bezuglichγ und U , falls ihre Feinheit hinreichend klein ist bezuglich γ und U .

4.2. Bemerkung. Fur jede stetige Kurve γ : [α, β] → C und jede UmgebungU ⊆ C von γ existiert ein ε0 > 0, so dass jedes ε mit 0 < ε ≤ ε0 hinreichend kleinist bezuglich γ und U . Das folgt daraus, dass γ auf [α, β] sogar gleichmaßig stetigist (als stetige Funktion auf einem Kompaktum).

Fur 0 ≤ r ≤ ∞ und a ∈ C setzen wir

Kr(a) =

z ∈ C∣∣∣ |z − a| < r

und Kr(a) =

z ∈ C

∣∣∣ |z − a| ≤ r

.

4.3. Lemma. Sei γ : [α, β] → C eine stetige Kurve, und U eine Umgebung von γ.Weiter sei (t1, . . . , tn) eine Zerlegung von [α, β], die bezuglich γ und U hinreichendfein ist, und sei aj := γ(tj), 1 ≤ j ≤ n. Dann verlauft der Polygonzug [a1, . . . , an]in U und, mehr noch, fur jedes 1 ≤ j ≤ n− 2 gilt

(4.2) F [aj , aj+1, aj+2, aj ] ⊆ U,

wobei F [aj , aj+1, aj+2, aj ] die abgeschlossene Flache des Dreiecks [aj , aj+1, aj+2, aj ]ist (vgl. (3.9)).

Beweis. Sei 1 ≤ j ≤ n− 2 gegeben. Nach Voraussetzung ist die Zahl

ε := max1≤ν≤n−1

(tν+1 − tν

)

hinreichend klein bezuglich γ und U (Def. 4.1). Daraus folgt insbesondere, dass∣∣aj − aj+1

∣∣ =∣∣γ(tj)− γ(tj+1)

∣∣ < dist (γ,C \ U)

und ∣∣aj+2 − aj+1

∣∣ =∣∣γ(tj+2)− γ(tj+1)

∣∣ < dist (γ,C \ U)gilt, d.h.

aj , aj+1, aj+2

⊆ Kdist (γ,C\U)(aj+1).Da die Kreisscheibe Kdist (γ,C\U)(aj+1) konvex ist und da F [aj , aj+1, aj+2, aj ] diekonvexe Hulle der Punkte aj , aj+1, aj+2 ist (vgl. Def. (3.9)), folgt daraus weiter,dass

F [aj , aj+1, aj+2, aj ] ⊆ Kdist (γ,C\U)(aj+1).

9Den Faktor 1/2 vor dist(γ,C \ U

)konnte man auch weglassen. Sowohl in diesem Abschnitt

4 als auch im folgenden Abschnitt 5 spielt er keine Rolle. Nur der Beweis von Theorem 6.2, demCauchyschen Integralsatz fur beliebige nullhomotope Kurven, wurde technisch etwas komplizierter.

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20 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

Da aj+1 auf der Kurve γ liegt und somit, nach Definition von dist (γ, U),

Kdist (γ,C\U)(aj+1) ⊆ U

gilt, folgt daraus die Behauptung (4.2). ¤

4.4. Satz. Es sei γ : [α, β] → C eine stetige Kurve und U eine Umgebung vonγ. Weiter seien (t1, . . . , tn) und (s1, . . . , sm) zwei Zerlegungen von [α, β], die beidebezuglich γ und U hinreichend fein sind, und f : U → C sei eine holomorpheFunktion. Nach Lemma 4.3 verlaufen dann die Polygonzuge [γ(t1), . . . , γ(tn)] und[γ(s1), . . . , γ(sm)] beide in U , weswegen die Integrale

[γ(t1),...,γ(tn)]

f und∫

[γ(s1),...,γ(sm)]

f

wohldefiniert sind. Es gilt (Behauptung dieses Satzes)

(4.3)∫

[γ(t1),...,γ(tn)]

f =∫

[γ(s1),...,γ(sm)]

f.

Beweis . Da man fur je zwei Zerlegungen von [α, β] eine Zerlegung finden kann, diefeiner ist als beide, konnen wir o.B.d.A. annehmen, dass eine der beiden Zerlegungenfeiner ist als die andere. Da man von der feineren Zerlegung zu der weniger feinenkommen kann (wenn sie nicht schon gleich sind), indem man nacheinander endlichviele Punkte weglasst, genugt es den folgenden Fall zu betrachten: m = n + 1,t1 < . . . < tn, s1 < . . . < sn+1 und es gibt ein 2 ≤ j ≤ n mit

α = t1 = s1 < . . . < tj−1 = sj−1 < sj < tj = sj+1 < . . . < tn = sn+1 = β.

Dann gilt

[γ(t1),...,γ(tn)]

f −∫

[γ(s1),...,γ(sm)]

f =

γ(tj)=γ(sj+1)∫

γ(tj−1)=γ(sj−1)

f −γ(sj)∫

γ(tj−1)=γ(sj−1)

f −γ(tj)=γ(sj+1)∫

γ(sj)

f

=∫

[γ(sj−1),γ(sj+1),γ(sj),γ(sj−1)]

f = 0,

wobei das letzte Gleichheitszeichen aus dem Cauchyschen Integralsatz fur Dreiecke(Theorem 3.4) folgt, denn die Zerlegung (s1, . . . , sn+1) ist hinreichend fein bezuglichγ und U und folglich gilt nach Lemma 4.3

F [γ(sj−1), γ(sj+1), γ(sj), γ(sj−1)] ⊆ U.

¤

4.5. Definition. Aus Satz 4.4 folgt, dass man fur jede stetige Kurve γ : [α, β] → C,jede Umgebung U von γ und jede holomorphe Funktion f : U → C das Integral

γ

f =∫

γ

f(z)dz

wie folgt korrekt definieren kann: Man wahle eine Zerlegung (t1, . . . , tn) des Inter-valls [α, β], die bezuglich γ und U hinreichend fein ist (nach Bemerkung 4.2 gibt es

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FUNKTIONENTHEORIE I 21

solche Zerlegungen), und setze∫

γ

f =∫

[γ(t1),...,γ(tn)]

f .

Aus dieser Definition, Folgerung 3.8 und Satz 3.10 ergibt sich unmittelbar:

4.6. Satz. Sei f : U → C eine holomorphe Funktion, U ⊆ C offen. Besitzt f auf Ueine Stammfunktion F (was z.B. stets der Fall ist, wenn U sternformig ist), so giltfur jede stetige Kurve γ : [α, β] → U∫

γ

f = F(γ(β)

)− F(γ(α)

)

und somit ∫

γ

f = 0, falls γ geschlossen ist.

Wir notieren nun noch einige weitere einfache Eigenschaften des oben eingefuhr-ten Integralbegriffs.

Aus der Definition ist sofort klar, dass die Formel (3.3) die folgende Verallgemei-nerung zulasst: Ist γ : [α, β] → C eine stetige Kurve, U eine Umgebung von γ undf : U → C holomorph, so gilt

(4.4)∫

γ

f =∫

γ∣∣[α,λ]

f +∫

γ∣∣[λ,β]

f fur alle λ ∈ [α, β].

Die Beziehung (3.4) kann man wie folgt verallgemeinern: Ist γ : [α, β] → C einestetige Kurve, so bezeichnen wir mit γ− die durch

(4.5) γ−(t) = γ(α + β − t) , t ∈ [α, β],

eine stetige Kurve γ−. Diese Kurve hat das gleiche Bild wie γ, aber es gilt γ−(α) =γ(β) und γ−(β) = γ(α). (γ− ”durchlauft” das Bild von γ in umgekehrter Richtung.)Fur die so definierte Kurve γ− gilt dann offenbar

(4.6)∫

γ

f = −∫

γ−

f.

5. Eine wichtige Formel zur Berechnung des Integrals holomorpherFunktionen langs stuckweise stetig differenzierbarer Kurven

Die oben gegebene Definition 4.4 des Integrals holomorpher Funktionen langseiner stetigen Kurve ist, von Ausnahmen abgesehen, zur konkreten Berechnungeines Integrals nicht geeignet. Betrachten wir z.B. eine Kreislinie

∂Kr(a) :=

ζ ∈ C∣∣∣ |ζ − a| = r

,

wobei a ∈ C und 0 < r < ∞. Es gibt viele stetige Kurven, deren Bild ∂Kr(a) ist.10

Normalerweise benutzt man die Kurve γr,a : [0, 2π] → C, die durch

(5.1) γr,a(t) := a + reit , 0 ≤ t ≤ 2π,

10Man nennt solche Kurven Parametrisierungen von ∂Kr(a).

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22 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

definiert ist.11 Wir werden fur diese Kurve in dieser Vorlesung die selbsterklarendeBezeichnung ”|z − a| = r” benutzen. Ist f eine holomorphe Funktion in einerUmbegung von ∂Kr(a), so ist also

(5.2)∫

|z−a|=r

f :=∫

γr,a

f.

Eine besonders wichtige Rolle spielen in der Funktionentheorie die Integrale

(5.3)∫

|z−a|=r

(z − a)ndz,

wobei n ∈ Z, a ∈ C und r > 0. Fur n 6= −1 sieht man wegen Satz 4.6 auchohne Rechnen, was herauskommt, denn dann besitzt (z − a)n auf C \ a eineStammfunktion. Zum Beispiel

(z − a)n+1

n + 1ist eine solche Stammfunktion. Mit Satz 4.6 folgt daraus, dass

(5.4)∫

|z−a|=r

(z − a)ndz = 0 fur alle a ∈ C, r > 0 und n ∈ Z mit n 6= −1.

Nicht so einfach ist es im Fall n = −1, wo, wie wir sehen werden, 2πi herauskommt.Eine gute Moglichkeit zur Berechnung dieses Integrals liefert der folgende allgemeineSatz:

5.1. Satz. Sei γ : [α, β] → C eine stuckweise stetig differenzierbare Kurve. Danngilt fur jede holomorphe Funktion f : U → C, die in einer Umgebung U von γdefiniert ist, ∫

γ

f =∫ β

α

(f γ) γ′. 12

Beweis. Sei (t1, . . . , tn) eine Zerlegung von [α, β], die bezuglich γ und U hinrei-chend fein ist. Da γ stuckweise stetig differenzierbar ist, kann man nach evetuellerHinzunahme weiterer Punkte außerdem voraussetzen, dass γ auf jedem [tj , tj+1],1 ≤ j ≤ n− 1, stetig differenzierbar ist. Dann gilt (nach Definition 4.1)

(5.5)∫

γ

f =∫

[γ(t1),...,γ(tn)]

f =n−1∑

j=1

∫ γ(tj+1)

γ(tj)

f

Seid := dist

(γ,C \ U

).

11Wer die Funktion eit, t ∈ R, noch nicht kennt, kann hier die Eulersche Formel eit = cos t +i sin t als Definition von eit benutzen. Wegen sin′ t = cos t und cos′ t = − sin t sieht man dannauch, dass eit differenzierbar ist und ieit als Ableitung hat.

12Dabei ist das rechts stehende Integral wie folgt zu verstehen: Da die Kurve γ stuckweisestetig differenzierbar ist, gibt es Punkte α = t1 < t2 < . . . < tk = β, so dass γ auf jedem [tj , tj+1],

1 ≤ j ≤ k − 1, stetig differenzierbar ist, weswegen die Integrale∫ tj+1

tj(f γ) γ′, 1 ≤ j ≤ k − 1,

wohldefiniert sind. Man definiert dann∫ β

α(f γ) γ′ =

k−1∑

j=1

∫ tj+1

tj

(f γ) γ′.

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FUNKTIONENTHEORIE I 23

Da, nach Voraussetzung, (t1, . . . , tn) bezuglich γ und U hinreichend fein ist, sinddie Zahlen tj+1 − tj , 1 ≤ j ≤ n hinreichend klein bezuglich γ und U , d.h. (vgl.Definition 4.1)

∣∣γ(tj)− γ(tj+1)∣∣ <

d

2fur 1 ≤ j ≤ n− 1.

Daraus folgt

(5.6) γ(tj+1

) ∈ Kd

(γ(tj)

)fur 1 ≤ j ≤ n− 1.

Nach Definition von d sind die Kreisscheiben Kd

(γ(tj)

), 1 ≤ j ≤ n−1, in U enthal-

ten und nach Satz 3.10 besitzt f auf jeder dieser Kreisscheiben eine StammfunktionFj . Da wegen (5.6) der Punkt γ(tj+1) und damit das ganze Intervall [γ(tj), γ(tj+1)]in Kd

(γ(tj)

)enthalten ist, folgt aus Lemma 3.7

(5.7)∫ γ(tj+1)

γ(tj)

f = Fj

(γ(tj+1)

)− Fj

(γ(tj)

)fur 1 ≤ j ≤ n− 1.

Andererseits ist wegen (5.6) auf jedem der Intervalle [tj , tj+1], 1 ≤ j ≤ n − 1, dieFunktion Fj γ wohldefiniert und (nach Lemma 3.6) stetig differenzierbar, wobei

(Fj γ)′ = (F ′j γ)γ′ = (f γ)γ′.

Daraus folgt mit dem Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung

Fj

(γ(tj+1)

)− Fj

(γ(tj)

)=

∫ tj+1

tj

(f γ

)γ′ , 1 ≤ j ≤ n− 1.

Zusammen mit (5.5) und (5.7) ergibt das∫

γ

f =n−1∑

j=1

∫ tj+1

tj

(f γ

)γ′ =

∫ β

α

(f γ

)γ′.

¤

5.2. Satz. Fur alle a ∈ C und 0 < r < ∞ gilt:

(5.8)∫

|z−a|=r

dz

z − a= 2πi

und

(5.9)∫

|z−a|=r

dz

(z − a)n= 0 fur alle n ∈ Z mit n 6= 1.

Beweis. (5.9) ist identisch mit (5.4). Wir mussen also nur (5.8) beweisen. NachDefinition des Integrals

∫|z−a|=r

dz/(z − a) und Satz 5.1 (und der Kettenregel ausLemma 3.6) gilt

|z−a|=r

dz

z − a=

2π∫

0

γ′r,a(t)γr,a(t)− a

dt =

2π∫

0

rieit

reitdt = i

2π∫

0

dt = 2π.

¤

Außerdem liefert Satz 5.1 eine Moglichkeit, im Fall stetig differenzierbarer Kur-ven das Integral auch fur beliebige stetige Funktionen zu definieren:

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24 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

5.3. Definition. Sei γ : [α, β] → C eine stetig differenzierbare Kurve und f :γ([α, β]) → C eine stetige Funktion. Dann definieren wir

(5.10)∫

γ

f =

β∫

α

(f γ)γ′.

Ist f holomorph in einer Umgebung von γ, so stimmt diese Definition nach Satz5.1 mit der fruher gegebenen Definition uberein.

Ist f eine stetige komplexwertige Funktion auf einer Kreislinie |z−a| = r, a ∈ C,r > 0, so schreiben wir wieder∫

|z−a|=r

f :=∫

γr,a

f , wobei γr,a(t) := a + reit fur 0 ≤ t ≤ 2π.

5.4. Definition. Fur jede stuckweise stetig differenzierbare Kurve γ : [α, β] → Cdefiniert man

(5.11) |γ| =β∫

α

|γ′(t)| dt.

Diese Zahl |γ| heißt die Lange von γ.

Man kann sich uberlegen, dass fur jede stuckweise stetig differenzierbare Kurveγ : [α, β] → C

|γ| = supn∑

j=1

∣∣γ(tj+1)− γ(tj)∣∣

gilt, wenn man das Supremum uber alle Zerlegungen (t1, . . . , tn) von [α, β] erstreckt.Falls γ bijektiv ist, stimmt also γ mit der geometrischen Lange von γ([α, β]) uberein.Wir verzichten hier auf den Beweis im allgemeinen Fall. Fur die Kreislinie ist dasaber sehr einfach, namlich: Ist a ∈ C und r > 0, so gilt

(5.12) |γr,a| =∫ 2π

0

|γ′r,a(t)|dt =∫ 2π

0

|ireit|dt = r

∫ 2π

0

= 2πr.

5.5. Satz. Fur jede stuckweise stetig differenzierbare Kurve γ : [α, β] → C und jedestetige Funktion f : γ([α, β]) → C gilt

(5.13)∣∣∣∣∫

γ

f

∣∣∣∣ ≤ |γ| maxz∈γ([α,β])

|f(z)|.

Insbesondere gilt: Ist f eine stetige komplexwertige Funktion auf einer Kreislinie|z − a| = r, a ∈ C, r > 0, so gilt

(5.14)

∣∣∣∣∣∫

|z−a|=r

f(z) dz

∣∣∣∣∣ ≤ 2πr max|z−a|=r

|f(z)|.

Beweis. Nach Definition 5.3 und Satz 3.1 gilt∣∣∣∣∣∣

γ

f

∣∣∣∣∣ =

∣∣∣∣∣∫ β

α

(f γ)γ′

∣∣∣∣∣∣≤

∫ β

α

(max

α≤t≤β

∣∣f(γ(t)

)∣∣)|γ′(t)| dt

≤ maxα≤t≤β

∣∣f(γ(t)

)∣∣∫ β

α

∣∣γ′(t)∣∣dt = |γ| max

z∈γ([α,β])|f(z)|.

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FUNKTIONENTHEORIE I 25

¤5.6. Folgerung. Sei γ : [α, β] → C eine stuckweise stetig differenzierbare Kurve,und sei (fn)n∈N eine Folge stetiger Funktionen fn : γ([α, β]) → C, die auf γ([α, β])gleichmaßig gegen eine Funktion f : γ([α, β]) → C konvergiert (die dann ebenfallsstetig ist - als gleichmaßiger Limes stetiger Funktionen). Dann gilt

limn→∞

γ

fn =∫

γ

f.

Beweis. Aus der Abschatzung (5.13) folgt∣∣∣∣∣∫

γ

fn −∫

γ

f

∣∣∣∣∣ =

∣∣∣∣∣∫

γ

(fn − f)

∣∣∣∣∣ ≤ maxz∈γ([α,β])

∣∣fn(z)− f(z)∣∣

β∫

α

|γ′(t)| dt.

Da nach Voraussetzung

limn→∞

maxz∈γ([α,β])

∣∣fn(z)− f(z)∣∣ = 0

gilt, folgt daraus die Behauptung. ¤

6. Der Cauchysche Integralsatz fur nullhomotope stetige Kurven

Hier beweisen wir insbesondere die folgenden beiden wichtigen Version desCauchyschen Integralsatzes:

6.1. Theorem (Cauchyscher Integralsatz fur Kreisscheiben). Sei Ka(r), a ∈ C, 0 <r < ∞, eine Kreisscheibe. Dann gilt fur jede in einer Umgebung der abgeschlossenenKreisscheibe Ka(r) definierte holomorphe Funktion

(6.1)∫

|z−z0|=r

f = 0.

6.2. Theorem (Cauchyscher Integralsatz fur Kreisringe). Seien Kr(a) und KR(b)zwei Kreisscheiben, a, b ∈ C, 0 < r < R < ∞, mit Kr(a) ⊆ KR(b). Dann gilt furjede in einer Umgebung von KR(b) \Kr(a) definierte holomorphe Funktion

(6.2)∫

|z−a|=r

f =∫

|z−b|=R

f.

Wir werden diese beiden Ausssagen als Spezialfallte eines sehr allgemeinen Sach-verhaltes erhalten. Dazu benotigen wir die folgende

6.3. Definition. Seien γ1, γ2 : [α, β] zwei geschlossene stetige Kurven, U ⊆ Coffen, −∞ < α < β < ∞ (die der Einfachheit halber auf dem gleichen Intervalldefiniert sein sollen). Wir werden sagen, dass diese beiden Kurven (zueinander) inU homotop sind, wenn es eine stetige Abbildung

H : [0, 1]× [α, β] −→ U

gibt mitH(s, α) = H(s, β) fur alle 0 ≤ s ≤ 1,

H(0, t) = γ1(t) und H(1, t) = γ2(t) fur alle α ≤ t ≤ β.

Diese Abbildung H nennt man dann eine in U verlaufende Homotopie zwischenγ1 und γ2.

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26 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

Eine geschlossene stetige Kurve in U heißt in U nullhomotop, wenn sie in Uhomotop zu einer konstanten Kurve ist, d.h. zu einer Kurve λ der Form λ(t) = c,t ∈ [α, β], wobei c irgendein fixierter Punkt in U ist.

Beispiel 1. Ist Kr(a) eine Kreisscheibe, a ∈ C, 0 < r < ∞, und U eine Umgebungder abgeschlossenen Kreisscheibe Kr(a), so ist die Kreislinie

γr,a(t) := a + reit , 0 ≤ t ≤ 2π,

offenbar nullhomotop in U .

Beispiel 2. Sind Kr(a) und KR(b) zwei Kreisscheiben, a, b ∈ C, 0 < r < R < ∞,mit Kr(a) ⊆ KR(b) und ist U eine Umgebung von KR(b) \ Kr(a), so sieht manleicht, dass die Kreislinien

γr,a(t) := a + reit , 0 ≤ t ≤ 2π,

undγR,b(t) := b + Reit , 0 ≤ t ≤ 2π,

in U homotop sind.Diese Beispiele zeigen, dass die Theoreme 6.1 und 6.2 Spezialfalle des folgenden

Theorems sind:

6.4. Theorem (Cauchyscher Integralsatz fur stetige Kurven). Sei f : U → C eineholomorphe Funktion, U ⊆ C offen. Dann gilt:

(i) Sind γ1, γ2 : [α, β] → U zwei geschlossene stetige Kurven, die in U homotopsind, so ist

(6.3)∫

γ1

f =∫

γ2

f.

(ii) Ist γ : [α, β] → U eine geschlossene stetige Kurve, die in U nullhomotop ist,so gilt

(6.4)∫

γ

f = 0.

Teil (ii) diese Theorems folgt sofort aus Teil (i), da das Integral uber einer kon-stanten Kurve gleich null ist. Den Beweis von Teil (i) fuhren wir in drei Schritten.Der erste Schritt ist das folgende Lemma.

6.5. Lemma. Sei f : U → C eine holomorphe Funktion, U ⊆ C offen. Weiter seiγ : [α, β] → U eine geschlossene stetige Kurve, und (t1, . . . , tn) sei eine Zerlegungvon [α, β], die bezuglich γ und U hinreichend fein ist (vgl. Definition 4.1). Wirsetzen zur Abkurzung

d = dist(γ,C \ U

)und aj = γ(tj) fur 1 ≤ j ≤ n.

Schließlich sei fur jedes 1 ≤ j ≤ n− 1 ein Punkt pj ∈ Kd/2

(aj

)beliebig gewahlt, so

dass pn := p1 gilt.Dann verlauft der geschlossenen Polygonzug [p1, . . . , pn] in U , und es gilt

(6.5)∫

[p1,...,pn]

f =∫

γ

f.

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FUNKTIONENTHEORIE I 27

Beweis. Wir zeigen zuerst, dass [p1, . . . , pn] in U verlauft. Dazu sei ein j ∈1, . . . , n− 1 gegeben. Dann gilt

pj ∈ Kd/2(aj)

undpj+1 ∈ Kd/2(aj+1).

Außerdem gilt, da die Zerlegung (t1, . . . , tn) hinreichend fein ist bezuglich γ und U ,

aj+1 ∈ Kd/2(aj).

Zusammen ergibt das, dass die Punkte pj und pj+1 beide in der Kreisscheibe Kd(aj)liegen. Folglich liegt auch die Strecke [pj , pj+1] in dieser Kreisscheibe. Da die Kreis-scheibe Kd(aj) nach Definition von d in U enthalten ist, ist damit gezeigt, dass dieStrecke [pj , pj+1] in U verlauft. Da dies fur alle j ∈ 1, . . . , n− 1 gilt, verlauft alsoder ganze Polygonzug [p1, . . . , pn] in U .

Um (6.5) zu zeigen, genugt es nun offenbar endlich oft die folgende Aussageanzuwenden:

Seien die Punkte p1, . . . , pn wie in der Formulierung des Lemmas gewahlt. Wei-ter sei fur ein j ∈ 1, . . . , n − 1 ein q ∈ Kd/2

(aj

)beliebig gegeben. Sei Q der

geschlossene Polygonzug, der aus [p1, . . . , pn] entsteht, wenn man pj durch q er-setzt und, falls j = 1 ist, auch pn durch q ersetzt. Dann verlauft auch Q in U undes gilt

(6.6)∫

[p1,...,pn]

f =∫

Q

f.

Dass Q in U verlauft, sieht man wie im Fall von [p1, . . . , pn]. Um (6.6) zu bewei-sen, beschranken wir uns auf den Fall j > 1. Dann gilt

(6.7)∫

[p1,...,pn]

f −∫

Q

f =

pj∫

pj−1

f +

pj−1∫

pj

f −q∫

pj−1

f −pj+1∫

q

f =∫

[pj−1,pj ,pj+1,q,pj−1]

f

Wegenpj−1 ∈ Kd/2(aj−1), pj , q ∈ Kd/2(aj), pj+1 ∈ Kd/2(aj+1)

undaj−1, aj+1 ∈ Kd/2(aj)

liegen alle vier Punkte des geschlossenen Polygonzugs [pj−1, pj , pj+1, q, pj−1] in derKreisscheibe Kd(aj), die ihrerseits eine Teilmenge von U ist (nach Definition vond). Damit folgt aus den uns bereits bekannten Versionen des Cauchyschen Inte-gralsatzes (z.B. Folgerung 3.11), dass das ganz rechts stehende Integral in (6.7)verschwindet, d.h. es gilt (6.6). ¤

6.6. Lemma. Sei f : U → C eine holomorphe Funktion, U ⊆ C offen. Weiter seienγ1, γ2 : [α, β] → U zwei geschlossene stetige Kurven, die in U homotop sind, undsei

H : [0, 1]× [α, β] −→ U

eine stetige Abbildung mit

H(s, α) = H(s, β) fur alle 0 ≤ s ≤ 1,

H(0, t) = γ1(t) und H(1, t) = γ2(t) fur alle α ≤ t ≤ β,

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28 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

die dann nach Definition existiert. Dann gibt es ein ε > 0, so dass

(6.8)∫

H(s,·)f =

H(s′,·)f

fur alle 0 ≤ s, s′ ≤ 1 mit |s− s′| ≤ ε.

Beweis. Da das stetige Bild kompakter Mengen kompakt ist, ist

K :=

H(s, t)∣∣∣ 0 ≤ s ≤ 1 , α ≤ t ≤ β

eine kompakte Teilmenge von U . Daraus folgt

d := dist(K,C \ U

)> 0.

(Wir setzen dist(K,C \ U

)= ∞, falls U = C.) Da H gleichmaßig stetig ist, gibt

es ein ε > 0, so dass

(6.9)∣∣H(s, t)−H(s′, t′)

∣∣ <d

2fur alle 0 ≤ s, s′ ≤ 1 und α ≤ t, t′ ≤ β mit |s − s′|, |t − t′| ≤ ε. Dieses ε ist dannoffenbar insbesondere hinreichend klein bezuglich U und jeder der Kurven H(s, ·),0 ≤ t ≤ 1. Wir wahlen eine Zerlegung (t1, . . . , tn) von [α, β], deren Feinheit ≤ ε ist.

Seien nun 0 ≤ s, s′ ≤ 1 mit |s− s′| ≤ ε gegeben. Wir setzen dann aj = H(s, tj)und pj = H(s′, tj) fur 1 ≤ j ≤ n. Da die Zerlegung (t1, . . . , tn) bezuglich U undder Kurve H(s′, ·) hinfreichend fein ist, gilt dann

(6.10)∫

H(s′,·)

f =∫

[p1,...,pn]

f .

Weiter folgt aus (6.9), dass pj ∈ Kd/2(aj) fur 1 ≤ j ≤ n. Da die Zerlegung(t1, . . . , tn) auch bezuglich U und der Kurve H(s, ·) hinfreichend fein ist, konnenwir Lemma 6.5 auf diese Situation anwenden und erhalten

(6.11)∫

[p1,...,pn]

f =∫

H(s,·)f .

Aus (6.10) und (6.11) folgt die Behauptung (6.8). ¤

Beweis von Theorem 6.4. Wir benutzen die Bezeichnungen von Lemma 6.6, undwahlen n ∈ N∗ so groß, dass nε ≥ 1. Sei M die Menge aller 0 ≤ t ≤ 1 mit

γ1

f =∫

H(s,·)f fur 0 ≤ s ≤ t.

Trivialerweise gilt 0 ∈ M , denn H(0, ·) = γ1. Daraus folgt mit Lemma 6.6, dasssogar minε, 1 ∈ M gilt. Indem man das Lemma nochmal anwendet, erhalt manmin2ε, 1 ∈ M , und nach n-maliger Anwendung erhalt man schließlich 1 ∈ M .Wegen H(1, ·) = γ2 gilt also insbesondere die Behauptung

∫γ1

f =∫

γ2f . ¤

6.7. Definition. Eine offene Menge U ⊆ C heißt einfach zusammenhangendesGebiet, wenn sie zusammenhangend ist und wenn jede geschlossene stetige Kurvein U , in U nullhomotop ist.

Mit dieser Definition erhalt man aus Theorem 6.4:

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FUNKTIONENTHEORIE I 29

6.8. Folgerung (aus Theorem 6.4). Sei U ⊆ C ein einfach zusammenhangendesGebiet, und f : U → C sei holomorph. Dann gilt:

(i) Fur jede geschlossene stetige Kurve γ in U ist∫

γ

f = 0.

(ii) Seien λ, γ : [α, β] → U zwei stetige Kurven mit gleichem Anfangs- undEndpunkt, d.h. λ(α) = γ(α) und λ(β) = γ(β). Dann gilt

(6.12)∫

λ

f =∫

γ

f.

Beweis. Aussage (i) folgt unmittelbar aus Theorem 6.4. Wir zeigen (ii): Dazu erin-nern wir uns zuerst daran, dass fur die durch (4.5) definierte Kurve γ−

(6.13)∫

γ

f = −∫

γ−

f

gilt. Dann fuhren wir wie folgt durch ”Zusammensetzen” von λ und γ− eine auf[α, 2β − α] definierte geschlossene stetige Kurve Γ ein:

Γ(t) :=

λ(t) fur α ≤ t ≤ β

γ−(t− β + α) fur β ≤ t ≤ 2β − α.

Dann gilt offenbar ∫

λ

f +∫

γ−

f =∫

Γ

f,

und es folgt mit Teil (i) ∫

λ

f +∫

γ−

f = 0,

was mit (6.13) die Behauptung (6.12) ergibt. ¤

Eine wichtige Konsequenz dieser Folgerung ist das folgende Theorem uber dieExistenz von Stammfunktionen:

6.9. Theorem. Ist U ⊆ C ein einfach zusammenhangendes Gebiet, so besitzt jedeauf U definierte holomorphe Funktion eine Stammfunktion auf U .13

Beweis. Wir fixieren irgendeinen Punkt z0 ∈ U und definieren eine Funktion F :U → C wie folgt: Fur jedes z ∈ U wahlen wir eine stetige Kurve γ : [0, 1] → U mitγ(0) = z0 und γ(1) = z (das ist moglich, da U zusammenhangend ist) und setzen

F (z) :=∫

γ

f.

13In anderen Einfuhrungen in die Funktionentheorie findet man den Begriff des Elementar-gebiets. So nennt man zusammenhangende offene Mengen, welche die Eigenschaft haben, dassjede darauf definierte holomorphe Funktion eine Stammfunktion besitzt. Unser Theorem 6.9 be-sagt, dass jedes einfach zusammenhangende Gebiet ein Elementargebiet ist. Wir fuhren deswegenden Begriff des Elementargebiets gar nicht erst ein. In den anderen Zugangen zur Funktionen-theorie beweist man Theorem 6.9 erst spater und fuhrt deswegen ”vorlaufig” den Begriff desElementargebiets ein, um zuerst andere Dinge machen zu konnen, bei denen man die Existenzvon Stammfunktionen braucht.

