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Christian Girschner Ökonomische Krise und präventive Konterrevolution Ein Beitrag zur aktuellen Weltwirtschaftskrise und zum dreißigsten Todestag von Herbert Marcuse „Die Konterrevolution ist weitgehend prventiv; in der westlichen Welt ist sie das ausschlielich. Hier gibt es keine neuere Revolution, die rckgngig gemacht werden msste, und es steht auch keine bevor. Und doch schafft die Angst vor einer Revolution gemeinsame Interessen und verbindet ver- schiedene Stadien und Formen der Konterrevolution von der parlamentarischen Demokratie ber den Polizeistaat bis hin zur offenen Diktatur. Der Kapitalismus reorganisiert sich, um der Gefahr einer Re- volution zu begegnen“ (KuR, 8). Die derzeitige Weltwirtschaftskrise besitzt für die meisten kritischen Köpfe unserer Tage ihre Ursache in der neoliberalen Ideologie und Praxis. Es stehen nicht nur tief greifende ökonomische, sondern ge- sellschaftliche Veränderungen als Folge der Weltwirtschaftskrise auf der Tagesordnung. Wie soll man die kommenden Ereignisse einordnen und erklären? Und reicht der Hinweis auf den unsäglichen Neo- liberalismus als Ursache für die ökonomische Weltkrise, obwohl ein jeder weiß, es gibt keinen krisen- freien Kapitalismus und schon der >funktionierende< Geschäftsgang produziert nicht nur >Wohl- stand<, sondern täglich Fremdbestimmung, Indoktrination, Armut, Hunger, Verelendung, Krieg und Katastrophen auf der Welt? Will man in der kritischen Gesellschaftswissenschaft das seit dreißig Jah- ren verwendete Interpretationsmuster, wonach der Kapitalismus sich im Übergang vom Fordismus zum Postfordismus befindet, abermals bemühen, um die derzeitige Weltwirtschaftskrise und ihre Fol- gen in diese starre Schablone zu pressen? Aber möglicherweise befinden wir uns längst an einem be- sonderen historischen Wendepunkt in der kapitalistischen Entwicklung, der ähnlich einschneidende gesellschaftliche und politikökonomische Veränderungen hervorbringen wird, wie dies im Fall der Weltwirtschaftskrise von 1929 gewesen war? Ein Rückgriff auf einige Einsichten über die kapitalistische Entwicklung von Herbert Marcuse könnte helfen, der sich nie scheute, in seiner Beurteilung der gesellschaftlichen Entwicklung die Negation des Kapitalverhältnisses theoretisch und praktisch einzufordern, eine andere Betrachtung auf die aktuelle Krise zu eröffnen. Marcuse hat einen bislang nicht wahrgenommenen Erklärungsansatz über die kapi- talistische Entwicklungsdynamik entwickelt, der sich implizit durch sein gesamtes Werk zieht. Dieser Ansatz geht davon aus, dass die spätkapitalistische Geschichte vor allem eine Geschichte von aufei- nanderfolgenden präventiven Konterrevolutionen ist. Dies möchte ich hier anhand zahlreicher, aber nicht systematisch ausgearbeiteter Hinweise und Bemerkungen von Marcuse im Folgenden rekonstru- ieren bzw. reinterpretieren. Bei Herbert Marcuse stellt die präventive Konterrevolution eine politik-ökonomische Reaktion der bürgerlichen Gesellschaft auf die wachsenden Reproduktions- und Expansionsprobleme des Kapita-

Ökonomische Krise und präventive Konterrevolution€¦ · nicht systematisch ausgearbeiteter Hinweise und Bemerkungen von Marcuse im Folgenden rekonstru-ieren bzw. reinterpretieren

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Page 1: Ökonomische Krise und präventive Konterrevolution€¦ · nicht systematisch ausgearbeiteter Hinweise und Bemerkungen von Marcuse im Folgenden rekonstru-ieren bzw. reinterpretieren

Christian Girschner

Ökonomische Krise und präventive Konterrevolution

Ein Beitrag zur aktuellen Weltwirtschaftskrise und zum dreißigsten Todestag von Herbert Marcuse

„Die Konterrevolution ist weitgehend pr�ventiv; in der westlichen Welt ist sie das ausschlie�lich. Hier gibt es keine neuere Revolution, die r�ckg�ngig gemacht werden m�sste, und es steht auch keine bevor. Und doch schafft die Angst vor einer Revolution gemeinsame Interessen und verbindet ver-schiedene Stadien und Formen der Konterrevolution von der parlamentarischen Demokratie �ber den Polizeistaat bis hin zur offenen Diktatur. Der Kapitalismus reorganisiert sich, um der Gefahr einer Re-volution zu begegnen“ (KuR, 8).

Die derzeitige Weltwirtschaftskrise besitzt für die meisten kritischen Köpfe unserer Tage ihre Ursache

in der neoliberalen Ideologie und Praxis. Es stehen nicht nur tief greifende ökonomische, sondern ge-

sellschaftliche Veränderungen als Folge der Weltwirtschaftskrise auf der Tagesordnung. Wie soll man

die kommenden Ereignisse einordnen und erklären? Und reicht der Hinweis auf den unsäglichen Neo-

liberalismus als Ursache für die ökonomische Weltkrise, obwohl ein jeder weiß, es gibt keinen krisen-

freien Kapitalismus und schon der >funktionierende< Geschäftsgang produziert nicht nur >Wohl-

stand<, sondern täglich Fremdbestimmung, Indoktrination, Armut, Hunger, Verelendung, Krieg und

Katastrophen auf der Welt? Will man in der kritischen Gesellschaftswissenschaft das seit dreißig Jah-

ren verwendete Interpretationsmuster, wonach der Kapitalismus sich im Übergang vom Fordismus

zum Postfordismus befindet, abermals bemühen, um die derzeitige Weltwirtschaftskrise und ihre Fol-

gen in diese starre Schablone zu pressen? Aber möglicherweise befinden wir uns längst an einem be-

sonderen historischen Wendepunkt in der kapitalistischen Entwicklung, der ähnlich einschneidende

gesellschaftliche und politikökonomische Veränderungen hervorbringen wird, wie dies im Fall der

Weltwirtschaftskrise von 1929 gewesen war?

Ein Rückgriff auf einige Einsichten über die kapitalistische Entwicklung von Herbert Marcuse könnte

helfen, der sich nie scheute, in seiner Beurteilung der gesellschaftlichen Entwicklung die Negation des

Kapitalverhältnisses theoretisch und praktisch einzufordern, eine andere Betrachtung auf die aktuelle

Krise zu eröffnen. Marcuse hat einen bislang nicht wahrgenommenen Erklärungsansatz über die kapi-

talistische Entwicklungsdynamik entwickelt, der sich implizit durch sein gesamtes Werk zieht. Dieser

Ansatz geht davon aus, dass die spätkapitalistische Geschichte vor allem eine Geschichte von aufei-

nanderfolgenden präventiven Konterrevolutionen ist. Dies möchte ich hier anhand zahlreicher, aber

nicht systematisch ausgearbeiteter Hinweise und Bemerkungen von Marcuse im Folgenden rekonstru-

ieren bzw. reinterpretieren.

Bei Herbert Marcuse stellt die präventive Konterrevolution eine politik-ökonomische Reaktion der

bürgerlichen Gesellschaft auf die wachsenden Reproduktions- und Expansionsprobleme des Kapita-

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lismus dar. Ab einem bestimmten historisch erreichten Niveau der Kapitalakkumulation und Produkti-

vität treten diese Probleme der Ökonomie für Marcuse in einer neuartigen und unausweichlichen

Schärfe auf, die die Weiterexistenz des Kapitalismus ernsthaft infrage stellen. Mit dem Erreichen die-

ses historischen Zeitpunktes bedarf es vonseiten der herrschenden Machtelite, des Kapitals und Staates

einer neuartigen Herrschaftsstrategie, um die Expansion und damit die Erhaltung des Kapitalismus

sowie die dazugehörige Unterwerfung der Menschen weiterhin zu gewährleisten. Der in dieser Hin-

sicht entscheidende Wendepunkt in der Geschichte des Kapitalismus stellt in den Augen von Marcuse

die große Weltwirtschaftskrise von 1929 dar, die eine wesentliche Voraussetzung für die Entstehung

des Faschismus als erste historische Form der präventiven Konterrevolution in Deutschland werden

sollte. Aber die präventive Konterrevolution blieb auch nach der Niederlage des Faschismus dadurch

erhalten, dass sie neue Gestaltformen annahm, da die schwerwiegenden Reproduktions- und Expan-

sionsprobleme des Kapitalismus weiter bestehen blieben. Keynesianismus, Neo-Konservativismus und

Neoliberalismus bilden daher in der Geschichte der präventiven Konterrevolution nur neuere politik-

ökonomische Paradigmen bzw. herrschaftssichernde Ideologien, um die Kapitalexpansion entgegen

allen Krisentendenzen und gesellschaftlichen Widersprüchen zu fördern und zu sichern.

Jenseits der (Post-)Fordismustheorie: die Endlichkeit des Kapitalismus

Der Ansatz, die Geschichte der kapitalistischen Entwicklung ab einem bestimmten Zeitpunkt als eine

Geschichte einer auf Dauer gestellten präventiven Konterrevolution zu analysieren, kann zugleich als

eine explizite Kritik an der strukturalistisch inspirierten Regulationstheorie gelesen werden, die Be-

grifflichkeiten wie Fordismus und Post-Fordismus zu Allerweltskategorien der Kapitalismuskritik

gemacht hat.

Es ist noch nicht lange her, da postulierte ein bundesdeutscher Vertreter der Regulationstheorie, dass

sich die kapitalistische Gesellschaft seit einigen Jahren im sogenannten Postfordismus befindet

(Hirsch 2005, 130ff.), der ein neues Akkumulationsmodell darstellt. Der seit den siebziger Jahren kri-

selnde >Fordismus< (als besonderes Akkumulations- und Regulationsregime) würde deswegen der

Vergangenheit angehören. Allerdings hat die 2008 eingetretene Weltfinanz- und Wirtschaftskrise diese

Periodisierungsvorstellung der Regulationstheorie hinreichend widerlegt bzw. blamiert. Die Vertreter

dieser in den achtziger Jahren entwickelten Phasentheorie des Kapitalismus ordnen unter dem Para-

digma des (Post)Fordismus vorschnell und gern die Weltgeschehnisse, Moden, Kulturen und Theorien

ein. So wurden z. B. die Analysen über die spätkapitalistische Gesellschaft von Herbert Marcuse histo-

risiert, in dem diese zu Beschreibungen des nun untergehenden Fordismus stilisiert wurden (Roth

1985). Zudem habe Marcuse nicht die Endlosigkeit des Kapitalismus erkannt, wie es die Regulations-

theorie in ihrer Vorstellung von der unendlichen Abfolge von Akkumulationsmodellen behauptet. Ist

deshalb Herbert Marcuse für die heutige Analyse des Kapitalismus nur noch ein >toter Hund<?

