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Kontroversen um die Geschichte - Buch.de · Kaum ein anderes Thema der Geschichtswissenschaft spiegelt die methodi- sche und inhaltliche Pluralisierung der Humanwissenschaften so

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Kontroversen um die Geschichte

Herausgegeben vonArnd Bauerkämper, Peter Steinbach und Edgar Wolfrum

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Rolf-Ulrich Kunze

Nation und Nationalismus

Wissenschaftliche Buchgesellschaft

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Einbandgestaltung: schreiberVIS, Seeheim

Abbildung: Symbolische Darstellung der Durchbrechung des mittel-alterlichen Weltbildes, 1888.Aus: Camille Flammarion: L’atmosphère, et la météorologie populaire,Paris 1888. i akg-images.

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.ddb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung inund Verarbeitung durch elektronische Systeme.

i 2005 by Wissenschaftliche Buchgesellschaft, DarmstadtSatz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, HemsbachGedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem PapierPrinted in Germany

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-darmstadt.de

ISBN 3-534-14746-4

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Inhalt

Vorwort der Reihenherausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31. Gegenstand und Leitfragen der Nationalismusforschung . . . 32. „Gibt es überhaupt eine deutsche Geschichte?“

Eine kritische Frage und eine noch kritischere Antwort . . . . 5

II. Überblick: Nation, Nationalstaat, Nationalismus . . . . . . . . . 71. Begründung der Themenauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . 72. Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93. Die Anfänge der modernen Nationalismusforschung

bei Ernest Renan 1882 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104. Phasen und Themen nationalismusgeschichtlicher Forschung:

vor 1882, 1882 bis 1983, seit 1983 . . . . . . . . . . . . . . . 135. Definitionsansätze zu Nation, Nationalstaat und Nationalismus 176. Probleme der Nationalismusforschung und ihre Bedeutung . . 25

III. Forschungsprobleme der Nationalismusgeschichte . . . . . . . . 271. Nationalismustypologien und ihre historische Anwendung . . 27

a) Kulturnation und Staatsnation . . . . . . . . . . . . . . . . 27b) Nationalismus im Westen, in Mittel- und Osteuropa . . . . 29c) Nationalismus und nationbuilding in ,kleinen Nationen , . . 32d) ,Progressiver ,und ,nicht-progressiver ,Nationalismus . . . 35e) Vormoderner und moderner Nationalismus . . . . . . . . . 40f) Europäisch-atlantischer und Transfernationalismus . . . . . 41g) Nationalismen im universalhistorischen Vergleich . . . . . 43h) Postnationale deutsche Identität, 1945 bis 1990,

und der neue deutsche Nationalstaat von 1990 . . . . . . . 462. Nationalismustheorien und ihre historische Anwendung . . . 48

a) Sozialpsychologischer Ansatz: Psychologie und politischePädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

b) Kommunikationstheoretischer Ansatz: Socialcommunication . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

c) Organologischer Ansatz: völkisch-nationales Denken . . . 54d) Säkularisierungsgeschichtlicher Ansatz: Nationalismus als

Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55e) Ideologiegeschichtlicher Ansatz: Nationalismus

als Ideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61f) Anthropologischer Ansatz: Ernest Gellner, Kultur und Macht 63g) Konstruktivistischer Ansatz: imagined communities . . . . 74

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Inhalt

h) Konstruktivistisch-sozialgeschichtlicher Ansatz:Partizipation und Gewalt, gesellschaftlicheGruppenidentitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

i) Pfadabhängigkeit: institutionelle Stabilität undStrukturwandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

3. Modernisierung, nationbuilding und Nationalismus . . . . . . 87a) Das Fallbeispiel der Niederlande . . . . . . . . . . . . . . 87b) Nationalismus und sozialer Wandel . . . . . . . . . . . . . 91

4. Integraler Nationalismus. Ein Überblick . . . . . . . . . . . . 935. Nationalismus und Region . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 976. Recht und Nation: die Erfindung der deutschen Reichsnation

im Staats- und Verwaltungsrecht nach 1871 . . . . . . . . . . 987. Aktuelle Forschungstrends in der nationalismusgeschichtlichen

Literatur der 1990er Jahre und Desiderate der Nationalismus-forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

IV. Ausblick: Lehren aus der Nationalismusforschung? . . . . . . . . 112

Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

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Vorwort der Reihenherausgeber

Kontroversen begleiten nicht nur die wissenschaftliche Arbeit, sondern sindderen Grundlage. Dies gilt auch für die Geschichtswissenschaft. Weil wis-senschaftliche Auseinandersetzungen nicht leicht zu durchschauen undnoch schwerer zu bearbeiten sind, ist es notwendig diese aufzubereiten.

