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Günther Gettinger©2011

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Konstruktive Kritik üben lernen

Inhalt:

A. Was ist konstruktive Kritik?.................................................................................................. 1 B. Methoden ............................................................................................................................... 3

1.Feedbackrunden .................................................................................................................. 4 2. Gewaltfreie Kommunikation (Nonviolent Communication) ............................................. 4 3.Focusing .............................................................................................................................. 6

C.Literatur .................................................................................................................................. 8

A. Was ist konstruktive Kritik? Kritikfähigkeit, kritisches Denken; nichts einfach unkritisch, d.h. unüberprüft hinnehmen: diese Fähigkeiten stehen als anzustrebende Bildungsziele in allen Bildungs- und Ausbildungsplänen. Im Arbeitsalltag werden dann aber ‚loyale und angepasste Mitarbeiter’ erwartet, die freudig tun, was immer von ihnen verlangt wird. Offenbar ein Widerspruch. Konstruktive Kritik – das ist ein weiterer Ausdruck dieses Grundwiderspruchs. Wenn man schon wagt, den Vorgesetzten einmal offen zu widersprechen (stumm und leise darf ja ohnehin jeder denken und fühlen, wie er/sie will; man darf es sich nur nicht anmerken lassen), dann bitte aber – konstruktiv! ‚Konstruktive Kritik’ wird als ‚konstruktive Lösung’ dieses Widerspruchs verstanden und empfohlen. Die konventionell damit einhergehenden Empfehlungen (‚Regeln’) lauten in etwa folgendermaßen:

„Beachten Sie einige Regeln, wenn Sie an Ihren Kollegen oder an Ihrem Partner Kritik üben. Dann versteht Ihr Gegenüber die Kritik nicht als Angriff sondern als konstruktiven Hinweis.

1. Wählen Sie eine günstige Zeit. Achten Sie darauf, dass der Kritisierte nicht in Zeitnot ist. Sonst wird er Ihnen womöglich nur mit halbem Ohr zuhören.

2. Fassen Sie sich kurz. Erklären Sie klar und deutlich, was Sie stört. Verwenden Sie Ich-Botschaften. Dadurch fühlt sich der Andere nicht angegriffen und ist offener für eine Lösung.

3. Beschränken Sie sich in Ihrer Kritik auf Fakten und auf konkrete Situationen. So ist die Kritik nachvollziehbar.

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4. Hüten Sie sich vor Rundumschlägen aus der Reihe "Du taugst sowieso nichts". Solche Kritik ist destruktiv. Ihr Gegenüber merkt so etwas und verschließt sich Ihnen.

5. Lassen Sie dem Kritisierten einen Ausweg oder eine Lösung offen, bei der er sein Gesicht behält, besser noch: Suchen Sie gemeinsam nach einer Lösung und bieten Sie einen Kompromiss an.

Diese Regeln werden dann wie folgt begründet: Umgang mit Kritik gehört zu den schwierigsten Aufgaben im zwischenmenschlichen Bereich. Wer wird schon gerne auf Fehler hingewiesen? So gehen Sie angemessen und konstruktiv mit Kritik um: Versuchen Sie, Ihr Gegenüber ausreden zu lassen und wirklich zu verstehen, was er Ihnen sagen will. Dazu gehört zunächst einmal Offenheit – wer sich angegriffen fühlt, kann nicht offen reagieren, sondern begibt sich sofort in die Abwehrhaltung. Und da kann man nur schwer das aufnehmen, was einem der andere sagen will.

Versuchen Sie auch nicht, sofort etwas zu erwidern, und vor allem nicht, sofort zu einer Verteidigung anzusetzen. Denn dann erfahren Sie gar nicht mehr, was Ihnen der andere mitteilen will (wer schon seine Verteidigung in Gedanken vorbereitet, kann nicht zuhören). Hinzu kommt: Wenn Sie sofort „zurückschlagen“ und die Schuld vielleicht zurückgeben oder weiterschieben, heizen Sie die Situation nur noch weiter auf.“