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Herbert Marcuse hatte unter dem Stichwort „Verdinglichung der Marxschen Theorie“ vor einem ahis-

torischen wie strukturalistischen Zugriff auf die b�rgerliche Gesellschaft gewarnt: „Die Reduktion der

Marxschen Theorie auf feste >Strukturen< scheidet die Theorie von der Wirklichkeit und verleiht ihr

einen abstrakten, distanzierten, >wissenschaftlichen< Charakter, der ihre dogmatische Ritualisierung

erleichtert.“ (KuR, 44) Die Post/Fordismustheorie verblieb trotz gegenteiliger Rhetorik in dieser struk-

turalistischen Logik gefangen: Die immer gleichen „festen Strukturen“ des Kapitals ver�ndern sich

hier nicht mit der historischen Entwicklung des Kapitals, sondern nur die empirische bzw. �kono-

misch-quantitative Zusammensetzung des Kapitals f�r eine behauptete Phase. Die �konomischen Ka-

tegorien unterliegen damit keiner historischen Entwicklungsdynamik, sondern werden nur noch mit

selektiv ausgew�hltem historischen Material gef�llt, welches wiederum in die Schablone eines am

Schreibtisch zusammenkonstruierten Akkumulationsmodells hineingepresst wird. Soweit gibt es in der

Regulationstheorie auch keine innere Entwicklungsgrenze des Kapitals, sondern nur noch eine unend-

liche Abfolge von unterschiedlichen und voneinander isolierten Akkumulationsmodellen. Eine histori-

sche Kontinuit�t wie Entfaltung der kapitalistischen Kategorien wird in der Regulationstheorie nicht

mehr thematisiert. Vielmehr werden die Kategorien nur noch �u�erlich aus der Empirie aufgegriffen

und ihre Konstitution nicht mehr erkl�rt, weshalb die zu erkl�rende Genese und die zu bestimmende

�konomische Form des Kapitals durch die Frage nach der Aufrechterhaltung der schon immer vorge-

fundenen kapitalistischen Ordnung ersetzt wurden. So gleitet die Regulationstheorie notwendigerweise

ins strukturfunktionalistische Fahrwasser ab. Daraus entspringt zuguterletzt das Postulat eines unend-

lich wandlungsf�higen und expansiven kapitalistischen Systems, welches - in den Augen der Vertreter

der Regulationstheorie - jede �konomische Krise als Verj�ngungskur seiner selbst nutzt (vgl. Gir-

schner 2006). fabulierte

Dagegen ist die Existenz des Kapitals f�r Marcuse von verg�nglicher Natur. Der Niedergang des Kapi-

talismus begr�ndet sich f�r ihn durch den tendenziellen Fall der Profitrate, der selbst in der �konomi-

schen Form des Kapitals eingeschrieben ist. Der todbringende, aber langwierige Fall der Profitrate f�r

das Kapital ist deshalb auch nicht auf ein Versagen, sondern auf den Expansionserfolg des Kapitals

r�ckf�hrbar. Die Kapitalakkumulation mit ihren historisch sich entfaltenden Gestalt- und

Entwicklungsformen bildet nicht nur eine Kontinuit�tslinie, sondern vielmehr die Grundlage f�r die

historisch wachsenden Reproduktions- und Expansionsprobleme der b�rgerlichen Gesellschaft. Der

ahistorischen und strukturalistischen Bestimmung der kapitalistischen Warengesellschaft setzte

Marcuse die nachstehenden Erkenntnisse entgegen (vgl. KuR, 43f., VR, 145f.):

Die Begriffe, die f�r eine Untersuchung des Kapitalismus im 19. und 20. Jahrhundert benutzt

wurden, d�rfen nicht unreflektiert auf eine gegenw�rtige Phase angewandt werden.

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Die politik�konomischen Kategorien des Kapitals sind vielmehr historisch sich entwickelnde

Kategorien.

Denn der Kapitalismus ist zwar in allen seinen Phasen Kapitalismus, aber die Leistungsf�hig-

keit des Kapitals entwickelt sich erst im Verlauf seiner Expansion, die damit einhergehenden

„strukturellen Ver�nderungen“ betreffen zudem die gesamte Gesellschaft.

Wer dies ignoriert, reduziert den Kapitalismus auf „eine ahistorische, undialektische Abstrak-

tion“ und h�lt „umstandslos an der Begrifflichkeit fr�herer Entwicklungsstadien“ fest.

�konomische Krisen resultieren aus der Widerspr�chlichkeit des Kapitals selbst und sind „al-

so keine >St�rungen< oder schwache Stellen innerhalb eines harmonischen Ganzen, sondern

gerade die Bedingungen, in denen Struktur und Tendenzen der Wirklichkeit an den Tag tre-

ten“.

Diese Krisen des Kapitals sind notwendige Momente „der >Selbstentfaltung< des Kapitalis-

mus“, und diese enth�llt ihren „wahren Inhalt durch den negativen Akt des Zusammen-

bruchs.“

Zur Bedeutung der „pr�ventiven Konterrevolution“

Die pr�ventive Konterrevolution als �bergreifendes politik�konomisches Organisations- und Funk-

tionsprinzip der kapitalistischen Entwicklung bildet sich f�r Marcuse also ab einem bestimmten histo-

rischen Zeitpunkt heraus, n�mlich als diffuse Reaktion auf die widerspr�chliche Entwicklungs- und

Krisendynamik des Kapitals, die im tendenziellen Fall der Profitrate ihren pointierten Ausdruck findet.

Denn die „innere Dynamik des Kapitalismus“ treibt „zum Zusammenbruch (...), trotz der und in den

Gegentendenzen“ (ZM, 22). Aber die „Frage >wie lange noch?< l�sst sich nicht rational beantworten:

die Theorie ist keine Prophetie.“ (�B, 20) Entgegen fetischisierten bzw. b�rgerlichen und marxisti-

schen Vorstellungen von einer Trennung und Dualit�t von Politik und �konomie insistiert Marcuse

auf eine unzertrennliche Einheit von Politik und �konomie. Politischer Kampf ist f�r ihn ein innerer

Bestandteil und Antriebsmotor der kapitalistischen �konomie: „Es w�re eine grobe Verdinglichung

des Marxschen Begriffs, wenn die Zusammenbruchstendenz verabsolutiert w�rde. Auch als Grundten-

denz enth�lt sie den subjektiven Faktor: die Praxis.“ (ZM, 22) Trotzdem werden in der historisch lang-

fristigen Entwicklung und Entfaltung des Kapitalismus „strukturelle Arbeitslosigkeit, Saturierung des

Marktes, Inflation, innerkapitalistische Konflikte“ stetig und unausweichlich zunehmen (�B, 20). Zu

dieser historischen Entwicklungstendenz des Kapitals formulierte Marcuse einige Thesen (vgl. SD,

130ff., 145, 148ff; VR, 279f.):

Der Niedergang des Kapitalismus ist ein weltweiter Entwicklungsprozess, „der ein Jahrhun-

dert w�hren kann“.

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Denn die kapitalistische Gesellschaft wird sich angesichts der hoch entwickelten technologi-

schen Kontrollmechanismen und einem riesigen Milit�rapparat noch lange reproduzieren k�n-

nen. Zudem hat der Kapitalismus seine „Reichweite und Macht rationaler Praktiken in einem

unerheblichen Ma�e erweitert“. Es d�rfte daher zu einer „lange(n) Periode der Barbarei“

kommen.

Insbesondere die „weitgehenden politischen und administrativen Regulierungen“ konstituieren

ein „Wechselspiel von Ordnung und Zufall, bewusster Aktion und blinden Mechanismen“, die

die �konomische Wachstumsf�higkeit des Kapitals trotz gr��er werdenden Problemen �ber

einen l�ngeren Zeitraum sichern k�nnen.

Marcuse brachte die f�r ihn zwangsl�ufig zunehmenden Expansionsprobleme des Kapitals in knapper

Form auf den Punkt, als er ausf�hrte: Der tendenzielle Fall der Profitrate konstituiert sich aus dem

Sachverhalt, dass sich in der historischen Entwicklung des Kapitals eine s�kulare Tendenz herausbil-

det, die beinhaltet, dass die lebendige und wertsetzende Arbeit immer mehr aus der Produktion he-

rausgedr�ngt wird, das hei�t auch, dass sich der menschliche Arbeitsaufwand zur Produktion von im-

mer gr��eren Warenmengen kontinuierlich verringert. Es handelt sich hierbei um das „>Gespenst der

Automation<“ (AI, 22). Diese eherne Entwicklungstendenz der b�rgerlichen Gesellschaft, die die in-

nere Entwicklungsschranke des Kapitals konstituiert, machte Marcuse an den folgenden Punkten fest

(VR, 273ff.; PuPo, 71f.; AI, 22):

Das Kapital entwickelt in seiner historischen Entwicklung und Entfaltung die Produktivkr�fte

rasant und steigert damit best�ndig die Mehrwertproduktion (Rationalisierung, Intensivierung

der Arbeit). Dies vermindert jedoch zugleich die Menge der lebendigen bzw. wertsetzenden

wie wertvermehrenden Arbeit im Verh�ltnis zu der Quantit�t der Produktionsmittel, die Kapi-

talakkumulation wird deshalb schwieriger und muss immer aufwendiger organisiert wie gesi-

chert werden.

Das Kapital beruht deshalb auf einem unl�sbaren Dilemma, dem es, wie es sich auch drehen

und wenden mag, nicht entkommen kann. Denn gelingt es dem Kapitalismus nicht, die Pro-

duktivkr�fte weiter auszubauen und zu entwickeln, „f�llt die Produktivit�t der Arbeit unter das

von der Profitrate geforderte Niveau“ und st�rzt deshalb in eine �konomische Existenzkrise.

„Und wenn der Kapitalismus dieser Forderung folgt und die Automation r�cksichtslos weiter-

treibt, st��t er auf seine innere Grenze: die Quelle des Mehrwerts f�r die Aufrechterhaltung

der Tauschgesellschaft versickert.“ Es l�utet unwiederbringlich die Todesglocke des Kapitals

ein, denn die „vollendete Automation der gesellschaftlich notwendigen Arbeit (ist) mit der Er-

haltung des Kapitalismus unvereinbar.“

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Mit dieser Entwicklung und Entfaltung der Produktion auf stets gr��erer Stufenleiter „geht

eine Vergr��erung der Masse des Kapitals in den H�nden individueller Kapitalisten einher“

und bringt eine „monopolistische Konkurrenz zwischen gigantischen Unternehmen“ hervor.

Durch die best�ndige Schaffung neuer Produktionszweige und Bed�rfnisse versucht der Kapi-

talismus andauernd seine eigenen Expansionsgrenzen hinauszuschieben; es er�ffnet damit

neue kapitalistische Verwertungszonen.

In der langfristigen historischen Entwicklung des Kapitals l�sst sich jedoch der tendenzielle

Fall der Profitrate immer schwieriger aufhalten bzw. hinausz�gern. Der Fall der Profitrate ver-

sch�rft dann „sowohl den Konkurrenzkampf als auch den Klassenkampf: politische Methoden

der Ausbeutung erg�nzen die �konomischen, welche langsam ihre Grenzen erreichen“.