Die Reihe „Kontroversen um die Geschichte“ ist als Studienliteratur kon-zipiert. Sie präsentiert die Auseinandersetzungen zu Kernthemen des Ge-schichtsstudiums; ihr Ziel ist es, Studierenden die Vorbereitung auf Lehr-veranstaltungen und Examenskandidaten ihre Prüfungsvorbereitung zuerleichtern. Entsprechend kennzeichnet sie ein didaktischer und prüfungs-praktischer Darstellungsstil.

Über diesen unmittelbaren Nutzen hinaus nimmt die Reihe die Plura-lisierung der Historiographie auf, ohne dem Trend zur Zersplitterung nach-zugeben. Gerade in der modernen Gesellschaft mit ihrer fast nicht mehrüberschaubaren Informationsvielfalt wächst das Bedürfnis nach einerschnellen Orientierung in komplizierten Sachverhalten. Ergebnisse der his-torischen Forschung werden in dieser neuen Reihe problemorientiert ver-mittelt. Die einzelnen Bände der „Kontroversen um die Geschichte“ zielendabei nicht auf eine erschöpfende Darstellung historischer Prozesse, Struk-turen und Ereignisse, sondern auf eine ausgewogene Diskussion wichtigerForschungsprobleme, die nicht nur die Geschichtsschreibung geprägt, son-dern auch die jeweilige zeitgenössische öffentliche Diskussion beeinflussthaben. Insofern umschließt der Begriff „Kontroversen“ zwei Dimensionen,die aber zusammen gehören.

Die Spannbreite der „Kontroversen um die Geschichte“ reicht vom16. Jahrhundert bis zur Zeitgeschichte. Einige der Bände sind jeweils ein-zelnen Themengebieten wie der Verfassungsgeschichte gewidmet, die imhistorischen Längsschnitt behandelt werden und überwiegend über dendeutschen Sprach-, Kultur- oder Staatsraum hinaus eine vergleichende Pers-pektive zu anderen Regionen und Staaten Europas eröffnen. Andere Bändebehandeln einzelne Epochen oder Zeitabschnitte europäischer und deut-scher Geschichte wie etwa den Absolutismus oder die Weimarer Republik.Gelegentliche Überschneidungen sind somit nicht nur unvermeidbar, son-dern auch durchaus sinnvoll.

Der Aufbau der Bände folgt einem einheitlichen Prinzip. Die Einleitungentfaltet den Gesamtrahmen der behandelten Epoche oder des dargestelltenQuerschnittbereichs. Daran schließt sich ein Überblick an: Er begründet dieAuswahl der behandelten Deutungskontroversen und ordnet diese in denGesamtrahmen ein. Der Hauptteil der Bände umfasst sechs bis acht For-schungsprobleme. Dabei werden nicht vorrangig alle Entwicklungen undStadien der Forschung nachgezeichnet, vielmehr Schlüsselfragen und zent-rale Deutungskontroversen der Geschichtswissenschaft übersichtlich undproblemorientiert präsentiert. Der Darstellung dieser Schlüsselfragen folgtzum Schluss eine kritische Bilanz des Forschungsstandes, in der auch offene

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Vorwort der Reihenherausgeber

Probleme der Geschichtsschreibung dargelegt werden. Historische For-schung ist ein nie beendeter Prozess, dessen Befunde immer einer kritisch-distanzierenden Bewertung bedürfen. Auch dies soll in dem abschließendenKapitel der Bände jeweils deutlich werden. Eine Bibliographie der wichtigs-ten Werke steigert den Gehalt der Bände; das Register weist zentrale Perso-nen- und Sachbezüge nach und dient einer schnellen Orientierung.