Usw. usf. Alles nette und gutgemeinte Ratschläge. Phasenweise helfen und funktionieren sie auch. Der Hitze des Gefechts aber halten sie zumeist nicht stand. Sie greifen zu kurz. Was fehlt? Es fehlt ein umfassendes Verständnis von ‚Kritik’. Kritik ist immer Ausdruck davon, dass jemanden etwas nicht passt. Dass einem etwas ‚stresst’: In etwa so, als würde ein Essen im Magen drücken oder schlimmer noch, als würde einem davon übel; oder, der Schuh reibt, er passt nicht. Das Kleid ist zu eng, die Hose passt nicht, etc. Was tut man in solchen Fällen? Man versucht sich des Drucks zu entledigen. Zieht die Schuhe aus, öffnet das Kleid bzw. wechselt es; man nimmt eine Verdauungshilfe oder man übergibt sich.....alles ziemlich spontane Handlungen, zumeist ohne große ‚konstruktiv - kritische’ Überlegungen ausgeführt. Warum geht das im zwischenmenschlichen und beruflichen Kontext nicht auch so einfach? Ich weiß nicht, ob und wie viel sie darüber schon nachgedacht haben. Warum gehört ‚Kritik’

zu einer der ‚schwierigsten Aufgaben im zwischenmenschlichen Bereich’, wie es weiter oben zweifellos richtig geheißen hat? Es gibt viele Antworten auf diese Frage. Allen gemein dürfte folgendes sein: weil niemand

gerne negativ kritisiert wird, sofern er / sie nicht masochistisch veranlagt ist. Positive Kritik – Lob – verträgt jeder in großem Ausmaß, davon kann man gar nicht genug bekommen. Weil negativ Kritik ‚persönlich’ genommen wird, als Ablehnung der Person, wird sie vom Kritisierten als ‚kränkend’ empfunden.

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Man muss kein gelernter Psychologe sein, um diese Tatsache sofort zu verstehen: „Da gibt

man sein Bestes, und dann kommt die / der daher und kritisiert mich auch noch dafür. So eine

Schweinerei!“ So denken und Fühlen die meisten Kritisierten sofort. Man geht sofort und ‚ganz natürlich’ in die Defensive oder den Gegenangriff über bzw. reagiert überhaupt nicht (die Aktivierung des Flucht-Angriff-Totstellreflexes). So wird aus einem Klärungsgespräch rasch ein ‚Hick-Hack’, der alles noch schlimmer macht als es zuvor war. Weil man das kennt, weil man das befürchtet, deshlab hält man sich mit Kritik zurück, schluckt seinen Unmut hinunter, solange, bis er aus einem ‚herausbricht’. Dann ist viel ‚Gift’ dabei.....und dieses wird vom anderen erst recht spontan zurückgewiesen. Kein Ende des Teufelskreises in Sicht. Gibt es Möglichkeiten aus diesem Teufelskreis auszusteigen? Selbstverständlich. Und wie, das ist ja auch schon klar, oder? a) Wechselseitiger Perspektivenwechsel b) Eigene und fremde Bedürfnisse gleich ernst nehmen c) Gemeinsam Lösungen suchen

Diese ‚Methoden’ sind aber nicht einseitig machbar, sie setzen von allen Konfliktpartnern eine ‚dialogische Grundhaltung’ voraus. Gemeint ist damit Folgendes: Mein Erleben (Fühlen und Denken) und Dein Erleben (Fühlen und Denken) sind gleichwertig, auch wenn sie sich unterscheiden bzw. im Widerspruch stehen. Ich höre Dir so zu, dass ich Dein Erleben verstehe; und Du hörst mir so zu, dass Du mein Erleben verstehst. Wenn das passiert ist, dann kommen wir gemeinsam auf neuartige Lösungen. Warum aber sollen hierarchisch Vorgesetzte, deren Erleben ja per definitionem ‚in höherem Recht ist’ als meines, das des Untergebenen, von ihrem Recht abrücken? Warum sollen sie im Konfliktfall nicht auf ihrer Definitionsmacht von Wirklichkeit bestehen? Als Vorgesetzte haben sie ja selbst wiederum Vorgesetzte, etc. Wenn solch dialogischer Geist in eine Firma Einzug hält, dann erfasst er notwendigerweise alle hierarchischen Ebenen. Dialog funktioniert anti-hierarchisch, d.h. er schwächt die Positionsmacht von Vorgesetzten. Es gibt viele dialogische Kommunikationstechniken und es ist auch gut, sie zu üben. Das Hierarchieproblem und der eingangs erwähnte Widerspruch ist damit aber nicht aufzulösen.