Eine Folge f�r das Kapital ist nicht nur das wiederkehrende Auftreten von �berproduktions-

krisen, vielmehr wird eine „profitable Investierung von Kapital (…) immer schwieriger. Der

Kampf um neue M�rkte pflanzt den Samen f�r immer neue internationale Kriege“.

Die Ergebnisse der kapitalistischen Expansion bleiben „blind. Die fallende Profitrate, die dem

kapitalistischen Mechanismus tendenziell innewohnt, untergr�bt gerade die Grundlagen des

Systems und errichtet die Schranke, �ber die hinaus die kapitalistische Produktion nicht fort-

schreiten kann.“

Das Konzept der pr�ventiven Konterrevolution von Marcuse geht nun davon aus, dass die Reproduk-

tionsf�higkeit des Kapitals ohne eine umfassende Strategie der Wachstumssicherung und –f�rderung,

die keine gesellschaftlichen Sph�ren mehr unbehelligt l�sst, nicht mehr gew�hrleistet werden kann und

deshalb ein alles ergreifendes politik-�konomisches Herrschaftsprojekt erfordert. Denn die sich histo-

risch entwickelnde Kapitalvermehrung bringt nicht nur best�ndig neue Organe hervor, um dadurch die

Expansion voranzutreiben und um so die eigene �konomische Form zu erhalten, sondern ab einer be-

stimmten historischen Entwicklungsstufe muss die Gesellschaft ebenfalls neue soziale und politische

(Ausbeutungs-)Organe f�r die Ausdehnung des Kapitals hervorbringen und bereitstellen. Eine blo�

passive und �u�erliche Unterordnung bzw. „Subsumtion“ (Marx) der Gesellschaft unter die Imperative

der Wertvermehrung reicht nicht mehr aus, um die Expansion und Selbsterhaltung des Kapitals zu

gew�hrleisten. Es bedarf sowohl einer permanenten gesellschaftlichen Mobilisierung und Neuformie-

rung der Individuen als auch einer fortdauernden Reorganisation wie Neukonstitution von sozialen

und politischen Institutionen. Die Aufrechterhaltung und Sicherung des kapitalistischen Wirtschafts-

wachstums ben�tigt eine best�ndige soziale, psychologische, politische, ideologische und institutionel-

le Anpassungs-, Innovations- und Mobilisierungstechnik, die dem tendenziellen Fall der Profitrate

entgegenwirkt. Die gesellschaftlichen Institutionen und die Menschen stehen damit unter einem be-

st�ndigen Ausnahmezustand, um den dauernd sich ver�ndernden Anspr�chen des sich zugleich unauf-

h�rlich reorganisierenden Kapitals nachzukommen bzw. zuvorzukommen. Jede Sph�re der Gesell-

schaft muss der zu steigernden Produktivit�t der Arbeit und damit der Profitabilit�t des Kapitals zu

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Hilfe eilen. Es darf keine Freir�ume mehr geben, die nicht einem dauernden Test unterworfen werden,

inwieweit sie der F�rderung des Kapitalwachstums noch dienlich sind bzw. f�r diesen Zweck noch

dienlicher gemacht werden k�nnten: „Die Regierung fortgeschrittener und fortschreitender Industrie-

gesellschaften kann sich nur dann behaupten und sichern, wenn es ihr gelingt, die der industriellen

Zivilisation verf�gbare technische, wissenschaftliche und mechanische Produktivit�t zu mobilisieren,

zu organisieren und auszubeuten. Und diese Produktivit�t mobilisiert die Gesellschaft als Ganzes �ber

allen partikul�ren oder Gruppeninteressen.“ Aus diesem Grund erlegt die Kapitalverwertung der

„Arbeitszeit und der Freizeit, der materiellen und der geistigen Kultur die �konomischen wie politi-

schen Erfordernisse seiner Verteidigung und Expansion auf.“ (EM, 23) Die Steigerung der Leistungs-

und Profitf�higkeit wird von den Individuen von nun an nicht mehr als �u�erer Zwang empfunden,

vielmehr in „Selbstdisziplin und Selbstbeherrschung �berf�hrt“, was als Selbstentfaltung und –

verwirklichung ausgegeben und aufgefasst wird (EFT, 346ff.). Mit der wissenschaftlich entwickelten

und nun allseitig angewendeten Psychotechnik gelingt es, dem Individuum ein Gef�hl zu geben, dass

es sich selbst entfaltet, „indem es Funktionen erf�llt, die sein Selbst aufl�sen in eine Folge verlangter

Aktionen und Antworten. In diesen Grenzen wird Individualit�t nicht nur erhalten, sondern auch ge-

pflegt und belohnt“, damit es die „Pflichten verinnerlicht und �bernimmt, die ihm aufgetragen wer-

den.“ (ebd., 352)

Trotz der permanenten Anwendung neuartiger Methoden der Leistungssteigerung und Produktions-

ausdehnung in allen Bereichen, die die pr�ventive Konterrevolution zustande bringt, kann die b�rger-

liche Gesellschaft in ihrem weiteren historischen Verlauf dem tendenziellen Fall der Profitrate immer

weniger entgegenwirken. F�r Marcuse kommt es deshalb neben einer wachsenden „Saturierung des

Marktes in den Metropolen“ zur Herausbildung neuer Armutszonen „au�erhalb der privilegierten,

zahlungsf�higen Bev�lkerung“. Andererseits wird die f�r die Reproduktion der Arbeitskraft notwen-

dige Arbeitszeit immer k�rzer, aber ohne „dass das Gesamtquantum an abh�ngiger Arbeit reduziert

w�rde: sie bleibt >full-time<-Besch�ftigung, Lebensinhalt.“ (ZM, 26) Die historisch schwieriger wer-

dende Entwicklung und Entfaltung des Kapitals bringt ferner einen Berg an neuen sozialen, �konomi-

schen und �kologischen Problemen hervor, die die Reichtumsvermehrung des Kapitals weiter er-

schweren und behindern (ebd., 28). Darunter fasste Marcuse folgende Aspekte:

Aus der langsameren Akkumulationsf�higkeit des Kapitals resultiert eine steigende Arbeitslo-

sigkeit sowie Verarmung und letztendlich eine Versch�rfung des Klassenkampfes.

Dar�ber hinaus kommt es zu einer zunehmenden Umweltzerst�rung und zu einem gewaltigen

Raubbau bzw. einer best�ndig ansteigenden Vernutzung an nat�rlichen Ressourcen (Rohstoff-

und Energieverknappung).

Die aus der schwieriger gewordenen Kapitalakkumulation entspringende Intensivierung der

kapitalistischen Konkurrenz zwischen den Konzernen und Staaten (Wachstums-, Ressourcen-,

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Markt-, internationale bzw. regionale Herrschaftssicherung etc.) wird zunehmend neue Kon-

flikte und Kriege hervorrufen.

Aus dem folgt, dass „die Tendenz zur Katastrophe als Folge des Fortschritts“ des Kapitalwachstums

eine „reale Gefahr f�r die bestehenden Formen der Industriegesellschaft“ darstellt. Gegen diese Gefahr

und gegen das Erlahmen der Expansionsf�higkeit des Kapitals wird „die Gesellschaft mobilisiert“ und

in „leistungsf�higeren Herrschaftsformen“ organisiert (PP, 136). Jedoch verliert die pr�ventive Kon-

terrevolution mit jeder h�heren Stufenleiter der kapitalistischen Reichtumsproduktion ein St�ck ihrer

Wirksamkeit, da die menschliche Arbeitskraft als einzige Quelle des kapitalistischen Reichtums im-

mer st�rker aus dem Produktions- und Verwertungsprozess des Kapitals verdr�ngt wird. Kurz gesagt,

der eigene Erfolg des Kapitals f�hrt unabwendbar in den �konomischen und gesellschaftlichen Ab-

grund.

Aspekte der „rebellischen Subjektivit�t“

Die Grundlage der pr�ventiven Konterrevolution beruht also einerseits darauf, dass das Kapital ein

historisch einmaliges Niveau der Produktivit�t erzeugt, das die Kapitalverwertung immer schwieriger

werden l�sst. Andererseits f�hrt diese Entwicklung dazu, dass die Arbeit zur Erbringung der lebens-

notwendigen G�ter des Lebens auf ein Minimum reduziert werden k�nnte. Damit die kapitalistische

Verwertung auf h�herer Stufenleiter weiter fortgef�hrt wird, m�ssen demnach best�ndig neue Produk-

tionszweige geschaffen und neue Bed�rfnisse bei den Menschen hervorgerufen werden. Im Prinzip

k�nnte das „Reich der Notwendigkeit“ enorm verkleinert werden, wenn zugleich die Menschen die

Autonomie �ber die Produktion �bernehmen w�rden, was jedoch unter kapitalistischen Bedingungen

nicht m�glich ist. Sowohl die Reduktion der Arbeitszeit f�r lebensnotwendige Waren auf ein Mini-

mum als auch die expansive Schaffung neuer sozial-kultureller Bed�rfnisse bei den Individuen konsti-

tuieren f�r Marcuse das unberechenbare Potenzial einer „rebellischen Subjektivit�t“, die die kapitalis-

tische Warengesellschaft infrage stellt. An diesem Punkt muss daher f�r Marcuse auch die pr�ventive

Konterrevolution ansetzen, um die Herrschaft des Kapitals gegen�ber den Individuen und Klassen mit

Hilfe von psychologischen, �konomischen und kulturellen Herrschaftsmethoden abzusichern.

Marcuse glaubte schlie�lich, dass aus der Entfaltung der Produktivkr�fte die f�r alle Menschen offen-

sichtlich werdende M�glichkeit entspringt, sich von der m�hseligen Arbeit f�r das Kapital und den

damit konstituierten Herrschaftsstrukturen zu befreien: „Die Erfahrung verschwendeter, unn�tiger

Arbeitszeit (...) l�sst sich immer schwerer unterdr�cken: sie stimuliert das Bed�rfnis nach dem >Reich

der Freiheit<, das in der sp�tkapitalistischen Warenwelt dauernd produziert und negiert wird. Der Ka-

pitalismus erzeugt stetig Bed�rfnisse, die er nicht erf�llen kann, vor allem das Bed�rfnis nach Ab-

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schaffung der ausgebeuteten Arbeit als Lebensform. Denn der Kapitalismus ist abh�ngig von der Re-

produktion und der Intensivierung der ausgebeuteten Arbeit: Die Luxusg�ter, das kapitalistische Reich

der Befriedigung und der Lust, sind Waren, die gekauft und verkauft werden m�ssen: Tauschware. So

transformiert der Kapitalismus das Reich der Freiheit (das er selbst provoziert und erscheinen l�sst) in

ein Reich seiner Notwendigkeit: die Produktion von �berfluss, von Sch�nheit, Erf�llung; die Arbeit

f�r Luxusg�ter wird zur gesellschaftlich notwendigen, unmenschlichen Arbeit, der Ziel und Ende ver-

sagt sind.“ (ZM, 26f.)