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30 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

Da U ein einfach zusammenhangendes Gebiet ist, ist diese Definition von der Wahlder Kurve γ unabhangig (Aussage (ii) in Folgerung 6.8). Wie im Beweis von Satz3.10 stellt sich nun heraus, dass dieses F eine Stammfunktion von f ist. Dies kannman durch Wiederholung der Argumente aus dem Beweis von Satz 3.10 zeigen.Man kann aber auch Satz 3.10 benutzen und wie folgt argumentieren:

Offenbar genugt es zu zeigen, dass F uber jeder offenen Kreisscheibe in U eineStammfunktion von f ist. Sei also eine offene Kreisscheibe K ⊆ U gegeben und seiw ∈ K irgendein fixierter Punkt. Nach Satz 3.10 hat f auf K eine StammfunktionG, und nach Lemma 3.7 gilt

z∫

w

f = G(z)−G(w) fur alle z ∈ K.

Da offenbar

F (z) = F (w) +∫ z

w

f

ist, folgt daraus

F (z) = G(z) + C mit C := F (w)−G(w),

d.h. F unterscheidet sich auf K nur durch eine Konstante von G. Somit ist auch Fauf K eine Stammfunktion von f . ¤

7. Die Cauchy-Formel und ihre unmittelbaren Folgerungen

Wir erinnern daran, dass wir fur a ∈ C und r > 0 mit Kr(a) die offene, und mitKr(a) die abgeschlossene Kreisscheibe mit dem Radius r und dem Mittelpunkt abezeichnen,

Kr(a) :=

z ∈ C∣∣∣ |z − a| < r

, Kr(a) :=

z ∈ C

∣∣∣ |z − a| ≤ r

,

sowie daran, dass wir dann mit |z − a| = r die Kreislinie mit dem Radius r unddem Mittelpunkt a bezeichen, womit wir entweder die Menge

z ∈ C

∣∣∣ |z − a| = r

oder die durch

γr,a(t) = a + reit , 0 ≤ t ≤ 2π

definierte stetig differenzierbare Kurve γr,a : [0, 2π] → C meinen. (Aus dem Zusam-menhang wird jeweils klar, was gemeint ist). Fundamental fur die Funktionentheorieist das folgende

7.1. Theorem (Cauchysche Integralformel fur die Kreisscheibe). Sei f : U → Ceine holomorphe Funktion, U ⊆ C offen. Ist dann Kr(z0), z0 ∈ U , 0 < r < ∞, eineKreisscheibe mit Kr(z0) ⊆ U , so gilt

(7.1) f(w) =1

2πi

|z−z0|=r

f(z)z − w

dz fur alle w ∈ Kr(z0).

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FUNKTIONENTHEORIE I 31

Beweis. Sei w ∈ Kr(z0) gegeben. Wir wahlen ein ε0 > 0 so klein, dass Kε0(w) ⊆Kr(z0). Dann folgt aus dem Cauchyschen Integralsatz fur Kreisringe (Theorem 6.2),dass

12πi

|z−z0|=r

f(z)z − w

dz =1

2πi

|z−w|=ε

f(z)z − w

dz , 0 < ε ≤ ε0,

und nach Satz 5.2 gilt

12πi

|z−w|=ε

f(w)z − w

dz =f(w)2πi

|z−w|=ε

1z − w

dz = f(w) , 0 < ε ≤ ε0.

Zusammen ergibt das

(7.2)1

2πi

|z−z0|=r

f(z)z − w

dz = f(w) +1

2πi

|z−w|=ε

f(z)− f(w)z − w

dz

fur alle 0 < ε ≤ ε0, wobei man fur das noch storenden Integral auf der rechten Seitenach Satz 5.5 die folgende Abschatzung hat:

∣∣∣∣∣∣∣1

2πi

|z−w|=ε

f(z)− f(w)z − w

dz

∣∣∣∣∣∣∣≤ 1

2π2πε max

|z−w|=ε

∣∣∣∣f(z)− f(w)

z − w

∣∣∣∣

= max|z−w|=ε

∣∣f(z)− f(w)∣∣.

Da f im Punkt w komplex differenzierbar und somit stetig ist, folgt daraus

limε→0

12πi

|z−w|=ε

f(z)− f(w)z − w

dz = 0.

Das ist aber nur moglich, wenn das Integral auf der rechten Seite von (7.2) ver-schwindet, denn die anderen beiden Terme in (7.2) hangen nicht von ε ab. Alsogilt

12πi

|z−z0|=r

f(z)z − w

dz = f(w).

¤

Aus dem Beweis ist klar, dass die Cauchysche Integralformel nicht nur fur Kreis-scheiben gilt, sondern auch fur allgemeinere offene Mengen, die von einer stetigengeschlossene Kurven ”umlaufen” werden. Um dies zu formulieren muss man aber zu-erst auf geeignete Weise definieren, was es genau bedeuten soll, dass ein Punkt voneiner geschlossenen Kurve ”umlaufen” wird. Wir verzichten zunachst darauf undwenden uns den Anwendungen zu, welche die Cauchysche Integralformel bereits furKreisscheiben hat. Dabei werden wir das folgende Lemma uber das Differenzierenunter dem Integral benutzen:

7.2. Lemma. Seien U ⊆ Rn, n ∈ N∗, eine offene Menge, [α, β], α < β, einabgeschlossenes reelles Intervall, und f : U×[α, β] → C eine stetige Funktion, deren

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32 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

partielle Ableitungen ∂f/∂xj (x1, . . . , xn sind die kanonischen reellen Koordinatenauf Rn) auf U × [α, β] existieren und stetig sind. Dann ist die Funktion

F (ζ, t) :=

β∫

α

f(ζ, t) dt , ζ ∈ U,

auf U stetig differenzierbar und es gilt

(7.3)∂F

∂xj(ζ) =

β∫

α

∂f

∂xj(ζ, t) dt , ζ ∈ U.

Beweis. Wir mussen nur zeigen, dass F in jedem Punkt ζ ∈ U partiell differenzier-bar ist und dass die Formel (7.3) gilt, denn mit der Abschatzung aus Satz 3.1 folgtdann die Stetigkeit von ∂F/∂xj aus dieser Formel und daraus, dass die Funktion∂f/∂xj auf jeder kompakten Teilmenge von U × [α, β] gleichmaßig stetig ist.

Beim Beweis der partiellen Differenzierbarkeit von F konnen wir uns auf denFall n = 1 und U =]a, b[, a, b ∈ R, a < b, beschranken. Weiter konnen wir o.B.d.A.annehmen, dass die Funktionswerte von f alle reell sind. Sei nun ein Punkt ζ ∈]a, b[gegeben. Wir mussen zeigen, dass

(7.4) lim∆→0

F (ζ + ∆)− F (x)∆

=

β∫

α

∂f

∂x(ζ, t) dt.

Sei ε > 0 so klein, dass [ζ − ε, ζ + ε] ⊆]a, b[. Nach dem Mittelwertsatz (den wiranwenden konnen, da die Werte von f reell sind) gibt es dann fur jedes ∆ ∈ [−ε, ε]und jedes t ∈ [α, β] ein ξ(ζ, ∆, t) zwischen ζ und ζ + ∆ mit

f(ζ + ∆, t)− f(ζ, t)∆

=∂f

∂x

(ξ(ζ, ∆, t), t

).

Aufgrund dieser Gleichung ist die Funktion

(7.5)∂f

∂x

(ξ(ζ, ∆, t), t

), t ∈ [α, β],

fur jedes fixierte ∆ ∈ [−ε, ε] \ 0 stetig, und es gilt

(7.6)F (ζ + ∆)− F (x)

∆−

β∫

α

∂f

∂x(ζ, t) dt =

β∫

α

(∂f

∂x

(ξ(ζ, ∆, t), t

)− ∂f

∂x(ζ, t)

)dt

Wir setzen

δ(∆) = maxα≤t≤β

∣∣∣∣∂f

∂x

(ξ(ζ, ∆, t), t

)− ∂f

∂x(ζ, t)

∣∣∣∣ .

(Das Maximum existiert, da die Funktion (7.5) stetig ist.) Da ∂f/∂x auf [ζ− ε, ζ +ε]× [α, β] gleichmaßig stetig ist, gilt dann

lim∆→0

δ(∆) = 0 ,

und aus (7.6) folgt mit der Abschatzung aus Satz 3.1∣∣∣∣∣∣F (ζ + ∆)− F (x)

∆−

β∫

α

∂f

∂x(ζ, t) dt

∣∣∣∣∣∣≤ (β − α)δ(∆)

fur alle ∆ ∈ [−ε, ε] \ 0. Zusammen ergibt das (7.4). ¤

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FUNKTIONENTHEORIE I 33

7.3. Definition. Sei U ⊆ C offen. Eine Funktion f : U → C heißt beliebig oftkomplex differenzierbar auf U , falls f komplex differenzierbar ist, die komplexeAbleitung f ′ von f wieder komplex differenzierbar ist auf U , die komplexe Ableitung(f ′)′ von f ′ ebenfalls wieder komplex differenzierbar ist auf U , usw. Man setzt dannf ′′ = (f ′)′, f ′′′ = (f ′′)′, usw. Weiter setzt man dann f (0) = f und fur jedes n ∈ N∗bezeichnet man mit f (n) die n-te komplexe Ableitung von f , d.h.

f (n+1) =(f (n)

)′fur alle n ∈ N.

7.4. Theorem. Sei f : U → C eine holomorphe Funktion, U ⊆ C offen. Dann istf beliebig oft komplex differenzierbar auf U , und fur jedes n ∈ N, fur jeden Punktz0 ∈ U und jeden Radius r > 0 mit Kr(z0) ⊆ U gilt

(7.7) f (n)(w) =n!2πi

|ζ−z0|=r

f(ζ)(ζ − w)n+1

dζ , falls |w − z0| < r.

Beweis. Seien z0 ∈ U und r > 0 mit Kr(z0) ⊆ U fixiert. Seien x, y die kanoni-schen reellen Koordinaten auf C und z = x + iy. Dann folgt aus der CauchyschenIntegralformel und der Formel aus Satz 5.1

f(z) =1

2πi

|ζ−z0|=r

f(ζ)ζ − z

dζ =r

2π∫

0

eitf(z0 + reit)z0 + reit − z

dt =r

2π∫

0

eitf(z0 + reit)z0 + reit − x− iy

dt.

Mit dem soeben bewiesenen Lemma uber das Differenzieren unter dem Integralfolgt daraus

∂f

∂x(z) =

r

2π∫

0

eitf(z0 + reit)∂

∂x

(1

z0 + reit − x− iy

)dt

=r

2π∫

0

eitf(z0 + reit)1(

z0 + reit − x− iy)2 dt =

12πi

|ζ−z0|=r

f(ζ)(ζ − z)2

dζ.

Da f holomorph ist und somit

∂f

∂x= f ′

gilt (vgl. (2.5)), folgt daraus

f ′(z) =1

2πi

|ζ−z0|=r

f(ζ)(ζ − z)2

dζ,

d.h. die Formel (7.7) gilt fur n = 1. Wieder mit dem Lemma uber die Differen-zierbarkeit unter dem Integral folgt daraus weiter, dass auch die Funktion f ′ stetig

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34 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

differenzierbar auf Kr(z0) ist, wobei gilt:

∂f ′

∂x(z) =

r

2π∫

0

eitf(z0 + reit)∂

∂x

(1

(z0 + reit − x− iy)2

)dt

=r

2π∫

0

eitf(z0 + reit)2(

z0 + reit − x− iy)3 dt =

22πi

|ζ−z0|=r

f(ζ)(ζ − z)3

dζ.

und

∂f ′

∂y(z) =

r

2π∫

0

eitf(z0 + reit)∂

∂y

(1

(z0 + reit − x− iy)2

)dt

=r

2π∫

0

eitf(z0 + reit)2i(

z0 + reit − x− iy)3 dt = i

22πi

|ζ−z0|=r

f(ζ)(ζ − z)3

dζ.

Insbesondere gilt also∂f ′

∂x= −i

∂f ′

∂y,

d.h. f ′ ist holomorph auf Kr(z0) und die Formel (7.7) gilt fur n = 2. Indem mandiesen Prozess fortsetzt (vollstandige Induktion) erhalt man, dass f beliebig oftkomplex differenzierbar ist und die Formel (7.7) fur alle n ∈ N gilt. ¤

7.5. Folgerung (aus Theorem 7.4). Ist f : U → C, U ⊆ C offen, eine holomorpheFunktion, so ist f von der Klasse C∞, d.h. beliebig oft stetig partiell differenzier-bar nach den reellen Koordinaten x und y. In der Tat, da f beliebig oft komplexdifferenzierbar ist, erhalt man mit Hilfe der Cauchy-Riemann-Gleichung (2.5) mitvollstandiger Induktion sofort die folgende genauere Aussage: Fur alle n,m ∈ N gilt

∂fn+m

∂xn∂ym= (−i)mf (n+m).

7.6. Satz (Satz von Morera). Sei f : U → C eine stetige Funktion, U ⊆ C offen.Dann sind die folgenden beiden Bedingungen aquivalent:

(i) f ist holomorph.(ii) Fur je drei Punkte a, b, c ∈ U , fur welche die abgeschlossene Dreiecksflache

F [a, b, c, a] :=

ra + sb + tc∣∣∣ 0 ≤ r, s, t ≤ 1 , r + s + t = 1

in U enthalten ist, gilt

(7.8)∫

[a,b,c,a]

f = 0.

Beweis. Die Richtung (i)⇒ (ii) ist der Cauchysche Integralsatz fur Dreiecke (Theo-rem 3.4).

Wir setzen nun voraus, dass Bedingung (ii) erfullt ist. Da wir inzwischen wissen,dass mit jeder holomorphen Funktion auch ihre komplexe Ableitung holomorph ist(Theorem 7.4), genugt es zu zeigen, dass eine holomorphe Funktion F auf U existiertmit F ′ = f . Dabei konnen wir o.B.d.A. voraussetzen, dass U zusammenhangend

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FUNKTIONENTHEORIE I 35

ist. Wir fixieren nun einen Punkt z0 ∈ U und definieren eine Funktion f : U → Cdurch

F (z) =∫ z

z0

f(ζ) dζ,

wobei mit∫ z

z0f das Integral langs einer beliebigen in U verlaufenden stetigen Kurve

gemeint ist, die den Anfangspunkt z0 und den Endpunkt z hat - nach Folgerung6.8 ist das korrekt. Um zu zeigen, dass F komplex differenzierbar ist und F ′ = fgilt, betrachten wir nun einen beliebigen Punkt w ∈ U .

Sei r > 0 so klein, dass Kr(w) ⊆ U . Dann gilt

F (z)− F (w)z − w

=1

z − w

z∫

w

f(ζ) dζ fur 0 < |z − w| < r.

Wegen∫ z

w1 dζ = z − w folgt daraus

F (z)− F (w)z − w

− f(w) =1

z − w

z∫

w

(f(ζ)− f(w)

)dζ,

was mit der Abschatzung (3.5)∣∣∣∣F (z)− F (w)

z − w− f(w)

∣∣∣∣ ≤ maxζ∈[w,z]

|f(ζ)− f(w)| , 0 < |z − w| < r,

ergibt. Da f stetig ist, ergibt das die gewunschte Beziehung

limz→w

F (z)− F (w)z − w

= f(w).

¤

Die Aussage (ii) ⇒ (i) in Satz 7.6 ist als Satz von Morera bekannt und wird auchals die Umkehrung des Integralsatzes von Cauchy bezeichnet. Als unmittelbare Kon-sequenz von Satz 7.6 erhalten wir nun, dass der gleichmaßige Limes holomorpherFunktionen wieder holomorph ist:

7.7. Satz. Sei U ⊆ C eine offene Menge und sei (fn)n∈N eine Folge holomorpherFunktionen fn : U → C, die auf jeder kompakten Teilmenge von U gleichmaßiggegen eine Funktion f : U → C konvergiert, d.h. fur jede kompakte TeilmengeK ⊆ U gelte

limn→∞

maxz∈K

∣∣fn(z)− f(z)∣∣ = 0.

Dann gilt:(i) Die Funktion f ist holomorph auf U .(ii) Die Folge (f ′n)n∈N konvergiert auf jeder kompakten Teilmenge von U

gleichmaßig gegen f ′.

Beweis von (i). Da f auf jeder kompakten Teilmenge von U der gleichmaßige Limesder stetigen Funktionen fn ist, ist f auf U stetig. Fur die Holomorphie von f genugtes deswegen nach dem Satz von Morera 7.6 drei Punkte a, b, c ∈ U zu betrachgten,fur welche die abgeschlossene Dreiecksflache

F [a, b, c, a] :=

ra + sb + tc∣∣∣ 0 ≤ r, s, t ≤ 1 , r + s + t = 1

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36 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

in U enthalten ist, und zu zeigen, dass dann

(7.9)∫

[a,b,c,a]

f = 0

gilt. Da die fn holomorph sind, gilt nach dem Integralsatz von Cauchy (Theorem3.4) ∫

[a,b,c,a]

fn = 0 fur alle n ∈ N

Da die Folge (fn) nach Voraussetzung auf [a, b, c, a] gleichmaßig gegen f konvergiert,erhalt man daraus mit Folgerung 5.6 die gewunschte Beziehung∫

[a,b,c,a]

f = limn→∞

[a,b,c,a]

fn = 0.

f ist also holomorph. ¤Beweis von Teil (ii). Um zu zeigen, dass (f ′n)n∈N auf den kompakten Teilmengenvon U gleichmaßig gegen f ′ konvergiert, genugt es ein z0 ∈ U und ein r > 0 mitK2r(z0) ⊆ U zu betrachten, und zu beweisen, dass

(7.10) limn→∞

maxw∈Kr(z0)

∣∣f ′n(w)− f ′(w)∣∣ = 0

gilt (denn jede kompakte Menge K ⊆ U kann man mit endlich vielen Kreisscheibender Form Kr(z0) mit z0 ∈ K und K2r(z0) ⊆ U uberdecken). Aus der Cauchy-Formelfur die Ableitung (7.7) erhalt man

f ′n(w)− f ′(w) =1

2πi

|z−z0|=2r

fn(z)− f(z)(z − w)2

dz , w ∈ Kr(z0).

Mit der Abschatzung (5.14) in Satz 5.5 folgt daraus

∣∣f ′n(w)− f ′(w)∣∣ ≤ 2r max

|z−z0|=2r

∣∣fn(z)− f(z)∣∣

|z − w|2 , w ∈ Kr(z0).

Wegen |z − w| ≥ r fur |z − z0| = 2r und w ∈ Kr(z0) erhalt man daraus weiter

maxw∈Kr(z0)

∣∣f ′n(w)− f ′(w)∣∣ ≤ 2

rmax

|z−z0|=2r

∣∣fn(z)− f(z)∣∣.

Da die Folge (fn)n∈N auf der Kreislinie |z−z0| = 2r gleichmaßig gegen f konvergiert,folgt daraus (7.10). ¤

8. Potenzreihen

Als Potenzreihe in einem Punkt z0 ∈ C bezeichnet man einen Ausdruck derForm

(8.1)∞∑

n=0

an(z − z0)n,

wobei (an)n∈N eine Folge komplexer Zahlen ist und mit z die Funktion z gemeintist. Die Folge (an)n∈N heißt Koeffizienten-Folge von (8.1). Man konnte eine Po-tenzreihe also auch als ein Paar

((an)n∈N , z0

)definieren, dessen erste Komponente

eine Folge komplexer Zahlen und dessen zweite Komponente ein Punkt z0 in der

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FUNKTIONENTHEORIE I 37

komplexen Ebene ist. Dass man dieses Paar in der Form der Summe (8.1) auf-schreibt, soll noch nichts daruber aussagen, ob diese Reihe fur gewisse Werte vonz konvergiert. Die Schreibweise deutet aber bereits darauf hin, dass wir uns dafurinteressieren, was wir nun in der folgenden Definition prazisieren:

8.1. Definition. Eine Potenzreihe der Form (8.1) heißt in einem Punkt ζ ∈ Ckonvergent bzw. absolut konvergent, wenn die Reihe von Zahlen

∞∑n=0

an(ζ − z0)n

konvergiert bzw. absolut konvergiert, und sie heißt normal konvergent auf einerMenge K ⊆ C, wenn die Reihe

∞∑n=0

|an| supζ∈K

|ζ − z0|n

konvergiert. Man sagt, dass sie in einem Punkt divergiert, wenn sie dort nichtkonvergiert.

8.2. Bemerkung. Konvergiert eine Potenzreihe der Form (8.1) normal auf einerMenge K ⊆ C, so konvergiert die Folge der Partialsummen(

N∑n=0

an(z − z0)n

)

N∈Ngleichmaßig auf K. (Aufgabe 5 der 6. Ubungsserie)

Wir wollen nun die Menge der Punkte, in denen eine Potenzreihe konvergiert,genauer beschreiben. Wie schon fruher (vgl. z.B. den Beginn von Abschnitt 7) be-zeichnen wir mit Kr(z0) die offene, und mit Kr(z0) die abgeschlossene Kreisscheibemit dem Radius r und dem Mittelpunkt z0, wobei 0 < r < ∞ und z0 ∈ C. Vonjetzt an benutzen wir diese Bezeichungen aber auch fur r = 0 und r = ∞, indemwir fur alle z0 ∈ C

K0(z0) = K0(z0) = ∅ und K∞(z0) = K∞(z0) = Csetzen.

8.3. Definition.

(8.2) R :=1

lim supn→∞

n√|an|

heißt Konvergenzradius der Potenzreihe (8.1) und die dazugehorige Kreisschei-be KR(z0) nennt man die Konvergenzkreisscheibe der Potenzreihe (8.1). (Furlim sup

n→∞n√|an| = 0 ist R := ∞ und fur lim sup

n→∞n√|an| = ∞ ist R := 0.)

Diese Definition ist begrundet durch den folgenden

8.4. Satz (Abelsches Lemma). Sei R der Konvergenzradius der Potenzreihe (8.1).Ist R = 0, so divergiert die Reihe in jedem Punkt aus C \ z0 (im Punkt z0

konvergiert sie trivialerweise stets). Ist 0 < R ≤ ∞, so gilt:(i) Die Reihe konvergiert in jedem Punkt aus KR(z0). Mehr noch, sie konvergiert

normal auf jeder Kreisscheibe Kr(z0) mit 0 < r < R.(ii) Die Reihe divergiert in jedem Punkt aus C \KR(z0).

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38 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

Beweis. Wir zeigen zuerst Teil (i). Sei r mit 0 < r < R gegeben. Dann gilt

r lim supn→∞

n√|an| < 1.

Wir wahlen ein q mitr lim sup

n→∞n√|an| < q < 1

und somitrn lim sup

n→∞|an| < qn.

Dann gibt es ein n0 ∈ N mit

|an|rn < qn fur alle n ≥ n0.

Da offenbarmax

ζ∈Kr(z0)|ζ − z0|n = rn

gilt, folgt daraus∞∑

n=n0

|an| maxζ∈Kr(z0)

|ζ − z0|n =∞∑

n=n0

|an|rn <

∞∑n=n0

qn.

Wegen q < 1 folgt daraus (geometrische Reihe) die gleichmaßig absolute Konvergenzauf Kr(z0).

Wir zeigen nun Teil (ii). Sei ein ζ ∈ C \KR(z0) gegeben. Dann gilt

|ζ − z0| > R =1

lim supn→∞

n√|an|

,

d.h.|ζ − z0| lim sup

n→∞n√|an| > 1,

worauslim sup

n→∞|an||ζ − z0|n > 1

folgt. Insbesondere ist(an(ζ − z0)n

)n∈N keine Nullfolge, weswegen die Reihe

∞∑n=0

an(ζ − z0)n

nicht konvergieren kann. ¤

8.5. Bemerkung. Man kann den Konvergenzradius einer Potenzreihe naturlichauch durch das Abelsche Lemma definieren und dann die Formel (8.2) beweisen.Die Formel (8.2) heißt Hadamardsche oder Cauchy-Hadamardsche Formel.

8.6. Definition. Sei R der Konvergenzradius einer Potenzreihe der Form (8.1), undsei R > 0. Nach dem Abelschen Lemma 8.4 wird dann auf der Konvergenzkreis-scheibe KR(z0) durch

f(ζ) =∞∑

n=0

an(ζ − z0)n , ζ ∈ KR(z0),

eine Funktion f definiert. Diese Funktion f heißt die durch die Potenzreihe (8.1)definierte Funktion.

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FUNKTIONENTHEORIE I 39

8.7. Bemerkung. Sei R der Konvergenzradius einer Potenzreihe der Form (8.1). SeiR > 0, und sei f die durch diese Potenzreihe definierte Funktion. Aus Bemerkung8.2 folgt dann: Die Folge der Partialsummen

(N∑

n=0

an(z − z0)n

)

N∈N

konvergiert auf jeder Kreisscheibe der Form Kr(z0), 0 < r < R, gleichmaßig gegenf , und mit Satz 7.7 folgt daraus: Die Funktion f ist auf KR(z0) holomorph.

8.8. Definition. Die Potenzreihe

(8.3)∞∑

n=1

nan(z − z0)n−1 =∞∑

n=0

(n + 1)an+1(z − z0)n

heißt formale Ableitung der Potenzreihe (8.1).

Sind in der Potenzreihe (8.1) hochstens endlich viele Koeffizienten 6= 0, so hatdiese trivialerweise den Konvergenzradius∞. Es handelt sich dann um ein Polynom,von dem wir bereits wissen, dass die formale Ableitung mit der komplexen Ableitungubereinstimmt. Teil (i) des folgenden Satzes sagt, dass dies fur alle Potenzreihengilt.

8.9. Satz. Sei

(8.4)∞∑

n=0

an(z − z0)n

eine Potenzreihe mit Konvergenzradius R > 0 und sei f die durch diese Potenzreihedefinierte holomorphe Funktion. Dann gilt:

(i) Die formale Ableitung

(8.5)∞∑

n=1

nan(z − z0)n−1

hat ebenfalls den Konvergenzradius R, und die durch sie definerte Funktion ist f ′.(ii) Es gilt

(8.6) an =f (n)(z0)

n!, n ∈ N.

Beweis von (i). Da die Folge der Partialsummen

FN :=N∑

n=0

an(z − z0)n , N ∈ N,

auf jeder kompakten Teilmenge von KR(z0) gleichmaßig gegen f konvergiert (Be-merkung 8.2), folgt aus Satz 7.7 (ii), dass die Folge (F ′N )N∈N in jedem Punkt ausKR(z0) gegen f ′ konvergiert. Mit anderen Worten, die Potenzreihe (8.5) konvergiertauf KR(z0) gegen f ′.

Mit dem abelschen Lemma folgt daraus insbesondere, dass der Konvergenzradiusvon (8.5) nicht kleiner als R ist.

Es bleibt zu zeigen, dass er nicht großer als R ist. Dazu betrachten wir einenPunkt ζ ∈ C mit |ζ − z0| > R. Nach dem Abelschen lemma 8.4 ist zu zeigen, dass(8.5) in diesem Punkt divergiert. Angenommen, das ist nicht der Fall. Indem man

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40 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

zuerst mit ζ − z0 multipliziert und danach a0(ζ − z0) addiert, sieht man, dass dannauch die Potenzreihe

(8.7) a0(z − z0)0 +∞∑

n=1

nan(z − z0)n.

im Punkt ζ konvergiert. Das ist aber ein Widerspruch, denn wegen |nan| ≥ |an|und der Hadamardschen Formel (8.2) ist sofort klar, dass der Konvergenzradiusvon (8.7) nicht großer als R ist. ¤

Beweis von (ii). Durch k-maliges Anwenden von Teil (i) des Satzes erhalt man

f (k)(ζ) =∞∑

n=k

n(n− 1) . . . (n− k + 1)an(ζ − z0)n−k , ζ ∈ KR(z0).

Setzt man ζ = z0, folgt (8.6). ¤

Wir wissen, dass durch Potenzreihen definierte Funktionen holomorph sind (Be-merkung 8.2). Der folgende Potenzreihenentwicklungssatz besagt, dass ”lokal”auch die Umkehrung gilt.

8.10. Theorem (Potenzreihenentwicklungssatz). Sei f : U → C eine holomorpheFunktion, U ⊆ C offen. Weiter sei ein beliebiger Punkt z0 ∈ U gegeben und

dist (z0,C \ U) :=

infζ∈C\U

|ζ − z0|, falls U 6= C,

∞, falls U = C.

Dann gibt es eine eindeutig bestimmte Potenzreihe im Punkt z0

∞∑n0

an(z − z0)n

mit KonvergenzradiusR ≥ dist (z0,C \ U),

so dass

(8.8) f(ζ) =∞∑

n=0

an(ζ − z0)n fur ζ ∈ U ∩KR(z0).

Dabei gilt fur alle r mit 0 < r < dist (z0,C \ U)

(8.9) an =f (n)n!

=1

2πi

|z−z0|=r

f(z)(z − z0)n+1

dz , n ∈ N .

Beweis. Die Eindeutigkeitsaussage sowie das erste Gleichheitszeichen in (8.9) folgtaus Satz 8.9 (ii). Um die anderen Aussagen zu zeigen, definieren wir Zahlen an,n ∈ N, durch

(8.10) an =1

2πi

|z−z0|=r

f(z)(z − z0)n+1

dz , n ∈ N , 0 < r < dist (z0,C \ U).

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FUNKTIONENTHEORIE I 41

Das ist moglich, da das dort vorkommende Integral nicht von der Wahl von rabhangt (Cauchyscher Integralsatz fur Kreisringe! - Theorem 6.4). Es bleibt zuzeigen, dass die Reihe

∞∑n0

an(ζ − z0)n

fur alle ζ aus der Kreisscheibe Kdist (z0,C\U)(z0) gegen f(ζ) konvergiert. Sei also einsolches ζ gegeben. Dann kann man ein r mit |ζ − z0| < r < dist (z0,C \ U) finden.Sei q := |ζ − z0|/r. Dann ist q < 1, und nach der Cauchyformel (Theorem 7.1) gilt

(8.11) f(ζ) =1

2πi

|z−z0|=r

f(z)z − ζ

dz =1

2πi

|z−z0|=r

f(z)z − z0

· 11− ζ−z0

z−z0

dz.

Da fur |ζ − z0| = r ∣∣∣∣ζ − z0

z − z0

∣∣∣∣ = q

gilt, folgt daraus, dass die Reihe von Funktionen∞∑

n=0

(ζ − z0

z − z0

)n

(z ist die Variable)

auf der Kreislinie |z − z0| = r gleichmaßig gegen die Funktion1

1− ζ−z0z−z0

konvergiert (geometrische Reihe). Daraus folgt weiter

f(z)z − z0

· 11− ζ−z0

z−z0

=∞∑

n=0

f(z)z − z0

(ζ − z0

z − z0

)n

,

wobei die Konvergenz der Reihe auf der rechten Seite ebenfalls gleichmaßig auf |z−z0| = r ist. Da man Integral und gleichmaßigen Limes vertauschen darf (Folgerung5.6), ergibt das mit (8.11)

f(ζ) =1

2πi

∞∑n=0

|z−z0|=r

f(z)z − z0

(ζ − z0

z − z0

)n

dz.

Wenn man nun noch die Konstante (ζ − z0)n aus dem Integral herauszieht, erhaltman

f(ζ) =∞∑

n=0

(1

2πi

|z−z0|=r

f(z)(z − z0)n+1

dz

)(ζ − z0)n =

∞∑n0

an(ζ − z0)n.

¤Die Darstellung (8.8) heißt Potenzreihenentwicklung (oder auch Taylor-

Entwicklung) von f im Punkt z0, und die Reihe∑

an(z − z0)n bezeichnet manals die Potenzreihe (oder auch Taylor-Reihe) von f im Punkt z0.

8.11. Zusammenfassung zum Holomorphiebegriff. Fur jede Funktion f : U →C, U ⊆ C offen, sind die folgenden drei Bedingungen aquivalent:

(i) f ist auf U holomorph.(ii) f ist in jedem Punkt aus U komplex differenzierbar.

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42 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

(iii) f ist in jedem Punkt aus U total differenzierbar und erfullt die Cauchy-Riemannsche Differentialgleichung ∂f/∂x = −i∂f/∂y.

(iv) Fur jeden Punkt z0 ∈ U existieren ein r > 0 mit Kr(z0) ⊆ U und ei-ne Potenzreihe

∑∞j=0 an(z − z0)n mit Konvergenzradius ≥ r, so dass f(ζ) =∑∞

n=0 an(ζ − z0)n fur alle ζ ∈ Kr(z0).