Unser Wunsch ist es, dass die Reihe „Kontroversen um die Geschichte“einen festen Platz in den Bücherregalen von Studierenden der Geschichts-wissenschaft, aber auch benachbarter Disziplinen einnimmt, die sich aufLehrveranstaltungen oder Prüfungen vorbereiten. Darüber hinaus sind dieBände der Reihe an Leserinnen und Leser gerichtet, die Befunde der Ge-schichtsschreibung sachkundig vermitteln möchten oder ganz generell anhistorisch-politischen Diskussionen interessiert sind.

Arnd BauerkämperPeter SteinbachEdgar Wolfrum

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Vorwort

Kaum ein anderes Thema der Geschichtswissenschaft spiegelt die methodi-sche und inhaltliche Pluralisierung der Humanwissenschaften so direkt wiedie Nationalismusforschung. Der in diesem Bereich Tätige ist zumal dann,wenn er die Topographie dieser Forschungslandschaft beschreiben will, aufkollegiale Anregungen und Kritik in besonderem Maß angewiesen, um seinerhöchstpersönlichen ,Pfadabhängigkeit ,und Neigung zu Lieblingspanoramennicht allzu stark nachzugeben. Je verschiedener die Ansätze dieser Kritik,desto besser für das Produkt.

Die vielfältigen Perspektiven der Nationalismusforschung hat mir über vie-le Jahre hinweg mein akademischer Lehrer Wolfgang Altgeld erschlossen,vor allem im Hinblick auf die Bedeutung nationalreligiös-konstruktivistischerDenkmuster im deutschen Nationalismus des 19. und frühen 20. Jahrhun-derts. Das Frankfurter rechtshistorische Oberseminar von Michael Stolleishat meinen Blick auf die nationalismusgeschichtliche Relevanz des juris-tischen nationbuilding gelenkt, das – vor allem in vergleichender Perspek-tive – nach wie vor ein Forschungsdesiderat der Nationalismusforschungdarstellt. Für Hinweise aus einer universalgeschichtlichen Perspektive binich Imanuel Geiss zu herzlichem Dank verbunden. Sein Beharren auf realhis-torischen, den latenten Eurozentrismus bewusst überwindenden Vergleichs-strukturen wird durch die Aktualität nationalistischer Konflikte rund um denGlobus auf traurige Weise jeden Tag bestätigt. Die Mitarbeit an der auf dieVermittlung von Grundkenntnissen niederländischer Geschichte zielendenfree access-Online-Datenbank NiederlandeNet des Zentrums für Niederlan-de-Studien in Münster unter Leitung von Friso Wielenga zeigte mir einmalmehr die nationalismusgeschichtliche Bedeutung des europäischen Sonder-falls der niederländischen Nationalgesellschaft, für die das Etikett des ,west-europäischen Nationalstaats ,niemals wirklich passte. Der Blick auf die Prob-lemgeschichte des niederländischen nationbuilding kann die allzu selbst-verständliche Akzeptanz nationalstaatlicher europäischer ,Normalmodelle ,

heilsam relativieren. Ganz besonders danke ich schließlich Arnd Bauer-kämper für seine kritische und gründliche, über Herausgeberpflichten weithinausgehende Lektorierung des Manuskripts, der ich wichtige Anregungenund Anstöße verdanke.