Allerdings gelang nach Marcuse der kapitalistischen Gesellschaft bislang diese ihr innewohnenden

Freiheitstendenzen erfolgreich zu kanalisieren und in herrschaftserhaltende Aggressionen umzufor-

men. Diese Einsch�tzung beruht auf den folgenden Gesichtspunkten (V�B, 78f.; PP, 136f. u. vgl. ZM,

23; ReTo, 94f.):

Der Widerspruch zwischen den M�glichkeiten eines „leichten und freien Leben“ und der Ver-

ewigung des Existenzkampfes ruft „bei der unterworfenen Bev�lkerung jene sich steigernde

Aggressivit�t“ hervor, „die (wenn sie nicht gesteuert wird, den angeblichen Feind zu hassen

und zu bek�mpfen) jedes passende Ziel trifft: Wei� oder Schwarz, den Einheimischen oder

den Fremden, den Juden oder Christen, Reich oder Arm. Das ist die Aggressivit�t der Opfer

der Repression, die wegen ihres Lebensunterhalts auf die repressive Gesellschaft angewiesen

sind und daher die Alternative verdr�ngen. Ihre Gewalt ist die des Establishments und nimmt

sich Figuren zur Zielscheibe, die, zu Recht oder zu Unrecht, anders zu sein und eine Alternati-

ve zu repr�sentieren scheinen“.

Das Potenzial eines befreiten Lebens wird aber auch durch „die Anziehungskraft“ des kapita-

listisch produzierten �berflusses konterkariert und „bewirkt die Verewigung des Existenz-

kampfes, die zunehmende Notwendigkeit, Nicht-Notwendiges zu produzieren und zu konsu-

mieren. (...) Der phantastische Aussto� von Dingen und Dienstleistungen aller Art �bersteigt

jede Vorstellungskraft; aber er beschr�nkt und entstellt sie in der Warenform, wodurch die ka-

pitalistische Produktion ihre Gewalt �ber das menschliche Dasein erweitert“.

Nicht zuletzt deswegen kann auf eine „terroristische Eingliederung“ verzichtet werden, da die

Menschen in den kapitalistischen Metropolen einen „guten Grund haben, sich einzuordnen

oder sich einordnen zu lassen. Ihre Mitarbeit und ihr Einverst�ndnis mit dem bestehenden Sys-

tem erscheint als rational, ja sie reproduzieren selbst ihre Einordnung; nachdem einmal ihre

Bed�rfnisse und Neigungen den Erfordernissen des Apparates angepasst sind, bestimmen sie

in der Tat als W�hler die Politik, w�hlen sie denjenigen unter den ihnen vorgesetzten Kandida-

ten, der ihrer Meinung nach oder ihres Teiles der �ffentlichen Meinung nach ihre Interessen

innerhalb des Apparates am besten vertritt“.

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Zudem haben die Menschen die „Wahlfreiheit innerhalb ihrer Kaufkraft auch in der Konsum-

tionssph�re und in der h�heren Kultur – mit anderen Worten: die Einordnung geschieht durch

einen demokratischen Pluralismus“.

Die Konterrevolution sichert zudem die mentale Integration der Menschen mithilfe der gesell-

schaftlichen Etablierung der „repressiven Toleranz“, das hei�t: „Toleranz wird auf politische

Ma�nahmen, Bedingungen und Verhaltensweisen ausgedehnt, die nicht toleriert werden soll-

ten, weil sie die Chancen, ein Dasein ohne Furcht und Elend herbeizuf�hren, behindern, wo

nicht zerst�ren.“ Toleranz verliert damit seinen fr�heren emanzipatorischen und kritischen

Gehalt und verkehrt sich in ein Mittel, um „den Kampf ums Dasein zu verewigen und die Al-

ternativen zu unterdr�cken.“

Allerdings werden mit der historischen Entwicklung des Kapitals immer mehr Schichten jen-

seits dieser pluralen Einkaufs-Demokratie leben, „die nicht eingeordnet sind und vielleicht

auch nicht eingeordnet werden k�nnen, n�mlich rassische und nationale Minderheiten, dau-

ernd Arbeitslose und Arme. Sie stellen die lebendige Negation des Systems dar, aber sie bil-

den eine Minderheit, die das Funktionieren des Ganzen bis jetzt nicht ernsthaft infrage stellt.“

Der deutsche Faschismus als „pr�ventive Konterrevolution“

“Die effektive Verwirklichung der Interessen der Gro�industrie war eines der st�rksten Motive f�r die �berf�hrung der �konomischen in totalit�re politische Herrschaft; Effektivit�t ist einer der Hauptgr�nde f�r die Macht des fa-schistischen Regimes �ber die beherrschte Bev�lkerung.“ (EFT, 356)

Die pr�ventive Konterrevolution beginnt f�r Marcuse mit dem einsetzenden Faschismus in Europa,

weil sich hier eine historisch neue Herrschaftsform des Kapitals konstituierte, um die aus dem tenden-

ziellen Fall der Profitrate resultierende Grenze des Kapitalwachstums wie die daraus entspringenden

Gefahren und Widerspr�che (soziale Aufst�nde, Widerst�nde, Revolten etc.) f�r das Kapital aufzufan-

gen. Die pr�ventive Konterrevolution in der Gestalt des Faschismus, die hier nur kurz angerissen wer-

den soll, hat eine offen staatsterroristische Form angenommen, n�mlich (ZM, 24):

durch die terroristische Unterdr�ckung der Opposition;

als „Liquidierung einer ganzen Generation revolution�rer Vertreter der Arbeiterklasse“;

durch die zentrale Organisierung der �konomie f�r „die Restauration und Expansion des

Gro�kapitals bei gleichzeitiger Delegierung der �konomischen Souver�nit�t an den faschisti-

schen Machtapparat“;

durch „Transformation der ausgebeuteten Klassen“ in eine gleichgeschaltete Masse und „als

privilegierte Bev�lkerung gegen�ber den geopferten >Fremdgruppen<“.

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Dementsprechend definiert Marcuse den Faschismus als eine „als totalit�re Organisation der Gesell-

schaft zur Bewahrung und Ausdehnung des Kapitalismus in einer Situation, in der dieses Ziel durch

die normale Entwicklung des Marktes nicht mehr erreicht werden kann.“ (SD, 174) Die besondere

historische Entwicklungsschranke f�r das Kapital sah Marcuse in zwei zentralen Faktoren: einerseits

„durch eine starke sozialistisch-kommunistische Opposition im eigenen Land“, andererseits „durch

den gravierenden R�ckgang der Kapitalakkumulation als Folge eines verlorenen Krieges, einer tief

greifenden Wirtschaftskrise usw.“ Die Krisenl�sung zur �berwindung der vom Kapital selbst konsti-

tuierten Entwicklungsschranke bestand im Faschismus darin, auf der einen Seite das Lohnniveau zu

senken und die Macht der Gewerkschaften zu brechen, auf der anderen eine aggressive imperialisti-

sche Politik zu betreiben. Und dies „erfordert die Mobilisierung der gesamten Bev�lkerung f�r das

durch die herrschende Klasse definierte nationale Interesse, die Abschaffung des Rechtsstaates, die

Entmachtung des Parlaments als Plattform f�r die Opposition, die Militarisierung aller gesellschaftli-

chen Bereiche und die faktische Au�erkraftsetzung der demokratischen Ideologie.“ (ebd., 174) Dies

beinhaltete ebenfalls eine Transformation des „gesamten kulturellen Gef�ges.“ (VR, 361) Der Fa-

schismus zerst�rte deswegen den „liberalistischen Rahmen der Kultur“ und „schaffte“ damit den „letz-

ten Bezirk ab, in dem das Individuum sein Recht gegen�ber Gesellschaft und Staat beanspruchen

konnte.“ (ebd., 362) Der Nationalsozialismus glorifiziert demgegen�ber „die Massen und h�lt am

>Volk< in seiner vorrationalen, nat�rlichen Verfassung fest. (...) Das autorit�re System kann (...) das

Leben seiner Gesellschaftsordnung nur dadurch aufrechterhalten, dass es jedes Individuum ohne

R�cksicht auf sein Interesse auf den �konomischen Prozess zwangsverpflichtet. Die Idee individueller

Wohlfahrt weicht der Forderung des Opfers. >Die Pflicht des Opferns f�r die Gesamtheit hat keine

Grenzen, wenn wir das Volk als das h�chst Gut auf Erden ansehen ...<.“ (ebd., 364f.) Ein besonderes

Merkmal des deutschen Faschismus bestand f�r Marcuse in der alles durchdringenden Rationalit�t als

allgemeing�ltiges Organisationsprinzip nicht nur der Produktion, sondern des gesellschaftlichen und

privaten Lebens, um die Menschen f�r das Kapital und f�r die anstehenden Eroberungskriege zu mo-

bilisieren und zu formieren. So wird die „Bev�lkerung mit einer Rationalit�t durchtr�nkt, die alles an

den Kriterien von Effizienz, Erfolg und N�tzlichkeit misst.“ (FD, 25) Entsprechend werden die letzten

vorkapitalistischen Reste im deutschen Faschismus beseitigt und „die relativ unabh�ngige Stellung all

jener Gruppen zunichtegemacht, die der Entwicklung zum Gro�unternehmen hinterherhinkten. Betrof-

fen sind vor allem kleine und mittlere Unternehmen sowie der Handels- und Finanzbereich. Hier ist

der freie Markt �berall staatlicher Reglementierung unterworfen worden. Der Nationalsozialismus hat

die Arbeiterschaft in den Herrschaftsbereich der Industrie eingegliedert, die Hindernisse, welche die

Sozialgesetzgebung einer solchen Eingliederung in den Weg gestellt hatte, beseitigt und stattdessen

direkte politische Kontrollm�glichkeiten geschaffen. Die gesetzm��ige Verfasstheit der Organe von

Arbeitnehmern und Arbeitgebern wurde ebenso abgeschafft wie das Recht auf die freie Aushandlung

von Vertr�gen und zur politischen Vertretung. Der Nationalsozialismus hat industrielle, ministerielle

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und halboffizielle (Partei-)B�rokratie miteinander verschmolzen und den Staat an die Erfordernisse

des industriellen Apparates angepasst.“ (ebd., 27f.)

Dieser �konomische Mobilisierungsprozess der Institutionen und Klassen ergreift auch das Individu-

um, um es f�r das Kapital gewinnbringender ausbeuten zu k�nnen, es findet eine „ebenso umfassende

Anpassung der individuellen wie der kollektiven Moral und Psychologie“ statt. Denn: „Noch in ihren

irrationalsten Auspr�gungen ist die neue Mentalit�t das Ergebnis einer totalit�ren >Rationalisierung<,

die alles, was der r�cksichtslosen wirtschaftlichen und politischen Ausbeutung in Gestalt moralischer

Hemmnisse, Vergeudung und Ineffizienz im Wege steht, beseitigt.“ (ebd., 28) Dabei ist hervorzuhe-

ben, dass diese neue „Mentalit�t“ „einer gesellschaftlichen Organisationsform (entspricht), die mit

dem Nazisystem nicht identisch ist, auch wenn dieses ihre aggressivste Ausdrucksform darstellt.“

(ebd.) Vielmehr passte diese neue Mentalit�t „perfekt“ zu „dem neuesten Stand von Technologie,

Gro�industrie und Konzernorganisation“, so „dass jeder R�ckfall hinter diesen Stand dem allgemeinen

Trend der internationalen Entwicklung widersprechen m�sste.“ (ebd.)