Die Aquivalenz von (i) und (ii) gilt bei uns nach Definition14. Die Bedingungen (ii)und (iii) sind nach Satz 2.2 aquivalent, und die Aquivalenz von (ii) und (iv) folgtaus Satz 8.9 und Theorem 8.10.

Jede holomorphe Funktion ist von der Klasse C∞ (Folgerung 7.5).

9. Die Funktionen ez, sin z und cos z fur komplexe z

Die vielleicht wichtigste Potenzreihe uberhaupt ist die Exponentialreihe:∞∑

n=0

zn

n!.

Aus der Hadamardschen Formel (8.2) folgt wegen limn→∞(n!)1/n = ∞, dass dieExponentialreihe den Konvergenzradius ∞ hat. Folglich definiert sie (nach Theo-rem 8.9) eine holomorphe Funktion auf ganz C, die man mit exp, exp z oder ez

bezeichnet:

exp z := ez :=∞∑

n=0

zn

n!, z ∈ C.

Da die formale Ableitung der Exponentialreihe offenbar wieder die Exponentialreiheist, gilt (wieder nach Theorem 8.9)

exp′ = exp auf ganz C.

Die Einschrankung der Exponentialfunktion auf die reelle Achse stimmt mit deraus Analysis I und II bekannten Exponentialfunktion ex uberein, denn diese kannman ebenfalls durch die Exponentialreihe darstellen.

Die Cosinusfunktion und die Sinusfunktion aus der reellen Analysis lassen sichwie folgt ebenfalls durch ihre Potenzreihen als holomorphe Funktionen auf ganz Cfortsetzen: Man definiert

sin z =∞∑

n=0

(−1)n

(2n + 1)!z2n+1 und cos z =

∞∑n=0

(−1)n

(2n)!z2n fur z ∈ C,

was korrekt ist, da die beiden verwendeten Potenzreihen abgesehen von den Vorzei-chen der Glieder jeweils mit einer ”Halfte” der Exponentialreihe ubereinstimmen,weswegen sie ebenfalls den Konvergenzradius ∞ haben. Erinnert man sich an dieTaylor- (d.h. Potenzreihen- ) Entwicklung von sin und cos aus der reellen Analysis,so sieht man, dass man fur reelle z durch diese Definition die bereits von fruherbekannten Funktionen sin und cos erhalt. Die komplexen Ableitungen sin′ und cos′

kann man nach Theorem 8.9 durch formales Ableiten der definierenden Potenzrei-hen bestimmen. Man sieht leicht, dass dabei fur alle z ∈ C die Beziehungen

sin′ z = cos z und cos′ z = − sin z

14Bei anderen Zugangen zur Funktionentheorie nimmt man (iii) oder (iv) als definierendeEigenschaft der Holomorphie.

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FUNKTIONENTHEORIE I 43

sowie die Eulersche Formel

(9.1) eiz = cos z + i sin z

herauskommt, die nun auch im Rahmen dieser Vorlesung bewiesen ist.15

10. Der Satz von Liouville und der Hauptsatz der Algebra

10.1. Satz (Cauchysche Ungleichung). Seien f : U → C eine holomorphe Funktion,U ⊆ C offen, z0 ∈ U und 0 < r < ∞, so dass Kr(z0) ⊆ U . Dann gilt

(10.1)∣∣∣∣f (n)(z0)

n!

∣∣∣∣ ≤1rn

max|z−z0|=r

|f(z)| fur alle n ∈ N.

Beweis. Nach der Cauchy-Formel fur die Ableitungen (Theorem 7.4) gilt

f (n)(z0)n!

=1

2πi

|z−z0|=r

f(z)(z − z0)n+1

dz.

Daraus folgt mit der Abschatzung (5.14)∣∣∣∣f (n)(z0)

n!

∣∣∣∣ ≤12π

2πr1

rn+1max

|z−z0|=r|f(z)| = 1

rnmax

|z−z0|=r|f(z)|.

¤10.2. Satz (Satz von Liouville). Jede auf ganz C definierte beschrankte holomorpheFunktion ist konstant, d.h. ist f : C→ C holomorph und

(10.2) M := supz∈C

|f(z)| < ∞,

so ist die Funktion f konstant.

Beweis. Da die abgeschlossene Kreisscheibe Kr(0) fur jedes 0 < r < ∞ in C, demDefinitionsgebiet von f , enthalten ist, erhalt man aus der Cauchyschen Ungleichung(Satz 10.1) fur jedes 0 < r < ∞ und alle n ∈ N die Abschatzung

∣∣∣∣f (n)(0)

n!

∣∣∣∣ ≤1rn

max|z−z0|=r

|f(z)|

Mit (10.2) ergibt das∣∣∣∣f (n)(0)

n!

∣∣∣∣ ≤M

rnfur alle 0 < r < ∞ und n ∈ N.

Wegen limr→∞M/rn = 0, falls n ≥ 1, folgt daraus

f (n)(0)n!

= 0 fur alle n ≥ 1.

Da nach dem Potenzreihenentwicklungssatz (Theorem 8.10)

(10.3) f(z) =∞∑

n=0

f (n)(0)n!

zn , z ∈ C,

gilt, folgt daraus f(z) = f(0) fur alle z ∈ C. f ist also konstant. ¤15Bisher hatten wir uns auf einen der folgenden beiden Standpunkt gestellt:Standpunkt 1: Die Eulersche Formel ist fur reelle z aus Analysis I und II bekannt.Standpunkt 2: Nur sin z und cos z sind fur reelle z aus Analyis I und II bekannt, und wir

definieren eiz := cos z + i sin z fur z ∈ R.

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44 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

Unter einem komplexen Polynom verstehen wir, wir bereits fruher gesagt, eineFunktion p : C→ C der Form

p(z) = p0 + p1z + . . . + pnzn,

wobei p0, . . . , pn komplexe Zahlen sind - die Koeffizienten von p. Das Polynomp heißt vom Grad n, falls pn 6= 0. Eine Zahl b ∈ C heißt Nullstelle von p, fallsp(b) = 0. Offenbar ist ein komplexes Polynom genau dann nichtkonstant, wenn esvom Grad ≥ 1 ist. Es gilt nun der folgende

10.3. Satz (Hauptsatz der Algebra, erste Version). Jedes nichtkonstante komplexePolynom hat mindestens eine Nullstelle.

Beweis. Ein solches Polynom hat die Form

p(z) = p0 + p1z + . . . + pnzn,

wobei n ≥ 1 und pn 6= 0. Angenommen, p hat keine Nullstelle, d.h. p(z) 6= 0 furalle z ∈ C. Dann ist 1/p eine auf ganz C definierte holomorphe Funktion. Wegenpn 6= 0 gibt es nun ein R < ∞ mit

∣∣∣ p0

zn+

p1

zn−1+ . . . +

pn−1

z+ pn

∣∣∣ ≥ |pn|2

fur |z| ≥ R.

Daraus folgt

∣∣p(z)∣∣ =

∣∣z∣∣n

∣∣∣ p0

zn+

p1

zn−1+ . . . +

pn−1

z+ pn

∣∣∣ ≥ Rn |pn|2

fur |z| ≥ R

und somit ∣∣∣∣1

p(z)

∣∣∣∣ ≤1

Rn

2|pn| fur |z| ≥ R.

Die Funktion 1/p ist also beschrankt auf C \KR(0). Außerdem gilt: 1/p ist stetig.Da KR(0) kompakt ist, folgt daraus

C := maxz∈KR(0)

∣∣∣∣1

p(z)

∣∣∣∣ < ∞.

Zusammen ergibt das∣∣∣∣

1p(z)

∣∣∣∣ ≤ max

1Rn

2|pn| , C

fur alle z ∈ C.

1/p ist also beschrankt auf C. Daraus folgt mit dem Satz von Liouville (Satz 10.2),dass 1/p konstant ist. Dann muss auch p konstant sein. Widerspruch! ¤

10.4. Lemma. Sei p ein komplexes Polynom n-ten Grades, n ≥ 1, und b sei eineNullstelle von p. Dann gibt es ein komplexes Polynom q von hochstens (n− 1)-temGrad, so dass

p(z) = (z − b)q(z).

Beweis. Sei zuerst n = 1, d.h. p(z) = p0 + p1z. Dann gilt 0 = p0 + p1b, d.h.b = −p0/p1. Nimmt man fur q die Konstante (d.h. das Polynom 0-ten Grades) p1,so erhalt man die gewunschte Beziehung

(z − b)q =(z − (−p0/p1)

)p1 = p0 + p1z = p(z).

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FUNKTIONENTHEORIE I 45

Wir nehmen nun im Sinne einer Induktionsvoraussetzung an, die Behauptung seifur ein n ≥ 1 bereits bewiesen. Sei nun p(z) = p0 + p1z + . . . + pn+1z

n+1 einkomplexes Polynom (n + 1)-ten Grades. Dann ist

r(z) := p(z)− (z − b)pn+1zn = p(z)− pn+1z

n+1 + bpn+1zn

ein Polynom vom Grad ≤ n. Wegen p(b) = 0 gilt dann

r(b) = p(b)− (b− b)pn+1bn = 0.

b ist also auch Nullstelle von r, woraus mit der Induktionsvoraussetzung die Existenzeines komplexen Polynoms q vom Grad ≤ n − 1 folgt, so dass r(z) = (z − b)q(z).Dann gilt

p(z) = r(z) + (z − b)pn+1zn = (z − b)

(q(z) + pn+1z

n).

Da q(z) + pn+1zn vom Grad ≤ n ist, lost das unser Problem. ¤

Mit diesem Lemma erhalt man nun die folgende Variante des Haupsatzes derAlgebra:

10.5. Satz (Hauptsatz der Algebra, zweite Version). Fur jedes komplexe Polynomp vom Grad n ≥ 1 gibt es Zahlen b1, . . . , bn, c ∈ C mit

p(z) = c(z − b1) . . . (z − bn).

Beweis. Nach Satz 10.3 gibt es ein b1 ∈ C mit p(b1) = 0. Daraus folgt mit Lemma10.4 die Existenz eines komplexen Polynoms qn−1 vom Grad ≤ n− 1 mit

p(z) = (z − b1)qn−1(z).

Ist n = 1, so sind wir fertig (mit c := pn−1). Ist n ≥ 2, so muss qn−1 nach Satz10.4 eine Nullstelle b2 haben, und wieder mit Lemma 10.4 folgt die Existenz eineskomplexen Polynoms pn−2 vom Grad ≤ n− 2 mit

qn−1(z) = (z − b2)pn−2(z)

und somitp(z) = (z − b1)(z − b2)pn−2(z).

Nach n solchen Schritten erhalt man schließlich b1, . . . , bn sowie ein Polynom p0

vom Grad null (d.h. eine Konstante) mit

p(z) = (z − b1) . . . (z − bn)p0.

Es bleibt ubrig c = p0 zu setzen. ¤

11. Mittelwertsatz und Identitatssatz

11.1. Satz (Mittelwertsatz). Sei f : U → C eine holomorphe Funktion, U ⊆ Coffen. Ist dann Kr(z0), z0 ∈ U , 0 < r < ∞, eine Kreisscheibe mit Kr(z0) ⊆ U , sogilt

(11.1) f(z0) =12π

∫ 2π

0

f(z0 + reit) dt.

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46 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

Beweis. Nach der Cauchyformel gilt

f(z0) =1

2πi

|z−z0|=r

f(z)z − z0

dz.

Mit der Definition des rechts stehenden Integrals folgt daraus

f(z0) =1

2πi

∫ 2π

0

f(z0 + reit)z0 + reit − z0

ireit dt =12π

∫ 2π

0

f(z0 + reit) dt.

¤

11.2. Satz (Isoliertheit von Nullstellen holomorpher Funktionen). 16 Sei f : U → Ceine holomorphe Funktion, U ⊆ C offen, und z0 ∈ U sei ein Punkt mit f(z0) = 0.Dann gibt es entweder eine Umgebung V ⊆ U von z0 mit

f(z) = 0 fur alle z ∈ V

oder es gibt eine Umgebung V ⊆ U von z0 mit

f(z) 6= 0 fur alle z ∈ V \ z0.Beweis. Sei r > 0 so klein, dass Kr(z0) ⊆ U . Nach dem Potenzreihenentwicklungs-satz gibt es eine Potenzreihe

∑∞n=0 cn(z − z0)n mit

f(z) =∞∑

n=0

cn(z − z0)n fur alle z ∈ Kr(z0).

Wir nehmen nun an, dass f nicht identisch verschwindet auf Kr(z0). Wir mussenzeigen, dass dann ein ε existiert mit 0 < ε ≤ r und f(z) 6= 0 fur alle z ∈ Kε(z0) \z0.

Da f auf Kr(z0) nicht identisch verschwindet, konnen nicht alle cn gleich nullsein. Da andererseits c0 = f(z0) = 0 ist, muss es eine Nummer m ≥ 1 mit c0 =. . . = cm−1 = 0 und cm 6= 0 geben. Wir definieren

g(z) :=∞∑

n=m

cn(z − z0)n−m fur z ∈ Kr(z0).

(Offenbar konvergiert die rechts stehende Reihe ebenfalls.) Dann ist g eine holomor-phe Funktion mit g(z0) = cm 6= 0. Da g stetig ist, gibt es dann ein ε mit 0 < ε ≤ rund g(z) 6= 0 fur z ∈ Kε(z0). Da (z − z0)m 6= 0 ist fur alle z 6= z0, folgt daraus

f(z) =∞∑

n=m

cn(z − z0)n = (z − z0)m∞∑

n=0

cn(z − z0)n−m = (z − z0)mg(z) 6= 0

fur z ∈ Kε(z0) \ z0. ¤

11.3. Satz (Identitatssatz, erste Version). Sei U ⊆ C offen und zusammenhangend,und f, g : U → C seien zwei holomorphe Funktionen. Gibt es dann einen Punktz0 ∈ U mit

(11.2) f (n)(z0) = g(n)(z0) fur alle n ∈ N,

so giltf = g auf ganz U.

16Fur das nachste Mal: Hier sollte man gleich die Charakterisierung durch Wachstum (Bemer-kung 15.5) formulieren, denn das steht am Ende des Beweises genau da.

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FUNKTIONENTHEORIE I 47

Beweis. Wir bezeichnen mit M die Menge aller Punkte z ∈ U mit

(11.3) f (n)(z) = g(n)(z) fur alle n ∈ N.

Wir mussen zeigen, dass M = U ist. Da U offen und zusammenhangend ist, genugtes zu zeigen, dass M nicht leer, offen und bezuglich U abgeschlossen ist.

M ist nicht leer, denn z0 ∈ M .Beweis der Offenheit von M : Sei w ∈ M gegeben. Da U offen ist, gibt es ein

ε > 0, so dass die Kreisscheibe Kε(w) in U enthalten ist. Nach dem Potenzreihen-entwicklungssatz (Theorem 8.10) gilt

f(z)− g(z) =∞∑

n=0

f (n)(w)− g(n)(w)n!

(z − w)n , z ∈ Kε(w).

Da w zu M gehort, verschwinden aber alle Koeffizienten dieser Potenzreihe (nachDefinition von M), d.h. es gilt f = g auf Kε(w). Daraus folgt (da Kε(w) offen ist),dass auch (11.3) fur alls z ∈ Kε(w) gilt, d.h. Kε(w) ⊆ M .

Beweis, dass M bezuglich U abgeschlossen ist: Sei ein z ∈ U gegeben, das zurAbschließung von M gehort. Dann gibt es eine Folge (zµ)µ∈N von Punkten aus M ,die gegen z konvergiert. Nach Definition von M gilt

f (n)(zµ) = g(n)(zµ) fur alle n ∈ N und alle µ ∈ N.

Da jede der Funktionen f (n) − g(n) stetig ist, folgt daraus fur alle n ∈ N

f (n)(z)− g(n)(z) = limµ→∞

(f (n)(zµ)− g(n)(zµ)

)= 0,

d.h. z ∈ M . ¤

Nun noch eine andere Moglichkeit, den Identitatssatz zu formulieren:

11.4. Satz (Identitatssatz, zweite Version). Sei U ⊆ C offen und zusam-menhangend, und f, g : U → C seien zwei holomorphe Funktionen. Gibt es danneine Menge S ⊆ U , die in U mindestens einen Haufungspunkt besitzt, so dass

(11.4) f(z) = g(z) fur alle z ∈ S,

so gilt

f = g auf ganz U.

Beweis. Nach Voraussetzung gibt es einen Punkt z0 ∈ U , der Haufungspunkt vonS ist, d.h. fur den eine Folge (sn)n∈N von Punkten aus S \ z0 existiert, die gegenz0 konvergiert. Aus der Stetigkeit von f − g folgt dann, dass auch f(z0)− g(z0) = 0ist. Da die Punkte sn alle von z0 verschieden sind, folgt aus Satz11.2 uber dieIsoliertheit von Nullstellen holomorpher Funktionen, dass f − g in einer Umgebungvon z0 identisch verschwindet, woraus weiter folgt, dass

f (n)(z0) = g(n)(z0) fur alle n ∈ N.

Nun folgt die Behauptung aus Satz 11.3. ¤

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48 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

12. Weitere Untersuchung von ez, und ln z fur komplexe z

Aus dem Identitatssatz fur holomorphe Funktionen kann man Identitaten zwi-schen holomorphen Funktionen, die auf der reellen Achse bereits bekannt sind insKomplexe ubertragen. Ein Beispiel ist der folgende

12.1. Satz. Es gilt

(12.1) ez+w = ez · ew

fur alle z, w ∈ C.

Beweis. 17 Wir fixieren zuerst ein x ∈ R und betrachten die holomorphen Funk-tionen f(z) := ex+z und g(z) := exez, z ∈ C. Aus der reellen Analysis wissen wir,dass f(t) = g(t) fur alle t ∈ R. Daraus folgt mit dem Identitatssatz 11.4, dassf(z) = g(z) fur alle z ∈ C. Damit ist die Beziehung (12.1) fur den Fall gezeigt, dassmindestens eine der beiden Zahlen z oder w reell ist.

Wir fixieren nun ein beliebiges komplexes w ∈ C und betrachten die holomorphenFunktionen f(z) := ez+w und g(z) := ezew, z ∈ C. Wie wir eben gezeigt haben, giltdann f(t) = g(t) fur alle t ∈ R, woraus wieder mit dem Identitatssatz folgt, dassf(z) = g(z) fur alle z ∈ C, womit die Beziehung (12.1) fur alle z, w ∈ C gezeigtist. ¤

Aus diesem Satz erhalt man nun weiter:

12.2. Satz. Fur jedes z ∈ C gilt:

ez = 1 ⇔ Es existiert ein k ∈ Z mit z = 2kπi.

Beweis. Sei z = x + iy mit x, y ∈ R. Nach Satz 12.1 und der Eulerschen Formel(9.1) gilt dann

(12.2) ez = exeiy = ex(cos y + i sin y).

Aus der reellen Analysis wissen wir, dass cos2 y +sin2 y = 1 ist. Deswegen folgt aus(12.2) zunachst, dass

∣∣ez∣∣ = ex gilt. Wiederum aus der reellen Analysis wissen wir,

dass ex = 1 genau dann gilt, wenn x = 0. Somit kann ez = 1 nur gelten, wenn zvon der Form z = iy ist mit y ∈ R. In diesem Fall nimmt (12.2) die Form

ez = cos y + i sin y

an, d.h. die Beziehung ez = 1 ist auqivalent dazu, dass cos y = 1 und sin y = 0gilt. Letzteres ist aber genau dann der Fall (wir zitieren wieder die reelle Analysis),wenn es ein k ∈ Z gibt mit y = k2π, d.h. z = iy = k2πi. ¤

12.3. Folgerung und Definition. Fur jeden Punkt z ∈ C∗ gibt es genau ein w ∈ Cmit

ew = z und 0 ≤ Im w < 2π.

Definition: Die Zahlen Im w und |z| heißen Polarkoordinaten von z.

Beweis. Sei z ∈ C∗ gegeben.Existenz: Wir setzen als bekannt voraus (aus Analysis I und II), dass das Intervall

[0, 2π[ durch die Abbildung t → eit = cos t + i sin t eineindeutig auf die Einheits-kreislinie |z| = 1 abgebildet wird. Damit haben wir ein t ∈ [0, 2π[ mit eit = z/|z|.

17Man kann diesen Satz naturlich auch direkt durch Rechnen mit Potenzreihen beweisen.

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FUNKTIONENTHEORIE I 49

Weiter wissen wir aus Analysis I und II, dass ein α ∈ R mit eα = |z| existiert(namlich α = ln |z|). Setzt man nun w = α + it, so gilt wegen Satz 12.1

ew = eα+it = eαeit = |z| z

|z| = z sowie Im w = t ∈ [0, 2π[.

Eindeutigkeit: Sind v, w zwei komplexe Zahlen mit ev = ew = z so folgt aus Satz12.1, dass ev−w = 1 ist, was mit Satz 12.2 die Existenz eines k ∈ Z mit v−w = k2πiergibt, d.h.

Re v = Re w und Im v − Im w = k2π.

Ist nun außerdem 0 ≤ Im v, Im w < 2π, so folgt k = 0. ¤

Den aus Analysis I und II bekannten Logarihmus kann man nicht auf ganz Cfortsetzen (denn er geht im Punkt 0 gegen−∞). Wir konnen nun aber den folgendenSatz beweisen:

12.4. Satz. Sei D ⊆ C ein einfach zusammenhangendes Gebiet mit 0 6∈ D. Danngibt es eine holomorphe Funktion f : D → C mit

(12.3) ef(z) = z fur alle z ∈ D.

Fur jede solche Funktion gilt

(12.4) f ′(z) =1z

fur alle z ∈ D.

Weiter gilt die folgende Eindeutigkeitsaussage: Seien f, g : D → C zwei holomorpheFunktionen mit

(12.5) eg(z) = ef(z) = z fur alle z ∈ D.

Dann existiert ein k ∈ Z mit

f(z)− g(z) = k2πi fur alle z ∈ D.

Beweis. Wir fixieren zunachst irgendeinen Punkt z0 ∈ D. Nach Folgerung 12.3 gibtes dann ein w0 ∈ C mit

ew0 = z0.

Wegen 0 6∈ D ist 1/z eine holomorphe Funktion auf D. Da D ein einfach zusam-menhangendes Gebiet ist, besitzt 1/z auf D eine Stammfunktion f (Theorem 6.9).Durch Addition einer Konstanten zu f kann man erreichen, dass f(z0) = w0 gilt.Fur dieses f gilt dann

(ef(z)

z

)′=

f ′(z)ef(z)

z− ef(z)

z2=

1z ef(z)

z− ef(z)

z2= 0 , z ∈ D.

Folglich gibt es eine Konstante C ∈ C mit

ef(z)

z= C bzw. ef(z) = Cz fur alle z ∈ D.

Dabei gilt wegen f(z0) = w0 und ew0 = z0

z0 = ew0 = ef(z0) = Cz0.

Wegen z0 6= 0 folgt daraus C = 1, d.h. es gilt (12.3).Sei nun irgendein holomorphes f : D → C mit (12.3) gegeben. Dann folgt

1 = z′ =(ef(z)

)′= f ′(z)ef(z) = zf ′(z) , z ∈ D,

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50 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

d.h. es gilt (12.4).Wir beweisen noch die Eindeutigkeitsaussage. Aus den Satzen 12.1 und 12.2

folgt, dass die Funktion

D 3 z −→ f(z)− g(z)2πi

nur ganzzahlige Werte annimmt. Da diese Funktion stetig ist und da D zusam-menhangend ist, folgt daraus, dass diese Funktion konstant ist, d.h. es gibt eink ∈ Z mit

f(z)− g(z)2πi

= k fur alle z ∈ D.

¤

12.5. Definition. Sei D ein einfach zusammenhangendes Gebiet. Jede der nachSatz 12.4 auf D existierenden holomorphen Funktionen f mit

ef(z) = z , z ∈ D,

bezeichnet man als Logarithmus auf D. Es gibt mehrere Logarithmen, denn auf-grund der Satze 12.1 und 12.2 kann man zu jedem Logarithmus eine Konstante derForm 2kπi addierern und erhalt wieder einen Logarithmus. Aufgrund der Eindeu-tigkeitsaussage aus Satz 12.4 ist das aber auch alles, weswegen man davon spricht,dass der Logartihmus bis auf eine additive Konstante der Form 2kπi eindeutigbestimt ist.

12.6. Folgerung und Definition. Es gibt genau eine holomorphe Funktion

f : C\ ]−∞, 0] −→ C

mit

(12.6) ef(z) = z fur alle z ∈ C\ ]−∞, 0]

und

(12.7) f(1) = 0.

Diese Funktion bezeichnet man als den Hauptzweig des Logarithmus.

Beweis. Nach Satz 12.4 gibt es zunachst eine holomorphe Funktion f : C\ ] −∞, 0] → C mit

ef(z) = z , z ∈ C\ ]−∞, 0].

Dann gilt insbesondere ef(1) = 1, woraus mit Satz 12.2 folgt, dass f(1) = 2kπi giltfur ein gewisses k ∈ Z. Wir setzen nun f(z) = f(z)− 2kπi. Dann ist f(1) = 0 undwieder mit Satz 12.2 sowie mit Satz 12.1 erhalt man

ef(z) = ef(z)−2kπi = ef(z)e2kπi = ef(z) = z

undef() = ef(z)−2kπ = ef(z)e2kπ = ef(z) = z.

¤

12.7. Bemerkung. Wegen (12.6) und (12.7) stimmt der Hauptzweig des Logarith-mus auf der positiven reellen Halbachse mit dem aus Analysis I und II bekanntennaturlichen Logarthmus uberein.

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FUNKTIONENTHEORIE I 51

13. Der Satz uber die Gebietstreue und das Maximumprinzip

13.1. Definition. Seien U, V ⊆ C zwei offene Mengen. Eine Funktion f heißtbiholomorph von U auf V , wenn gilt:

• U ist das Definitionsgebiet von f ;• V = f(U);• f ist bijektiv;• f ist holomorph auf U , und f−1 ist holomorph auf V .

Eine Funktion f : U → C, U ⊆ C offen, heißt lokal biholomorph, wenn sieauf U holomorph ist und wenn es fur jeden Punkt w ∈ U eine Umgebung W ⊆ Uvon w gibt, so dass f(W ) offen ist und f

∣∣W

biholomorph ist von W auf f(W ). Wirnotieren, dass dann die Bildmenge f(U) offen sein muss.

13.2. Satz. Sei U ⊆ C eine offene Menge, und f : U → C sei eine holomorpheFunktion mit f ′(w) 6= 0 fur alle w ∈ U . Dann ist f lokal biholomorph.

Beweis. Dass f ′(w) 6= 0 ist fur alle w ∈ U , bedeutet insbesondere, dass das totaleDifferential von f (die reell lineare Abbildung A aus Satz 2.2) in allen Punktenaus U invertierbar ist. Daraus folgt mit dem Satz uber die Umkehrfunktion ausder reellen Analysis, dass fur jeden Punkt w ∈ U eine Umgebung W ⊆ U vonw existiert, so dass f(W ) offen ist und f

∣∣W

diffeomorph ist von W auf f(W ).

Es bleibt zu zeigen, dass(f∣∣W

)−1 sogar komplex differenzierbar ist. Wir mussen

also zeigen (nach Satz 2.2), dass das totale Differential von(f∣∣W

)−1 in jedemPunkt z ∈ f(W ) komplex linear ist. Wiederum aus der reellen Analysis wissen wiraber, dass dies die Umkehrung des totalen Differentials von f im Punkt f−1(z) ist.Letzteres ist komplex linear, da f holomorph ist (vgl. Satz 2.2), und die Umkehrungeiner komplex linearen Abbildungen ist stets ebenfalls komplex linear. ¤

13.3. Definition. Sei f : U → C eine holomorphe Funktion, U ⊆ C offen. EinPunkt z0 ∈ U heißt isolierte Nullstelle von f , wenn f(z0) = 0 gilt und wenn esein ε > 0 gibt mit Kε(z0) ⊆ U und f(z) 6= 0 fur 0 < |z−z0| < ε. Wir erinnern daran,dass es nach Satz 11.2 fur jeden Punkt z0 ∈ U mit f(z0) = 0 nur zwei Moglichkeitengibt: Entweder z0 ist eine isolierte Nullstelle oder f ist in einer Umgebung von z0

identisch gleich null.Sei nun z0 ∈ U eine isolierte Nullstelle von f , und

f(z) =∞∑

k=0

fk(z − z0)k

sei die Potenzreihenentwicklung von f im Punkt z0. Da f in keiner Umgebung vonz0 identisch verschwindet aber f(z0) = 0 gilt, muss dann ein n ∈ N∗ existieren mit

f0 = . . . = fn−1 = 0 und fn 6= 0.

Diese Zahl n heißt Ordnung der Nullstelle z0 von f oder Ordnung von z0 alsNullstelle von f .

Ist f in einer Umgebung von z0 identisch gleich null, so sagt man auch, dass fdort eine Nullstelle unendlicher Ordnung hat.

13.4. Satz. Sei f : U → C eine holomorphe Funktion, U ⊆ C offen. Weiter seiz0 ∈ U eine Nullstelle der Ordnung n von f , n ∈ N∗. Dann gibt es ein ε > 0 und

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52 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

eine biholomorphe Funktion h von Kε(z0) auf eine Umgebung V von 0, so dass

(13.1) f(z) =(h(z)

)n fur |z − z0| < ε.

Beweis. Sei r > 0, so dass Kr(z0) ⊆ U . Da z0 Nullstelle der Ordnung n von f ist,hat die Potenzreihenentwicklung von f im Punkt z0 die Form

f(z) =∞∑

k=n

fk(z − z0)k , |z − z0| < r , wobei fn 6= 0.

Wir setzen (wie schon im Beweis von Satz 11.2)

g(z) =∞∑

k=n

fk(z − z0)k−n fur |z − z0| < r,

und stellen fest, dass g auf Kr(z0) holomorph ist sowie dass

(z − z0)ng(z) = f(z) , |z − z0| < r ,

und g(z0) 6= 0 gilt. Wir wahlen nun δ > 0 so klein, dass 0 6∈ Kδ

(g(z0)

). Nach Satz

12.4 gibt es dann eine holomorphe Funktion ln : Kδ

(g(z0)

) → C mit

eln w = w fur alle w ∈ Kδ

(g(z0)

).

Da g stetig ist, konnen wir außerdem ein 0 < ε < r finden mit

g(Kε(z0)

)⊆ Kδ

(g(z0)

).

Dann isth(z) := (z − z0)e

1n ln g(z) , z ∈ Kε(z0),

eine wohldefinierte holomorphe Funktion auf Kε(z0), fur welche die gewunschteBeziehung (13.1) gilt:

(h(z)

)n = (z − z0)n(e

1n ln g(z)

)n

= (z − z0)neln g(z) = (z − z0)ng(z) = f(z),

wobei das zweite Gleichheitszeichen wegen der Rechenregel ez+w = ezew (Satz 12.1)folgt. Da

h′(z0) = e1n ln g(z0) 6= 0

gilt (Aus Satz 12.1 folgt, dass alle Werte de Exponentialfunktion ungleich nullsind), konnen wir nach Satz 13.2 nach eventueller Verkleinerung von ε außerdemvoraussetzen, dass die Kreisscheibe Kε(z0) durch h biholomorph auf eine offeneMenge V abgebildet wird. ¤13.5. Satz (Satz von der Gebietstreue). Sei D ⊆ C eine zusammenhangende offeneMenge, und f : D → C sei eine nicht konstante holomorphe Funktion. Dann istf(D) ebenfalls offen und zusammenhangend.18

Beweis. Dass f(D) zusammenhangend ist, mussen wir nicht beweisen, denn dasfolgt aus dem allgemeinen Satz ”Das stetige Bild einer zusammenhangenden Mengeist zusammenhangend”, der in Analysis I oder II behandelt wird.

Wir zeigen die Offenheit von f(D). Dazu sei z0 ∈ D beliebig gegeben. Wirmussen ein ε > 0 finden mit

(13.2) Kε

(f(z0)

)⊆ f(D).

18Offene und zusammenhangende Teilmengen von C werden in der Funktionentheorie oft alsGebiete bezeichnet. Daher kommt der Name ”Satz von der Gebietstreue”.