B. Methoden Folgende Methoden werden vorgeschlagen und detaillierter dargestellt

• Regelmäßige Feedbackrunden • GFK - Gewaltfreie Kommunikation • Focusing

Vorbemerkung:

„Der Weg zur Milch führt nicht über den Käse“. Dieses Sprichwort bringt die Schwierigkeit auf den Punkt, mit der alles methodische Vorgehen behaftet ist: Es besagt, dass jede Methode mit ‚Käse’ vergleichbar sei, einem Milchprodukt. Ein Milchprodukt, wie lecker und nützlich

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es auch sein mag, ist aber etwas anderes als die Milch selbst. Wenn wir nun mit ‚Milch’ die phänomenale Wirklichkeit’ selber meinen, als alles ‚was gerade der Fall ist’, dann sind alle Methoden ‚Folgeprodukte’ und ‚Auszuüge’ (Abstraktionen), schmackhaft und voller Nährwert – aber nicht die Wirklichkeit selbst. Es besteht bei Rückgriff auf Methoden immer die Gefahr des methodischen Reduktionismus, des sog. ‚Methodismus’. „Lehre jemanden einen Hammer zu bedienen und er betrachtet die

Welt als Nagel.“ Wir neigen leicht dazu, die Welt nur mehr verzerrt durch die Brille unserer Methode zu sehen; wir verwechseln das Milchprodukt mit der frischen Rohmilch – und merken den Irrtum nicht. Jenseits aller Gleichnisse heißt das: ohne die Fähigkeit, eine gegebene Situation ‚direkt’ wahrnehmen zu können, werden wir nicht wissen, wann und wie wir welche Methode einsetzen müssen, um unser Ziel zu erreichen. Wir werden nicht mal genau sagen können, was unser gemeinsames Ziel ist (wäre das allen so klar, dann hätten wir ja keinen Streit)! Die Notwendigkeit dieses ‚direkte Wahrnehmens’ wird aber selten angesprochen, und dafür gibt es einen sehr einleuchtenden Grund: es gibt nämlich keine lehrbare Methode für ‚direkte Wahrnehmung’. Kinder können das noch ganz spontan, verlernen es aber mit der Zeit. Um das wieder zu lernen müssen wir zurück – in die kindliche Neugier und Unschuld. ‚Methode’ heißt im griech. Original so viel wie ‚Weg zu einem Ziel’ (methodos, von meta- + hodos). Ganzheitliches und direktes Wahrnehmen ist ‚unschuldiges Wahrnehmen’ – authentisches Fühlen und Sehen. Wir alle wissen genau, was damit gemeint ist, können es aber nicht definieren. Sobald wir das, worauf das Wort ‚authentisch’ hinweist begrifflich zu fassen versuchen ist es uns auch schon entwischt. Man kann nur spontan ‚authentisch SEIN’, d.h. ohne sich dessen im Moment das ‚authentisch seins’ bewusst zu sein. „Sei der Du bist!“ Ja, ja, schon gut – aber wer bin ich denn? Es ist kein Zufall, dass alle drei im Folgenden angeführten Methoden diese Frage mehr oder weniger explizit mitbehandeln. In Feedbackrunden vergleichen wir unser ‚Selbstbild’ mit ‚Fremdbildern’ von uns. In Gewaltfreier Kommunikation verhandeln wir auf Basis unserer ‚wahren Bedürfnisse und Gefühle’ und auch auf Basis jener unserer Partner. Und im ‚Focusing’ lernen wir in uns selbst hinein zu horchen, um zu erfahren, was unsere wahren Bedürfnisse sind. Keine Methode ist vollständig, jede hat ihre Grenzen. Ungeschickt angewandt verschlimmern sie die zu lösenden Kommunikationsprobleme nur noch mehr. Gekonnte angewandt sind es wunderbar funktionierende Instrumente.

1.Feedbackrunden

Regelmäßige Feedbackrunden als Methode der Beziehungsklärung im beruflichen Kontext sind sehr empfehlenswert. Genaueres dazu siehe im angehängten Text ‚Feedbackrunden’!