Der deutsche Faschismus entdeckte also das Individuum als psychosozial zu mobilisierender und for-

mender Faktor der �konomischen Kapitalexpansion: „So seltsam es auch klingen mag, das Individuum

ist das Lieblingskind des nationalsozialistischen Regimes. Es bem�ht sich st�ndig, seine F�higkeiten

zu steigern, seiner Leistungsf�higkeit zu verbessern und es mit Energie und Initiative zu f�ttern. (...).

Die gesamte Sozialpolitik der Nationalsozialisten wird von dem Ziel geleitet, >alle schlummernden

F�higkeiten im Mann zu entwickeln, seine Leistungsf�higkeit zu st�rken, das Wesen seiner Pers�n-

lichkeit zu erweitern<. Das ist mehr als Ideologie. Der Nationalsozialismus hat ein �u�erst elaboriertes

System physischer, moralischer und geistiger Erziehung errichtet, das darauf abzielt, die individuellen

F�higkeiten mit h�chst subtilen wissenschaftlichen Methoden und Techniken zu erh�hen.“ (ebd., 102)

Zu diesem Zweck wurden psychologische und technologische Institute eingerichtet, „um die geeig-

netsten Methoden f�r die Zerlegung der Arbeit zu untersuchen und um den sch�dlichen Auswirkungen

der Mechanisierung entgegenzuwirken. Die Fabriken, Schulen, Ausbildungslager, Sportst�tten, die

kulturellen Institutionen und die Freizeitorganisationen sind wahre Laboratorien des Individualismus.

Jedem Mitglied der deutschen Rasse wird unabh�ngig von seiner sozialen Stellung beigebracht, sich

wie ein einzigartiges und selbstsicheres Wesen zu f�hlen und zu verhalten, selbst das mechanistische

Produkt zu seiner eigenen pers�nlichen Arbeit zu machen, und seine Wohnst�tte soll sich durch die

Merkmale seines eigenen pers�nlichen Geschmacks auszeichnen.“ (ebd., 103f.) Die Entdeckung der

Psychologie als Methode zur Anpassung der Menschen an die neuen Erfordernisse der Kapitalverwer-

tung geht bei den Betroffenen einher mit dem Schein einer gr��eren Individualit�t (EFT, 352). Zahl-

reiche Aspekte dieser psychosozialen Mobilisierung und Formierung der Menschen f�r die Sicherung

der Expansionsf�higkeit des Kapitals werden in den sp�ter folgenden Konterrevolutionen nicht nur

fortgesetzt, sondern weiter verfeinert und fortentwickelt.

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�ber einige Aspekte des „Sp�tkapitalismus in der Phase der pr�ventiven Gegenrevolution“ (ZM,

24)

„Der totalit�re Staat ist nur eine der Formen – vielleicht eine schon veraltete Form -, in denen sich der Kampf gegen die geschichtliche M�glichkeit der Befreiung abspielt. Die andere, die demokratische Form verwirft den Terror, weil sie stark und reich genug ist, sich ohne ihn zu retten und zu reproduzieren“ (PuPo, 10).

Die sp�tkapitalistische Konterrevolution wird endlich mittels der scheinbar unendlichen Expansion der

Waren und neu geschaffenen Bed�rfnissen in die psychologische Tiefenstruktur der Menschen veran-

kert; sie wird den Menschen zur „zweiten Natur“: Diese „zweite Natur des Menschen widersetzt sich

jeder Ver�nderung, welche diese Abh�ngigkeit der Menschen von einem dichter mit Handelsartikeln

gef�llten Markt sprengte oder vielleicht abschaffte – seine Existenz als Konsument aufh�be, der sich

im Kaufen und Verkaufen selbst konsumiert.“ (V�B, 26f.) Dar�ber hinaus sind die kapitalistisch orga-

nisierten Massenmedien zu Organen „zur Werbung f�r Gewalt und Dummheit, zur Bestrickung der

Zuh�rer“ geworden und schaffen eine „Harmonie zwischen Herrschern und Beherrschten“. Auf dieser

Grundlage kommt es zu einer radikalen Umdeutung gesellschaftlicher Werte und Verhaltensweisen:

„Anpassung verkehrt sich in Spontaneit�t, in Autonomie; und die Wahl zwischen sozialen Notwen-

digkeiten erscheint als Freiheit. In diesem Sinn ist die fortdauernde Ausbeutung nicht nur hinter dem

technologischen Schleier verborgen, sondern tats�chlich >umgewandelt<. Die kapitalistischen Produk-

tionsverh�ltnisse sind nicht nur f�r die Knechtschaft und M�hsal verantwortlich, sondern ebenso f�r

das gr��ere Gl�ck und Vergn�gen, wie sie der Mehrzahl der Bev�lkerung zug�nglich sind – und sie

liefern mehr G�ter als je zuvor.“ (ebd., 27ff.) So existiert f�r Marcuse in der sp�tkapitalistischen Phase

eine „sozial gesteuerte L�hmung des Bewusstseins“, w�hrend die “Entwicklung und Befriedigung der

Bed�rfnisse“, „die Knechtschaft der Ausgebeuteten verewigen.“ (ebd., 33)

Mit der historischen Entfaltung des Sp�tkapitalismus werden auch alt hergebrachte Vorstellungen �ber

die Rolle und Bedeutung der Ideologie in der b�rgerlichen Gesellschaft antiquiert bzw. „unangemes-

sen“ (SD, 44). Denn die Ideologie nimmt angesichts der erreichten Stufenleiter der Kapitalakkumula-

tion und des Warenreichtums neue Gestaltformen an. Allerdings nicht im Sinne eines >Ende der Ideo-

logie<. Vielmehr ist die kapitalistische bzw. herrschaftsabsichernde Ideologie in der Warengesell-

schaft allgegenw�rtig geworden, in dem sie sich l�ngst in den Waren, Institutionen und in der Psyche

der Menschen vergegenst�ndlicht hat (ZM 26). Damit ist gemeint, dass es zu einer „Institutionalisie-

rung, >Verk�rperung< der Ideologie im allt�glichen Verhalten, im Funktionieren der Gesellschaft und

der Individuen“ gekommen ist. Die Ideologie ist nicht mehr nur eine Sph�re der politisch sich streiten-

den Ideen und Meinungen zwischen den gesellschaftlichen Klassen, sondern sie materialisiert sich als

herrschaftssichernde Praxis vielmehr in den „Vorst�dten, Nuklearanlagen, Superm�rkten, Apotheken

und psychiatrischen Praxen“ (SD 44f.). Diese materialisierte Ideologie verankert sich �ber diesen Weg

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nicht nur in das Bewusstsein der Menschen, sondern auch in ihre „Triebstruktur f�r die Reproduktion

des Bestehenden innerhalb und au�erhalb der Arbeitswelt“ (ebd.). So herrscht eine umfassende “mate-

rielle und mentale Integration” der Menschen vor, die daf�r sorgt, dass ein nonkonformistisches Be-

wusstsein scheinbar nicht mehr existiert (SiF, 137).

Zudem spielen die kapitalistischen Medien eine entscheidende Rolle in der pr�ventiven Konterrevolu-

tion. Schlie�lich sichern die Medien durch ihre allgegenw�rtige Indoktrination die Konterrevolution

im Bewusstsein und Verhalten der Menschen ab. Denn sie rufen f�r Marcuse u.a. eine „Normalisie-

rung des Grauens“ (AI, 19) hervor. Es gibt eine medial erzeugte Gew�hnung der Menschen an den

Krieg und seine Folgen, der Umweltverschmutzung und sozialen Verelendung: „Die Verrohung der

Sprache und des Bildes, die Darstellung vom T�ten, Verbrennen und Vergiften der Opfer einer neo-

kolonialen Schl�chterei erfolgt in einem allt�glichen, tatsachengebundenen, manchmal sogar humoris-

tischen Stil, der das radikal B�se mit den Untaten jugendlicher Krimineller, mit Fu�ballspielen, Unf�l-

len, B�rsen- und Wetterberichten gleichsetzt“ (ebd.). Diese Ausrichtung der Medien wird durch eine

„reglementierte Sprache“ erg�nzt, die sich „einer unerbittlichen Diskriminierung“ bedient: Ein „be-

sonderes Vokabular des Hasses, des Ressentiments und der Diffamierung gilt dem Feind und denjeni-

gen, die gegen eine aggressive Politik opponieren. Das Muster bleibt sich stets gleich“ (ebd., 20). Die

„Mobilisierung von Aggressivit�t“ erkl�rt sich daraus, dass es um die „Stabilisierung und Festigung

eines Systems“ geht, „das durch seine eigene Irrationalit�t bedroht ist – durch die prek�re Grundlage,

auf der sein Wohlstand ruht, durch die Enthumanisierung, die sein verschwenderischer und parasit�rer

�berfluss erzwingt.“ (ebd., 21) Es kommt notwendigerweise zu einer Abwertung der Wahrheit, da

diese „dem Schutz und der Verbesserung des Lebens dient“ (ebd., 27).

Die Massenmedien konstituieren ferner einen besonderen Stil im Umgang mit Werbung, Meinungen

und Informationen, der aus best�ndiger Wiederholung besteht: „dieselbe Reklame, die unaufh�rlich

mit demselben Text oder Bild gesendet oder ausgestrahlt wird; dieselben Phrasen und Gemeinpl�tze,

die von Informanten und Meinungsbildnern unaufh�rlich verbreitet werden; dieselben Parteistand-

punkte und -programme, die von den Politikern unaufh�rlich verk�ndet werden.“ Dies zusammen

„zerst�rt geistige Autonomie, Intelligenz und Verantwortungsbewusstsein, verleitet zu Tr�gheit, F�g-

samkeit, Wohlbefinden in der Reduktion von Spannungen, gibt Schutz gegen traumatische Neuerun-

gen.“ (ebd., 28f.) Die sp�tkapitalistische Konterrevolution verringert damit die „Last des Verstandes

und die M�hsal und Anspannung, die autonomes Denken begleiten – so gesehen wird die Politik der

Wiederholung wirksame Aggression gegen den Geist in seinen kritischen, die Gesellschaft aufst�ren-

den Funktionen.“ (ebd., 29) Es ist dann auch nicht mehr verwunderlich, wenn das Bildungswesen

„funktional“ zugerichtet wird, das hei�t, „an den Jobs ausgerichtet (wird), die zur Verf�gung stehen

und die erledigt werden m�ssen – Dienst am Establishment, der seinen Lohn findet.“ (SD, 151)

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Die „pr�ventiv-gegenrevolution�re Stabilisierung des Sp�tkapitalismus“ besteht f�r Marcuse insbe-

sondere aus den nachstehenden Punkten (ZM, 23f.):

Es existiert eine kapitalistisch organisierte Befriedigung und Steuerung der Bed�rfnisse, um

die Kapitalexpansion weiterzutreiben und zu sichern.