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FUNKTIONENTHEORIE I 53

Dabei konnen wir o.B.d.A. annehmen, dass f(z0) = 0 ist. Da f nicht konstant gleichnull, und D zusammenhangend ist, folgt mit dem Identitatssatz (Satz 11.3), dassD in keiner Umgebung von z0 konstant gleich null ist. Folglich ist z0 eine isolierteNullstelle von f (vgl. Satz 11.2)). Sei n die Ordnung dieser Nullstelle.19Nach Satz13.4 gibt es daher eine Umgebung U ⊆ D von z0 und eine Umgebung V von 0 sowieeine biholomorphe Funktion h von U auf V , so dass

f(z) =(h(z)

)n fur alle z ∈ U.

Wir wahlen nun ein ε > 0 so klein, dass

Kε1/n(0) ⊆ V

gilt und zeigen: Fur dieses ε gilt (13.2) (mit f(z0) = 0).Sei w ∈ Kε(0) gegeben. Wir mussen z ∈ D finden mit f(z) = w. Seien s, ψ die

Polarkoordinaten von w, d.h. w = seiψ, wobei s ∈]0,∞[ und ψ ∈ [0, 2π[. Dann gilt∣∣∣s1/neiψ/n∣∣∣ = s1/n = |w|1/n < ε1/n,

d.h.s1/neiψ/n ∈ Kε1/n(0) ⊆ V.

Wegen h(U) = V , folgt daraus die Existenz eines z ∈ U mit

h(z) = s1/neiψ/n.

Fur dieses z gilt dann

f(z) =(h(z)

)n =(s1/n eiψ/n

)n

= seiψ = w.

¤Ein Folgerung aus dem Satz uber die Gebietstreue ist das folgende Maximum-

prizip:

13.6. Satz (Maximumprinzip). Sei D ⊆ C eine zusammenhangende offene Menge,und sei f : D → C eine nicht konstante holomorphe Funktion. Dann hat |f | keinlokales Maximum auf D, d.h. fur jedes z0 ∈ U und jede Umgebung U ⊆ D von z0

gibt es einen Punkt z ∈ U mit

(13.3) |f(z)| > |f(z0)|.Beweis. Seien z0 ∈ D und eine Umgebung U ⊆ D von z0 gegeben. O.B.d.A seiU zusammenhangend. Dann ist f(U) nach dem Satz uber die Gebietstreue offen.Insbesondere gibt es ein ε > 0 mit K2ε

(f(z0)

) ⊆ f(U). Wir wahlen ein w ∈K2ε

(f(z0)

)mit

|w| ≥ |f(z0)|+ ε.

Wegen K2ε

(f(z0)

) ⊆ f(U) gibt es dann ein z ∈ U mit f(z) = w. Fur dieses z giltdie gewunsche Beziehung (13.3):

|f(z)| = |w| ≥ |f(z0)|+ ε > |f(z0)|.19Fur n = 1, also f ′(z0) 6= 0, konnen wir an dieser Stelle bereits aus dem Satz uber die Umkehr-

funktion (Analysis II - Differentialrechnung mehrerer Veranderlicher) schließen, dass eine ganzeKreisscheibe um f(z0) in f(D) enthalten sein muss. Dieser Schluss funktioniert fur f ′(z0) = 0nicht mehr. (Es gibt ja auch beliebig oft differenzierbare nicht konstante Funktionen auf zusam-menhangenden offenen Mengen - z.B. der Sinus auf dem Intervall ]0, 2π[ - deren Bild nicht offenist.) Es ist die Holomorphie von f , weswegen wir auch fur f ′(z0) = 0 zeigen konnen, dass eineganze Kreisscheibe um f(z0) in f(D) enthalten sein muss.

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54 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

¤

13.7. Folgerung. Ist U ⊆ C eine beschrankte offene Menge, f : U → C eine stetigeFunktion, die in U holomorph ist, so gibt es einen Punkt z0 ∈ ∂U mit

|f(z0)| = maxz∈U

|f(z)|,

wobei wir mit ∂U den Rand von U bezeichnen.

Beweis. Da U kompakt ist, gibt es ein z0 ∈ U mit

|f(z0)| = maxz∈U

|f(z)|.

Liegt z0 in ∂U , so sind wir fertig. Liegt z0 in U , so folgt aus Satz 13.6, dass f in einerUmgebung von z0 konstant sein muss. Mit dem Identitatssatz folgt daraus weiter,dass f auf der ganzen Zusammenhangskomponente von U , die z0 enthalt, konstantist. Da f stetig ist, folgt, dass der Wert f(z0) von f auf dem Teil des Randes ∂Uangenommen wird, der diese Zusammenhangskomponente berandet. ¤

14. Laurentreihen

Als Laurentreihe im Punkt z0 ∈ C bezeichnet man einen Ausdruck der Form

(14.1)∞∑

n=−∞cn(z − z0)n,

wobei cn ∈ C, n ∈ Z. Fur jede Laurentreihe (14.1) bezeichnet man die Reihe−1∑

n=−∞cn(z − z0)n :=

∞∑n=1

c−n(z − z0)−n,

als den Hauptteil, und die Reihe∞∑

n=0

cn(z − z0)n,

als den Nebenteil von (14.1).Eine Laurentreihe der Form (14.1) heißt in einem Punkt ζ ∈ C\z0 konvergent

bzw. absolut konvergent, wenn sowohl der Haupt- als auch der Nebenteil dieserReihe in ζ konvergieren bzw. absolut konvergieren. Konvergenz bedeutet also,dass die beiden Folgen von Partialsummen

(14.2)

(m∑

n=0

cn(ζ − z0)n

)

m∈Nund

( −1∑n=−m

cn(ζ − z0)n

)

m∈N∗

konvergieren, und absolute Konvergenz bedeutet, dass daruber hinaus∞∑

n=−∞

∣∣∣cn(ζ − z0)n∣∣∣ :=

−1∑n=−∞

∣∣∣cn(ζ − z0)n∣∣∣ +

∞∑n=0

∣∣∣cn(ζ − z0)n∣∣∣ < ∞

gilt. Eine Laurentreihe der Form (14.1) heißt normal konvergent auf einer MengeK ⊆ C, wenn

∞∑n=−∞

|cn| supζ∈K

|ζ − z0|n < ∞.

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FUNKTIONENTHEORIE I 55

Wir notieren wieder (vgl. Bemerkung 8.2), dass hieraus die gleichmaßige Konver-genz auf K fur die beiden Folgen von Partialsummen (14.2) folgt.

Man sagt, dass eine Laurentreihe in einem Punkt divergiert, wenn sie dort nichtkonvergiert.

Der Nebenteil einer Laurentreihe ist bereits nach Definition eine Potenzreihe.Dem Hauptteil einer Laurentreihe der Form (14.1) ordnen wir die Potenzreihe

(14.3)∞∑

n=1

a−nzn

im Punkt 0 zu, die wir als die mit dem Hauptteil assoziierte Potenzreihebezeichnen werden.

Fur alle r,R ∈ [0,∞] setzen wir

Kr,R(z0) :=

ζ ∈ C;∣∣∣ r < |ζ − z0| < R

.

Kr,R(z0) heißt der durch die Radien r und R bestimmte Kreisring um z0. (Furr ≥ R ist diese Menge zwar leer, aus praktischen Grunden lassen wir aber auch daszu.) Die Abschließung dieses Kreisrings bezeichnen wir mit Kr,R(z0).

Von besonderem Interesse ist der Fall r = 0 und 0 < R ≤ ∞. Einen Kreisring derForm K0,R(z0), 0 < R ≤ ∞, bezeichnet man auch als punktierte Kreisscheibebzw. (falls R = ∞) als punktierte Ebene.

Jeder Laurentreihe der Form (14.1) ordnet man nun zwei Radien r,R ∈ [0,∞]wie folgt zu:

• R ist der Konvergenzradius des Nebenteils∑∞

n=0 cn(z − z0)n und• 1/r ist der Konvergenzradius der mit dem Hauptteil assoziierten Potenz-

reihe∑∞

n=1 a−nzn.

Der durch diese beiden Radien bestimmte Kreisring Kr,R(z0) heißt Konvergenz-ring der Laurentreihe (14.1). Diese Bezeichnung ist durch den folgenden Satz ge-rechtfertigt, der sofort aus dem Abelschen Lemma (Satz 8.4) folgt, wenn man diesesauf den Nebenteil und die mit dem Hauptteil assoziierten Potenzreihe anwendet:

14.1. Satz. Fur jede Laurentreihe der Form (14.1) gilt: Ist Kr,R(z0) der Konver-genzring dieser Reihe und r < r′ ≤ R′ < R, so konvergiert sie auf Kr′,R′(z0)normal.

Ist 0 < |ζ − z0| < r, so divergiert der Hauptteil, und ist R < |ζ − z0| < ∞, sodivergiert der Nebenteil.

Da aus normaler Konvergenz gleichmaßige Konvergenz folgt, erhalt man ausdiesem Satz zusammen mit dem Satz uber die Holomorphie des gleichmaßigen Limesholomorpher Funktionen (Satz 7.7) weiter:

14.2. Satz und Definition. Sei Kr,R(z0) der Konvergenzring einer Laurentreiheder Form (14.1). Dann ist die nach Satz 14.1 wohldefinierte Funktion

f(ζ) :=∞∑

n=−∞cn(ζ − z0)n , r < |ζ − z0| < R,

holomorph auf Kr,R(z0). Wir werden dieses f als die durch die Laurentreihe(14.1) definierte Funktion bezeichnen.

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56 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

Um zu zeigen, dass umgekehrt jede auf einem solchen Kreisring definierte holo-morphe Funktion in eine Laurentreihe entwickelbar ist, benotigen wir die folgendeVariante der Cauchyschen Integralformel:

14.3. Satz (Cauchyscher Integralsatz fur Kreisringe). Sei z0 ∈ C, 0 < r < R < ∞,und U sei eine Umgebung von Kr,R(z0). Dann gilt fur jede holomorphe Funktionf : U → C

(14.4) f(w) =1

2πi

|z−z0|=R

f(z)z − w

dz − 12πi

|z−z0|=r

f(z)z − w

dz , r < |w − z0| < R.

Beweis. Sei r < |w − z0| < R gegeben. Wir wahlen ε > 0 so klein, dass dieabgeschlossene Kreisscheibe Kε(w) im Kreisring KR(z0) \ Kr(z0) enthalten ist.Dann gilt nach der Cauchyschen Integralformel fur Kreisscheiben (Theorem 7.1)

f(w) =1

2πi

|z−w|=ε

f(z)z − w

dz.

Es genugt deswegen zu zeigen, dass

(14.5)∫

|z−w|=ε

f(z)z − w

dz =∫

|z−z0|=R

f(z)z − w

dz −∫

|z−z0|=r

f(z)z − w

dz.

Um die Bezeichnungen zu vereinfachen, nehmen wir dazu o.B.d.A. an, dass z0 = 0und w auf der reellen Achse liegt mit r < w < R. Sei s := R − w − ε, und seiγ : [0, 4π + 2s] → C die wie folgt definierte geschlossene stetige Kurve:

γ(t) =

Reit fur 0 ≤ t ≤ 2π

2π + R− t fur 2π ≤ t ≤ 2π + s

w + εe−i(t−s) fur 2π + s ≤ t ≤ 4π + s

R− 4π − 2s + t fur 4π + s ≤ t ≤ 4π + 2s

Dann gilt offenbar∫

γ

f(z)z − w

dz =∫

|z−z0|=R

f(z)z − w

dz −∫

|z−w|=ε

f(z)z − w

dz

und man sieht leicht, dass die Kurven γ und |z − z0| = r in U \ w homotop sind.Damit folgt (14.5) aus Theorem 6.4 (ii). ¤

14.4. Satz (Laurentreihenentwicklungssatz). Fur jeden Kreisring Kr,R(z0) mit z0 ∈C und 0 ≤ r < R ≤ ∞ und jede holomorphe Funktion f : Kr,R(z0) → C gilt: Esgibt eine eindeutig bestimmte Laurentreihe

∞∑n=−∞

cn(z − z0)n

deren Konvergenzring den Kreisring Kr,R(z0) enthalt, so dass

(14.6) f(z) =∞∑

n=−∞cn(z − z0)n fur 0 < |z − z0| < R.

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FUNKTIONENTHEORIE I 57

Dabei gilt fur alle r < ρ < R die Formel

(14.7) cn =1

2πi

|z−z0|=ρ

f(z)(z − z0)n+1

dz , n ∈ Z.

Beweis. Die Eindeutigkeitsaussage und die Formel (14.7) erhalt man wie folgt:Sei eine Laurentreihe der Form (14.1) mit dem Konvergenzring Kr,R(z0) und mit

(14.6) gegeben, und sei r < ρ < R. Nach Satz 14.1 konvergiert diese Reihe auf derKreisline |z − z0| = ρ normal und damit gleichmaßig. Sei nun ein m ∈ Z gegeben.Dann konvergiert auch die Reihe

∞∑n=−∞

cn(z − z0)n

(z − z0)m+1

gleichmaßig auf |z − z0| = ρ. Daraus erhalt man (vgl. Folgerung 5.6 und Satz 5.2)∫

|z−z0|=r

∞∑n=−∞

cn(z − z0)n

(z − z0)m+1dz =

∞∑n=−∞

cn

|z−z0|=r

(z − z0)n

(z − z0)m+1dz = cm 2πi,

was mit (14.6)

12πi

|z−z0|=r

f(z)(z − z0)m+1

dz =1

2πi

|z−z0|=r

∞∑n=0

cn(z − z0)n

(z − z0)m+1dz = cm

ergibt.Um die Existenz zu beweisen, betrachten wir die Laurentreihe

∞∑n=−∞

cn(z − z0)n,

deren Koeffizienten cn durch die Formel (14.7) definiert sind. Weiter definieren wirFunktionen f+ auf KR(z0) und f− auf C\Kr(z0) wie folgt: Fur w ∈ KR(z0) wahlenwir ein ρ mit 0 < |w − z0| < ρ < R und setzen

(14.8) f+(w) =1

2πi

|z−z0|=ρ

f(z)z − w

dz .

Fur w ∈ C \Kr(z0) wahlen wir ein ρ mit r < ρ < |w − z0| und setzen

(14.9) f−(w) = − 12πi

|z−z0|=ρ

f(z)z − w

dz .

Aus dem Cauchyschen Integralsatz folgt, dass diese Definition nicht von der Wahlvon ρ abhangt, und aus der Cauchyschen Integralformel (14.4) folgt, dass

f(w) = f+(w) + f−(w) , falls r < |w − z0| < R.

Es genugt deswegen die folgenden beiden Aussagen zu beweisen:

(I) Der Nebenteil

(14.10)∞∑

n=0

cn(z − z0)n

konvergiert in jedem Punkt w ∈ KR(z0) gegen f+(w).

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58 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

(II) Der Hauptteil

(14.11)−1∑

n=−∞cn(z − z0)n

konvergiert in jedem Punkt w ∈ C \Kr(z0) gegen f−(w).

Beweis von (I): Dies ist eine Wiederholung des entsprechenden Teils im Beweisdes Potenzreihenentwicklungssatzes, namlich: Sei w ∈ KR(z0) gegeben. Wir wahlenein ρ mit |w − z0| < ρ < R. Dann gilt

q :=|w − z0|

ρ< 1,

und fur alle z mit |z − z0| = ρ gilt

∣∣∣∣w − z0

z − z0

∣∣∣∣ = q.

Daraus folgt

f+(w) =1

2πi

|z−z0|=ρ

f(z)z − w

dz =1

2πi

|z−z0|=ρ

f(z)z − z0

· 11− w−z0

z−z0

dz

=1

2πi

|z−z0|=ρ

f(z)z − z0

∞∑n=0

(w − z0

z − z0

)n

dz

=∞∑

n=0

1

2πi

|z−z0|=ρ

f(z)(z − z0)n+1

dz

(w − z0)n =

∞∑n=0

cn(w − z0)n.

Beweis von (II): Sei w ∈ C \Kr(z0) gegeben. Wir wollen zeigen, dass

−1∑n=−∞

cn(w − z0)n = f−(w),

d.h.

(14.12)∞∑

n=1

c−n

(1

w − z0

)n

= f−(w).

Dazu wahlen wir ein ρ mit r < ρ < |w − z0|. Dann gilt

q :=ρ

|w − z0| < 1

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FUNKTIONENTHEORIE I 59

und somit

f− (w) = − 12πi

|z−z0|=ρ

f(z)z − w

dz =1

2πi

1w − z0

|z−z0|=ρ

f(z)1− z−z0

w−z0

dzV

=1

2πi

1w − z0

|z−z0|=ρ

f(z)∞∑

n=0

(z − z0

w − z0

)n

dz

=∞∑

n=0

1

2πi

|z−z0|=ρ

f(z)(z − z0)−n

dz

(1

w − z0

)n+1

=∞∑

n=0

c−n−1(w − z0)−n−1 =−1∑

n=−∞cn(w − z0)n.

¤

15. Isolierte Singularitaten

15.1. Definition. Sei f : U → C eine holomorphe Funktion, U ⊆ C offen. EinPunkt z0 ∈ C heißt isolierte Singularitat von f , falls z0 6∈ U gilt aber U ∪ z0offen ist.

Ist f : U → C eine holomorphe Funktion, U ⊆ C offen, und z0 eine isolierteSingularitat von f , so gibt es (nach Definition) ein ε > 0, so dass die punktierteKreisscheibe

K0,ε(z0) =

ζ ∈ C∣∣∣ 0 < |ζ − z0| < ε

in U enthalten ist. Nach Satz 14.4 ist f auf diesem punktierten Kreisring eindeutigals Laurentreihe darstellbar:

f(z) =∞∑

n=−∞fn(z − z0)n , z ∈ K0,ε(z0).

Diese Laurentreihe wird als die Laurentreihe von f in der isolierten Singula-ritat z0 bezeichnet. Entsprechend spricht man vom Haupt- und Nebenteil vonf in z0. Man klassifiziert (unterscheidet) die isolierten Singularitaten holomorpherFunktionen wie folgt:

15.2. Definition. Sei f : U → C eine holomorphe Funktion, U ⊆ C offen und z0

eine isolierte Singularitat von f .• z0 heißt hebbare Singularitat von f , wenn f holomorph nach z0 fortge-

setzt werden kann, d.h. wenn es eine holomorphe Funktion f : U∪z0 → Cgibt mit f(z) = f(z) fur alle z ∈ U . Offenbar ist dies genau dann der Fall,wenn der Hauptteil von f in z0 verschwindet (folgt sofort aus der Existenz-aussage im Potenzreihenentwicklungssatz und der Eindeutigkeitsaussage imLaurentreihenentwicklungssatz).

• z0 heißt Pol von f , wenn die Laurentreihe von f in z0 von der Form∑∞n=−N fn(z − z0)n ist mit N ≥ 1 und f−N 6= 0. Die Zahl N heißt in

diesem Fall die Ordnung von z0 als Pol von f .• z0 heißt wesentliche Singularitat von f , wenn z0 weder hebbar noch ein

Pol ist, d.h. wenn der Hauptteil von f im Punkt z0 unendlich viele von nullverschiedene Glieder hat.

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60 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

15.3. Satz (Riemannscher Hebbarkeitssatz). Sei z0 eine isolierte Singularitat einerholomorphen Funktion f : U → C, U ⊆ C offen. Gibt es eine Umgebung V ⊆U ∪ z0 von z0 und ein C < ∞, so dass

(15.1) |f(z)| ≤ C fur alle z ∈ V \ z0,so gibt es eine eindeutig bestimmte holomorphe Funktion f : U ∪ z0 → C mit

f(z) = f(z) fur alle z ∈ U.

Beweis. Die Eindeutigkeit folgt sofort aus der Stetigkeit holomorpher Funktionen.Um die Existenz zu beweisen, betrachten die Laurentreihe von f in z0:

(15.2) f(z) =∞∑

n=−∞fn(z − z0)n.

Wir mussen zeigen, dass der Hauptteil dieser Laurentreihe verschwindet, d.h. dassfn = 0 gilt fur n = −1,−2, . . . . Sei n ∈ −1,−2, . . . gegeben.

Wir wahlen nun ein r > 0 mit K0,r(z0) ⊆ V . Dann gilt nach Formel (14.7)

fn =1

2πi

|z−z0|=ε

f(z)(z − z0)n+1

dz , fur alle 0 < ε < r.

Daraus folgt mit der Abschatzung (5.14) und (15.1)

|fn| ≤ ε max|z−z0|=ε

|f(z)| 1εn+1

≤ C

εn, fur alle 0 < ε < r,

was wegen n < 0 offenbar nur moglich ist, wenn fn = 0 gilt. ¤

Die Eigenschaft, ein Pol zu sein, kann man durch eine Wachstumsbedingungcharakterisieren:

15.4. Satz. Sei f : U → C eine holomorphe Funktion, U ⊆ C offen, und z0 seieine isolierte Singularitat von f . Dann ist z0 genau dann ein Pol der Ordnung N ,N ≥ 1, von f , wenn es ein ε > 0 sowie Konstanten C < ∞ und c > 0 gibt, so dassdie punktierte Kreisscheibe K0,ε(z0) in U enthalten ist und

(15.3)c

|z − z0|N ≤ |f(z)| ≤ C

|z − z0|N fur alle z ∈ K0,ε(z0).

Beweis. Ubungsaufgabe ¤

15.5. Bemerkung. Sei f : U → C eine holomorphe Funktion, U ⊆ C offen undz0 ∈ U . Dann uberlegt man sich leicht (analog wie im Beweis von Satz 15.4, indemman die Potenzreihe im Punkt z0 benutzt), dass folgendes gilt:

Der Punkt z0 ist genau dann eine Nullstelle der Ordnung N ∈ N∗ von f , wenn esein ε > 0 sowie Konstanten C < ∞ und c > 0 gibt, so dass die Kreisscheibe Kε(z0)in U enthalten ist und

(15.4) c|z − z0|N ≤ |f(z)| ≤ C|z − z0|N fur alle z ∈ K0,ε(z0).

Zusammen mit dem Kriterium aus Satz 15.4 ergibt das die folgende Aussage:

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FUNKTIONENTHEORIE I 61

Der Punkt z0 ist genau dann eine Nullstelle der Ordnung N ∈ N∗ von f , wenn eseine Umgebung V ⊆ U von z0 gibt, so dass f(z) 6= 0 fur alle z ∈ V \ z0 gilt undz0 eine Polstelle der Ordnung N der Funktion

1f(z)

, z ∈ V \ z0,

Satz 15.4 besagt insbesondere, dass das Verhalten einer holomorphen Funktionin den Umgebungen eines Pols einer gewissen ”Kontrolle” unterliegt. In den Umge-bungen einer wesentlichen Singularitat ist das Verhalten jedoch vollig ”wild”, wieder folgende einfache Satz zeigt:

15.6. Satz (Satz von Casorati-Weierstraß). Sei f : U → C eine holomorphe Funk-tion, U ⊆ C offen, und z0 sei eine wesentliche Singularitat von f . Dann liegt dieMenge

f(U ∩Kε(z0)

)

fur jedes ε > 0 dicht in der komplexen Ebene C.

Beweis. Angenommen, das ist nicht so. Dann gibt es ein ε > 0 mit K0,ε(z0) ⊆ U ,so dass die Menge f

(K0,ε(z0)

)nicht dicht liegt in C. Das heißt, fur einen gewissen

Punkt w ∈ C und einen gewissen Radius r > 0 gilt f(K0,ε(z0)

) ∩Kr(w) = ∅, d.h.

(15.5) |f(z)− w| ≥ r fur alle z ∈ K0,ε(z0).

Dann ist die Funktion

g(z) :=1

f(z)− w, 0 < |z − z0| < ε,

wohldefiniert und holomorph. Außerdem ist g beschrankt auf K0,ε(z0), denn aus(15.5) folgt

|g(z)| = 1|f(z)− w| ≤

1r

fur alle z ∈ K0,ε(z0).

Nach dem Riemannschen Hebbarkeitssatz 15.3 ist g also holomorph auf die Kreis-scheibe Kε(z0) fortsetzbar. Außerdem ist klar, dass g(z) 6= 0 fur 0 < |z − z0| < ε.Wir haben deswegen

f(z) =1

g(z)+ w fur 0 < |z − z0| < ε.

Daraus folgt: Entweder f ist ebenfalls holomorph auf die Kreisscheibe Kε(z0) fort-setzbar (falls g(z0) 6= 0) oder f hat in z0 einen Pol der Ordnung N (falls g eineNullstelle der Ordnung N hat (vgl. Bemerkung 15.5). Widerspruch! ¤

In Wirklichkeit gilt unter den Voraussetzungen von Satz 15.6 die folgende alsSatz von Picard bekannte sehr viel scharfere Aussage (die wir hier nicht beweisenkonnen): Es gibt einen Punkt a ∈ C, so dass fur jedes ε > 0

C \ a ⊆ f(U ∩Kε(z0)

)

gilt. Das kann dann nicht mehr verscharft werden, wie die isolierte Singularitat 0der Funktion e1/z zeigt, denn e1/z 6= a := 0 fur alle z ∈ C \ 0.

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62 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

16. Der Residuensatz

16.1. Definition. Sei f : U → C eine holomorphe Funktion, U ⊆ C offen, undz0 eine isolierte Singularitat von f . Weiter sei r das maximale Element aus ]0,∞],so dass die Kreisscheibe Kr(z0) noch in U ∪ z0 enthalten ist. Dann ist wegenTheorem 6.4 (ii) die Zahl

(16.1) Resz0 f :=1

2πi

|z−z0|=ε

f(z) dz , 0 < ε < r,

wohldefiniert (d.h. unabhangig von ε) und heißt Residuum von f im Punkt z0.Aus der Formel (14.7) erhalt man die Darstellung

(16.2) Resz0f = f−1,

wenn∑∞

n=−∞ fn(z−z0)n die Laurentreihe von f im Punkt z0 ist. Oft benutzt manauch die Formel (16.2) zur Definition des Residuums.

16.2. Definition. Sei γ : [α, β] → C eine geschlossene stetige Kurve und z0 ∈ C.Wir werden sagen, dass die Kurve γ den Punkt z0 nicht trifft, wenn γ(t) 6= z0 furalle t ∈ [α, β], und wir werden sagen, dass z0 im Inneren von γ liegt, wenn diefolgenden beiden Bedingungen erfullt sind:

• Die Kurve γ trifft z0 nicht.• Die Kurve γ ist in C \ z0 zur Kreislinie γ1,z0

homotop.

(Wir erinnern daran, dass γ1,z0(t) := z0 + eit fur 0 ≤ t ≤ 2π - vgl. (5.1).)

16.3. Bemerkung. Es kann durchaus vorkommen, dass die Menge der innerenPunkte einer geschlossenen stetigen Kurve leer ist. Beispiel:

γ(t) = e−it , 0 ≤ t ≤ 2π.

16.4. Bemerkung (ohne Beweis). Man kann zeigen, dass es fur jede geschlossenestetige Kurve γ : [α, β] → C und jeden Punkt z0 ∈ C, den γ nicht trifft, genau eineganze Zahl m gibt, so dass γ in C \ z0 zu der ”m-fach durchlaufenen” Kreislinie|z − z0| = 1, die man durch

γ(m)1,z0

(t) =

z0 + eit , 0 ≤ t ≤ 2πm , falls m ≥ 0z0 + e−it , 0 ≤ t ≤ −2πm , falls m ≤ 0

definieren kann, homotop ist. Diese Zahl m heißt Umlaufzahl der Kurve γbezuglich z0. Die oben definierten inneren Punkte von γ sind also die Punktemit der Umlaufzahl 1.

16.5. Satz (Residuensatz). Sei f : U → C eine holomorphe Funktion, U ⊆ C offen.Weiter seien z1, . . . , zk endlich viele isolierte Singularitaten von f ,

U := U ∪ z1, . . . , zkund γ : [α, β] → U sei eine geschlossene stetige Kurve mit den folgenden beidenEigenschaften:

• die Punkte z1, . . . , zk sind innere Punkte von γ und• die Kurve γ ist nullhomotop in U .

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FUNKTIONENTHEORIE I 63

Dann gilt

(16.3)1

2πi

γ

f =k∑

j=1

Reszjf.

Beweis. Fur j = 1, . . . , k sei∞∑

n=−∞fj,n(z − zj)n

die Laurentreihe von f im Punkt zj , und

f−j (z) :=−1∑

n=−∞fj,n(z − zj)n , z ∈ C \ zj,

sei die durch den Hauptteil dieser Reihe defnierte holomorphe Funktion auf C\zj.Die Funktion f −∑k

j=1 f−j besitzt dann offenbar eine holomorphe Fortsetzung aufU . Da γ in U nullhomotop ist, folgt daraus mit dem Cauchyschen Integralsatz(Formel (6.4) in Theorem 6.4)

12πi

γ

f =k∑

j=1

12πi

γ

f−j .

Es genugt deswegen zu zeigen, dass fur j = 1, . . . , k

(16.4)1

2πi

γ

f−j = Reszjf

gilt. Da jedes zj innerer Punkt von γ ist und somit (nach Definition) γ in C \ zjzur Kreislinie γ1,zj

homotop ist, folgt wieder aus dem Cauchyschen Integralsatz(Formel (6.3) in Theorem 6.4), dass

12πi

γ

f−j =1

2πi

|z−zj |=1

f−j .

Daraus erhalt man die gewunschte Beziehung (16.4) mit Hilfe der Darstellungsfor-mel (14.6) fur die Koeffizienten einer Laurentreihe sowie der Formel (16.2). ¤

Der folgenden beiden Satze konnen zur Berechnung von Residuen benutzt wer-den:

16.6. Satz. Sei f : U → C eine holomorphe Funktion und z0 eine Polstelle derOrdnung N ≥ 1 von f . Setzt man dann

f(z) = (z − z0)Nf(z) , fur z ∈ U \ z0,so ist f holomorph fortsetzbar nach z0 und es gilt (wir bezeichnen die fortgesetzteFunktion wieder mit f)

(16.5) Res z0f =

f (N−1)(z0)(N − 1)!

.

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64 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

Beweis. Da z0 eine Polstelle der Ordnung N von f ist, ist die Laurentreihenent-wicklung von f in diesem Punkt von der Form

f(z) =∞∑

n=−N

fn(z − z0)n mit f−N 6= 0.

Daraus folgt: Die Funktion f ist nach z0 holomorph fortsetzbar und hat dort diePotenzreihenentwicklung

f(z) =∞∑

n=−N

fn(z − z0)n+N =∞∑

n=0

fn−N (z − z0)n.

In einer Umgebung von z0 gilt deswegen

f (N−1)(z) =∞∑

n=N−1

((n−N) . . . (n− 1)n

)fn−N (z − z0)n−N+1.

Daraus folgtfN−1(z0) = (N − 1)!f−1 = (N − 1)! Res z0

f,

d.h. es gilt (16.5). ¤

16.7. Satz. Seien f, g : U → C holomorphe Funktionen, U ⊆ C offen, und seiz0 ∈ U ein Punkt, in dem g eine Nullstelle 1. Ordnung hat (es sei also g(z0) = 0und g′(z0) 6= 0). Dann ist f/g in einer punktierten Umgebung der Form 0 < |z −z0| < ε wohldefiniert und holomorph (denn Nullstellen holomorpher Funktionen sindisoliert) und es gilt: Ist f(z0) = 0, so hat f/g im Punkt z0 eine hebbare Singularitat.Ist f(z0) 6= 0, so hat f/g im Punkt z0 einen Pol erster Ordnung. In beiden Fallengilt

(16.6) Res z0

f

g=

f(z0)g′(z0)

.

Ist f(z0) = 0, so folgt aus Satz 15.4, Bemerkung 15.5 und dem RiemannschenHebbarkeitswsatz, dass z0 eine hebbare Singularitat von f/g ist. Die Gleichung(16.6) ist dann trivial. Ist f(z0) 6= 0, so folgt aus Satz 15.4, dass f/g im Punkt z0

einen Pol erster Ordnung hat, und die Gleichung (16.6) folgt aus Satz 16.6. In derTat: Bezeichnet man die holomorphe Fortsetung von (z− z0)f(z)/g(z) nach z0 mith, so gilt nach diesem Satz

Res z0

f

g= h(z0),

d.h.