Karlsruhe, September 2004 Rolf-Ulrich Kunze

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I. Einleitung

1. Gegenstand und Leitfragen der Nationalismusforschung

,Nation‘, ,Nationalstaat ,und ,Nationalismus ,sind keineswegs Begriffe, diesich von selbst verstehen. Sie sind weder ,Schöpfungsordnungen ,noch ,ur-alt‘, sondern vielmehr konstruiert und somit als historische Konstrukte zu ver-stehen: Konzepte bestimmter sozialer Trägerschichten einer spezifischen Ge-sellschaft zu einer bestimmten Zeit, teils Ergebnisse, teils Voraussetzungensozioökonomischen und soziokulturellen Wandels, ohne lediglich Funktio-nen gesellschaftlicher oder kultureller Veränderungen zu sein. Jedoch sinddamit einige komplexe Problemlagen der Nationalismusgeschichte erst an-gedeutet. Einhundertzwanzig Jahre nach Ernest Renans vielzitiertem Vortragunter dem Titel „Que’est-ce que c’est une nation?“ (1; S.41–58). bietet dieNationalismusforschung der Human- und Sozialwissenschaften, der Psycho-logie und der Anthropologie weitaus mehr work in progress und auch Kon-fliktpotential als gesicherten Forschungsstand oder gar festgefügtes Wissen.Die folgenden, zum Teil bereits bei Renan zu findenden Fragen und Fragen-komplexe beschäftigen Nationalismusforscher der verschiedenen Diszipli-nen bis zum heutigen Tag (2; S.129–139).

* Fragen nach der sozialen Zusammensetzung der Großgruppe ,Nation‘, desOrganisationsmodells ,Nationalstaat , und der Träger nationalistischerIdeologien: Welche sozialen Gruppen sind Trägerschichten des Nationa-lismus, identifizieren sich mit der Nation, stehen hinter der Gründungeines Nationalstaats und dem nationbuilding – und welche nicht? WelcheGruppen werden mit welchen Argumenten aus der Nation ausgeschlos-sen? Den Prozess der ,Erfindung der Nation ,bezeichnet man als nation-building. Weltgeschichtliche Bedeutung bekommen Nationen innerhalbvon Nationalstaaten erst in der Neuzeit, frühestens seit der niederländi-schen Revolution des 16. Jahrhunderts. Sie sind folglich eine Signatur deratlantisch-europäischen Moderne.

* Fragen nach den sich wandelnden Funktionen des Nationalismus (und sei-nes epochen-, schichten- und kulturkreisübergreifenden Erfolges bis in un-sere Gegenwart): Wie kommt es dazu, dass die – als Abstammungs-, Ge-schichts-, Sprach- oder politische Gemeinschaft definierbare – Nation imLeben der Menschen eine zentrale, nicht selten: individuell und kollektivsinnstiftende Rolle übernimmt und dabei ältere individuelle und kollektiveBindungen und Loyalitäten verdrängt? Ist es überhaupt richtig, hier vonVerdrängung zu sprechen, oder gehen die älteren Bindungen wie ethni-sche Zugehörigkeit, Landsmannschaft, Konfession oder selektive Wahr-nehmung der ,eigenen ,und der ,fremden ,Geschichte nur besondere Mi-schungsverhältnisse mit der Ideologie des Nationalismus ein, und wennja, wie? Was begründet die außerordentliche Anpassungsfähigkeit der na-tionalistischen Ideologie?

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Konstruktions-mechanismen derNation

Trägerschichtender Erfindung derNation

Funktionendes Nationalismus

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Einleitung

* Fragen nach den Konstruktionsmechanismen des Nationalismus: WelcheMechanismen sind es, die es den Trägern nationaler Identität ermög-lichen, sich auch in den verschiedenen Wellen der Globalisierung seitder Durchsetzung der politisch-industriellen Doppelrevolution von1776/1789 zu behaupten, ja dem Übergang von der traditionalen zurmodernen Industrie- und Massengesellschaft einen spezifisch nationalenCharakter zu geben? Welchen Zielprojektionen folgt der Nationalismus,der sowohl emanzipatorischen als auch repressiven Charakter annehmenkann?

* Fragen nach den Entstehungsbedingungen von Nationalismus in der Uni-versalgeschichte: „Kultur und soziale Organisation sind universell und un-vergänglich. Staaten und Nationalismus hingegen sind es nicht. Dies isteine Tatsache von höchster Bedeutung. Eine Theorie, die sie nicht beach-tet, kann dem Problem nicht gerecht werden. Nationen und nationalisti-sche Gefühle sind nicht überall verbreitet. (…) Wie kommt es, dass dieKonstellation von Kultur und Organisation manchmal, jedoch nicht immerNationalismus hervorbringt?“ (3; S.19).