Es findet eine Gleichschaltung der intellektuellen und materiellen Kultur durch die Institutio-

nalisierung und Proliferation von „System-Wissenschaften“ und therapeutisch arbeitenden

Geisteswissenschaften statt, die das >eindimensionale Denken< konstituieren, n�hren und le-

gitimieren. Hierunter f�llt insbesondere die Verbreitung von Philosophien, „die sich die kriti-

sche Transzendierung der Begrifflichkeit verbieten“.

Es kommt zu einer „Pseudo-Demokratisierung in der Konsumsph�re bei gleichzeitiger St�r-

kung und Ausdehnung der Exekutivgewalt“.

Es findet eine internationale „Mobilisierung des Gro�kapitals f�r die Sicherung der Ausbeu-

tung und die Eind�mmung oder Unterdr�ckung der Revolte“ statt.

Neoliberalismus als neue spätkapitalistische Konterrevolution

Herbert Marcuse hat noch einige Aspekte der in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts begin-

nenden neoliberalen bzw. neokonservativen Konterrevolution bestimmt, die ich hier noch abschlie-

�end in Erinnerung rufen m�chte.

In den siebziger Jahren sieht Marcuse eine Phase, in der die Reproduktion des Kapitals und damit sei-

ne Expansion einschneidend schwieriger wurde, worauf das Kapital im Zeitalter des „monopolisti-

schen Staatskapitalismus“ mit einem generellen Angriff auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der

Lohnabh�ngigen reagierte. Er brachte diesen Sachverhalt so auf den Punkt: „1. Die zunehmend

schwieriger werdende Kapitalakkumulation und das Einbrechen der M�rkte sind jetzt nicht das Resul-

tat eines verlorenen Krieges oder anderer anormaler Bedingungen, sondern ergeben sich aus dem un-

geheuren Anwachsen der Arbeitsproduktivit�t sowie konstanter �berproduktion selbst bei geringer

Produktionskapazit�t. 2. Die Opposition gegen die repressive Wirtschaftspolitik �u�ert sich als Wider-

stand der Gewerkschaften gegen die Absenkung des Lohnniveaus und als Widerstand der Arbeiter

gegen intensivierte Ausbeutung.“ (SD, 174f.)

Mit dem Neoliberalismus bzw. Neokonservativismus beginnt in den 70er Jahren eine neue Strategie

der pr�ventiven Konterrevolution, deren „Zentrum“ „in den Vereinigten Staaten“ liegt (SiF, 114), um

f�r das Kapital wieder bessere Akkumulationsbedingungen herzustellen. Dazu geh�rte die F�rderung

und Unterst�tzung der Mobilit�t des Kapitals auf dem Weltmarkt. �ber diesen Weg wurde auch die

Kampfkraft der Arbeiterklasse in den USA und in den Metropolen, n�mlich durch „Abwanderung von

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Betrieben, Einschr�nkung der Produktion in Regionen mit hohen L�hnen“, geschw�cht. Die „drohen-

de Verarmung trifft nicht nur (und vielleicht nicht einmal prim�r) den Teil der Arbeiterklasse, der

durch seine Organisationen (Gewerkschaften und Parteien) noch widerstandsf�hig ist, sondern auch

weite Schichten der Mittelklassen ohne politische und �konomische Organisation.“ (ZM, 30f.) Die

Opposition ist in den kapitalistischen Metropolenstaaten in einer sehr schlechten Verfassung. Sie ist

nicht mehr in der Lage, eine entsprechende Gegenmacht gegen die aufkommende neoliberale Konter-

revolution zu entwickeln: „Die Basis der Bev�lkerung wird durch eine Triebstruktur verfestigt, mittels

derer sich das kapitalistische System in den Individuen reproduziert. Zur Basis geh�rt die gro�e Mehr-

heit der Arbeiterklasse. Nat�rlich ist die >Verb�rgerlichung< der Arbeiterklasse keine grundlegend

neue Entwicklung. Neu ist die fast v�llige Abwesenheit von Bedingungen, durch die der Proze� in

sein Gegenteil verkehrt werden k�nnte. Es gibt keine Arbeiterpartei und keine Arbeiterpresse, und der

Sozialismus auch nur als Zielvorstellung wird abgelehnt. Was den politischen Charakter der b�rgerli-

chen Demokratie angeht, so sieht diese sich keiner feudalen oder postfeudalen Macht mehr gegen�ber;

sie hat die Armee, den �ffentlichen Dienst, die Erziehungs- und Bildungsinstitutionen v�llig erobert.

Daraus resultiert die untergeordnete Bedeutung, die das Parlament mittlerweile besitzt. Die Monopoli-

sierung der Wirtschaft findet ihren Ausdruck in der Machtf�lle, die der Exekutive zugefallen ist. Die

Bourgeoisie herrscht uneingeschr�nkt, und obwohl die Arbeiterklasse in der Bev�lkerung, die diese

Herrschaft st�tzt, noch eine eigene Klassenposition innehat, bleibt sie als Klasse innerhalb dieser Ge-

sellschaft, geht nicht als ihre >bestimmte Negation< �ber sie hinaus. Und der Klassenkampf st�rt nicht

die Kreise der brutalen imperialistischen Politik.“ (SD, 160)

Marcuse sieht eine Ursache f�r die beschriebene politische Stabilit�t und das Schwinden der opposi-

tionellen Kr�fte im Zeitalter der neoliberalen Konterrevolution ferner in einer besonderen, tief veran-

kerten gesellschaftlichen Seelenstruktur der Menschen, die einen, wie es Erich Fromm bezeichnete,

„sadomasochistischen Charakter“ und „Konformismus“ angenommen hat (ebd., 153ff., 159). Diese

gesellschaftliche Lust an der eigenen wie selbstsch�digenden Unterwerfung, Bestrafung, Selbstver-

st�mmelung und am Todestrieb, die nichts anderes als eine „>Flucht vor der Freiheit<, vor der Politik“

ist (ebd., 155), zeigt sich z. B. an diesem noch relativ harmlosen Ph�nomen: Die Menschen bilden

„eine durch und durch konservative Mehrheit, die sich im und durch den Wahlvorgang fortschreibt,

die herrschende Klasse und ihre Regierung immer aufs neue best�tigt und die Opposition entt�uscht

und frustriert zur�ckl�sst.“ (ebd., 152f.) Obwohl es den Menschen in den kapitalistischen Metropolen

m�glich ist, sich Informationen zu besorgen, „die nicht regierungskonform, nicht manipuliert, nicht

zensiert sind“, scheint es so, „als wollten sie es nicht, als h�tten sie nicht wirklich den Wunsch, das

Bed�rfnis, irgendetwas zu lesen, zu sehen oder zu h�ren, das der allgemein akzeptierten Wahrheit oder

Falschheit widerspricht“ (ebd.). Aus diesem Grund weist Marcuse darauf hin, dass es falsch zu sagen

ist, „dass die Bev�lkerung keine Schuld h�tte, dass sie keine Macht bes��e, die Dinge zu �ndern, auch

wenn sie das wollte. Die Bev�lkerung kann etwas tun!“ Aber stattdessen „identifizieren“ sich die Leu-

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te mit den Regierenden und „der institutionalisierten Brutalit�t und Aggression“ (ebd., 153). F�r Mar-

cuse best�tigt sich hier die These, dass die „�u�ere Unterdr�ckung durch eine Unterdr�ckung aus dem

Inneren unterst�tzt“ wird: „Das unfreie Individuum introjiziert seine Herren und deren Befehle in sei-

nen eigenen psychischen Apparat. Der Kampf gegen die Freiheit wiederholt sich in der Seele des

Menschen als Selbstunterdr�ckung des unterdr�ckten Individuums, und die Selbstunterdr�ckung wie-

derum st�tzt die Herrschenden und ihre Institutionen.“ (TuG, 22)

Aufgrund der fundamentalen Schw�che der Opposition gegen�ber dem Neoliberalismus und der �ko-

nomisch schwieriger gewordenen Lage der Lohnabh�ngigen (Arbeitslosigkeit) hat die neue Gestalt der

Konterrevolution keinen m�chtigen politischen Gegner zu erwarten. Die Agenten des Kapitals m�ssen

deshalb keine R�cksicht mehr nehmen, was diese wissen und rigoros ausnutzen, weshalb sie die ihnen

fr�her von der Arbeiterklasse aufgezwungenen sozialen und politischen Konzessionen in aller Offen-

heit wegr�umen: „Es hat den Anschein, als w�rde der Kapitalismus sich jetzt sicher genug f�hlen, um

alles von sich zu werfen, was seiner produktiven Destruktivit�t Schranken auferlegt – juristische, mo-

ralische, politische Schranken (oder als k�nne er sich diese Schranken nicht mehr leisten). Das System

rei�t sich selbst den Schleier vom Gesicht und stellt sich als das dar, was es ist. Durch sein eigenes

Verhalten demonstriert es t�glich die Wahrheit der Marxschen Theorie. Verglichen mit der Realit�t ist

Engels` dritter Abschnitt des Anti-D�hring so zahm und zur�ckhaltend wie Lenins Imperialismusana-

lyse. Die Vereinigung von Gro�kapital und Staat tritt ganz unvermittelt und offen zutage. Die Vorstel-

lung, es k�nne zwischen privaten Interessen und der Regierung einen Konflikt geben, wird nicht mehr

ernst genommen, oder, falls n�tig, durch einen Regierungserlass beseitigt. Da es keine Unterschiede

zwischen Gesch�ftswelt, Mafia und Politik mehr gibt, ist Korruption zu einem Begriff ohne Bedeu-

tung geworden. Je weiter oben sie angesiedelt ist, desto mehr wird sie allein durch die Tatsache, dass

sie so weit oben ist, gesch�tzt und >legitimiert<.“ (ebd., 161) Dies f�hrt auch dazu, dass die neolibera-

le Konterrevolution auf „einem nie da gewesenen Niveau die organisierte Aufstandsbek�mpfung

(Counterinsurgency) im In- und Ausland“ betreibt (SiF, 115). Weitere Folgen der neokonservativen

Konterrevolution benannte Marcuse, die den umfassenden gesellschaftlichen Charakter dieses neuen

Herrschaftsprojektes des Kapitals weiter verdeutlichen (SiF, 122; V�B, 105, 110, 115):

Die Gerichte werden „mehr und mehr als politische Tribunale benutzt“.

Es findet ein gewaltiger Bildungs- und Sozialabbau in den reichsten L�ndern der Welt statt.

Die b�rgerlichen Grundrechte werden in zunehmenden Ma�en eingeschr�nkt oder sogar besei-

tigt.

Dies geht einher mit der Etablierung von wirtschaftlichen „Sanktionen, wenn man politisch

oder anderweitig suspekt ist“.

Es findet eine wachsende „Einsch�chterung und Selbstzensur der Massenmedien“ statt.

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Die Lobbyistengruppen des Kapitals und ihre Netzwerke �bernehmen immer mehr die

Regierungsgewalt.