Res z0

f

g= lim

z→z0h(z) = lim

z→z0(z − z0)

f(z)g(z)

=lim

z→z0f(z)

limz→z0

g(z)−g(z0)z−z0

=f(z0)g′(z0)

.

Der Residuensatz kann fur die Berechnung von Integralen nutzlich sein. Wirdemonstrieren das an einem Beispiel. Nehmen wir an, wir wollten das Intgegral

∞∫

−∞

dx

1 + x4

berechnen. Das kann man mit dem Residuensatz wie folgt machen:

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FUNKTIONENTHEORIE I 65

Das komplexe Polynom 1 + z4 hat in der oberen Halbebene die einzigen beidenNullstellen z1 := eiπ/4 und z2 := e3iπ/4. Fur R > 1 liegen diese innerhalb derHalbkreisscheibe

x + iy ∈ C

∣∣∣ x, y ∈ R , x2 + y2 < R , y > 0

.

Nach dem Residuensatz gilt deswegen fur jedes R > 1

(16.7)

R∫

−R

11 + x4

dx +

π∫

0

Rieit

(1 + Reit)4dt = Resz1

2πi

1 + z4+ Resz2

2πi

1 + z4.

Wegen1

1 + x4≤ 1

x4fur x ∈ R \ 0,

gilt fur alle R > 0−R∫

−∞

dx

1 + x4+

∞∫

R

dx

1 + x4≤ 2

∞∫

R

dx

x4=

23R3

.

Außerdem gilt fur R > 1∣∣∣∣∫ π

0

ieit

(1 + Reit)4dt

∣∣∣∣ ≤∫ π

0

1(R− 1)4

dt = π1

(R− 1)4.

Daraus folgt, dass das zu berechnende Integral∞∫

−∞

dx

1 + x4

der Grenzwert fur R →∞ der linken Seite von (16.7) ist. Da diese linke Seite aberstets gleich ist zu der von R unabhangigen rechten Seite, folgt daraus

∞∫

−∞

dx

1 + x4= Resz1

2πi

1 + z4+ Resz2

2πi

1 + z4.

Es genugt also, die beiden Residuen

Resz1

2πi

1 + z4und Resz2

2πi

1 + z4

zu berechnen. Da zj eine Nullstelle erster Ordnung von 1 + z4 ist, ist zj ein Polerster Ordnung von 1/(1 + z4). Daraus folgt mit Satz 16.7

Reszj

11 + z4

=1

(1 + z4)′∣∣z=zj

=1

4z3j

,

d.h.

Resz1

2πi

1 + z4=

πi

2e−3πi/4 und Resz2

2πi

1 + z4=

14e9πi/4

=πi

2e−πi/4.

Folglich gilt∞∫

−∞

dx

1 + x4=

πi

2

(e−3πi/4 + e−πi/4

)=

πi

2

(−i

1√2− i

1√2

)=

π√2.

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66 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

Ende des ersten Halbsemesters

17. Uber unendliche Summen und Produkte komplexer Zahlen(Beginn des zweiten Halbsemesters)

17.1. Definition. Unter einer abzahlbaren Familie komplexer Zahlen verste-hen wir eine indizierte Familie aωω∈Ω, wobei Ω eine abzahlbare Menge ist20 unddie aω komplexe Zahlen sind.21 Eine abzahlbare Familie komplexer Zahlen aωω∈Ω

heißt summierbar, falls fur jede bijektive Abbildung τ : N→ Ω von N auf Ω

(17.1)∞∑

n=0

∣∣∣aτ(n)

∣∣∣ < ∞

gilt.

17.2. Bemerkung. Aus Analysis I und II wissen wir, dass die Gultigkeit derAussage (17.1) nicht von der Wahl der Bijektion τ abhangt. (Absolut konvergenteReihen bleiben absolut konvergent, wenn man sie beliebig umordnet.) Eine abzahl-bare Familie komplexer Zahlen aωω∈Ω ist also bereits dann summierbar, wennman weiß, dass (17.1) fur mindestens eine Bijektion τ : N→ Ω gilt.

Weiter wissen wir aus Analysis I und II, dass in diesem Fall auch die Reihe

(17.2)∞∑

n=0

aτ(n)

konvergiert und dass der Wert dieser Reihe nicht von der Wahl von τ abhangt.

17.3. Definition. Sei aωω∈Ω eine summierbare abzahlbare Familie komplexerZahlen. Da der Wert von (17.2) nicht von der Wahl der Bijektion τ : N → Ωabhangt, wahlt man fur diesen Wert auch eine Bezeichnung, in der τ gar nichtmehr vorkommt, namlich:

(17.3)∑

ω∈Ω

aω.

Es gilt also nach Definition:

(17.4)∑

ω∈Ω

aω =∞∑

n=0

aτ(n),

wobei τ irgendeine Bijektion von N auf Ω ist.

20Zur Erinnerung: Eine Menge Ω heißt abzahlbar, wenn es eine Bijektion τ : N → Ω von Nauf Ω gibt.

21Eine abzahlbaren Familie komplexer Zahlen ist also eine Abbildung a : Ω → C, wobei Ω eineabzahlbare Menge ist und wobei wir die Schreibweise aω := a(ω), ω ∈ Ω, benutzen. Fur Ω = Nerhalten wir den bekannten Begriff der komplexen Zahlenfolge.

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FUNKTIONENTHEORIE I 67

Den Sachverhalt, dass die Familie aωω∈Ω summierbar ist, druckt man auchdadurch aus, dass man schreibt

ω∈Ω

|aω| < ∞

oder dass man sagt, dass die Summe∑

ω∈Ω aω konvergiert.22

17.4. Bemerkung. Sei aωω∈Ω eine summierbare Familie komplexer Zahlen. Ω′

sei eine weitere abzahlbare Menge, und sei τ : Ω′ → Ω eine Bijektion von Ω′ auf Ω.Dann ist auch die Familie aτ(ω′)ω′∈Ω′ summierbar und es gilt

(17.5)∑

ω′∈Ω′aτ(ω′) =

ω∈Ω

aω.

17.5. Bemerkung. Sei ln der Hauptzweig des Logarithmnus (vgl. Folgerung undDefinition 12.7). Man rechnet leicht nach (Ubungsaufgabe 4 der 6. Serie), dass dieholomorphe Funktion ln(1 + z), die dann insbesondere auf der offenen Einheits-kreisscheibe |z| < 1 definiert ist, im Punkt 0 die Potenzreihenentwicklung

ln(1 + z) =∞∑

n=1

(−1)n+1

nzn

hat, woraus man dann die folgende Abschatzung erhalt

(17.6)12|z| < | ln(1 + z)| < 2|z| fur |z| < 1

2bzw.

(17.7)12|z − 1| < | ln(z)| < 2|z − 1| fur |z − 1| < 1

2.

17.6. Definition. Eine abzahlbare Familie komplexer Zahlen aωω∈Ω heißt mul-tiplizierbar, falls ∑

ω∈Ω

|aω − 1| < ∞.

17.7. Bemerkung. Es ist klar, dass in einer summierbaren Familie hochstens end-lich viele Nullen vorkommen konnen. Mehr noch, fur jedes ε > 0 liegen hochstensendlich viele Elemente der Familie nicht in der Kreisscheibe |z − 1| < ε. Aus Be-merkung 17.5 folgt damit, dass eine abzahlbare Familie komplexer Zahlen aωω∈Ω

genau dann multiplizierbar ist, falls gilt:

• Es gibt eine endliche Teilmenge Ω0 ⊆ Ω mit aω ∈ C\] − ∞, 0] fur alleω ∈ Ω \ Ω0.

• Die Familie komplexer Zahlen ln aωω∈Ω\Ω0ist summierbar.

22Im Fall solcher Summen (mit nicht angeordnetem Indexbereich Ω) spricht man einfach von”Konvergenz” und nicht von ”absoluter Konvergenz”, obwohl die Konvergenz von

∑ω∈Ω aω stets

”absolute Konvergenz”, d.h. die Konvergenz von∑

ω∈Ω |aω |, zur Folge hat. In der Tat, nach

Definition bedeutet Konvergenz von∑

ω∈Ω aω , dass jede der Reihen∑∞

n=0 aτ(ω), wobei τ : N→Ω eine beliebige Bijektion ist, konvergiert. Das bedeutet, dass jede dieser Reihen nach belieberUmordnung wieder konvergiert. Aus Analysis I und II ist aber bekannt, dass letztere Eigenschaft(die unbedingte Konvergenz) im Fall von Zahlenreihen zur absoluten Konvergenz aquivalent ist.

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68 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

17.8. Satz und Definition. Sei aωω∈Ω eine multiplizierbare abzahlbare Familiekomplexer Zahlen. Dann konvergiert die Folge der Produkte

N∏

n=1

aτ(n)

N∈N∗

fur jede Bijektion τ : N→ Ω gegen eine komplexe Zahl, die wir mit∞∏

n=0

aτ(n)

bezeichnen. Diese Zahl hangt nicht von der Wahl von τ ab, d.h. fur je zwei Bijek-tionen τ : N→ Ω und τ ′ : N→ Ω gilt

∞∏n=1

aτ(n) =∞∏

n=1

aτ ′(n).

Wir konnen deswegen definieren:∏

ω∈Ω

aω =∞∏

n=1

aτ(n),

wobei τ : N→ Ω irgendeine Bijektion von N auf Ω ist.Ist Ω0 ⊆ Ω eine endliche Teilmenge mit aω ∈ C\]−∞, 0] fur ω ∈ Ω \Ω0 (so ein

Ω0 existiert immer - vgl. Bemerkung 17.7), so gilt

(17.8)∏

ω∈Ω

aω =

( ∏

ω∈Ω0

)exp

ω∈Ω\Ω0

ln aω

.

Beweis. Sei Ω0 ⊆ Ω eine endliche Teilmenge mit |aω − 1| < 1 fur ω ∈ Ω \ Ω0, undsei τ : N → Ω eine Bijektion. Wir wahlen N0 ∈ N∗ so groß, dass aτ(n) 6∈ Ω0 furn ≥ N0. Dann gilt fur N > N0

N∏n=0

aτ(n) =

(N0∏

n=0

aτ(n)

) (N∏

n=N0+1

eln aτ(n)

)=

(N0∏

n=0

aτ(n)

)exp

(N∑

n=N0+1

ln aτ(n)

),

und es folgt

limN→∞

N∏n=0

aτ(n) =

(N0∏

n=0

aτ(n)

)exp

(lim

N→∞

N∑

n=N0+1

ln aτ(n)

)

=

(N0∏

n=0

aτ(n)

)exp

( ∞∑

n=N0+1

ln aτ(n)

)

=

( ∏

ω∈Ω0

) ∏

ω∈τ(1),...,τ(N0)\Ω0

exp

( ∞∑

n=N0+1

ln aτ(n)

)

=

( ∏

ω∈Ω0

)exp

ω∈τ(1),...,τ(N0)\Ω0

ln aω

exp

( ∞∑

n=N0+1

ln aτ(n)

)

=

( ∏

ω∈Ω0

)exp

ω∈Ω\Ω0

ln aω

,

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FUNKTIONENTHEORIE I 69

woraus man alle Behauptungen abliest. ¤

17.9. Bemerkung. Aus der Darstellung (17.8) liest man ab: Ist aωω∈Ω einemultiplizierbare abzahlbare Familie komplexer Zahlen und aω 6= 0 fur alle ω ∈ Ω,so ist auch ∏

ω∈Ω

aω 6= 0.

17.10. Satz (Cauchyscher Multiplikationssatz). Es seiena(j)

ω

ω∈Ωj

, j = 1, . . . , N,

endlich viele abzahlbare Familien komplexer Zahlen. Ist jede dieser Familien absolutsummierbar, so ist auch die Familie der Produkte

a(1)ω1· . . . · a(N)

ωN

(ω1,...,ωN )∈Ω1×...×ΩN

absolut summierbar und es gilt

(17.9)∑

(ω1,...,ωN )∈Ω1×...×ΩN

a(1)ω1· . . . · a(N)

ωN=

N∏

j=1

ω∈Ωj

a(j)ω .

Beweis. Wir fixieren irgendwelche bijektiven Abbildungen τj : N∗ → Ωj , 1 ≤ j ≤N . Dann wahlen wir eine bijektive Abbildung φ = (φ1, . . . , φN ) : N∗ → Ω1×. . .×ΩN

mit

(17.10)

φ(1), . . . , φ(mN )

=

τ1(1), . . . , τ1(m)× . . .×

τN (1), . . . , τN (m)

fur alle m ∈ N∗. Nach Voraussetzung wissen wir, dass∑∞

n=1

∣∣a(j)τj(n)

∣∣ < ∞ fur1 ≤ j ≤ N und somit

(17.11)N∏

j=1

∞∑n=1

∣∣∣a(j)τj(n)

∣∣∣ < ∞.

Zeigen mussen wir, dass

(17.12)∞∑

n=1

∣∣∣a(1)φ1(n) · . . . · a

(N)φN (n)

∣∣∣ < ∞

und

(17.13)∞∑

n=1

a(1)φ1(n) · . . . · a

(N)φN (n) =

N∏

j=1

∞∑n=1

a(j)τj(n).

Aus (17.10) folgt fur alle m ∈ N∗

(17.14)N∏

j=1

m∑n=1

a(j)τj(n) =

m∑n1,...,nN=1

a(1)τ1(n1)

· . . . · a(N)τN (nN ) =

mN∑n=1

a(1)φ1(n) · . . . · a

(N)φN (n)

sowie

(17.15)N∏

j=1

m∑n=1

∣∣∣a(j)τj(n)

∣∣∣ =mN∑n=1

∣∣∣a(1)φ1(n) · . . . · a

(N)φN (n)

∣∣∣.

Da die linke Seite von (17.15) fur alle m durch die (endliche und von m unabhangige)linke Seite von (17.11) beschrankt ist, folgt (17.12) aus (17.15). Die Reihe auf der

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70 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

linken Seite von (17.13) konvergiert also absolut, und fur den Wert dieser Reihefolgt aus (17.14)

∞∑n=1

a(1)φ1(n) · . . . · a

(N)φN (n) = lim

m→∞

mN∑n=1

a(1)φ1(n) · . . . · a

(N)φN (n)

=N∏

j=1

limm→∞

m∑n=1

a(j)τj(n) =

N∏

j=1

∞∑n=1

a(j)τj(n).

Es gilt also auch (17.13). ¤

18. Unendliche Summen und Produkte holomorpher Funktionen

18.1. Definition. Sei U ⊆ C offen. Unter einer abzahlbaren Familie holomor-pher Funktionen auf U verstehen wir eine indizierte Familie fωω∈Ω, wobei Ωeine abzahlbare Menge ist und die fω auf U definierte holomorphe Funktionen sind.

18.2. Definition. Sei U ⊆ C offen, und sei fωω∈Ω eine abzahlbare Familie holo-morpher Funktionen auf U . Wir werden sagen, dass die Familie fωω∈Ω auf einerMenge K ⊆ U normal summierbar ist, falls∑

ω∈Ω

supz∈K

|fω(z)| < ∞.

18.3. Definition. Sei U ⊆ C offen, und sei fωω∈Ω eine abzahlbare Familie ho-lomorpher Funktionen auf U , die auf jeder kompakten Teilmenge von U normalsummierbar ist. Insbesondere ist dann fur jedes z ∈ U die Familie komplexer Zah-len fω(z)ω∈Ω summierbar. Deswegen ist

U ∈ z −→∑

ω∈Ω

fω(z)

eine wohldefinierte Funktion auf U . Diese Funktion heißt Summe der Familiefωω∈Ω und wird mit ∑

ω∈Ω

bezeichnet.

18.4. Bemerkung. Sei U ⊆ C offen, und sei fωω∈Ω sei eine abzahlbaren Familieholomorpher Funktionen auf U , die auf jeder kompakten Teilmenge von U normalsummierbar ist. Dann ist

∑ω∈Ω fω holomorph auf U .

Beweis. Sei τ : N → Ω eine Bijektion, und sei K ⊆ Ω kompakt. Dann gilt nachVorausssetzung

limN→∞

∞∑

n=N+1

maxz∈K

∣∣fτ(n)(z)∣∣ = 0.

Daraus folgt

limN→∞

maxz∈K

∣∣∣∣∣f(z)−N∑

n=1

fτ(n)(z)

∣∣∣∣∣ = limN→∞

maxz∈K

∣∣∣∣∣∞∑

n=N+1

fτ(n)(z)

∣∣∣∣∣

≤ limN→∞

∞∑

n=N+1

maxz∈K

∣∣∣fτ(n)(z)∣∣∣ = 0,

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FUNKTIONENTHEORIE I 71

d.h. die Folge der Partialsummen

N∑n=1

fτ(n)

N∈N

konvergiert auf auf jeder kompakten Teilmenge von U gleichmaßig gegen∑

ω∈Ω fω.Mit Satz 7.7 folgt daraus die Holomorphie von

∑ω∈Ω fω. ¤

18.5. Definition. Sei U ⊆ C offen, und sei fωω∈Ω eine abzahlbaren Familieholomorpher Funktionen auf U . Wir werden sagen, dass die Familie fωω∈Ω aufeiner Menge K ⊆ U normal multiplizierbar ist, falls die Familie fω − 1ω∈Ω

auf K normal summierbar ist.

18.6. Bemerkung. Sei U ⊆ C offen, sei fωω∈Ω eine abzahlbaren Familie holo-morpher Funktionen auf U , und sei K ⊆ U . Es ist klar, dass fωω∈Ω nur dannauf K normal multiplizierbar sein kann, wenn fur jedes ε > 0 eine endliche MengeΩ0 ⊆ Ω existiert mit

supz∈K

|fω(z)− 1| < ε fur alle ω ∈ Ω \ Ω0.

Deswegen folgt aus Bemerkung 17.5, dass die Familie fωω∈Ω genau dann auf Knormal multiplizierbar ist, wenn es eine endliche Menge Ω0 ⊆ Ω gibt, so dass gilt:fω(z) ∈ C\] − ∞, 0] fur alle z ∈ K und ω ∈ Ω \ Ω0, und die Familie ln fωω∈Ω

konvergiert normal auf K.

18.7. Definition. Sei U ⊆ C offen, und sei fωω∈Ω sei eine abzahlbaren Fami-lie holomorpher Funktionen auf U , die auf den kompakten Teilmenge von U nor-mal multiplizierbar ist. Insbesondere sind dannn die Familien komplexer Zahlenfω(z)ω∈Ω, z ∈ U , multiplizierbar (im Sinne von Definition 17.8). Wir definieren

( ∏

ω∈Ω

)(z) =

ω∈Ω

fω(z) , z ∈ Ω.

Die somit auf ganz U wohldefinierte Funktion∏

ω∈Ω fω heißt (unendliches) Pro-dukt von fωω∈Ω.

18.8. Satz. Sei U ⊆ C offen, und sei fωω∈Ω eine abzahlbaren Familie holomor-pher Funktionen auf U , die auf den kompakten Teilmenge von U normal multipli-zierbar ist. Dann gilt:

(i) Das oben definierte Produkt∏

ω∈Ω fω ist eine holomorphe Funktion auf U .(ii) Fur jede Bijektion τ : N→ Ω konvergiert die Folge der endlichen Produkte

(18.1)

N∏

n=0

fτ(n)

N∈N

auf jeder kompakten Teilmenge von U gleichmaßig gegen∏

ω∈Ω fω.

Beweis. Teil (i) folgt mit Satz 7.7 aus Teil (ii). Es genugt also (ii) zu beweisen.Sei τ : N→ Ω eine Bijektion, und K ⊆ U sei kompakt. Nach Voraussetzung (vgl.

Bemerkung 18.6) gibt es dann N0 ∈ N mit

(18.2) fτ(n) ∈ C\]−∞, 0] , z ∈ K , n > N0,

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72 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

so dass die Familie ln fτ(n)n>N0 auf K normal summierbar ist. Dann konvergiertdie Reihe

(18.3)∞∑

n=N0+1

ln fτ(n) , N > N0,

gleichmaßig auf K. Fur jedes z ∈ K gilt (vgl. (17.8)):

(18.4)∏

ω∈Ω

fω(z) =

(N0∏

n=0

fτ(n)(z)

)(exp

∞∑

n=N0+1

ln fτ(n)(z)

).

WegenN∏

n=0

fτ(n)(z) =

(N0∏

n=0

fτ(n)(z)

)(exp

N∑

n=N0+1

ln fτ(n)(z)

)

fur alle N > N0 und z ∈ K, folgt daraus

(18.5)∏

ω∈Ω

fω(z)−N∏

n=0

fτ(n)(z)

=

(N0∏

n=0

fτ(n)(z)

)(exp

∞∑

n=N0+1

ln fτ(n)(z)− expN∑

n=N0+1

ln fτ(n)(z)

)

fur alle N > N0 und z ∈ K. Da die FolgeN∑

n=N0+1

ln fτ(n) , N > N0,

gleichmaßig auf K gegen (18.3) konvergiert und da die Menge der Werte, wel-che die Funktion (18.3) auf K annimmt, kompakt ist (denn das stetige Bild einesKompaktums ist kompakt), und da die Funktion exp auf jeder kompakten Men-ge gleichmaßig stetig ist (denn jede stetige Funktion auf einem Kompaktum istgleichmaßig stetig), konvergiert die Folge

expN∑

n=N0+1

ln fτ(n) , N > N0,

gleichmaßig auf K gegen die Funktion

exp∞∑

n=N0+1

ln fτ(n).

Zusammen mit (18.5) ergibt das, dass die Folge (18.1) gleichmaßig auf K gegen∏ω∈Ω fω konvergiert. Damit ist Teil (ii) gezeigt. ¤

19. Die Riemannsche ζ-Funktion

Da ab jetzt Halbebenen, die rechts von einer Parallelen zur imaginaren Achseliegen, eine wichtige Rolle spielen, fuhren wir dafur die folgende Bezeichnung ein:Fur t ∈ R setzen wir

Ht =

z ∈ C∣∣∣ Re z > t

und Ht =

z ∈ C

∣∣∣ Re z ≥ t

.

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FUNKTIONENTHEORIE I 73

Weiter bezeichnen wir ab jetzt mit ln den aus Analysis I und II bekannten naturli-chen Logarithmus (bzw. den Hauptzweig des Logarithmus, vgl. Definition 12.7).Fur jedes n ∈ N∗ definiert man durch

nz = ez ln n , z ∈ C,

eine holomorphe Funktion nz auf C, die uberall 6= 0 ist (denn ew 6= 0 fur allew ∈ C), und es gilt

1nz

=1

ez ln n= e−z ln n = n−z fur alle z ∈ C .

Weiter gilt

(19.1)∣∣∣∣

1nz

∣∣∣∣ =∣∣∣∣

1e(Re z+i Im z) ln n

∣∣∣∣ =1

e(Re z) ln n=

1nRe z

,

und es folgt, dass fur jedes reelle ε > 0 gilt:

(19.2)∞∑

n=1

supz∈H1+ε

∣∣∣∣1nz

∣∣∣∣ =∞∑

n=1

supz∈H1+ε

1nRe z

≤∞∑

n=1

1n1+ε

< ∞.

Die Familie n−zn∈N∗ ist also normal summierbar auf jeder abgeschlossenen Halb-ebene der Form H1+ε, ε > 0. Insbesondere ist sie auf jeder kompakten Teilmengevon H1 normal summierbar. Nach Satz 18.4 ist daher durch

ζ(z) :=∞∑

n=1

1nz

=∞∑

n=1

n−z , z ∈ H1,

auf H1 eine holomorphe Funktion ζ wohldefiniert. Diese Funktion ζ heißt Rie-mannsche ζ-Funktion oder einfach ζ-Funktion.

Wir bezeichnen von jetzt an mit P die Menge aller Primzahlen. Weiter sei pn,n ∈ N∗, die n-te Primzahl (der Große nach), also p1 = 2, p2 = 3, usw. Wegen (19.1)gilt

(19.3)∣∣p−z

∣∣ = p−Re z ≤ 2−Re z <12

, z ∈ H1, p ∈ P,

und somit

(19.4)∣∣1− p−z

∣∣ >12

, z ∈ H1, p ∈ P.

Folglich ist 1

1− p−z

p∈P

, z ∈ H1,

eine wohldefinierte Familie holomorpher Funktionen auf H1. Die Bedeutung derζ-Funktion fur die Primzahlen ergibt sich aus dem folgenden Satz von Euler:

19.1. Satz (Darstellung der ζ-Funktion als Eulerprodukt). Die Familie holomor-pher Funktionen

11− p−z

p∈P

, z ∈ H1,

ist auf jeder abgeschlossenen Halbebene der Form H1+ε, ε > 0, normal multipli-zierbar, und es gilt (vgl. Definition 18.7):

(19.5) ζ(z) =∏

p∈P

11− p−z

, z ∈ H1.

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74 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

19.2. Bemerkung. Wegen1

1− p−z6= 0 , p ∈ P , z ∈ H1 ,

folgt aus der Eulerschen Produktdarstellung insbesondere, dass ζ(z) 6= 0 fur allez ∈ H1 (vgl. Bemerkung 17.9).

Beweis von Satz 19.1. Fur Re z ≥ 1 erhalt man aus (19.1)∣∣p−z

n

∣∣ = p−Re zn ≤ p−1

n ≤ 12

und somit |1− p−zn | ≥ 1

2.

Daraus folgt∣∣∣∣

11− p−z

n− 1

∣∣∣∣ =

∣∣1− (1− p−zn )

∣∣∣∣1− p−z

n

∣∣ =

∣∣p−zn

∣∣∣∣1− p−z

n

∣∣ ≤ 2∣∣p−z

n

∣∣ .

Wieder mit (19.1) erhalt man daraus

supz∈H1+ε

∣∣∣∣1

1− p−zn

− 1∣∣∣∣ ≤ 2p−1−ε

n .

Daraus folgt∞∑

n=1

supz∈H1+ε

∣∣∣∣1

1− p−zn

− 1∣∣∣∣ ≤ 2

∞∑n=1

1p1+ε

n

< 2∞∑

n=1

1n1+ε

< ∞, ε > 0,

womit die normale Multiplizierbarkeit auf H1+ε, ε > 0, gezeigt ist. Um die Bezie-hung (19.5) zu zeigen, setzen wir

Aj =pν

j

∣∣ ν = 0, 1, 2 . . .

, j ∈ N∗,und bezeichnet mit BN , N ∈ N∗, die Menge aller Zahlen aus N∗, die durch keineder Primzahlen p1, . . . , pN teilbar ist. Nach dem Satz von der eindeutigen Primfak-torzerlegung ist dann die Abbildung

A1 × . . .×AN ×BN −→ N∗

(n1, . . . , nN , m) −→ n1 · . . . · nN ·m(19.6)

fur jedes N ∈ N∗ eine Bijektion. Fur Re z > 1 folgt daraus

ζ(z) =∑

n∈N∗n−z =

(n1,...,nN ,m)∈A1×...×AN×BN

(n1 · . . . · nN ·m)−z,

und weiter, mit dem Cauchyschen Multiplikationssatz,

ζ(z) =

N∏

j=1

nj∈Aj

n−zj

m∈BN

m−z

.

Wegen∑

nj∈Aj

n−zj =

∞∑ν=0

(pνj )−z =

∞∑ν=0

(p−zj )ν =

11− p−z

j

(geometrische Reihe)

erhalt man daraus schließlich, dass

(19.7) ζ(z) =

N∏

j=1

11− p−z

j

m∈BN

m−z

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FUNKTIONENTHEORIE I 75

fur alle N ∈ N∗ und Re z > 1. Nach Definition von BN gilt 1 ∈ BN und m ≥ pN +1fur m ∈ BN \ 1. Daraus folgt wieder mit (19.1)∣∣∣∣∣∣

m∈BN

m−z − 1

∣∣∣∣∣∣=

∣∣∣∣∣∣∑

m∈BN\1m−z

∣∣∣∣∣∣≤

∞∑m=pN+1

∣∣m−z∣∣ ≤

∞∑m=pN+1

1mRe z

und somitlim

N→∞

m∈BN

m−z = 1 fur Re z > 1.

Zusammen mit (19.7) ergibt das (19.5). ¤

19.3. Satz und Definition. Es gibt eine auf der offenen Halbebene H0 definierteholomorphe Funktion h mit

ζ(z)− 1z − 1

= h(z) fur z ∈ H1.

Mit anderen Worten: Die ζ-Funktion gestattet eine holomorphe Fortsetzung in dieMenge H0 \ 1, die nach dem Eindeutigkeitssatz eindeutig bestimmt ist und imPunkt 1 einen Pol erster Ordnung mit dem Residuum 1 hat.

Definition: Ab jetzt nennen wir diese Fortsetzung Riemannsche ζ-Funktionund bezeichnen sie mit ζ.

Beweis. Zuerst uberlegt man sich, dass auch fur fixiertes komplexes z 6= 0 dieFunktion

]0,+∞[3 x → xz := e(ln x)z

stetig differenzierbar ist, wobei giltd

dxxz = z xz−1.

Das folgt z.B. mit der Version der Kettenregel, die in Lemma 3.6 formuliert ist:

d

dxxz =

d

dxe(ln x)z =

(d

dxlnx

)z e(ln x)z =

1x

z e(ln x)z = z e(ln x)(z−1) = z xz−1.

Damit und dem Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung erhalt man furRe z > 1 und 1 < R < ∞

R∫

1

x−z dx =1

1− zx1−z

∣∣∣x=R

x=1=

R1−z

1− z− 1

1− z.

Da fur Re z > 1

limR→∞

∣∣∣∣R1−z

1− z

∣∣∣∣ = limR→∞

RRe (1−z)

|1− z| = 0

gilt, folgt daraus

1z − 1

=

∞∫

1

x−z dx =∞∑

n=1

n+1∫

n

x−z dx fur z ∈ H1 .

Fur alle z ∈ H0 (und nicht nur in H1) definieren wir nun

fn(z) := n−z −n+1∫

n

x−zdx , n ∈ N∗ .

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76 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

Damit folgt dann weiter

ζ(z)− 1z − 1

=∞∑

n=1

n−z −∞∑

n=1

n+1∫

n

x−zdx =∞∑

n=1

fn(z) fur z ∈ H1 .

Es genugt jetzt zu zeigen (Satz 18.4), dass fnn∈N∗ eine Familie holomorpherFunktionen ist, die auf jeder kompakten Teilmenge von H0 normal summierbar ist,denn dann ist h :=

∑∞n=1 fn die gewunschte Funktion.

Wir zeigen zuerst, dass jedes fn holomorph auf ganz C ist. Da uns die Holomor-phie von n−z bereits bekannt ist, mussen wir nur noch zeigen, dass

n+1∫

n

x−z dx , z ∈ C,

holomorph ist. Letzteres kann man durch Differenzieren unter dem Integral erken-nen oder dadurch, dass man diese Funktion auf C \ 1 in der Form

n+1∫

n

x−z dx =x1−z

1− z

∣∣∣∣∣

x=n+1

x=n

=(n + 1)1−z − n1−z

1− z

darstellt und bemerkt, dass die Funktion (n + 1)1−z − n1−z auf ganz C holomorphist und im Punkt z = 1 eine Nullstelle hat.

Es bleibt zu zeigen, dass die Familie fn auf den kompakten Teilmengen vonH0 normal summierbar ist. Das erhalt man wie folgt: Fur n ≤ x ≤ n + 1 gilt

x∫

n

z u−z−1du = −u−z∣∣∣u=x

u=n= n−z − x−z

und somit

|n−z − x−z| ≤ maxn≤u≤n+1

|z|∣∣∣∣

1uz+1

∣∣∣∣ ≤|z|

n1+Re z

Fur alle ε > 0 wir daraus die Abschatzung

|fn(z)| =∣∣∣∣∣∣

n+1∫

n

(n−z − x−z

)dx

∣∣∣∣∣∣≤ |z|

n1+ε, z ∈ Hε .

Sei nun K eine beliebige kompakte Teilmenge von H0. Dann konnen wir ein ε > 0so klein wahlen, dass K ⊆ Hε gilt, und aus der obigen Abschatzung folgt

∞∑n=1

supz∈K

|fn(z)| ≤ maxz∈K

|z|∞∑

n=1

1n1+ε

< ∞.