* Fragen nach den Funktionen des Nationalstaats: Welche Erwartungshal-tungen richten sich an den Nationalstaat als politisch-gesellschaftlichesOrganisations- und Dienstleistungsmodell? Welche Funktionen kenn-zeichnen einen Nationalstaat und wie verändern sich diese?

* Fragen nach dem Selbst- und Fremdbild nationalistischen Denkens undVerhaltens: Wieviel vermeintlich ,Eigenes , und vermeintlich ,Fremdes ,

verträgt ein bestimmtes Konzept der Nation und des Nationalstaats? Ist derjeweilige Verträglichkeits- bzw. Unverträglichkeitsgrad Voraussetzungoder Folge von Nationalismus, nationaler Identität oder nationalstaat-lichem Bewusstsein? Wie wird z.B. nach bedeutenden politischen Umbrü-chen wie 1918/19 und 1989–91 die Neugründung von National- und Na-tionalitätenstaaten thematisiert? Auf welche identitätsstiftenden nationa-len Narrative greifen nationale Sinnstifter dabei zurück? Welches Bild vonNation und Nationalstaat liegt den Mechanismen ,offiziellen‘, also vonstaatlicher Seite aus geförderten und praktizierten Nationalismus ,vonoben ,zugrunde? Wie erfolgt der Umschlag vom randständigen und oppo-sitionellen Eliten- zum Massennationalismus ,von unten‘?

* Fragen nach der Unterscheidungsmöglichkeit von Formen der National-staatsgründungen und des nationbuilding: Wie kam es, dass mancherorts,z.B. in England, Frankreich, Spanien und den Niederlanden, sich National-staaten und Nationen sehr viel früher bildeten als in der Mitte und imOsten Europas? Steckten dahinter bestimmte strukturelle Ähnlichkeiten,aus denen auch Aussagen für nichteuropäische Fälle abgeleitet werdenkönnen? Kommt ein ,normaler ,Nationalstaat eigentlich in der historischenErfahrung vor oder steckt in der Frage bereits ein im Kern unhistorischesidealtypisches Denken in der Unterscheidung von vermeintlicher Ausnah-me und vermeintlicher Regel?

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I.Konstruktions-

mechanismen desNationalismus

Entstehungs-bedingungen

Funktionendes Nationalstaats

Selbst- und Fremd-wahrnehmung

Nationalstaats-typologien

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2. „Gibt es überhaupt eine deutsche Geschichte?“

* Fragen nach dem Charakter von Nationalitätenstaaten: Sind Nationalitä-tenstaaten wie Österreich-Ungarn, das alte Jugoslawien und die UdSSRimmer zum Scheitern verurteilt? Ist die Schweiz eine Nation oder ein Na-tionalitätenstaat?

* Fragen nach der Zukunft des Nationalstaats und des Nationalismus: Kannes Vereinte Nationen ohne Nationalstaaten, Gesellschaften ohne Nationa-lismus, politisch-historische Identitäten ohne Nation geben?

Wann, wie und warum diese durchweg kontroversen Fragen im Kontexthistorisch-politischer Debatten und vor dem Hintergrund bestimmter histo-risch-politischen Erfahrungsräume gestellt und welche kontroversen Antwor-ten auf sie gegeben und nicht gegeben wurden, ist nicht nur wissenschafts-geschichtlich relevant. In den Fragen und Antworten der Nationalismus-geschichte bildet sich zugleich auch die Entwicklung des historischenErkenntnisprozesses in den Human- und Sozialwissenschaften der letzteneinhundertzwanzig Jahre ab (4; S.15–41).