Der herrschenden Minderheit gelingt es in einem stets gr��er werdenden Ma�e, einseitige De-

finitionen von W�rtern und die Deutungshoheit von Geschehnissen durchzusetzen: „Politische

Linguistik ist ein Schutzpanzer des Establishments“, denn „das etablierte Vokabular diskrimi-

niert die Opposition von vornherein – es sch�tzt das Establishment“.

Der Neoliberalismus bzw. Neokonservativismus hat dar�ber hinaus ein weiteres Kampffeld er�ffnet,

n�mlich der Kampf gegen den geglaubten Verfall des Leistungsprinzips und der Unterwerfungskom-

petenz. F�r die neoliberale Konterrevolution muss daher mit allen Mitteln gegen die wachsende Auf-

l�sung kapitalistischer Leistungsideale als Folge der „sogenannten Konsumgesellschaft“ angek�mpft

werden, dies hei�t gegen „Unt�chtigkeit, Arbeitswiderstand, Verweigerung der Pflichterf�llung, Fahr-

l�ssigkeit und Gleichg�ltigkeit – alles dysfunktionale Faktoren“. Entsprechend wird mehr >Eigenver-

antwortung<, Eigeninitiative usw. eingefordert und ein Loblied auf Flei�, T�chtigkeit und Anspruchs-

losigkeit gesungen. Aber in Wahrheit ist die Infragestellung des Leistungsprinzips nicht Folge der

>Konsumgesellschaft<, sondern es sind die Widerspr�che und inneren Schranken des entwickelten

Kapitalismus selbst, die das Leistungsprinzip bei den Menschen fragw�rdig erscheinen lassen. Denn

die Widerspr�che des Sp�tkapitalismus manifestieren sich f�r Marcuse „in der zunehmenden Aufl�-

sung der moralischen Festigkeit und Koh�sion der Gesellschaft, im Nachlassen von Arbeitsdisziplin,

Verantwortungsgef�hl und Effizienz, in der v�lligen Abkehr von jenem Geist der innerweltlichen As-

kese, der bis vor Kurzem die Haupttriebfeder des Kapitalismus war. Die Widerspr�che zeigen sich in

der Form von Aussteigern, R�ckz�gen und Abspaltungen nicht nur in den rebellierenden Mittelschich-

ten, sondern auch in der herrschenden Klasse. Kurz, in dieser sogenannten Konsumgesellschaft erle-

ben wir eine weithin unpolitische, diffuse, ungeregelte und dennoch tief gehende Nicht-Identifikation

mit dem System. (...) – diese Rebellion gegen die vom kapitalistischen System geforderten Verhal-

tensmuster und Werte wird vom System nicht nur hervorgebracht, sondern auch st�ndig vorangetrie-

ben und weiter versch�rft. (...) Neben der Welt von entfremdeter Arbeit, Elend und Unterdr�ckung

bringt der Kapitalismus im gegenw�rtigen Stadium eine Welt von Komfort und technischen Spielerei-

en, von Spa� und �berflu� hervor, an den die Menschen in zunehmender Zahl, wenn auch gr��tenteils

prek�r teilhaben. Der Reichtum kapitalistischer Gesellschaften ist immer noch, wie Marx es definiert

hat, eine ungeheure Warensammlung, aber diese Waren erfordern zu ihrer Produktion immer weniger

Arbeitskraft. Das hei�t, sie stellen eine immer kleinere Quelle des Mehrwerts dar. (...) Mit anderen

Worten, die Konsumgesellschaft zeigt in ganz handgreiflicher Form die inneren Grenzen der kapitalis-

tischen Produktion auf.“ (SiF, 120f.; vgl. V�B, 124)

Die in den siebziger Jahren beginnende neo-konservative/-liberale Konterrevolution hatte f�r Marcuse

also zwei entscheidende Merkmale. Einerseits wurde sowohl die (gewerkschaftliche) Gegenmacht der

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Lohnabh�ngigen als auch das Aufkommen (teil-)oppositioneller, sozial-kultureller oder sogar system-

kritischer Bewegungen gegen�ber dem Kapital durch wirtschafts- und sozialpolitische Ma�nahmen

massiv geschw�cht und zur�ckgedr�ngt. Flankiert wurde dies �ber einen pseudo-moralischen Diskurs

�ber den Verfall des Leistungsprinzips, der Marktdisziplin und anderer b�rgerlicher Tugenden wie

Sauberkeit, Disziplin, Ordnung, P�nktlichkeit etc. sowie einer Kritik an dem angeblichen Aufkommen

einer unbegrenzten wie �berzogenen Anspruchsmentalit�t der Menschen gegen�ber dem Staat und den

Unternehmen. Demgegen�ber wurden unternehmerische Tugenden und allgegenw�rtige Konkurrenz

als heilsames Stahlbad gegen �konomische wie individuelle Ineffizienz in allen gesellschaftlichen

Bereichen eingefordert, die dann, um eine entsprechende Entsolidarisierung durchzusetzen, mit einem

radikalen Abbau von sozialstaatlichen >Wohltaten< und B�rgerrechten den Menschen aufgen�tigt

wurden. Andererseits wurde mit diesem gesellschaftspolitischen Rollback und der unmittelbaren poli-

tischen Unterst�tzung des Kapitals zwecks Erh�hung seiner nationalen/internationalen Mobilit�t,

Konkurrenzf�higkeit etc. und dem Erschaffen neuer Verwertungszonen versucht, die in den siebziger

Jahren offensichtlich gewordene �konomische Wachstumskrise (also dem Fall der Profitrate) zu be-

gegnen. Jedoch ist diese besondere Konterrevolution st�rker – angesichts des errichten Niveaus der

Produktivkr�fte, dem >Gespenst der Automation< - als je zuvor mit dem Problem des tendenziellen

Falls der Profitrate konfrontiert, weshalb die vermeintliche �bermacht auf Sand gebaut ist. Denn mit

jeder von der neo-konservativen/-liberalen Macht- und Kapital-Clique angewendeten Methode zur

Steigerung der Profitabilit�t des Kapitals wird der langfristige Fall der Profitrate umso heftiger be-

schleunigt und untergr�bt durch die damit ausgel�sten Wirtschaftskrisen und sozio-�konomischen

Verwerfungen die Legitimit�t und Wirksamkeit der neoliberalen Konterrevolution.

Resümee: Befreiender Hass und präventive Konterrevolution

„Wenn man Liebe und Gewaltlosigkeit predigt, spielt man denen, die Hass und Gewalt praktizieren, in die H�nde. Je nachdem, wie sich die Aggressivit�t �u�ert, k�nnen ihr unterschiedliche Triebe und >politische< Haltungen zugrunde liegen: Der Hass auf das B�se, auf Unterdr�ckung und Zerst�rung, st�rkt den Lebenstrieb und schw�cht den Todestrieb, die sadomasochistische Struktur. Es ist etwas Wahres an der Auffassung, dass fast immer die falschen Menschen, das hei�t die Freiheitsk�mpfer, vor der Zeit sterben (…). Adorno schreibt: >Es kann gut sein, dass unsere Gesellschaft sich zu einem Extrem entwickelt hat, in dem die Wirklichkeit der Liebe de facto nur noch durch den Hass auf das Bestehende ausgedr�ckt werden kann, w�hrend jeder direkte Liebesbeweis nur dazu dient, genau jene Bedingungen zu best�tigen, die den Hass ausbr�ten.< Dieser befreiende Hass ist das Zeichen des befreiten Bewusstseins, seine Einwirkung auf die Triebstruktur. (…) Die Welt kann nicht durch Liebe ver�ndert werden (…), aber sie kann durch Liebe ver�ndert werden, die sich in Hass verwandelt hat und die wieder zu Liebe wird, wenn der Kampf gewonnen ist.“ (SD, 156f.)

Herbert Marcuse zeigt mit seinem leider nie explizit ausgearbeiteten und deshalb nur bruchst�ckhaft

vorgetragenen Konzept der pr�ventiven Konterrevolution auf, dass die historisch immer prek�rer wer-

dende Expansion wie Akkumulation des Kapitals ab einem bestimmten historischen Zeitpunkt eine

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neue und auf Dauer gestellte Herrschaftsstrategie erforderte, die nicht nur das Kapital, sondern sowohl

alle Institutionen als auch die Individuen für die ökonomische Wachstumssicherung formieren und

mobilisieren muss. Eine passive bzw. äußerliche Subsumtion der Menschen und Institutionen unter die

Verwertungsinteressen des Kapitals ist seitdem nicht mehr ausreichend, um das ewig gleichbleibende

Hamsterrad der Kapitalexpansion weiter am Leben zu erhalten. Das Konzept der präventiven Konter-

revolution wendet sich damit gegen die Vorstellung, dass das Kapital ein automatischer Selbstläufer

ist, der sich unendlich weiterreproduziert und nicht mehr infrage gestellt wird, sofern sich die Gesell-

schaft einmal unter der Herrschaft des Kapitals vollständig subsumiert hat, indem alle vorbürgerlichen

wie vorkapitalistischen Produktions- und Lebensbedingungen zerstört wurden. So bedarf das Kapital

und die bürgerliche Gesellschaft für Marcuse zur Selbstentfaltung und Selbsterhaltung ihrer selbst

willen eine auf Dauer gestellte soziale, kulturelle, wissenschaftliche, politische, psychologische Mobi-

lisierung und Anpassungs-, Reorganisationstechnik der Individuen und der gesellschaftlichen Institu-

tionen, die zusammen die Gestalt historisch besonderer Konterrevolutionen annehmen, die sich stets

aus einer Mixtur aus zufälligem, blindem und geplantem Handeln ergeben.

Das Konzept der Konterrevolution ist für Marcuse allerdings keine fertige Schablone, die sich ahisto-

risch über die bürgerliche Gesellschaft stülpen lässt, sondern ist ein Erklärungsansatz, der den jeweili-

gen historisch zu konkretisierenden Stand der Kapitalakkumulation (Kapitalformen, Produktionszwei-

ge, Produktivkräfte, geschaffenen Bedürfnissen usw.), der politikökonomischen Institutionen, politi-

sche Kräfteverhältnisse (Parteien, Gewerkschaften, Bewegungen, Staatsform etc.) sowie die sozial-

kulturelle und psychologische Formierung und Indoktrinierung der Individuen (Medien, Ideologie,

Wissenschaft, Erziehungs- und Bildungssystem usw.), einschließlich ihrer aufgenötigten Bedürfnis-

struktur, berücksichtigt. Die jeweils historisch zu konkretisierende präventive Konterrevolution dient

allerdings nur dem Zweck, die sukzessiv schwieriger werdende Expansionsfähigkeit des Kapitals -

wegen des sich durchsetzenden tendenziellen Falls der Profitrate und den aus der kapitalistischen

Entwicklung entspringenden Widersprüchen - zu sichern und zu fördern, um so auch jede wirksame

und systemtranszendierende Opposition zu verhindern bzw. einzudämmen.