Die Familie fn ist also auf K normal summierbar. ¤

19.4. Satz und Definition. (i) Die Familie holomorpher Funktionen

ln p

pz

p∈P, Re z > 1,

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FUNKTIONENTHEORIE I 77

ist auf jeder abgeschlossenen Halbebene der Form H1+ε, ε > 0, normal summierbar.Die holomorphe Funktion auf der offenen Halbebene H1, die durch die Summe dieserFamilie definiert wird (vgl. Satz 18.4) bezeichnen wir mit Φ:

Φ(z) :=∑

p∈P

ln p

pz, z ∈ H1.

(ii) Die Familie holomorpher Funktionen

ln p

pz(pz − 1)

p∈P, Re z >

12,

ist auf jeder abgeschlossenen Halbebene der Form H1/2+ε, mit ε > 0, gleichmaßigsummierbar. Die holomorphe Funktion auf der offenen Halbebene H1/2, die durchdie Summe dieser Familie definiert wird (vgl. Satz 18.4) bezeichnen wir mit Ψ:

Ψ(z) :=∑

p∈P

ln p

pz(pz − 1), Re z >

12.

Beweis. Wir setzen

Cε := supn∈N∗

ln n

nε, ε > 0 .

Bekanntlich gilt Cε < ∞ fur jedes ε > 0. Sei nun ε > 0 fixiert. Dann gilt

|pz| = pRe z ≥ p1+ε fur z ∈ H1+ε und p ∈ P,

und es folgt∑

p∈Psup

z∈H1+ε

∣∣∣∣ln p

pz

∣∣∣∣ ≤∑

p∈P

ln p

p1+ε≤ Cε/2

p∈P

1p1+ε/2

< Cε/2

n∈N∗

1n1+ε/2

< ∞,

womit Teil (i) gezeigt ist. Ist nun Re z ≥ ε + 1/2, so gilt fur alle p ∈ P|pz| ≥ pε+1/2

und

|pz − 1| ≥ p1/2+ε−1 =(

1− 1p1/2+ε

)p1/2+ε ≥

(1− 1√

2

)p1/2+ε =

√2− 1√

2p1/2+ε,

woraus folgt

p∈Psup

z∈H1/2+ε

∣∣∣∣ln p

pz(pz − 1)

∣∣∣∣ ≤√

2√2− 1

p∈P

ln p

p1+2ε≤

√2√

2− 1Cε

n∈N∗

1n1+ε

< ∞,

womit auch Teil (ii) gezeigt ist. ¤

Nach Satz 19.1 ist ζ(z) 6= 0 fur Re z > 1. Folglich ist die so genannte logarith-mische Ableitung ζ ′(z)/ζ(z) fur Re z > 1 wohldefiniert.

19.5. Lemma. Es gilt

−ζ ′(z)ζ(z)

= Φ(z) + Ψ(z) fur Re z > 1.

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78 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

Beweis. Wir notieren zuerst, dass fur jedes p ∈ P(p−z

)′ =(e−(ln p)z

)′= −(ln p) p−z

und somit (1

1− p−z

)′= − (ln p) p−z

(1− p−z)2= − ln p

(1− p−z)(pz − 1)gilt. Aus der Eulerschen Produktdarstellung (Satz 19.1) und Satz 18.8 folgt, dassdie Folge holomorpher Funktionen

N∏n=1

11− p−z

n, N = 1, 2, . . . ,

auf jeder kompakten Teilmenge von H1 gleichmaßig gegen ζ(z) konvergiert. Also(Satz 7.7) konvergiert auch die Folge der Ableitungen

(N∏

n=1

11− p−z

n

)′

= −N∑

j=1

ln pj

pzj − 1

N∏n=1

11− p−z

n, N = 1, 2, . . . ,

auf jeder kompakten Teilmenge von H1 gleichmaßig gegen ζ ′(z). Daraus folgt furRe z > 1

−ζ ′(z)ζ(z)

= limN→∞

N∑

j=1

ln pj

pzj − 1

= limN→∞

N∑

j=1

ln pj

pzj

+ limN→∞

N∑

j=1

ln pj

pzj (p

zj − 1)

= Φ(z) + Ψ(z).

¤

20. Die Riemannsche Vermutung und der Beweis einerabgeschwachten Variante davon

Nach Satz und Definition 19.3 ist die Riemannsche ζ-Funktion ζ wohldefiniertund holomorph auf der offenen Menge H0 \ 1. Wir bezeichnen ab jetzt mit N (ζ)die Menge aller Nullstellen von ζ in dieser Menge:

N (ζ) :=

z ∈ H0 \ 1∣∣∣ ζ(z) = 0

.

Von der Eulerschen Produktdarstellung (Satz 19.1) wissen wir, dass

N (ζ) ∩H1 = ∅.Die beruhmte Riemannsche Vermutung ist, dass sogar

N (ζ) ∩H1/2 = ∅gilt. Diese Vermutung ist bisher weder bestatigt noch widerlegt. Mehr noch, es istsogar unbekannt, ob es zumindest ein ε > 0 gibt, so dass

N (ζ) ∩H1−ε = ∅gilt. In diesem Abschnitt wollen wir die folgende abgeschwachte Variante der Rie-mannschen Vermutung beweisen:

20.1. Theorem. N (ζ) ∩H1 = ∅.Im Beweis dieses Theorems benotigen wir einiges von dem, was wir bereits uber

Nullstellen, Pole und Residuen wissen, was wir jetzt (zum Teil als Wiederholung)zusammenstellen:

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FUNKTIONENTHEORIE I 79

20.2. Definition. Sei f : U → C eine holomorphe Funktion, U ⊆ C offen, und z0

sei ein Punkt, der entweder zum Definitionsgebiet U von f gehort oder eine isolierteSingularitat von f ist.

Dann definieren wir:

Ordz0 f =

+∞ , falls es eine Umgebung V ⊆ U von z0 gibt, so dassf identisch gleich null ist auf V \ z0;

−∞ , falls z0 eine wesentliche Singularitat von f ist;N, falls N ∈ N∗ und das Folgende gilt: Entweder z0 gehort

zu U und ist eine Nullstelle der Ordnung N von f , oderz0 ist eine hebbare Singularitat von f und die holomorpheFortsetzung von f hat im Punkt z0 eine Nullstelle derOrdnung N ;

0 , falls: Entweder z0 ∈ U und f(z0) 6= 0, oder z0 ist einehebbare Singularitat von f und die holomorpheFortsetzung von f nimmt im Punkt z0 einen Wertungleich null an;

−P, falls P ∈ N∗ und z0 ist ein Pol der Ordnung P von f .

Außerdem ist es oft praktisch, auch das Residuum, dass wir fruher nur im Fallisolierten Singularitaten definiert hatten, durch

Resz0 f = 0 auch fur z0 ∈ U

zu definieren (nach dem Cauchyschen Integralsatz gilt dann auch die Formel (16.1).)Ist z0 keine wesentliche Singularitat von f und ist f auch nicht identisch gleich

null in einer punktierten Umgebung von z0, so folgt aus Satz 15.4 und Bemerkung15.5, dass man ein ε > 0 sowie Konstanten c > 0 und C < ∞ finden kann, so dassdie punktierte Kreisscheibe K0,ε(z0) in U enthalten ist und

(20.1) c|z − z0|Ordz0 f ≤ |f(z)| ≤ C|z − z0|Ordz0 f , 0 < |z − z0| < ε,

gilt. In diesem Fall kann man Ordz0 f also auch als die wohlbestimmte ganze Zahldefiniert werden, fur welche die Ungleichung (20.1) gilt.

20.3. Bemerkung. Aus der Charakterisierung von Ordz0 f durch die Ungleichung(20.1) ergibt sich unmittelbar die folgende Aussage:

Es seien f : U → C und g : V → C holomorphe Funktionen, U, V ⊆ C offen, undz0 sei ein Punkt, der die folgenden beiden Bedingungen erfullt:

Entweder z0 ∈ U , oder z0 ist eine unwesentliche isolierte Singularitat von f .

Entweder z0 ∈ V , oder z0 ist eine unwesentliche isolierte Singularitat von g.

Dann ist die Funktion f/g in einer gewissen punktierten Kreisscheibe um z0 wohl-definiert und holomorph und es gilt:

Ordz0

f

g= Ordz0f −Ordz0g.

20.4. Lemma. Sei f : U → C eine holomorphe Funktion, U ⊆ C offen, und z0 seiein Punkt, der eine der folgenden Bedingungen erfullt:

• z0 gehort zum Definitionsbereich U von f .

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80 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

• z0 ist eine hebbare isolierte Singularitat von f .• z0 ist ein Pol erster Ordnung von f .

Dann gilt

(20.2) Resz0 f = lim0 6=h→0

hf(z0 + h).

Beweis. Gehort z0 zu U oder ist z0 eine hebbare isolierte Singularitat von f , so istdas trivial. Dann steht auf beiden Seiten von (20.2) eine Null. Hat f in z0 einenPol erster Ordnung, so hat die Laurententwicklung von f in z0 die Form

f(z) =Resz0 f

z − z0+

∞∑n=0

fn(z − z0)n,

woraus folgt:

lim0 6=h→0

h f(z0 + h) = lim0 6=h→0

h

(Resz0 f

z0 + h− z0+

∞∑n=0

fn(z0 + h− z0)n

)

= Resz0 f + lim0 6=h→0

∞∑n=0

fnhn+1 = Resz0 f.

¤

20.5. Satz (vom Null- und Polstellen zahlenden Integral). Sei Kr(a) eine abge-schlossene Kreisscheibe, 0 < r < ∞, a ∈ C, und z1, . . . , zN ∈ Kr(a) seien end-lich viele im Inneren dieses Kreises gelegene Punkte. Weiter sei U eine Umge-bung von Kr(a), und f sei eine nirgends verschwindende holomorphe Funktion aufU \ z1, . . . , zN, so dass fur 1 ≤ j ≤ N gilt:

• entweder zj ist hebbare Singularitat von f , oder• f hat in zj einen Pol.

Dann gilt

(20.3)N∑

j=1

Ordzj f =N∑

j=1

Reszj

f ′

f=

12πi

|z−a|=r

f ′(z)f(z)

dz.

Ist Ordzj f 6= 0 fur ein 1 ≤ j ≤ N , so hat f ′/f im Punkt zj einen Pol ersterOrdnung.

Beweis von (i). Das zweite Gleichheitszeichen in (20.3) gilt nach dem Residuensatz16.5. Um das erste zu zeigen, genugt es zu zeigen, dass fur jedes 1 ≤ j ≤ N

(20.4) Ordzj f = Reszj

f ′

f

gilt. Sei ein 1 ≤ j ≤ N gegeben, und sei

m = Ordzj f .

Dann hat die Laurententwicklung von f im Punkt zj die Form

f(z) =∞∑

n=m

fn(z − zj)n mit fm 6= 0,

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FUNKTIONENTHEORIE I 81

und es gibt ein ε > 0, so dass

g(z) := (z − zj)−mf(z) =∞∑

n=m

fn(z − zj)n−m =∞∑

n=0

fn+m(z − zj)n

eine wohldefinierte holomorphe Funktion in einer Umgebung von Kε(zj) ist, diedort nirgends verschwindet. Dann gilt

(20.5)f ′(z)f(z)

=m(z − zj)m−1g(z) + (z − zj)mg′(z)

(z − zj)mg(z)=

m

z − zj+

g′(z)g(z)

fur 0 < |z − zj | ≤ ε. Da die Funktion g′/g in einer Umgebung von z0 holomorphist, liest man hieraus (20.4) ab:

Reszj

f ′

f= Reszj

m

z − zj+ Reszj

g′

g= Reszj

m

z − zj= m = Ordzj

f.

¤20.6. Definition. Nach Lemma 19.5 gilt

(20.6) Φ(z) = −ζ ′(z)ζ(z)

−Ψ(z) fur z ∈ H1,

wobei Ψ eine holomorphe Funktion auf H1/2 ist. Da die ζ-Funktion auf H0\(N (ζ)∪

1) holomorph und ungleich null ist (vgl. Satz und Definition 19.39, folgt daraus,dass Φ eine holomorphe Fortsetzung auf H1/2 \

(N (ζ) ∪ 1) gestattet. Ab jetztbezeichnen wir diese Fortsetzung ebenfalls mit Φ.

20.7. Lemma. Alle Punkte aus(H1/2 ∩N (ζ)

)∪1 sind Pole erster Ordnung vonΦ, und es gilt

(20.7) Resz0 Φ = −Ordz0 ζ fur alle z0 ∈ H1/2.

Da die ζ-Funktion nach Satz und Definition 19.3 im Punkt 1 einen Pol ersterOrdnung hat, also Ord1ζ = −1 gilt, folgt daraus insbesondere, dass die Funktion Φim Punkt 1 einen Pol erster Ordnung hat, wobei gilt:

(20.8) Res1 Φ = 1.

Beweis. Fur z0 ∈ H1/2 \(N (ζ) ∪ 1) ist (20.7) trivial. In diesem Fall steht auf

beiden Seiten eine Null, denn dann gilt: Φ ist holomorph in z0, und ζ ist holomorphund ungleich null in z0.

Sei nun z0 ∈(H1/2 ∩N (ζ)

) ∪ 1. Wegen

Ordz0 ζ ≥ 1 6= 0 , falls z0 ∈ N (ζ)

undOrd1 ζ = −1 6= 0 (vgl. Satz und Definition 19.3),

folgt dann aus Satz 20.5, dass ζ ′/ζ in z0 einen Pol erster Ordnung hat und dass gilt

Ordz0 ζ = Resz0

ζ ′

ζ.

Da Ψ auf H1/2 holomorph ist, folgt daraus mit (20.6) weiter, dass auch Φ in z0

einen Pol erster Ordnung hat und dass gilt

Resz0 Φ = Resz0

(−ζ ′

ζ−Ψ

)= −Resz0

ζ ′

ζ= −Ordz0 ζ.

¤

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82 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

Beweis von Theorem 20.1. Sei ein α ∈ R mit α 6= 0 gegeben. Wir mussen zeigen,dass Ord1+iα ζ = 0 gilt. Dies geschieht nun, indem man (in beachtlich trickreicherWeise) zeigt, dass

(20.9) Ord1+iα ζ ≤ 34

ist, woraus Ord1+iα ζ = 0 dann naturlich folgt, da Ord1+iα ζ ∈ N. Wir beginnenmit der sicher richtigen Ungleichung

(2 Re piα/2

)4

≥ 0

und der Umformung(2Re piα/2

)4

=(piα/2 + p−iα/2

)4

=4∑

k=0

(4k

) (piα/2

)4−k (p−iα/2

)k

=4∑

k=0

(4k

)piα(2−k) =

2∑

k=−2

(4

k + 2

)p−ikα,

was zusammen fur jedes ε > 0

(20.10)2∑

k=−2

(4

k + 2

)Φ(1 + ε + ikα) =

2∑

k=−2

(4

k + 2

) ∑

p∈P

ln p

p1+ε+ikα

=∑

p∈P

ln p

p1+ε

2∑

k=−2

(4

k + 2

)p−ikα ≥ 0

ergibt. Da nach Lemma 20.7 alle Punkte aus H1/2 entweder zum Definitionsgebietvon Φ gehoren oder Pole erster Ordnung von Φ sind, kann man die Residuen vonΦ nach dem Rezept aus Lemma 20.4 berechnen. Insbesondere gilt

limε0

εΦ(1 + ε + ikα) = Res1+ikα Φ fur − 2 ≤ k ≤ 2,

was mit (20.10)2∑

k=−2

(4

k + 2

)Res1+ikα Φ ≥ 0

ergibt. Da nach Lemma 20.7 Res1+ikα Φ = −Ord1+ikα ζ gilt, folgt daraus

(20.11) −2∑

k=−2

(4

k + 2

)Ord1+ikαζ ≥ 0.

Da ζ in den Punkten 1− 2iα und 1 + 2iα holomorph ist, gilt

Ord1+i2αζ ≥ 0 und Ord1−i2αζ ≥ 0.

Daraus folgt mit (20.11)

−1∑

k=−1

(4

k + 2

)Ord1+ikαζ ≥ 0,

d.h.

−(

41

)Ord1−iαζ −

(42

)Ord1ζ −

(43

)Ord1+iαζ ≥ 0,

Page 83: Komplexe Differenzierbarkeit - Institut für Mathematikleiterer/files/neufunkth2005.pdf · FUNKTIONENTHEORIE I 3 nicht zu Verwechslungen, wenn man darauf achtet, dass aus dem Zusammenhang

FUNKTIONENTHEORIE I 83

d.h

(20.12) −4Ord1−iαζ − 6Ord1ζ − 4Ord1+iαζ ≥ 0.

Bemerkung: Es gilt

(20.13) ζ(z) = ζ(z) fur alle z ∈ H0 \ 1.und somit

(20.14) Ordzζ = Ordzζ fur alle z ∈ H0.

In der Tat, fur z ∈ H1 gilt

ζ(z) =∞∑

n=1

1nz

=∞∑

n=1

1nz

= ζ(z) ,

d.h. ζ(z) = ζ(z). Da die Funktionen ζ(z) und ζ(z) beide auf H0 \ 1 holomorphsind, folgt daraus mit dem Identitatssatz ζ(z) = ζ(z) fur alle z ∈ H0 \ 1, was zu(20.13) aquivalent ist.

Mit (20.14) folgt nun aus (20.12)

−6Ord1ζ − 8Ord1+iαζ ≥ 0.

Da die ζ-Funktion im Punkt 1 einen Pol erster Ordnung hat (Satz und Definition19.3), also Ord1 ζ = −1 gilt, folgt daraus schließlich

6− 8Ord1+iαζ ≥ 0,

was zu (20.9) aquivalent ist. Damit ist Theorem 20.1 bewiesen. ¤Wir notieren nun noch die folgende Konsequenz dieses Theorems, die wir im

nachsten Abschnitt fur den Beweis des Primzahlsatzes benotigen:

20.8. Satz. Die holomorphe Funktion

(20.15)Φ(z)

z− 1

z − 1, z ∈ H1/2 \

(N (ζ) ∪ 1),hat im Punkt 1 eine hebbare isolierte Singularitat.

Definition. Seiω : H1/2 \ N (ζ) −→ C

die holomorphe Funktion mit

(20.16) ω(z) =Φ(z)

z− 1

z − 1fur z ∈ H1/2 \

(N (ζ) ∪ 1).

Bemerkung. Nach Theorem 20.1 ist die gesamte abgeschlossene Halbebene H1

im Definitionsgebiet H1/2 \ N von ω enthalten.

Beweis. Nach Lemma 20.7 hat Φ im Punkt 1 einen Pol erster Ordnung mit demResiduum 1. Dann hat auch Φ(z)/z im Punkt 1 einen Pol erster Ordnung (vgl.Bemerkung 20.3), und berechnet man das Residuum nach dem Rezept aus Lemma20.4, so erhalt man

Res1Φ(z)

z= lim

0 6=h→0h

Φ(1 + h)1 + h

=lim

0 6=h→0h Φ(1 + h)

lim0 6=h→0

(1 + h)= Res1 Φ = 1,

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84 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

d.h. auch Φ(z)/z hat im Punkt 1 das Residuum 1. Die Laurentdarstellung vonΦ(z)/z im Punkt 1 hat also die Form

Φ(z)z

=1

z − 1+

∑n=0

an(z − 1)n,

d.h. die Funktion (20.15) hat im Punkt 1 eine hebbare Singularitat. ¤

21. Der Primzahlsatz

Fur 0 ≤ x < ∞ bezeichnet man mit

π(x) =∑

p∈P , p≤x

1

die Anzahl der Primzahlen, die nicht großer als x sind. Ziel dieses Abschnitts ist derBeweis des folgenden Theorems uber die asymptodische Verteilung der Primzahlen,das unter dem Namen Primzahlsatz bekannt ist.

21.1. Theorem (Primzahlsatz).

limx→∞

π(x) · ln x

x= 1.

Der Beweis erfolgt in mehreren Schritten. Zuerst untersuchen wir die Funktion

ϑ(x) :=∑

p∈P , p≤x

ln p , 0 ≤ x < ∞.

21.2. Lemma. Es gilt

(21.1) ϑ(x) ≤ 6|x| fur 0 ≤ x < ∞.

Beweis. Der Bruch(2n

n

)=

(2n) · (2n− 1) · . . . · (n + 1)n!

, n ∈ N∗,

stellt bekanntlich eine ganze Zahl dar (die Anzahl der n-elementigen Teilmengeneiner 2n-elementigen Menge). Der Zahler dieses Bruchs ist also durch den Nennerteilbar. Da der Nenner offenbar durch keine der Primzahlen p mit n < p ≤ 2nteilbar ist, wahrend der Zahler offenbar durch jede dieser Primzahlen teilbar ist,folgt daraus mit dem Satz uber die eindeutige Zerlegung in Primfaktoren, dass

22n =2n∑

k=0

(2n

k

)≥

(2n

n

)≥

p∈P , n<p≤2n

p , n ∈ N∗.

Daraus folgt weiter

(21.2) ϑ(2n)− ϑ(n) ≤ ln 22n = 2n ln 2 , n ∈ N∗.Seien nun 0 ≤ x < ∞ und n ∈ N∗ so, dass n − 1 ≤ x/2 < n und somit 2n − 2 ≤x < 2n. Da auch die Funktion ϑ monoton wachst, gilt

ϑ(x)− ϑ(x

2

)≤ ϑ(2n)− ϑ(n− 1).

Wegen

ϑ(n− 1) ≥ ϑ(n)− ln n ≥ ϑ(n)− ln(2n− 1) ≥ ϑ(n)− ln(1 + x),

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FUNKTIONENTHEORIE I 85

folgt darausϑ(x)− ϑ

(x

2

)≤ ϑ(2n)− ϑ(n) + ln(1 + x),

was mit (21.2)

ϑ(x)− ϑ(x

2

)≤ 2n ln 2 + ln(1 + x)

ergibt. Wegen 2n ≤ x + 2, ln(1 + x) ≤ x und ln 2 < 1 ergibt das

ϑ(x)− ϑ(x

2

)≤ (x + 2) ln 2 + x = (1 + ln 2)x + 2 ln 2 ≤ 2x + 2 ln 2

fur alle 0 ≤ x < ∞. Folglich gilt die Ungleichung

(21.3) ϑ(x)− ϑ(x

2

)≤ 3x ,

sobald x ≥ 2 ln 2 ist. Da 2 ln 2 kleiner als die kleinste Primzahl ist, gilt diese Unglei-chung trivialerweise auch fur 0 ≤ x ≤ 2 ln 2 (denn auf der linken Seite steht danneine Null). Fur jedes x ≥ 0 sind nun die Reihen

∞∑

k=0

ϑ( x

2k

)und

∞∑

k=0

ϑ( x

2k+1

)

trivialerweise konvergent, da es sich in Wahrheit um endliche Summen handelt,denn ϑ(x/2k) = 0 sobald 2k ≥ x. Fur die Differenz dieser Reihen erhalt man

∞∑

k=0

( x

2k

)− ϑ

( x

2k+1

) )=

∞∑

k=0

ϑ( x

2k

)−

∞∑

k=0

ϑ( x

2k+1

)

=∞∑

k=0

ϑ( x

2k

)−

∞∑

k=1

ϑ( x

2k

)= ϑ(x),

was mit (21.3) die gewunschte Ungleichung (21.1) ergibt:

|ϑ(x)| ≤∞∑

k=0

∣∣∣∣∣ϑ( x

2k

)− ϑ

( x

2k+1

) ∣∣∣∣∣ ≤ 3∞∑

k=0

x

2k= 6x , 0 ≤ x < ∞.

¤

21.3. Lemma. Sei ω : Ω → C die holomorphe Funktion aus Satz und Definition20.8. Dann gilt fur Re z > 1

(21.4)

∞∫

0

∣∣∣e(1−z)t∣∣∣ dt < ∞ ,

∞∫

0

∣∣ϑ (et

)e−zt

∣∣ dt < ∞

und

(21.5) ω(z) =

∞∫

0

(et

)e−zt − e(1−z)t

)dt,

wobei das Integral auf der rechten Seite wegen (21.4) absolut konvergiert.

Beweis. Sei Re z > 1. Dann gilt∞∫

0

∣∣∣e(1−z)t∣∣∣ dt =

∞∫

0

e(1−Re z)tdt =e(1−Re z)t

1− Re z

∣∣∣∣∣

t=∞

t=0

=−1

1− Re z< ∞,

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86 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

und mit Lemma 21.2 folgt daraus weiter, dass auch∞∫

0

∣∣ϑ (et

)e−zt

∣∣ dt ≤ 6

∞∫

0

∣∣∣e(1−z)t∣∣∣ dt < ∞

gilt, womit (21.4) gezeigt ist. Wegen

ϑ(et) =

0 , falls 0 ≤ t < ln 2∑n

j=1 ln pj , falls ln pn ≤ t < ln pn+1

erhalt man∞∫

0

ϑ(et

)e−ztdt =

∞∑n=1

ln pn+1∫

ln pn

ϑ(et)e−ztdt =∞∑

n=1

n∑

j=1

ln pj

ln pn+1∫

ln pn

e−ztdt

= −1z

∞∑n=1

n∑

j=1

ln pj e−zt∣∣∣t=ln pn+1

t=ln pn

=1z

∞∑n=1

n∑

j=1

ln pj

(e−z ln pn − e−z ln pn+1

)

=1z

∞∑n=1

n∑

j=1

ln pj

(p−z

n − p−zn+1

)=

1z

∞∑

j=1

∞∑

n=j

ln pj

(p−z

n − p−zn+1

)

=1z

∞∑

j=1

ln pj

( ∞∑

n=j

p−zn −

∞∑

n=j

p−zn+1

)=

1z

∞∑

j=1

ln pj

( ∞∑

n=j

p−zn −

∞∑

n=j+1

p−zn

)

=1z

∞∑

j=1

ln pj

pzj

=Φ(z)

z.

Außerdem gilt∞∫

0

e(1−z)tdt =e(1−z)t

1− z

∣∣∣t=∞

t=0=

1z − 1

.

Zusammen mit (20.16) ergibt das (21.5). ¤

21.4. Lemma. Es gilt

(21.6) limS→∞

S∫

1

ϑ(x)− x

x2dx = ω(1), 23

wobei ω : H1/2 \ N (ζ) → C die holomorphe Funktion ist, die im Anschluss an Satz20.8 definiert wurde (und deren Definitionsgebiet H1/2 \ N (ζ) nach Theorem 20.1die gesamte abgeschlossene Halbebene H1 enthalt).

Beweis. Die Substitution x → et ergibtS∫

1

ϑ(x)− x

x2dx =

ln S∫

0

ϑ(et)− et

e2tet dt =

ln S∫

0

(ϑ(et)e−t − 1

)dt fur 0 ≤ S < ∞.

23Wir beweisen tatsachlich nur, dass∫ S1 (ϑ(x)− x) /x2 dx fur S →∞ gegen ω(1) konvergiert.

Ob dieses Integral sogar absolut konvergiert, bleibt offen, was uns aber nicht stort.

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FUNKTIONENTHEORIE I 87

Wir mussen also zeigen, dass

(21.7) limT→∞

T∫

0

(ϑ(et)e−t − 1

)dt = ω(1).

Dazu fuhren wir fur jedes fixierte 0 < T < ∞ die Funktion

ωT (z) :=

T∫

0

(ϑ(et)e−t − 1

)e(1−z)tdt , z ∈ C,

ein. Diese Funktion ist holomorph auf ganz C. Das sieht man z.B. mit Hilfe derCauchy-Riemannschen Differentialgleichung, nachdem man unter dem Integral nachden reellen Koordinaten von z differenziert hat, was nach Lemma 7.2 moglich ist.24

Die zu zeigende Beziehung (21.7) nimmt jetzt die Form

(21.8) limT→∞

ωT (1) = ω(1)

an.Fur jedes 0 < R < ∞ wahlen wir ein δR > 0, so dass die Abschließung DR der

offenen Menge

DR :=

z ∈ C∣∣∣ |z − 1| < R und Re z > 1− δR

in H1/2 \ N (ζ) enthalten ist. (Das ist moglich, da nach Theorem 20.1 die abge-schlossene Halbebene H1 in H1/2 \ N (ζ) enthalten ist.) Weiter sei 0 < αR < π/2die Zahl mit

Re Re±i(αR+π/2) = −δR.

Die Funktion(ω(z)− ωT (z)

)e(z−1)T

(1 +

(z − 1)2

R2

), z ∈ H1/2 \ N (ζ),

ist fur alle fixierten 0 < T, R < ∞ holomorph auf der Umgebung H1/2 \ N (ζ)von DR und nimmt im Punkt 1 den Wert ω(1) − ωT (1) an. Aus der CauchyschenIntegralformel folgt deswegen fur alle 0 < T, R < ∞ die Beziehung

(21.9) ω(1)− ωT (1) =1

2πi

∂DR

(ω(z)− ωT (z)

)e(z−1)T

(1 +

(z − 1)2

R2

)dz

z − 1,

wobei wir mit ∂DR die Kurve bezeichnen, die man erhalt wenn man man zuerstden Kreisbogen |z − 1| = R ∩ Re z ≥ 1− δR entgegen dem Uhrzeigersinn unddann die gerichtete Strecke

[1 + Rei(αR+π/2), 1 + Re−i(αR+π/2)

]durchlauft.25 Wir

24Man konnte naturlich auch eine Variante von Lemma 7.2 fur die komplexe Differenzierbarkeitbenutzen, und so direkt zeigen, dass ω komplex differenzierar ist.

25Exiplizit formuliert hatten wir die Cauchysche Integralformel bisher nur fur Kreisscheiben(Theorem 7.1). (21.9) folgt jedoch daraus mit Hilfe des Cauchyschen Integralsatzes fur stetigeKurven (Theorem 6.4), da ∂D offenbar in H1/2 \ N (ζ) zur Kreisline |z − 1| = δR/2 homotop ist.

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88 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

setzen

IT,R =1

2πi

|z−1|=R , Re z≥1

(ω(z)− ωT (z)

)e(z−1)T

(1 +

(z − 1)2

R2

)1

z − 1dz ,

I ′T,R = − 12πi

z∈∂DR , Re z≤1

ωT (z) e(z−1)T

(1 +

(z − 1)2

R2

)1

z − 1dz ,

I ′′T,R =1

2πi

|z−1|=R , 1−δR≤Re z≤1

ω(z) e(z−1)T

(1 +

(z − 1)2

R2

)1

z − 1dz ,

I ′′′T,R =1

2πi

[1+Rei(αR+π/2) , 1+Re−i(αR+π/2)]

ω(z) e(z−1)T

(1 +

(z − 1)2

R2

)1

z − 1dz.

Offenbar ist dann

ω(1)− ωT (1) = IT,R + I ′T,R + I ′′T,R + I ′′′T,R

fur alle 0 < T,R < ∞. Um (21.8) zu beweisen, genugt es deswegen zu zeigen, dass

(21.10)∣∣IT,R

∣∣ ≤ 7/R fur alle 0 < T,R < ∞,

(21.11)∣∣I ′T,R

∣∣ ≤ 7/R fur alle 0 < T,R < ∞,

(21.12) limT→∞

I ′′T,R = 0 fur jedes fixierte 0 < R < ∞

(21.13) limT→∞

I ′′′T,R = 0 fur jedes fixierte 0 < R < ∞.

Wir beginnen mit (21.10). Nach Lemma 21.3 und der Definition von ωT gilt furalle 0 < T < ∞:

∣∣ω(z)− ωT (z)∣∣ ≤

∞∫

T

∣∣∣ϑ(et)e−t − 1∣∣∣e(1−Re z)t dt , falls Re z > 1,

und

∣∣ωT (z)∣∣ ≤

T∫

0

∣∣∣ϑ(et)e−t − 1∣∣∣e(1−Re z)t dt fur alle z ∈ C.

Da nach Lemma 21.2∣∣∣ϑ(et)e−t − 1

∣∣∣ ≤ |ϑ(et)e−t| + 1 ≤ 7 ist, folgt daraus fur alle0 < T < ∞: Fur alle z mit Re z > 1 gilt

(21.14)∣∣∣(ω(z)− ωT (z)

)e(z−1)T

∣∣∣ ≤ e(Re z−1)T · 7 ·∞∫

T

e(1−Re z)tdt

= e(Re z−1)T · 7 · e(1−Re z)t

1− Re z

∣∣∣∣∣

t=∞

t=T

= e(Re z−1)T · 7 · e(1−Re z)T

Re z − 1=

7Re z − 1

.