2. Gewaltfreie Kommunikation (Nonviolent Communication)

Gewaltfreie Kommunikation: Echt sein und in Verbindung bleiben

Gewaltfreie Kommunikation ist ein Kommunikationsmodell, das von Dr. Marshall Rosenberg seit Beginn der 70er Jahre entwickelt wurde. Mittlerweile ist Gewaltfreie Kommunikation

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(GFK) weltweit eine bekannte Methode der Konfliktbearbeitung und - prävention. Dieser Ansatz ermöglicht es, persönlichen Kontakte auch in schwierigen Kommunikationssituationen aufzubauen bzw. aufrecht zu erhalten. Die GFK ersetzt die Fragen "Wer ist schuld?" bzw. "Wer hat angefangen?" durch die Frage "Was brauchen die Beteiligten?". Die Suche nach dem Schuldigen wird also ersetzt durch die Suche nach dem, was wirklich hinter den Handlungen und Wünschen der Beteiligten steht - elementare menschliche Bedürfnisse. Dieser Zugang kann den Weg frei für Konfliktlösungen machen, die echte win-win-Situationen schaffen, Lösungen, die ohne Verlierer auskommen und dadurch zum Aufbau langfristig tragfähiger und erfüllender Beziehungen beitragen. Gewaltfreie Kommunikation heißt nicht "Piep piep piep - wir haben uns alle lieb." Es geht nicht darum nett sein, sondern um Echtheit und die Fähigkeit die eigenen Bedürfnisse, Werte und Wünsche konsequent zu vertreten ohne sie auf Kosten anderer durchzusetzen. Dazu braucht es, die Fähigkeit, dem Gegenüber so zuzuhören, dass ich mich mit seinen Bedürfnissen verbinden kann. Wer nicht nur weiß, was er / sie braucht, kann gezielt, bewusst und flexibel für seine Bedürfnisse eintreten. Und wer versteht, was der / die Ander(e) braucht, macht die Tür auf für gemeinsame nachhaltige Lösungen. Liebevoller Umgang mit uns selbst

Nicht nur die Kommunikation in schwierigen Situationen mit anderen Menschen ist teilweise geprägt von Beurteilungen, Vorwürfen, Schuldzuweisungen etc. Auch im Umgang mit uns selbst sind wir nicht gerade zimperlich, viele gehen mit sich selbst viel härter ins Gericht als mit Anderen. Nur wenige von uns haben gelernt, wirklich liebevoll und authentisch mit sich selbst zu kommunizieren. Dabei ist dies die Basis für echtes Lernen, die Fähigkeit zur Empathie und die Gestaltung eines glücklichen Lebens. Deshalb liegt ein wichtiges Augenmerk der Gewaltfreien Kommunikation auf der Umwandlung des Umgangs mit uns selbst. Denn nur wer gut für sich selbst sorgt, kann auch gut für Andere sorgen. Was ist neu an Gewaltfreier Kommunikation?

Mit der Gewaltfreien Kommunikation ist es wie mit der Glasherstellung. Alle Bestandteile des Glases kennen wir schon irgendwoher - Sand, Soda, ... Aber durch die richtige Mischung der Bestandteile und das Feuer dabei, entsteht etwas völlig neues und Eigenes. Sicherlich ist aktives Zuhören sinnvoll, sicherlich sind Ich-Botschaften sinnvoll. In der Gewaltfreien Kommunikation werden all diese Elemente zu einem Ganzen zusammengefasst, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Die 4 Schritte der Gewaltfreien Kommunikation Wenn uns etwas nicht gefällt, klären wir zunächst mit uns selbst 1. Was wir beobachten - ohne Bewertung. 2. Wie es uns geht (Gefühl). 3. Was wir brauchen (Bedürfnis). 4. Was der andere tun/sagen kann, unser Bedürfnis zu erfüllen (Bitte). Auf diese Weise werden Vorwürfe, Schuldzuweisungen etc. in Bedürfnisse übersetzt und wir

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können ausdrücken, was wir wirklich brauchen ohne dass die Kommunikation von Vorwürfen und Schuldzuweisungen erschwert wird. Eine Schwäche dieser Methode ist sicherlich Schritt 1 – beobachten ohne Bewertung, ‚Allparteilichkeit’ oder ‚wohlwollende Indifferenz’. Das kann schwerlich schon am Anfang einer Begegnung (oder eines Konflikts) stehen, zumeist kommt das erst am Ende (wenn überhaupt!) heraus. Deshalb bedarf dieser erste Schritt einer weiteren Vorabklärung - mittels ‚Focusing’.