2. „Gibt es überhaupt eine deutsche Geschichte?“Eine kritische Frage und eine noch kritischere Antwort

Im Jahr der deutschen Wiedervereinigung hat der Berliner Zeithistoriker Ha-gen Schulze einen Essay unter dem Titel „Gibt es überhaupt eine deutscheGeschichte?“ veröffentlicht (5). Die Fragestellung hat einen besonderen na-tionalismusgeschichtlichen Reiz und Erkenntnisgehalt, weil sie die in derRegel unreflektiert übernommene Annahme der Selbstverständlichkeit einerdeutschen Nationalgeschichte mit historischen Argumenten in Frage stellt.Schulzes Antwort lautet: Eine sich von selbst verstehende, sich selbst legiti-mierende deutsche Geschichte gibt es nicht. Der Essay gehört in die jüngste,die konstruktivistische Phase der Nationalismusforschung, bei der die Fragenach der ,Konstruktion ,nationaler Identitäten im Mittelpunkt des Erkenntnis-interesses steht. Dazu gehört auch die gezielte ,Dekonstruktion ,nationalerGrundannahmen und überlieferter Mythenbildungen des nationalen Ge-schichtsbildes: „Ein paar für Preußen verlorene Schlachten, ein anderer Aus-gang des preußischen Verfassungskonflikts von 1862, ein anderes Ergebnisdes Krimkriegs, wodurch andere internationale Rahmenbedingungen für dieGestaltung Mitteleuropas gesetzt worden wären: Bismarcks Schöpfung wärenicht entstanden“ (5, S.48). Aufschlussreich im Hinblick auf den konstrukti-vistischen Ansatz der Nationalismusgeschichte ist Schulzes Behandlung desThemas der nationalen Mythenbildung in der nachnapoleonischen Ära: „Daalso die Gegenwart der neu erwachten nationalen Idee keine Anhaltspunktegab, wurde die deutsche Nation aus der Geschichte in Form einer utopischenProjektion begründet“ (5, S.31). Gegen Ende des Essays resümiert Schulze,was die Antwort auf seine Frage erschwert: „Vielleicht liegt es an der traditio-nellen Beschränkung unseres Blicks auf Mitteleuropa allein, dass uns die Fra-

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I.Charakter einesNationalstaats

Zukunft desNationalstaats

Dekonstrukti-vistische Fragen andie Nation

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Einleitung

ge nach der deutschen Geschichte so schwierig erscheint. Im europäischenZusammenhang jedenfalls gewinnt die deutsche Geschichte, was ihr als Na-tionalgeschichte fehlt: Eigenart und Kontinuität“ (5; S.68).

Die englische Historikerin Abigail Green geht in ihrer 2001 erschienenenDissertation über „State-Building and Nationhood in Nineteenth-CenturyGermany“ (6) über Hagen Schulzes Frage nach der deutschen Geschichtenoch hinaus. Schulze kann zeigen, dass es eine deutsche Geschichte nur imeuropäischen Kontext gibt; Green macht plausibel, dass es vor 1871 nichteine, sondern mehrere deutsche Nationen, mehrere ,Fatherlands ,gegebenhat. Green weist durch die Anwendung von Benedict Andersons Interpreta-tionskonzept der ,Erfindung ,nationaler Traditionen durch die Nationalisie-rung der Wahrnehmung von Alltag und Geschichte nach, dass es vor undselbst noch nach der Reichsgründung von 1871 Prozesse des nationbuildingin den Königreichen Hannover, Sachsen und Württemberg gab, die denender ,Reichsnation ,im Hinblick auf die Tragfähigkeit der Identifikation nach1871 sogar dauerhaft überlegen waren. Sie kann für die Zeit zwischen Wie-ner Kongress und Reichsgründung belegen, dass es nicht nur moderne han-noversche, sächsische und württembergische Staaten, sondern Nationen ge-geben hat, deren Identitätserfindungen so erfolgreich waren, dass nach derKatastrophe des deutschen Nationalstaats 1933 bis 1945 in föderalistischerHinsicht an sie angeknüpft werden konnte. Abigail Greens Antwort auf Ha-gen Schulzes Frage nach der deutschen Geschichte ließe sich so zusammen-fassen: Im 19. und auch im 20. Jahrhundert gab es nicht nur eine deutscheGeschichte, sondern mehrere deutsche Geschichten, u.a. in den Farben Han-novers, Sachsens und Württembergs.

Schulze und Green führen mitten in die Problemvielfalt der Nationalis-musforschung und ihre erkenntnisleitende Frage: Was ist eine Nation?

6

I.

,Fatherlands ,