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FUNKTIONENTHEORIE I 89

Weiter gilt fur alle 0 < R < ∞ und |z − 1| = R

(21.15)∣∣∣∣(

1 +(z − 1)2

R2

)1

z − 1

∣∣∣∣ =1

R2

∣∣∣∣R2 + (z − 1)2

z − 1

∣∣∣∣

=1

R2

∣∣∣∣∣(z − 1) · (z − 1) + (z − 1)2

z − 1

∣∣∣∣∣ =1

R2

∣∣∣(z − 1) + (z − 1)∣∣∣ =

2R2

|Re z − 1| .

Aus (21.14) und (21.15) erhalt man fur alle 0 < T, R < ∞ die Abschatzung26

max|z−1|=R , Re z≥1

∣∣∣∣(ω(z)− ωT (z)

)e(z−1)T

(1 +

(z − 1)2

R2

)1

z − 1

∣∣∣∣

= sup|z−1|=R , Re z>1

∣∣∣∣(ω(z)− ωT (z)

)e(z−1)T

(1 +

(z − 1)2

R2

)1

z − 1

∣∣∣∣

≤ sup|z−1|=R , Re z>1

7Re z − 1

· 2R2

(Re (z − 1)

)=

14R2

.

Da die Lange des Integrationsweges des Integrals IT,R gleich πR ist, folgt daraus(Satz 5.5) die Ungleichung (21.10) .

Als nachstes zeigen wir (21.11). Fur alle z mit Re z < 1 gilt

(21.16)∣∣∣ωT (z) e(z−1)T

∣∣∣ ≤ e(Re z−1)T · 7 ·T∫

0

e(1−Re z)tdt

= e(Re z−1)T · 7 · e(1−Re z)t

1− Re z

∣∣∣∣∣

t=T

t=0

= e(Re z−1)T · 7 · e(1−Re z)T − 11− Re z

≤ 71− Re z

.

Der Integrand von I ′T,R ist auf C\1 holomorph, denn ωT ist (im Unterschied zu ω)holomorph auf ganz C. Da die gerichtete Strecke

[1 + ei(αR+π/2) , 1 + e−i(αR+π/2)

]offenbar in C \ 1 zu dem entgegen dem Uhrzeigersinn orientierten Kreisbogen|z − 1| = R ∩ Re z ≤ 1− δR homotop ist, folgt daraus

I ′T,R =∫

|z−1|=R , Re z≤0

ωT (z) e(z−1)T

(1 +

(z − 1)2

R2

)1

z − 1dz .

26Es sei darauf hingewiesen, dass die hier benutzte Abschatztechnik besonders raffiniert ist:Obwohl die Funktion

(ω(z)− ωT (z)

)e(z−1)T

(1 +

(z − 1)2

R2

)1

z − 1

auf der abgeschlossenen Halbkreislinie |z − 1| = R ∩ Re z ≥ 0 stetig ist, gehen wir zumSupremum uber der offenen Halbkreislinie |z − 1| = R ∩ Re z > 0 uber, denn erst danach

konnen wir die beiden Faktoren(ω(z) − ωT (z)

)e(z−1)T und

(1 +

(z−1)2

R2

)1

z−1getrennt durch

(21.14) und (21.15) abschatzen, wodurch wir schließlich die Abschatzung durch

14 · 1

R2

erhalten. An dem Faktor 14 ist dabei interessant, dass er nicht von T abhhangt. Eine Abschatzungdurch eine Schranke der Form

CT ·1

R2,

wobei der Faktor CT noch von T abhangt, ist naturlich einfacher allein mit (21.15) zu haben, wasaber fur unsere Zwecke nicht ausreicht.

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90 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

Weiter erhalt man aus (21.16) und (21.15) fur alle 0 < T, R < ∞

max|z−1|=R , Re z≤1

∣∣∣∣ωT (z) e(z−1)T

(1 +

(z − 1)2

R2

)1

z − 1

∣∣∣∣

= sup|z−1|=R , Re z<1

∣∣∣∣ωT (z) e(z−1)T

(1 +

(z − 1)2

R2

)1

z − 1

∣∣∣∣

≤ sup|z−1|=R , Re z<1

71− Re z

· 2R2|Re z − 1| = 14

R2.

Da der Integrationswegs des Integrals I ′T,R nicht langer als πR ist, folgt daraus(Satz 5.5) die Abschatzung (21.11).

Wir zeigen nun (21.12). Sei 0 < R < ∞ fixiert. Dann setzen wir fur 0 < T < ∞und 0 < δ < δR

JT,δ =1

2πi

|z−1|=R , 1−δ≤Re z≤1

ω(z) e(z−1)T

(1 +

(z − 1)2

R2

)1

z − 1dz

und

J∗T,δ =1

2πi

|z−1|=R , 1−δR≤Re z≤1−δ

ω(z) e(z−1)T

(1 +

(z − 1)2

R2

)1

z − 1dz.

Weiter setzen wir

CR := max|z−1|=R , 1−δR≤Re z≤1

∣∣∣∣ω(z)(

1 +(z − 1)2

R2

)1

z − 1

∣∣∣∣

Wegen∣∣e(z−1)T

∣∣ = e(Re z−1)T gilt dann∣∣∣∣ω(z) e(z−1)T

(1 +

(z − 1)2

R2

)1

z − 1

∣∣∣∣ ≤ CR,

falls z im Integrationsweg von JT,δ liegt und∣∣∣∣ω(z) e(z−1)T

(1 +

(z − 1)2

R2

)1

z − 1

∣∣∣∣ ≤ CRe−δT ,

falls z im Integrationsweg von J∗T,δ liegt. Da der Integrationsweg von JT,δ nichtlager als 4δ und der von J∗T,δ nicht langer als 4δR ist, folgt daraus (Satz 5.5) furalle 0 < T < ∞ und 0 < δ < δR

(21.17)∣∣JT,δ

∣∣ ≤ 2π

CR δ und∣∣J∗T,δ

∣∣ ≤ δR

2πCR e−δT .

Wegen I ′′T,R = J∗T,δ + JT,δ folgt daraus

∣∣I ′′T,R

∣∣ ≤ 2CR

πδ + δRCR e−δ T

fur alle 0 < T < ∞ und 0 < δ < δR. Da C nur von R, aber weder von T noch vonδ abhangt, erhalt man daraus (21.12), indem man zuerst δ hinreichend klein unddann T hinreichend groß wahlt.

Schließlich zeigen wir noch (21.13). Dazu setzen wir

CR := maxz∈[1+ei(αR+π/2) , 1+e−i(αR+π/2)]

∣∣∣∣ω(z)(

1 +(z − 1)2

R2

)1

z − 1

∣∣∣∣ .

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FUNKTIONENTHEORIE I 91

Wegen Re (z − 1) = −δR fur alle z ∈ [1 + ei(αR+π/2) , 1 + e−i(αR+π/2)

]gilt dann

∣∣∣∣ω(z) e(z−1)T

(1 +

(z − 1)2

R2

)1

z − 1

∣∣∣∣ ≤ CRe−δRT ,

fur alle z im Intervall[1 + ei(αR+π/2) , 1 + e−i(αR+π/2)

]. Da dieses Intervall nicht

langer als 2R ist, folgt daraus (Satz 5.5)

∣∣I ′′′T,R

∣∣ ≤ RCR

πe−δRT

fur alle 0 < T < ∞. Da C nicht von T abhangt, folgt daraus (21.13). ¤

Beweis des Primzahlsatzes (Theorem 21.1): Wir zeigen zuerst

(21.18) limx→∞

ϑ(x)x

= 1.

Dazu mussen wir zeigen, dass

(21.19) lim supx→∞

ϑ(x)x

≤ 1

und

(21.20) lim infx→∞

ϑ(x)x

≥ 1.

Angenommen, (21.19) gilt nicht. Dann gibt es ein 0 < ε < 1 und eine Folge1 < xn < ∞, n ∈ N , mit

limn→∞

xn = ∞ und ϑ(xn) ≥ xn + εxn , n ∈ N.

Da ϑ monoton wachst, gilt dannxn+εxn∫

xn

ϑ(t)− t

t2dt ≥

xn+εxn∫

xn

xn + εxn − t

t2dt , n ∈ N,

was mit der Substitution t → xnu

xn+εxn∫

xn

ϑ(t)− t

t2dt ≥

1+ε∫

1

xn + εxn − uxn

u2x2n

xn du =

1+ε∫

1

1 + ε− u

u2du , n ∈ N,

ergibt, wobei das ganz rechts stehende Integral von n unabhangig und streng positivist. Das ist jedoch ein Widerspruch dazu, dass nach Lemma 21.4 der Grenzwert

limx→∞

x∫

1

ϑ(t)− t

t2dt

existiert. Also gilt (21.19).Ganz analog verfahrt man mit (21.20). Angenommen, (21.20) gilt nicht. Dann

gibt es ein 0 < ε < 1 und eine Folge 1 < xn < ∞, n ∈ N, mit

limn→∞

xn = ∞ und ϑ(xn) ≤ xn − εxn , n ∈ N.

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92 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

Die Tatsache, dass ϑ monoton wachst, hat jetzt zur Folge, dassxn∫

xn−εxn

ϑ(t)− t

t2dt ≤

xn∫

xn−εxn

xn − εxn − t

t2dt , n ∈ N,

was wiederum mit der Substitution t → xnu

xn∫

xn−εxn

ϑ(t)− t

t2dt ≤

1∫

1−ε

xn − εxn − uxn

u2x2n

xn du =

1∫

1−ε

1− ε− u

u2du , n ∈ N,

ergibt, wobei das ganz rechts stehende Integral wieder nicht von n abhangt, diesmalaber streng negativ ist. Das ist ebenfalls ein Widerspruch dazu, dass nach Lemma21.4 der Grenzwert

limx→∞

x∫

1

ϑ(t)− t

t2dt

existiert. (21.20) gilt also auch. Damit ist (21.18) bewiesen.Weiter gilt nun trivialerweise

ϑ(x) =∑

p∈P , p≤x

ln p ≤∑

p∈P , p≤x

ln x = ln x∑

p∈P , p≤x

1 = (ln x) π(x) , 0 ≤ x < ∞,

woraus mit (21.18)

(21.21) 1 = limx→∞

ϑ(x)x

≤ lim infx→∞

π(x) · ln x

x

folgt.Ist 0 < ε < 1 und 1 < x < ∞, so gilt fur p ≥ x1−ε (da der Logarithmus monoton

wachst)ln p ≥ lnx1−ε = (1− ε) ln x,

woraus folgt

ϑ(x) ≥∑

p∈P , x1−ε<p≤x

ln p ≥∑

p∈P , x1−ε<p≤x

(1− ε) ln x

= (1− ε) ln x∑

p∈P , x1−ε<p≤x

1 = (1− ε) ln x(π(x)− π

(x1−ε

))

fur alle 1 < x < ∞ und 0 < ε < 1. Da trivialerweise π(x1−ε

) ≤ x1−ε gilt, folgtdaraus weiter

ϑ(x) ≥ (1− ε) ln x(π(x)− x1−ε

)

fur alle 1 < x < ∞ und 0 < ε < 1. Mit (21.18) erhalt man daraus schließlich

1 = limx→∞

ϑ(x)x

≥ (1−ε)(

lim supx→∞

π(x) · ln x

x− lim

x→∞ln x

)= (1−ε) lim sup

x→∞π(x)· ln x

x

fur alle 0 < ε < 1, d.h. es gilt

1 ≥ lim supx→∞

π(x) · ln x

x.

Zusammen mit (21.21) ist das die Aussage des Primzahlsatzes. ¤

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FUNKTIONENTHEORIE I 93

22. Der Riemannsche Abbildungssatz

Ziel diese Abschnitts ist der Beweis des folgenden Theorems.

22.1. Theorem (Riemannscher Abbildungssatz). Fur jede nicht leere offene MengeD ⊆ C, die zusammenhangend, einfach zusammenhangend (Def. 6.7) und ungleichC ist, gibt es eine biholomorphe Abbildung von D auf K1(0). 27

Die Voraussetzung D 6= C ist notwendig, weil es nach dem Satz von Liouvillekeine nichtkonstante holomorphe Abbildung von C nach K1(0) gibt.

Der Beweis des Riemannschen Abbildungssatzes erfolgt in mehreren Etappen,wobei wir so gut wie alles brauchen werden, was in den Abschnittten 1 - 16 be-handelt wurde. (Die Abschnitte 17 -20 dienten dem Beweis des Primzahlsatzes undwerden hier nicht gebraucht.) Die meisten dieser Etappen sind auch von selbstandi-gem Interesse, weswegen wir sie als Satze formulieren.

22.2. Satz. Jede injektive holomorphe Funktion ist biholomorph.

Ausfuhrlicher: Ist f : D → C eine holomorphe Funktion, D ⊆ C offen, mit derEigenschaft, dass aus f(z) = f(w), z, w ∈ D, stets z = w folgt, so ist f biholomorphvon D auf f(D).28

Beweis. Da f injektiv ist, mussen wir nur zeigen, dass f lokal biholomorph ist,wofur es nach Satz 13.2 ausreicht, dass f ′(z) 6= 0 fur alle z ∈ D.

Angenommen, es gibt ein z0 ∈ D mit f ′(z0) = 0. Dann hat die Funktion f(z)−f(z0) im Punkt z0 eine Nullstelle der Ordnung N mit 2 ≤ N < ∞.29 Nach Satz13.4 gibt es deswegen ein ε > 0 mit Kε ⊆ D und eine biholomorphe Abbildung hvon Kε(z0) auf eine offene Menge H ⊆ C, 0 ∈ H, mit

f(z)− f(z0) =(h(z)

)N fur 0 ≤ |z − z0| ≤ ε.

Wir wahlen nun ein δ > 0 so klein, dass Kδ(0) ⊆ H, und betrachten einen beliebigenPunkt w mit |w − f(z0)| = δN . Sei 0 ≤ ϕ < 2π der Winkel mit

w = f(z0) + δNeiϕ.

Wir setzen

vk = δ exp(

N+

k − 1N

2πi

), k = 1, . . . , N.

Dann sind v1, . . . , vN paarweise verschiedene Punkte aus K0,δ(0), die Punkteh−1(v1), . . . , h−1(vN ) sind paarweise verschiedene Punkte aus Kε(z0), und es gilt

f(h−1(vk)

)= f(z0) + vN

k = f(z0) + δNeiϕ = w

fur k = 1, . . . , N . Wegen N ≥ 2 ist das ein Widerspruch zur Injektivitat von f . ¤

27Zur Erinnerung: Mit K1(0) bezeichnen wir die offene Einheitskreisscheibe K1(0) :=z ∈ C ∣∣ |z| < 1

(vgl. Abschnitt 8), und unter einer biholomorphen Abbildung zwischen zwei

offenen Teilmengen der komplexen Ebene verstehen wir eine bijektive Abbildung zwischen diesenbeiden Mengen, die in beiden Richtungen holomorph ist (Def. 13.1).

28Nach dem Satz uber die Gebietstreue 13.5 ist f(D) offen.29Dass die Ordnung dieser Nullstelle ≥ 2 ist, sieht man an der Potenzreihe. Dass sie < ∞

ist (was nach Definition bedeutet, dass f(z) − f(z0) in keiner Umgebung von z0 identisch ver-schwindet), folgt daraus, dass D zusammenhangend und f nicht konstant ist - denn ware f ineiner Umgebung von z0 konstant gleich f(z0), so ware f nach dem Eindeutigkeitssatz auf ganz Dkonstant gleich f(z0), also nicht injektiv.

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94 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

22.3. Satz. Sei D ⊆ C eine zusammenhangende offene Menge und f : D → Csei eine holomorphe Funktion. Weiter sei (fn)n∈N eine Folge holomorpher Funktio-nen fn : D → C, die auf jeder kompakten Teilmenge von D gleichmaßig gegen fkonvergiert und von der bekannt ist, dass jedes fn biholomorph von D auf fn(D)abbildet. Dann gibt es fur f nur zwei Moglichkeiten: Entweder f ist konstant oderf ist ebenfalls biholomorph von D auf f(D).

Beweis. Sei f nicht konstant. Um zu zeigen, dass f dann biholomorph ist, mussenwir nach Satz 22.2 nur zeigen, dass f injektiv ist.

Angenommen, f ist nicht injektiv, d.h. es gibt Punkte z1, z2 ∈ D mit

z1 6= z2 und w := f(z1) = f(z2).

Dann ist auch die Funktion f(z) − w nicht konstant und holomorph auf D, unddie Punkte z1 und z2 sind Nullstellen dieser Funktion. Dabei kann f(z) − w inkeiner Umgebung von z1 und auch in keiner Umgebung von z2 identisch ver-schwinden, denn andernfalls wurde aus dem Eindeutigkeitssatz folgen (D ist zu-sammenhangend!), dass f(z) = w fur alle z ∈ D. Wir konnen deswegen ein ε > 0finden mit Kε(z1) ∪Kε(z2) ⊆ D, Kε(z1) ∩Kε(z2) = ∅ und

f(z) 6= w , falls 0 < |z − z1| < ε oder 0 < |z − z2| < ε.

Sei Nj die Ordnung von zj als Nullstelle von f(z) − w. Nach dem Satz uber dasNullstellen zahlende Integral (Satz 20.5) gilt dann

Nj =1

2πi

|z−zj |=ε

f ′(z)f(z)− w

dz , j = 1, 2.

Da die Folge (fn) gleichmaßig auf Kε(z1)∪Kε(z2) gegen f konvergiert, konnen wirdann ein n0 so groß wahlen, dass fur j = 1, 2 gilt:

fn0(z) 6= w fur |z − zj | = ε und

∣∣∣∣∣∣∣Nj − 1

2πi

|z−zj |=ε

f ′n0(z)

fn0(z)− wdz

∣∣∣∣∣∣∣< 1 .

Da Nj 6= 0 und ganz ist, folgt daraus, dass

Aj :=12π

|z−zj |=ε

f ′n0(z)

fn0(z)− wdz 6= 0

fur j = 1, 2. Dies bedeutet, dass es Punkte z′j ∈ Kε(zj) geben muss mit fn0(z′j) = w,

j = 1, 2, da andernfalls nach dem Cauchyschen Integralsatz das betreffende IntegralAj verschwinden musste.30 Wegen z′1 6= z′2 (denn Kε(z1)∩Kε(z2) = ∅) ist das aberein Widerspruch zur Injektivitat von fn0 . ¤

Unter einer Drehung (um 0, was wir nicht dazu sagen) verstehen wir ab jetzteine Funktion der Form

f(z) = eiϕ · z , z ∈ C,

wobei 0 ≤ ϕ < 2π fixiert ist. Wir notieren, dass dann

|f ′(0)| = |eiϕ| = 1

30Genauer gilt: Aj ist die Summe der Ordnungen der in Kε(zj) enthaltenen Nullstellen von

fn0 (z)− w. Dies folgt mit dem Residuenssatz 16.5 aus Satz 20.5.

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FUNKTIONENTHEORIE I 95

und|f(z)| = |z| fur alle z ∈ C.

22.4. Satz (Schwarzsches Lemma). Sei f : K1(0) → K1(0) eine holomorphe Funk-tion mit f(0) = 0, die keine Drehung ist. Dann gilt

(22.1) |f ′(0)| < 1

und

(22.2) |f(z)| < |z| fur alle |z| < 1.

Beweis. Da f(0) = 0 gilt, hat die Potenzreihenentwicklung von f im Punkt 0 dieForm

(22.3) f(z) =∞∑

n=1

fnzn = z∑n=1

fnzn−1 = z∑n=0

fn−1zn = zg(z),

wobeig(z) :=

∑n=0

fn−1zn , z ∈ K1(0),

ebenfalls eine holomorphe Funktion auf K1(0) ist. Fur 0 < r < 1 und |z| = r folgtdaraus

1r≥ |f(z)|

r=|zg(z)|

r= |g(z)|.

Daraus folgt mit dem Maximumprinzip weiter

|g(z)| ≤ 1r

falls 0 < r < 1 und |z| ≤ r.

Mit r → 1 erhalt man daraus die Abschatzung

|g(z)| ≤ 1 fur alle |z| < 1.

Wiederum nach dem Maximumprinzip folgt daraus: Entweder

(22.4) |g(z)| < 1 fur alle |z| < 1

oder g ist konstant mit einem Wert vom Betrag 1. Letzteres wurde aber wegen (22.3)bedeuten, dass f eine Drehung ist, was wir nach Voraussetzung ausgeschlossenhatten. Es gilt also (22.4), was wegen (22.3) die zu beweisende Ungleichung (22.2)zur Folge hat. Weiter folgt aus (22.3)

f ′(z) = g(z) + zg′(z) ,

woraus mit (22.4)|f ′(0)| = |g(0)| < 1

folgt. Es gilt also auch (22.1). ¤

22.5. Satz (Satz von Montel). Sei U ⊆ C offen, und sei (fn)n∈N eine Folge holo-morpher Funktionen auf U mit

C := supz∈U , n∈N

∣∣fn(z)∣∣ < ∞.

Dann gibt es eine holomorphe Funktion f : U → C und eine Teilfolge von (fn), dieauf jeder kompakten Teilmenge von U gleichmaßig gegen f konvergiert.

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96 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

Beweis. Man muss nur zeigen, dass es eine Teilfolge gibt, die auf jeder kompaktenTeilmenge von U gleichmaßig konvergiert, denn das Ergebnis dieser Konvergenz istdann nach Satz 7.7 automatisch holomorph. Dafur wiederum genugt zu zeigen, dassfur jedes fixierte z0 ∈ U und jedes ε > 0 mit Kε(z0) ⊆ U gilt

(22.5) supn∈N

supz∈Kε(z0)

|f ′n(z)| < ∞,

denn dann ist die Folge (fn

∣∣Kε(z0)

)n∈N

gleichgradig stetig und beschrankt, weswegen sie nach dem Satz von Arzela-Ascolieine gleichmaßig konvergente Teilfolge besitzt.31 Da man U durch die Vereini-gung einer Folge abgeschlossener Kugeln darstellen kann, erhalt man daraus diegewunschte Teilfolge von (fn) durch Ubergang zu einer Diagonalfolge.

Die Abschatzung 22.5 kann man nun wie folgt zeigen: Zuerst wahlt man einδ > 0, so dass auch die abgeschlossenen Kugel Kε+δ(z0) noch in U enthalten ist.Dann gilt nach der Cauchy-Formel fur die Ableitungen

f ′n(z) =1

2πi

|z−z0|=ε+δ

fn(ζ)(ζ − z)2

dζ fur z ∈ Kε(z0),

und es folgt (da die Lange des Integrationswegs gleich 2π(ε + δ) ist)

supn∈N

maxz∈Kε(z0)

|f ′n(z)| ≤ ε + δ

δ2supn∈N

max|z−z0|=ε+δ

|fn(ζ)| ≤ ε + δ

δ2C < ∞.

¤

22.6. Satz. Fur jeden Punkt a ∈ K1(0) ist

fa(z) :=z − a

1− az, z ∈ K1(0),

eine wohldefinierte biholomorphe Abbildung von K1(0) auf sich mit

f(a) = 0 und f(0) = −a,

und es giltf−1

a = f−a fur alle a ∈ K1(0).

Beweis. Aus der Ungleichung

|1− az| ≥ 1− |z||a| > 0 , a, z ∈ K1(0),

folgt zunachst, dass fa fur jedes a ∈ K1(0) eine wohldefinierte holomorphe Funktionauf K1(0) ist, wobei offensichtlich fa(a) = 0 und fa(0) = −a gilt. Weiter gilt fura, z ∈ K1(0)

|1− az|2 − |z − a|2 = (1− az)(1− az)− (z − a)(z − a)

=(1− az − az + |za|2

)−

(|z|2 − az − az + |a|2

)

= 1 + |za|2 − |z|2 − |a|2 = (1− |z|2)(1− |a|2) > 0.

Folglich ist|1− az| > |z − a|

31Den Satz von Arzela-Ascoli findet man in den meisten Lehrbuchern zur Analysis I und II.

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FUNKTIONENTHEORIE I 97

und somit

|fa(z)| = |z − a||1− az| < 1

fur alle a, z ∈ K1(0). Damit ist gezeigt, dass fa fur jedes a ∈ K1(0) eine wohldefi-nierte holomorphe Funktion von K1(0) in sich ist. Da das gleiche fur f−a gilt, istauch die Komposition fa f−a fur alle a ∈ K1(0) wohldefiniert, und die Rechnung

(fa f−a

)(z) =

z+a1+az − a

1− a z+a1+az

=z+a−a−|a|2z

1+az

1+az−az−|a|21+az

=z−|a|2z1+az

1−|a|21+az

=z 1−|a|2

1+az

1−|a|21+az

= z

zeigt, dass

(22.6)(fa f−a

)(z) = z fur alle a, z ∈ K1(0).

Daraus folgt fur alle a ∈ K1(0): fa ist surjetiv und f−a ist injektiv (als Abbildungenvon K1(0) nach K1(0)). Da man a und −a vertauschen kann, bedeutet das, dass dieAbbildungen fa und f−a fur jedes a ∈ K1(0) sogar bijektiv sind. Da sie auch holo-morph sind, zeigt ein nochmaliger Blick auf (22.6), dass fa und f−a bihholomorphvon K1(0) auf sich abbilden und dass f−1

a = f−a gilt. ¤

22.7. Satz. Sei D ⊆ C eine nicht leere einfach zusammenhangende offene Mengemit 0 6∈ D. Dann gibt es eine holomorphe Funktion

√: D → C mit

(√z)2 = z

fur alle z ∈ D. Jede solche Funktion hat die folgenden beiden Eigenschaften:

(i)√

ist biholomorph von D auf√

D.

(ii) 0 6∈ √D.

(iii) Das Komplement C \ √D enthalt innere Punkte.

Beweis. Nach Satz 12.4 gibt es eine holomorphe Funktion ln : D → C mit eln z = zfur alle z ∈ D. Wir definieren

√z = eln z/2 fur z ∈ D.

Dann gilt(√

z)2 =

(eln z/2

)2 = e2 ln z/2 = eln z = z fur alle z ∈ D.

Es bleiben die Eigenschaften (i) - (iii) zu zeigen.

Eigenschaft (i): Angenommen√

z =√

w fur z, w ∈ D. Dann folgt

z =(√

z)2 =

(√w

)2 = w.

Die Funktion√

ist also injektiv, woraus mit Satz 22.2 folgt, dass sie biholomorphvon D auf

√D abbildet.

Eigenschaft (ii): Angenommen, es ware 0 ∈ √D, d.h. 0 =√

z fur ein gewissesz ∈ D. Daraus wurde

0 = 02 =(√

z)2 = z

folgen, was ein Widerspruch zur Voraussetzung 0 6∈ D ware.

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98 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

Eigenschaft (iii): Da√

D nicht leer und offen ist, ist auch die Menge −√D :=−z|z ∈ √D

nicht leer und offen. Um zu zeigen, dass C \ √D innere Punkte

besitzt, genugt es deswegen zu zeigen, dass

−√

D ∩√

D = ∅.Wir zeigen das indirekt. Angenommen, es gibt ein w ∈ −√D ∩ √D. Dann liegensowohl w als auch −w in

√D. Es gibt also Punkte z1, z2 ∈ D mit

√z1 = w und√

z2 = −w. Dann gilt

z1 =(√

z1

)2 = w2 = (−w)2 =(√

z2

)2 = z2

und somitw =

√z1 =

√z1 = −w,

d.h. w = 0, was der schon bewiesenen Eigenschaft (ii) widerspricht. ¤

Beweis des Riemannscher Abbildungssatzes (Theorem 22.1). Da D 6= C ist,konnen wir o.B.d.A. voraussetzen, dass 0 6∈ D. Dann folgt aus Satz 22.7 die Existenzeiner biholomorphen Abbildung

√von D auf

√D, wobei das Komplement von

√D

innere Punkte enthalt. Sei w ein solcher innerer Punkt. Dann gibt es ein r > 0 mit

Kr(w) ∩√

D = ∅,und die Abbildung

h(z) :=r

2(z − w), z ∈

√(D),

ist biholomorph von√

D auf die offene Teilmenge h(√

D)

der Kreisscheibe K1/2(0).Nachdem wir diese Teilmenge so verschoben haben, dass der Nullpunkt dazu gehort,haben wir damit gezeigt: Es gibt eine biholomorphe Abbildung von D auf eineoffenen Teilmenge

G ⊆ K1(0) mit 0 ∈ G.

Es bleibt zu zeigen, dass G biholomorph auf K1(0) abgebildet werden kann. Dazubetrachten wir die Menge M aller injektiven holomorphen Abbildungen

f : G −→ K1(0) mit f(0) = 0,

und zeigen im ersten Schritt, dass es ein fmax ∈M existiert mit

(22.7) |f ′max(0)| = supf∈M

|f ′(0)|.

Im zweiten Schritt zeigen wir, dass fur jedes solche fmax

(22.8) fmax(G) = K1(0)

gilt, womit dann alles bewiesen ist.

Erster Schritt: Seic := sup

f∈M|f ′(0)|.

Wir wahlen ein ε > 0 mit Kε(0) ⊆ G. Dann folgt aus der Cauchyschen Ungleichungfur die Koeffizienten einer Potenzreihe (Satz 10.1)

|f ′(0)| ≤ 1ε

max|z|=ε

|f(z)| ≤ 1ε

< ∞ fur alle f ∈M.

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FUNKTIONENTHEORIE I 99

Daraus folgt c < ∞. Wir wahlen nun eine Folge (fn)n∈N von Funktionen fn ∈ Mmit

(22.9) limn→∞

|f ′n(0)| = c.

Da diese Folge beschrankt ist (durch 1), besitzt sie nach dem Satz von Montel22.5 eine Teilfolge (fnj

)j∈N, die auf den kompakten Teilmengen von G gleichmaßiggegen eine holomorphe Funktion fmax : G → C konvergiert. Wir mussen zeigen,dass dieses fmax zu M gehort und die Bedingung (22.7) erfullt. Die Bedingung(22.7) folgt aus (22.9). Da c > 0 ist (denn z.B. die Abbildung z gehort zu M),besagt das insbesondere, dass fmax nicht konstant ist. Da alle fnj biholomorphsind, folgt daraus mit Satz 22.3, dass fmax biholomorph ist. Es bleibt zu zeigen,dass fmax

(K1(0)

) ⊆ K1(0). Da alle fnj

(K1(0)

)in K1(0) enthalten sind, ist zunachst

klar, dass fmax

(K1(0)

)in der abgeschlossenen Kreisscheibe K1(0) enthalten ist. Da

fmax

(K1(0)

)offen ist (Satz uber die Gebietstreue, fmax ist nicht konstant), geht

das aber nur, wenn fmax

(K1(0)

)bereits in der offenen Kreisscheibe K1(0) enthalten

ist.

Zweiter Schritt: Angenommen, (22.8) gilt nicht, d.h. es gibt ein

a ∈ K1(0) \ fmax(G).

Sei fa die biholomorphe Abbildung aus Satz 22.6. Dann gehort der Nullpunkt nichtzur Menge

fa fmax(G).

Folglich gibt es nach Satz 22.7 eine biholomorphe Abbildung√

von dieser Mengeauf die offene Menge √

fa fmax(G).

Fur jedes w aus dieser Menge gilt w2 ∈ K1(0) und somit w ∈ K1(0). Folglich gilt√

fa fmax(G) ⊆ K1(0).

Damit istg := f√−a

√ fa fmax

eine wohldefinierte Abbildung aus M. Sei

q(z) := z2 , z ∈ K1(0).

Offenbar ist die Abbildung q holomorph, aber nicht injektiv. Dann ist

h := f−a q f−√−a

eine wohldefinierte holomorphe Abbildung von K1(0) in sich mit h(0) = 0, diekeine Drehung ist (denn sie ist nicht injektiv, da q nicht injektiv ist). Aus demSchwarzschen Lemma 22.4 folgt deswegen |h′(0)| < 1. Da offenbar

h g = f−a q f−√−a f√−a √ fa fmax = fmax

gilt, ergibt das mit der Kettenregel

c = |f ′max(0)| = |h′(0)||g′(0)| < |g′(0)|.Das ist ein Widerspruch zu (22.7).