3.Focusing

Focusing ist ein von Eugene T. Gendlin begründetes theoretisches und praktisches Modell der Selbst- und Fremdwahrnehmung Gendlin: >Focusing nenne ich die Zeit, in der man mit etwas ist, das man körperlich spürt,

ohne zu wissen, was es ist. Was man aber weiß, ist, dass dieses körperliche Gefühl mit irgend

etwas im Leben zu tun hat. Es kommt nicht nur daher, dass der Gürtel zu eng ist oder dass

man zuviel gegessen hat. Vielleicht kann es sich sogar so anfühlen, aber man weiß von innen,

dass es sich auf eine Situation oder einen Lebensaspekt bezieht. Oft weiß man nicht, worauf

genau es sich bezieht, und selbst wenn man das weiß, trägt dieses körperliche Gefühl immer

auch noch viele Bedeutungen in sich, die man noch nicht kennt.

Auf dieses Gefühl, das ich im Körper spüre, ohne zu wissen, was es genau ist, lenke ich meine

Aufmerksamkeit und bleibe eine Minute oder eine Sekunde oder zehn Minuten dabei. Diese

Zeit nenne ich Focusing.<

Mittels ‚Focusing’ trainieren wir jene Fähigkeiten zur ‚Selbstwahrnehmung’ und ‚Achtsamkeit’, welche wesentlich für die dialogische Grundhaltung sind:

• Die Fähigkeit, wahrzunehmen: Wahrnehmung erfolgt über das Bemerken von Unterscheidungen, von Differenzen. Dazu muss ich verlangsamen, hinhören, hinschauen, hinspüren: was ist alles da? Was finde ich vor?

• Die Fähigkeit, die Wahrnehmung, die Richtung der Aufmerksamkeit lenken zu können: Kann ich etwas zum Gegenstand meiner Aufmerksamkeit machen und dann etwas anderes? Das kann ich aktiv tun, ich kann hin und weg, und das heißt: dort habe ich eine Wahl!

• Die Fähigkeit , in verschiedenen Modalitäten wahrzunehmen, außen und innen, in meiner Person, meinem Körper, meinen Gedanken, Gefühlen, Empfindungen: in der visuellen Modalität (sehe/imaginiere ich etwas?), der auditiven (höre ich etwas, red ich mit mir selber, stelle ich mir Töne vor?), in der kinästhetischen (bewege ich mich, empfinde ich Körpersensationen, stelle ich mir Bewegungen/Berührungen vor?), der olfaktorischen (rieche/schmecke ich, kann ich mir Gerüche, Geschmacksrichtungen vorstellen?).

• Die Fähigkeit, Wahrgenommenes zu trennen von meinen inneren Kommentar dazu, von der Beurteilung/Bewertung des Wahrgenommenen: Kann ich bemerken, wie eng das oft verknüpft ist? Kann ich eine Wahrnehmung (ich schwitze, ich fühle mich ärgerlich) unterschieden von einer Bewertung (und das finde ich blöd, das sollte nicht sein, das finden die andern sicher schrecklich) und diese beiden Dinge wieder auseinandernehmen (einzeln "begrüßen", würde Ann Weiser sagen)?

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• Die Fähigkeit, meine Selbstbeobachtung zu schulen: Kann ich eigene Stereotypien, Vorurteile, Glaubenssysteme, Muster erkennen resp. mich darum bemühen, das zu tun?

• Die Fähigkeit, das Wahrgenommene symbolisieren zu können: Kann ich aus dem Erlebens- in den Handlungsraum gelangen, indem ich das Wahrgenommene sage, ausdrücke, beschreibe, zeige, darstelle, vermittle, lebe ...?

• Die Fähigkeit zu radikaler Akzeptanz: bin ich in der Lage, alles, was ich auffinde, unterschiedslos zu akzeptieren, anzunehmen, mit freundlicher Neugier zu betrachten?