Die Kategorien des Kapitals sind für Marcuse stets historisch sich entwickelnde und zu erklärende

Formen, weshalb eine ahistorische wie strukturalistische Untersuchung nicht mit seinem Ansatz der

präventiven Konterrevolution vereinbar ist. Es gibt daher kein vorgefertigtes und alles umfassendes

Modell der Konterrevolution, dies würde dem widersprüchlichen und politischen Entwicklungscharak-

ter des Kapitals als unmittelbarer Einheit von Politik und Ökonomie gänzlich widersprechen. Die his-

torisch konkreten Konterrevolutionen unterscheiden sich deshalb immer auf der >Ebene< des Standes

der Verwertungs- und Krisenlage des Kapitals einerseits, der ideologischen, politischen, psychologi-

schen, kulturellen Praxis sowohl der Gesellschaft als auch der Individuen (und ihren Bedürfnissen)

andererseits.

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Der gemeinsame Nenner der verschiedenen Arten der Konterrevolutionen liegt f�r Marcuse in der

s�kularen historischen Entwicklung des Kapitals selbst, die sich darin �u�ert, dass es f�r die kapitalis-

tische Gesellschaftsform im historischen Verlauf und mit dem Anwachsen des kapitalistischen Reich-

tums und der Entfaltung der Produktivkr�fte stetig schwieriger wird, sich erfolgreich zu reproduzieren.

Dies ist das Resultat der inneren Schranke des Kapitals, da es die lebendige und wertsetzende Arbeit

durch eine stetig wachsende Maschinerie (Automatisierung der Produktion) ersetzen muss, die sich im

tendenziellen Fall der Profitrate ausdr�ckt. Diese s�kulare Entwicklungstendenz des Kapitals kann im

Einzelnen nicht prognostiziert werden, da die Kapitalakkumulation selbst ein unmittelbar durch politi-

sche K�mpfe konstituiertes Formverh�ltnis darstellt, die sich um die Arbeits- und Lebensbedingungen

bzw. um die Sicherung der Kapitalakkumulation drehen. Jedoch l�sst sich prognostizieren, dass sich

mit jedem Akkumulationserfolg des Kapitals der langfristige Fall der Profitrate umso st�rker be-

schleunigt und damit die �konomische Wachstumskrise des Kapitals weiter versch�rft wird. F�r Mar-

cuse ist dieser kapitalistische Entwicklungsprozess in der �konomischen Form des Kapitals selbst

angelegt und diesem kann es nicht entkommen. Das Kapital als besondere historisch �konomische

Form muss daher in dem Moment, wo es sich restlos verwirklicht, entwickelt und vervollkommnet

hat, in sich zusammenbrechen. Bis dahin werden regionale und internationale �konomische Krisen,

Verwerfungen, Instabilit�ten, Unbest�ndigkeiten und politische Konflikte, soziale und �kologische

Katastrophen sowie kriegerische Auseinandersetzungen bzw. deren Androhungen, aber auch der

Kampf um Absatzm�rkte, Ressourcen, Transportwege und billigere Arbeitskr�fte kontinuierlich zu-

nehmen. Die kapitalistische Weltordnung wird daher in ihrem weiteren historischen Verlauf zwangs-

l�ufig und im wachsenden Ma�e noch gr��ere barbarische Z�ge als bisher annehmen. Und dies wird

die Grundlage f�r die zunehmend r�cksichtsloseren Versuche der pr�ventiven Konterrevolution sein,

neue Wachstumsstrategien f�r das Kapital aus dem Boden zu stampfen. Wer angesichts der noch be-

stehenden �bermacht der kapitalistischen Ordnung und der offensichtlichen Ohnmacht der Opposition

noch nicht v�llig apathisch und gleichg�ltig gegen�ber dem Zustand der Welt geworden ist, wird, wie

es Marcuse sah, einen ganz gewaltigen, aber einen befreienden und lebensbejahenden Hass entfalten.

Diese Aggressivit�t „darf nicht unterdr�ckt, sondern muss gegen den wirklichen Feind gerichtet wer-

den, gegen die konkreten und sichtbaren Verk�rperungen des kapitalistischen Systems, gegen seine

Lakaien wie auch seine Herren in der Regierung, der Industrie, der Armee, den Universit�ten, den

Kirchen usw. Aber solche Aktionen d�rfen nicht die analen Charakterz�ge und nicht die Grausamkeit

und den Zynismus aufweisen, die das Vorrecht des Establishments sind.“ (SD, 159f.)

Literatur

Abk�rzungen f�r die verwendete Literatur von Herbert Marcuse:

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AI: Aggressivit�t in der gegenw�rtigen Industriegesellschaft, in: Marcuse H./ Rapoport, A. (Hg): Ag-

gression und Anpassung in der Industriegesellschaft; 1972, Frankfurt a. M.

EFT: Einige gesellschaftliche Folgen moderner Technologie; in: Horkheimer, M./ Pollock, F. u.a.

(Hg): Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus, 1981, Frankfurt a. M.

EM: Der eindimensionale Mensch; 1985, Darmstadt/Neuwied

FD: Feindanalysen. �ber die Deutschen; 1998, L�neburg

KuR: Konterrevolution und Revolte; 1973, Frankfurt a. M.

PP: Philosophie und Psychoanalyse (nachgelassene Schriften); 2002, L�neburg

PuPo: Psychoanalyse und Politik; 1980, Frankfurt a. M.

ReTo: Repressive Toleranz; in: Wolff, R. P./Barrington, M./Marcuse, H. (Hg): Kritik der reinen Tole-

ranz, 1967, Frankfurt a. M.

TuG: Triebstruktur und Gesellschaft; 1984, Frankfurt a. M.

SD: Das Schicksal der b�rgerlichen Gesellschaft (nachgelassene Schriften); 1999, L�neburg

SiF: Die Studentenbewegung und ihre Folgen (nachgelassene Schriften); 2004, L�neburg

�B: �ber Bahro, den Protosozialismus und den Sp�tkapitalismus; 1978, in: Kritik. Zeitschrift f�r so-

zialistische Diskussion, Nr. 19

VR: Vernunft und Revolution; 1985, Darmstadt/Neuwied

V�B: Versuch �ber die Befreiung; 1980, Frankfurt a. M.

ZM: Zeit-Messungen; 1975, Frankfurt a. M.

Weitere Literatur:

Girschner, Christian 2006: �konomismus und Funktionalismus. Eine Kritik an der Regulationstheorie

von J. Hirsch; in: trend onlinezeitung, Dezember

Hirsch, Joachim 1986: Das neue Gesicht des Kapitalismus; Hamburg

Ders. 1995: Der nationale Wettbewerbsstaat; Berlin

Ders. 2005: Materialistische Staatstheorie; Hamburg

Ders. 2009: Weltwirtschaftskrise 2.0 oder der Zusammenbruch des neoliberalen Finanzkapitalismus;

in: Zeitschrift f�r kritische Theorie 28-29

Roth, Rainer 1985: Rebellische Subjektivit�t. Herbert Marcuse und die neuen Protestbewegungen;

Frankfurt M./New York

Erschien: Januar 2010, http://www.trend.infopartisan.net/trd0110/t330110.html

Angesichts der Weltwirtschaftskrise r�umt Hirsch derzeit ein, dass der „Postfordismus der Vergangenheit“ angeh�rt, denn es w�re „nun deutlicher geworden“, dass der „Begriff >Postfordismus< (…) eher eine Hilfsbezeichnung (war)“ (Hirsch 2009, 182f.). Nachdem Hirsch seit rund 25 Jahren in etlichen Aufs�tzen und B�chern �ber die >Krise des Fordismus< bzw. die Herausbildung eines neuen postfordistischen Akkumulationsmodells geschrieben hat, f�llt ihm pl�tzlich auf, dass es „nicht ganz leicht zu erkennen (ist), mit welchem Kapitalismus man es gerade zu tun hat“ (ebd.). Entsprechend willk�rlich oder flexibel hat der Autor seine Kapitalismusperiodisierung in seinen zahlreichen Ver�ffentlichungen vorgetragen. So hei�t es 1986: „Mit der �konomischen Rezession Mitte der siebziger Jahre ist die Krise der fordistischen Formation un�bersehbar

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geworden.“ (Hirsch 1986, 78; ebenso noch: Ders. 1995, 83) Dagegen wird 2005 von Hirsch verk�ndet, dass die Krise des Fordismus vor�ber sei und durch die „Existenz einer spezifischen postfordistischen Formation des Kapitalismus“ abgel�st wurde, wann dies geschehen sei, dar�ber schwieg damals der Verfasser. Heute geht Hirsch unerwartet davon aus, dass der Fordismus „bis Mitte der siebziger Jahre“ w�hrte, um dann nach seiner Krise durch den Postfordismus ersetzt zu werden, der „etwas �ber drei�ig Jahre“ andauerte (Hirsch 2009, 182). Demzufolge existiert seit Ende der siebziger Jahre der Postfordis-mus als ein neues Akkumulationsregime, obwohl der Autor noch in den achtziger und neunziger Jahren best�ndig �ber die anhaltende Krise des Fordismus bzw. �ber die irgendwie sich abzeichnende Herausbildung eines Postfordismus fabulierte, der sich angesichts der anhaltenden s�kularen Wachstumsschw�che des Kapitals nicht richtig herausbilden wollte. Schon dieser �berblick verdeutlicht die relativ beliebige Periodisierung des Kapitalismus durch die Regulationstheorie. Besitzt diese nach Gutd�nken vorgenommene Periodisierung mehr als nur einen banalen Erkenntniswert? Ist diese Periodisierungs-unterteilung wirklich mehr als nur ein akademisches Glasperlenspiel? Und was f�r ein Akkumulationsmodell folgt wohl nach dem Ende des Postfordismus? Vielleicht ein Neo-Post-Fordismus? Lassen wir uns �berraschen. Denn nach der Regulations-theorie geht es ja mit dem Kapitalismus immer munter weiter. Aber Hirsch r�umt im Augenblick ein: „Der Kapitalismus steht tats�chlich vor einem GAU. Dessen Folgen k�nnten, was die politischen Verh�ltnisse angeht, mehr als desastr�s sein.“ (ebd., 186) Entsprechend spricht Hirsch nicht mehr von einer Durchsetzung eines neuen Akkumulationsmodells, sondern davon, „dass der staatsmonopolistische Kapitalismus, die enge Verbindung von Staat und Kapital, zwecks Sicherung des Profits weiter ausgebaut wird und festere institutionelle Strukturen bekommt.“ (ebd.) Wird damit die Regulationstheorie von Hirsch nun verworfen? „Das Individuum“, schreibt Marcuse an anderer Stelle, „reproduziert in seinem Tiefsten, in seiner Triebstruktur, die Wer-tungen und Verhaltensweisen, die der Aufrechterhaltung der Herrschaft dienen, w�hrend die Herrschaft immer weniger auto-nom, immer weniger >pers�nlich<, immer objektiver und allgemeiner wird. Was eigentlich herrscht, ist der zur unteilbaren Einheit gewordene �konomische, politische und kulturelle Apparat, den die gesellschaftliche Arbeit aufgebaut hat.“ (PuPo, 9; vgl. TuG, 48ff.)