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100 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

23. Holomorphe Funktionen mit vorgegebenen Nullstellen

Hier ist unser Ziel das folgende

23.1. Theorem. Sei D ⊆ C eine offene Menge, und (an)n∈N sei eine in D gelegeneFolge mit der folgenden Eigenschaft: Fur jede kompakte Menge K ⊆ D gibt es einn0 ∈ N, so dass an ∈ D \ K fur n ≥ n0. Sei mn, n ∈ N, die Anzahl der Indizesj ∈ N mit aj = an. Dann gibt es eine holomorphe Funktion f auf D, so dass

• f fur jedes n ∈ N im Punkt an eine Nullstelle der Ordnung mn hat und• f(z) 6= 0 gilt, falls z ∈ D \ ann∈N.

Eine wichtige Anwendung dieses Theorems ist die folgende Eigenschaft offenerMengen der komplexen Ebene:32

23.2. Folgerung (aus Theorem 23.1). Fur jede offene Menge D ⊆ C mit D 6= Cgibt es eine holomorphe Funktion f , die ,,durch keinen Punkt des Randes holomorphfortgesetzt werden kann”, was genauer bedeutet, dass folgendes unmoglich ist:

Es gibt offene Mengen U, V ⊆ Cn sowie eine holomorphe Funktion v : V → Cmit den folgenden Eigenschaften:

V ist zusammenhangend,

∅ 6= U ⊆ V ∩D 6= V,

f = v auf U.

(23.1)

Beweis. Fur D = C ist nichts zu beweisen. Sei also D 6= C, d.h. der Rand ∂D von Dsei nicht leer. Danach wahlen wir eine Folge (an)n∈N mit der folgenden Eigenschaft(fur die Details vgl. Serie 14 der Ubungsaufgaben): Fur jede zusammenhangendeoffene Menge V mit ∅ 6= V ∩ D 6= V und jede Zusammenhangskomponente Mvon V ∩ D gibt es einen Punkt p ∈ ∂M ∩ ∂D und eine Teilfolge von (an) finden,die in M enthalten ist und gegen p konvergiert. Nach Theorem 23.1 gibt es eineholomorphe Funktion f : D → C mit f(an) = 0 fur alle n ∈ N, die aber auf keineroffenen Teilmenge von D identisch verschwindet. Diese Funktion hat die geforderteEigenschaft.

In der Tat, angenommen es gibt offene Mengen U, V ⊆ C sowie eine holomorpheFunktion v : V → C mit (23.1). O.B.d.A. sei auch U zusammenhangend. Sei M dieZusammenhangskomponente von V ∩D, die U enthalt. Nach dem Eindeutigkeitssatzmuss dann f = v auf ganz M gelten. Da V zusammenhangend und nicht in Denthalten ist, muss es einen Punkt p ∈ V ∩ ∂D geben, der auch Randpunkt vonM ist. Nach Wahl der Folge (an) gibt es eine Teilfolge (anj )j∈N von (an), die inM enthalten ist und gegen p konvergiert. Fur diese Teilfolge gilt dann v(anj ) =f(anj ) = 0 fur alle j ∈ N. Da alle anj von p verschieden sind (sie liegen in Mund p liegt nicht in M) und da V zusammenhangend ist, folgt daraus mit demEindeutigkeitssatz, dass v identisch gleich null sein muss. Wegen f = v auf M folgtdaraus weiter, dass f auf M identisch gleich null ist. Widerspruch! (f verschwindetauf keiner offenen Menge identisch.) ¤

32Jede Vorlesung uber die Funktionentheorie meherer komplexer Veranderlicher beginnt mitdem Hinweis, dass dies nicht mehr fur jede offene Menge im Cn gilt, falls n ≥ 2. Offene Mengenim C, welche diese Eigenschaften besitzen, nennt man Holomorphiegebiete. Jede offen Mengein der komplexen Ebene ist also ein Holomorphiegebiet.

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FUNKTIONENTHEORIE I 101

Wir kommen nun zum Beweis von Theorem 23.1. Der erste Schritt ist das fol-gende Lemma. Dazu definieren wir zunachst die folgenden Funktionen

E0(z) := 1− z , z ∈ C,

und

Ep(z) := (1− z) exp(

z +z2

2+ . . . +

zp

p

), z ∈ C , p ∈ N∗.

Diese Funktionen werden als elementare Faktoren bezeichnet. Jede dieser elem-taren Faktoren hat im Punkt 1 eine einfache Nullstelle und ist sonst von null ver-schieden. Mehr noch fur 0 < |z| < 1 konvergieren sie mit wachsendenm p gegen 1.Es gilt:

23.3. Lemma. Fur |z| ≤ 1 und alle p ∈ N gilt

(23.2)∣∣Ep(z)− 1

∣∣ ≤ |z|p+1.

Beweis. Serie 13 der Ubungsaufgaben. ¤

Beweis von Theorem 23.1 fur D = C. Dann muss

limn→∞

|an| = ∞gelten. O.B.d.A. sei an 6= 0 fur alle n ∈ N. (Andernfalls lassen wir die endlichvielen verschwindenden Folgeglieder weg, und multiplizieren am Ende mit einerentsprechenden Potenz von z.) Wir wahlen fur jedes 0 < r < ∞ ein nr ∈ N∗ sogroß, dass

r

|an| <12

fur n ≥ nr.

Dann folgt aus Lemma 23.3∣∣∣∣En

(z

an

)− 1

∣∣∣∣ <1

2p+1fur z ∈ Kr(0), n ≥ nr, 0 < r < ∞.

Folglich gilt fur alle kompakten Mengen K ⊆ C∞∑

n=0

maxz∈K

∣∣∣∣En

(z

an

)− 1

∣∣∣∣ < ∞

Die Folge von Funktionen

En

(z

an

), z ∈ C , n ∈ N,

ist also auf den kompakten Teilmengen von C gleichmaßig multiplizierbar (Defini-tion 18.5). Nach Definition 18.7 und Satz 18.8 haben wir damit eine wohldefinierteholomorphe Funktion

f(z) :=∞∏

n=0

En

(z

an

), z ∈ C.

Wir zeigen nun noch, dass f genau die gewunschten Nullstellen hat.Sei zuerst ein z ∈ C gegben mit z 6= an fur alle n ∈ N. Da die Funktionen En

nur im Punkt 1 gleich null sind, gilt dann

E

(z

an

)6= 0 fur alle n ∈ N.

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102 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

Daraus folgt (vgl. Satz 17.8)

f(z) =∞∏

n=0

En

(z

an

)6= 0.

Sei nun ein n ∈ N gegben. Da die Anzahl mn der Menge j ∈ N |aj = an endlichist, konnen wir ein n0 ∈ N finden mit aj 6= an fur alle j > n0. Da naturlich auchdie Folge

Ek

(z

ak

), k > n0,

auf den kompakten Teilmengen von C gleichmaßig multiplizierbar ist, ist dann auch

f0(z) :=∞∏

k=n0+1

Ek

(z

ak

), z ∈ C,

eine wohldefinierte holomorphe Funktion auf C und es gilt

(23.3) f(z) =

(n0∏

k=0

Ek

(z

ak

))· f0(z).

Wegen

Ek

(an

ak

)6= 0 genau dann wenn k ∈

j ∈ N

∣∣∣aj = an

,

sieht man nun, dass der erste Faktor in (23.8) in an eine Nullstelle der Ordnungmn hat, wahrend der zweite Faktor dort ungleich null ist.

Beweis von Theorem 23.1 fur D 6= C. O.B.d.A. konnen wir annehmen, dassdie Folge (an)n∈N beschrankt ist. Andernfalls wahlt man einen Punkt z0 ∈ D, dernicht zur Folge gehort und geht zu der offenen Menge

D :=

1z − z0

∣∣∣ z ∈ D \ z0

und der Folge

an =1

an − z0, n ∈ N,

uber.Sei also vorausgesetzt, dass ein C < ∞ existiert mit

(23.4) |an| ≤ C fur alle n ∈ N.

Sei ∂D der Rand von D. Wegen D 6= C ist ∂D 6= ∅ und wir konnen fur jedes n ∈ Nein bn ∈ ∂D finden mit

(23.5) |an − bn| = dist(an, ∂D

).

Da nach Voraussetzung fur jede kompakte Teilmenge von D hochstens endlich vielen ∈ N existieren mit an ∈ K und wegen (23.4) gilt dann

(23.6) limn→∞

|an − bn| = 0.

Wegen bn 6∈ D ist fur jedes n ∈ N

(23.7) En

(an − bn

z − bn

), z ∈ D,

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FUNKTIONENTHEORIE I 103

eine wohldefinierte holomorphe Funktionen auf D, und, da En im Punkt 1 eineNullstelle erster Ordnung hat und sonst ungleich null ist, hat diese Funktion imPunkt an eine Nullstelle erster Ordnung und ist in allen anderen Punkten aus Dungleich null.

Sei jetzt K eine kompakte Teilmenge von D. Dann ist dist (K, ∂D) > 0 und

maxz∈K

∣∣∣∣an − bn

z − bn

∣∣∣∣ ≤|an − bn|

dist (K, ∂D).

Zusammen mit (23.6) folgt daraus die Existenz eines n0 ∈ N mit

maxz∈K

∣∣∣∣an − bn

z − bn

∣∣∣∣ <12

fur n ≥ n0.

Mit Lemma 23.3 ergibt das

maxz∈K

∣∣∣∣En

(an − bn

z − bn

)− 1

∣∣∣∣ <1

2n+1fur n ≥ n0.

Die Folge von Funktionen (23.7) ist also auf den kompakten Teilmengen von Cgleichmaßig multiplizierbar (Definition 18.5). Nach Definition 18.7 und Satz 18.8haben wir damit eine wohldefinierte holomorphe Funktion

f(z) :=∞∏

n=0

En

(z

an

), z ∈ C.

Wir zeigen nun noch, dass f genau die gewunschten Nullstellen hat.Sei zuerst ein z ∈ D gegben mit z 6= an fur alle n ∈ N. Da die Funktionen En

nur im Punkt 1 gleich null sind, gilt dann

E

(an − bn

z − bn

)6= 0 fur alle n ∈ N.

Daraus folgt (vgl. Satz 17.8)

f(z) =∞∏

n=0

En

(an − bn

z − bn

)6= 0.

Sei nun ein n ∈ N gegben. Da die Anzahl mn der Menge j ∈ N |aj = an endlichist, konnen wir ein n0 ∈ N finden mit ak 6= an fur alle k > n0. Da naturlich auchdie Folge

Ek

(ak − bk

z − bk

), k > n0,

auf den kompakten Teilmengen von D gleichmaßig multiplizierbar ist, ist dann auch

f0(z) :=∞∏

k=n0+1

Ek

(ak − bk

z − bk

), z ∈ D,

eine wohldefinierte holomorphe Funktion auf D und es gilt

(23.8) f(z) =

(n0∏

k=0

Ek

(ak − bk

z − bk

))· f0(z).

Wegen

Ek

(ak − bk

an − ak

)6= 0 genau dann wenn k ∈

j ∈ N

∣∣∣aj = an

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104 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

und wegen ak 6= an fur k > n0, sieht man nun, dass der erste Faktor in (23.8) in an

eine Nullstelle der Ordnung mn hat, wahrend der zweite Faktor dort ungleich nullist. Also hat f im Punkt an eine Nullstelle der Ordnung mn. Damit ist Theorem23.1 vollstandig bewiesen.

Ubungsaufgaben, 1. Serie, Behandlung am 26.10.06

Aufgabe 1. Welche der folgenden Funktionen ist holomorph?

f(z) = |z|2 , z ∈ C,

f(z) =z7z5

|z|10 , z ∈ C∗,

f(z) =z7z5

|z|10 , z ∈ C∗.

Aufgabe 2. Sei f : C→ C holomorph und g(z) := f(z), z ∈ C. Zeigen Sie, dass gauf ganz C holomorph ist.

Aufgabe 3. Zeigen Sie, dass z2 nicht holomorph ist.

Aufgabe 4. Sei A : C → C eine reell-lineare Abbildung, die (bezuglich der kano-nischen reellen Koordinaten von C = R2) durch die Matrix(

a11 a12

a21 a22

)

dargestellt wird. Zeigen Sie, dass dann die folgenden 3 Bedingungen aquivalent sind:(i) A is komplex-linear.(ii) A(i) = iA(1).(iii) a11 = a22 und a21 = −a12.

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FUNKTIONENTHEORIE I 105

Ubungsaufgaben, 2. Serie, Behandlung am 1.11.06

Aufgabe 1. Sei w ∈ C. Berechnen Sie die Integralew+i∫

w

z dz und

w+1∫

w

z dz.

Aufgabe 2. Zeigen Sie, dass ∫

[0,1,1+i,i,0]

z dz = 2i.

Aufgabe 3. Sei f : U → C, U ⊆ C offen, eine holomorphe Funktion. Wir setzenU∗ =

z ∈ C

∣∣ z ∈ U

und g(z) = f(z) fur z ∈ U∗. Zeigen Sie, dass g auf U∗

holomorph ist, wobei g′(z) = f ′(z), z ∈ U∗.

Aufgabe 4. Sei f : C → C definiert durch f(z) = x3y2 + ix2y3, wobei x = Re zund y = Im z. Zeigen Sie:

(a) f ist in jedem Punkt der beiden Koordinatenachsen komplex differenzierbar.(b) Es gibt keine nicht leere offene Menge U ⊆ C, so dass f

∣∣U

holomorph ist.

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106 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

Ubungsaufgaben, 3. Serie, Behandlung: 8.11.06

Aufgabe 1. Berechnen Sie die Integrale∫

[0,i,1+πi,1+2i,2+17i,2,1]

z dz und∫

[0,2006i,2006i+1,1]

z dz.

Aufgabe 2. Es sei H := z ∈ C | Im z < 0 die offene untere Halbebene, undH = H ∪ R sei die abgeschlossene untere Halbebene. Weiter sei f : H → C einestetige Funktion mit den folgenden beiden Eigenschaften:

(i) f ist holomorph auf H.(ii) f(x) ∈ R fur alle x ∈ R.

Zeigen Sie, dass es dann eine stetige Funktion f∗ : C\H → C gibt mit f∗(x) = f(x)fur alle x ∈ R, die auf C \H holomorph ist.

Aufgabe 3. Sei

f(z) := p0 + p1z + . . . + pnzn, z ∈ C,

wobei p0, p1, . . . , pn Konstanten aus C sind mit n ≥ 1 und pn 6= 0. Zeigen Sie, dassf nicht holomorph ist.

Aufgabe 4. Sei D := C\]−∞, 0].

(a) Zeigen Sie, dass D ein Sterngebiet ist.

(b) Sei γ : [α, β] → D eine geschlossene stetige Kurve. Bestimmen Sie (ohne zurechnen) ∫

γ

dz

z.

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FUNKTIONENTHEORIE I 107

Ubungsaufgaben, 4. Serie, Behandlung: 15.11.06

Aufgabe 1. Berechnen Sie das Integral∫

|z|=1

z + 2z

z2dz.

Aufgabe 2. Berechnen Sie das Integral∫

|z−i|=1

z + i

1 + z2dz.

Aufgabe 3. Seien a ∈ C, r > 0, k ∈ Z und

γ(t) := a + rekit , 0 ≤ t ≤ 2π.

Berechnen Sie das Integral ∫

γ

dz

z − a.

Aufgabe 4. Sei f eine stetige komplexwertige Funktion auf der Kreislinie |z−a| =r, a ∈ C, r > 0. Zeigen Sie, dass die durch

F (w) =∫

|z−a|=r

f(z)z − w

dz , w ∈ Kr(a),

definierte Funktion F in der offenen Kreisscheibe Kr(a) holomorph ist.

Hinweis: Sie durfen den folgenden Satz uber das ”Differenzieren unter dem Inte-gral”benutzen: Wir betrachten ein abgeschlossenes Quadrat Q := (x, y) ∈ R2 |a ≤x ≤ b, c ≤ y ≤ d, wobei a < b und c < d reelle Zahlen sind. Sei ϕ und einereellwertige stetig differenzierbare Funktion in einer Umgebung von Q. Dann ist dieFunktion

Φ(y) :=∫ b

a

ϕ(x, y)dx , c ≤ y ≤ d,

stetig differenzierbar auf [c, d] und es gilt

Φ′(y) :=∫ b

a

∂ϕ(x, y)∂y

dx , c ≤ y ≤ d.

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108 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

Ubungsaufgaben, 5. Serie, Behandlung: 22.11.06

Aufgabe 1. Sei f : U → C eine holomorphe Funktion, wobei U ⊆ C offen undzusammenhangend ist. Weiter sei vorausgesetzt, dass auch f auf U holomorph ist(wobei f(z) := f(z), z ∈ U). Zeigen Sie, dass f konstant ist.

Aufgabe 2. Berechnen bzw. bestimmen Sie

12πi

|z|=1

z6

(z − (

16

)1/5)2 dz und

12πi

|z|=1

z6

(z − 61/5

)2 dz .

Aufgabe 3. Berechnen Sie das Inteegral∫

|z−1|=3

(1 + z + z2 + z7

z3− 2

z − 1+

1z + 100

)dz.

Aufgabe 4. Berechnen bzw. bestimmen Sie die Integrale∫

|z|=2

1 + z + z2 + z3

z + 1dz,

|z|=2

1 + z + z2 + z3

(z + 1)2dz,

und ∫

|z|=2

1 + 17z +√

πz2 + e2006z3

(z − i)2005dz.

Page 109: Komplexe Differenzierbarkeit - Institut für Mathematikleiterer/files/neufunkth2005.pdf · FUNKTIONENTHEORIE I 3 nicht zu Verwechslungen, wenn man darauf achtet, dass aus dem Zusammenhang

FUNKTIONENTHEORIE I 109

Ubungsaufgaben, 6. Serie, Behandlung: 29.11.06

Aufgabe 1. a) Bestimmen Sie die Potenzreihe von

πz + 2πz2006

im Punkt 0.

b) Welchen Konvergenzradius hat die Potenzreihe von

πz + 2πz2006

im Punkt 2006πi?

Aufgabe 2. Berechnen Sie die Potenzreihe von (z − 2)4

a) im Punkt 2,

b) im Punkt 1,

c) im Punkt 0.

Aufgabe 3. Berechnen Sie die Potenzreihe von 1z

a) im Punkt 1,

b) im Punkt 2.

Aufgabe 4. Wie wir spater sehen werden, gibt es genau eine holomorphe Funktion

ln : C\]−∞, 0] −→ Cmit eln z = z fur alle z ∈ C\] −∞, 0] und ln 1 = 0, der so genannte Hauptzweigdes Logarithmus. Berechnen Sie die Potenzreihe von ln im Punkt 1.

Aufgabe 5. Beweisen Sie die Aussage aus Bemerkung 8.2.

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110 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

Ubungsaufgaben, 7. Serie, Behandlung: 06.12.05

Aufgabe 1. Man definiert die hyperbolische Cosinusfunktion cosh und die hyper-bolische Sinusfunktion sinh durch

cosh z :=ez + e−z

2und sinh z :=

ez − e−z

2, z ∈ C.

Diese Funktionen sind holomorph (warum?). Zeigen Sie, dass

cosh′ = sinh und sinh′ = cosh

sowie

cosh z =∞∑

n=0

z2n

(2n)!und sinh z =

∞∑n=0

z2n+1

(2n + 1)!.

Aufgabe 2. Sei f : C→ C holomorph. Es sei bekannt, dass eine Konstante C < ∞und ein n ∈ N existieren, so dass∣∣f(z)

∣∣ ≤ C + C|z|n fur alle z ∈ C.

Zeigen Sie, dass f ein Polynom vom Grad ≤ n ist.Hinweis: Fur n = 0 ist das der Satz von Liouville. Versuchen Sie, den Beweis des

Satzes von Liouville zu verallgemeinern.

Aufgabe 3. Sei f : C → C holomorph. Es sei bekannt, dass eine Konstante c > 0existiert, so dass ∣∣f(z)

∣∣ ≥ c fur alle z ∈ C.

Zeigen Sie, dass f konstant ist.

Aufgabe 4.(a) Zeigen Sie, dass die Reihe

∞∑n=0

1zn

fur alle z ∈ C mit |z| > 1 konvergiert. Zeigen Sie, dass die dadurch definierteFunktion

f(z) :=∞∑

n=0

1zn

, z ∈ C \K1(0),

holomorph ist.(b) Fur welche z ∈ C konvergiert die Reihe

∞∑n=0

1n!zn

,

und gegen welche Funktion konvergiert sie?

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FUNKTIONENTHEORIE I 111

Ubungsaufgaben, 8. Serie, Behandlung: 13.12.06

Aufgabe 1. Sei f : C \ 0 → C wie folgt definiert

(a) f(z) =1

z2005,

(b) f(z) =1z

+ z − 1 +1

z2006,

(c) f(z) = e−2z .

Bestimmen Sie die Laurent-Reihe von f im Punkt 0.

Aufgabe 2. Sei f : C \ 1 → C wie folgt definiert:

f(z) = e1

z−1 .

Bestimmen Sie die Laurentreihe von f im Punkt 1.

Aufgabe 3. Sei f : C → C eine stetige Funktion, die auf C \ R holomorph ist.Zeigen Sie, dass f dann auf ganz C holomorph ist.

Hinweis: Satz von Morera

Aufgabe 4.Beweisen Sie Satz 15.4

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112 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

Ubungsaufgaben, 9. Serie, Behandlung: 20.12.06

Aufgabe 1. (a) Berechnen Sie das Residuum von1− cos z

z3, z ∈ C \ 0

im Punkt 0.

(b) Berechnen Sie das Residuum von

z3

(1 + z)3, z ∈ C \ −1

im Punkt −1.

Aufgabe 2. Berechnen Sie die Residuen von

a)1

(z2 + 1)3, z ∈ C \ i,−i, in i und − i;

b)1

(z2 + 1)(z − 1)2, z ∈ C \ i,−i, 1, in i,−i und 1;

c)ez

(z − 1)2, z ∈ C \ 1, in 1.

Hinweis: Satz 16.6.

Aufgabe 3. Wir betrachten die folgenden beiden Kreisringe

A :=

z ∈ C∣∣∣ 0 < |z| < 1

und B :=

z ∈ C

∣∣∣ 1 < |z| < 2

sowie die durchf(z) =

1z − 1

auf C \ 1 ⊇ A ∪ B definierte holomorphe Funktion. Zeigen Sie, dass die Lauren-treihen von f |A und f |B verschieden sind.

Aufgabe 4. Sei f : U → C eine holomorphe Funktion, U ⊆ C offen, und seiz0 ∈ U eine Nullstelle der Ordnung N ∈ N∗ von f . Weiter sei ε0 > 0 so klein, dassKε0(z0) ⊆ U und f(z) 6= 0 fur alle 0 < |z − z0| ≤ ε0. Zeigen Sie, dass dann

12πi

|z−z0|=ε

f ′(z)f(z)

dz = N fur alle 0 < ε ≤ ε0.

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FUNKTIONENTHEORIE I 113

Ubungsaufgaben, 10. Serie, Behandlung: 10.01.07

Aufgabe 1. Berechnen Sie das Residuum von1

(z − 1)ezim Punkt 1 ,

1zez

im Punkt 0

und1

(z − ln 2)ezim Punkt ln 2 .

Aufgabe 2. Berechnen Sie

|z|=5

(z − 2)(z − 3)(z − 4) + (z − 1)(z − 3)(z − 4) + (z − 1)(z − 2)(z − 4) + (z − 1)(z − 2)(z − 3)(z − 1)(z − 2)(z − 3)(z − 4)

dz .

Aufgabe 3. Sei pnn∈N∗ die Folge der der Große nach geordneten Primzahlen.Wir setzen

CN := 2N∑

n=1

1pn

fur N ∈ N∗ .

(a) Zeigen Sie, dassN∑

n=1

ln1

1− p−1n

≤ CN fur alle N ∈ N∗.

Hinweis: Verwenden Sie die Abschatzung aus Bemerkung 17.5.

(b) Leiten Sie aus (a) ab, dassN∑

n=1

ln1

1− p−1−εn

≤ CN fur alle ε ≥ 0 und N ∈ N∗.

(c) Leiten Sie aus (b) ab, dassN∏

n=1

11− p−1−ε

n

≤ eCN fur alle ε ≥ 0 und N ∈ N∗.

(d) Leiten Sie aus (c) ab, dass fur jedes ε > 0 ein Nε ∈ N∗ existiert, so dass

ζ(1 + ε) < eCN + 1 fur alle N ≥ Nε.

Hinweis: Eulersche Produktformel.

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114 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

Ubungsaufgaben, 11. Serie, Behandlung: 17.01.07

Aufgabe 1. Bestimmen Sie die Residuen von

ez

z − 2πiim Punkt 2πi,

ez

(z − 10πi)2im Punkt 10πi,

ez

(z − 20πi)10im Punkt 20πi,

ez

(z − 20πi)10im Punkt 17πi.

Aufgabe 2. Sei f eine in einer Umgebung der Einheitskreisscheibe K1(0) definierteholomorphe Funktion mit |f(z)− 1| < 1 fur |z| = 1.

(a) Zeigen Sie, dass f keine Nullstellen in K1(0) hat.(b) Berechnen Sie ∫

|z|=1

f(z) + zf ′(z)zf(z)

dz.

Aufgabe 3. Zeigen Sie, dass∞∑

n=1

1pn

= ∞,

wobei (pn)n∈N die Folge der nach der Große geordneten Primzahlen ist.Hinweis: Benutzen Sie Aufgabe 3 der vorangegangenen Serie und eine Eigen-

schaft der ζ-Funktion.

Aufgabe 4. Sei U ⊆ C eine zusammenhangende offene Menge und f : U → C seieine holomorphe Funktion. Weiter sei (fn)n∈N eine Folge holomorpher Funktionenauf U , die auf jeder kompakten Teilmenge von U gleichmaßig gegen f konvergiert,und es gelte

fn(z) 6= 0 fur alle z ∈ U und n ∈ N.

Zeigen Sie, dass dann entweder f(z) = 0 fur alle z ∈ U oder f(z) 6= 0 fur alle z ∈ U .

Hinweis: Benutzen Sie das Nullstellen zahlende Integral.

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FUNKTIONENTHEORIE I 115

Ubungsaufgaben, 12. Serie, Behandlung: 24.01.07

Wir definieren fur 0 < |z| < 1

f1(z) = ez − 1− z − z2

2,

f2(z) = ln(z + 1)− z ,

f3(z) = ln(z + 1)− z − z3 ,

f4(z) =1z3

,

f5(z) = e−1z .

sowie

gjk(z) =fj(z)fk(z)

, 1 ≤ j ≤ 5.

Dabei ist ln der Hauptzweig des Logarithmus.

Aufgabe 1. Welche Art von isolierter Singularitat haben diese Funktionen imPunkt 0?

Aufgabe 2. Falls es sich um eine unweswentliche Singularitat handelt, welche Ord-nung hat sie?

Also:Wenn es ein Pol ist, welche Ordnung hat der Pol?Wenn die Sigularitat hebbar ist, ist es eine Nullstelle oder nicht?Wenn es eine Nullstelle ist, welche Ordnung hat diese Nullstelle?

Aufgabe 3. Berechnen Sie die Residuen dieser Funktionen.

Bemerkung:Da es sich um 30 Funktionen handelt, von denen zwar 5 identisch gleich 1 sind, istdas vielleicht etwas viel. Machen Sie, was Sie schaffen und wozu Sie Lust haben.

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116 VORLESUNG (4+2) IM WS 06/07 VON J. LEITERER (STAND 24.01.2007)

Ubungsaufgaben, 13. Serie, Abgabe: 08.02.06

Wir betrachten die holomorphen Funktionen

E0(z) := 1− z , z ∈ C,

und

Ep(z) := (1− z) exp(

z +z2

2+ . . . +

zp

p

), z ∈ C , p ∈ N∗.

Aufgabe 1. Zeigen Sie, dass fur alle p ∈ N und z ∈ C

E′p(z) = −zp exp

(z +

z2

2+ . . . +

zp

p

)

gilt.

Aufgabe 2. Sei

−E′p(z) =

∞∑n=1

b(p)n zn

die Potenzreihe von −E′p im Punkt 0. Zeigen Sie dass die Koeffizienten dieser Po-

tenzreihe reell und nicht negativ sind, also

b(p)n ≥ 0 fur alle n, p ∈ N.

Aufgabe 3. Bekanntlich gilt (Lemma 3.7)

1− Ep(z) = Ep(0)− Ep(z) =∫

[0,z]

E′p(ζ) dζ.

Leiten Sie daraus ab, dass 1−Ep(z) im Punkt 0 eine Nullstelle der Ordnung p + 1hat, weswegen es eine wohldefinierte holomorphe Funktion ϕ : C→ C gibt mit

ϕp(z) =1− Ep(z)

zp+1fur z 6= 0.

Aufgabe 4. Sei

ϕp(z) =∞∑

n=1

a(p)n zn

die Potenzreihe von ϕp im Punkt 0. Zeigen Sie, dass

a(p)n ≥ 0 fur alle n, p ∈ N.

Aufgabe 5. Zeigen Sie, dass ϕp(1) = 1 ist.

Aufgabe 6. Zeigen Sie, dass |ϕp(z)| ≤ 1 fur |z| ≤ 1, p ∈ N.

Aufgabe 7. Zeigen Sie, dass |1−Ep(z)| ≤ |z|p+1 fur |z| ≤ 1, p ∈ N.

Page 117: Komplexe Differenzierbarkeit - Institut für Mathematikleiterer/files/neufunkth2005.pdf · FUNKTIONENTHEORIE I 3 nicht zu Verwechslungen, wenn man darauf achtet, dass aus dem Zusammenhang

FUNKTIONENTHEORIE I 117

Ubungsaufgaben, 14. Serie, Abgabe: 15.02.06

Aufgabe 1. Sei D ⊆ C eine offene Menge mit D 6= C. Fur ε > 0 setzen wir

Dε =

z ∈ D∣∣∣ dist (z,C \D) > ε und |z| < 1

ε

und bezeichnen mit Dε die Abschließung von Dε.

(a) Ist es richtig, dass fur jedes ε > 0 endlich viele Punkte a1, . . . , aN ∈ Dε existierenmit Dε ⊆ Kε(a1) ∪ . . . ∪ Kε(an)? Wie heißt die Eigenschaft von Dε, aus der dasfolgt?

(b) Zeigen Sie, dass eine Folge (an)n∈N∗ in D existiert, so dass gilt:• fur jeden Punkt z ∈ D gibt es mindestens ein n ∈ N∗, so dass

∣∣z − an

∣∣ <dist (z,C \D) und

• fur jede kompakte Menge K ⊆ D gibt es ein n0 ∈ N∗ so dass an ∈ D \Kfur n ≥ n0.

Aufgabe 2. Seien D,V ⊆ C offene Mengen, wobei V zusammenhangend ist und∅ 6= V ∩D 6= V gilt. Weiter sei M eine nicht leere Zusammenhangskomponente vonV ∩D und γ : [0, 1] → V sei eine stetige Kurve mit γ(0) ∈ M und γ(1) ∈ V \D.(So eine Kurve existiert immer. Warum?) Sei

t0 := sup

0 ≤ t ≤ 1∣∣∣γ(t) ∈ M

.

(a) Zeigen Sie, dass γ(t0) zum Rand von M gehort.

(b) Zeigen Sie, dass γ(t0) auch zum Rand von D gehort (Hinweis: M ist Zusam-menhangskomponente von V ∩D.).

(c) Zeigen Sie, dass fur jeden Punkt w ∈ M und ε := dist(w,C \ (V ∩ D)

)die

ganze Kreisscheibe Kε(w) in M enthalten ist.

(d) Nach Aufgabe 1 gibt es eine Folge (an)n∈N∗ in V ∩D, so dass gilt:• fur jeden Punkt z ∈ V ∩D gibt es mindestens ein n ∈ N∗, so dass

∣∣z−an

∣∣ <dist (z,C \ (V ∩D)) und

• fur jede kompakte Menge K ⊆ V ∩ D gibt es ein n0 ∈ N∗ so dass an ∈(V ∩D) \K fur n ≥ n0.

Zeigen Sie, dass (an)n∈N∗ eine Teilfolge besitzt, die in M enthalten ist und gegenγ(t0) konvergiert.