Je kundiger und sicherer ich in diesen grundlegenden Fähigkeiten und Haltungen werde, umso deutlicher kann sich der Focusingprozess entfalten, umso vertrauter werden wir mit ihm. Auf der anderen Seite kann ich aber Aktivitäten weglassen, die ich sonst zu Verfügung haben muss: ganz klar und scharf denken, Lösungen finden, Entscheide treffen, schnell sein. Im Focusing darf ich warten, etwas kann unklar bleiben, ich muss es nicht sofort verstehen. Es braucht Mut, sich diesem Prozess auszusetzen, denn er ist "identitätsgefährdend", stellt alte Sicherheiten und gewohnte Interpretationsmuster in Frage. Er bringt aber auch kreative neue Formen in die Welt. Es geht dabei nicht (nur) um Selbstverwirklichung, sondern auch um eine Schulung des Individuums, eine Disziplin, eine Praxis."

Die Praxis des Focusing in Kurzform

(aus: Eugen T. Gendlin, Focusing. Rowohlt, Hamburg 1998, S. 191 f) 1. Freiraum schaffen Wie fühlen Sie sich? Was hindert Sie daran, sich gut zu fühlen? Antworten Sie nicht, lassen Sie ihren Körper die Antwort geben. Dringen Sie nicht hinein in das, was kommt. Heißen Sie alles, was kommt, willkommen. Legen Sie alles für eine Weile neben sich. Abgesehen von alldem, fühlen Sie sich gut? 2. Einen Felt Sense kommen lassen Greifen Sie eines dieser Probleme heraus. Dringen Sie nicht in das Problem. Was fühlen Sie in ihrem Körper, wenn Sie sich alles das, was mit diem Problem zusammenhängt, in Erinnerung rufen? 3. Den Felt Sense beschreiben: einen ‚Griff’ finden Welches ist die Eigenart des Felt Sense? Welche Worte, Sätze oder Bilder kommen aus dem Felt Sense? Welches Eigenschaftswort passt am besten dazu? 4. Vergleichen Gehen Sie hin und her zwischen dem Wort (oder Bild) und dem Felt Sense. Passen beide zusammen? Wenn sie zusammenpassen, lassen Sie dieses Gefühl des Zusammenpassens mehrmals in sich aufkommen. Wenn sich der Felt Sense verändert, folgen Sie ihm mit Ihrer Aufmerksamkeit. Sobald Sie eine perfekte Übereinstimmung zwischen Wort oder Bildern und dem Gefühl erreicht haben, kosten Sie dieses Gefühl für eine Minute aus.

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5. Fragen„Was ist es an diesem ganzen Problem, das mich so.....macht?“ Wenn Sie nicht mehr weiterkommen, stellen Sie sich folgende Fragen: Was ist das Schlimmste an diesem Gefühl? Was ist so schlimm daran? Was braucht es, damit es besser wird? Was sollte geschehen? Antworten Sie nicht selbst, warten Sie darauf, dass sich das Gefühl regt und Ihnen eine Antwort gibt. Was wäre es für ein Gefühl, wenn alles in Ordnung wäre? Lassen Sie ihren Körper antworten: Was steht dem im Wege? 6. Annehmen und schützen Heißen Sie alles willkommen, was kommt. Seien Sie froh, dass Ihr Körper geantwortet hat. Das ist nur der erste Schritt auf die Lösung des Problems zu, weitere werden kommen. Jetzt, das Sie Ihre Gefühl kennen, können Sie es verlassen und später zu ihm zurückkommen. Beschützen Sie es vor kritischen Stimmen, die Sie unterbrechen wollen.

Die zentrale Schwierigkeit der Focusing-Methode ist sicherlich das ‚Freiraum schaffen’, also wiederum der ‚erste Schritt’ der Methode. „Abgesehen von all dem, fühlen Sie sich gut?“ Wie kann man von ‚all dem absehen’, sofern etwas einem bis in die Knochen erschreckt /empört / entsetzt? Und ohne diesen inneren und äußeren ‚open space’ funktionieren die weiteren Schritte auch nicht. Aber all diese Methoden zeigen auf, was zu üben ist; zeigen auf, welche Voraussetzungen geschaffen werden müssen, damit der stumme Drang zur ‚Kritik’ unter allen gegebenen Umständen ‚konstruktive Wirkungen’ zeigen kann; wie er sich konstruktiv äußern kann.

C.Literatur

• Antons, Klaus.: Praxis der Gruppendynamik, Hochgrefe Verlag, 1974 • Gendlin, Eugen T.: Focusing. Rowohlt, 1998 • Luft, Joseph: Einführung in die Gruppendynamik. Klett, 1971. • Rosenberg, Marshall B.: Gewaltfreie Kommunikation. Junfermann, 2007