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AK HochschullehrerInnen Kriminologie | Straffälligenhilfe in der Sozialen Arbeit (Hrsg.) Kriminologie und Soziale Arbeit Ein Lehrbuch

Kriminologie und Soziale Arbeit · PDF fileDas Lehrbuch ist auf Initiative des Arbeitskreises der HochschullehrerInnen Kriminologie/Straffälligenhilfe in der Sozialen Arbeit entstanden

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Das Lehrbuch ist auf Initiative des Arbeitskreises der HochschullehrerInnen Kriminologie/Straffälligenhilfe in der Sozialen Arbeit entstanden. Aus Sicht der Krimino-logie und der Sozialen Arbeit widmet es sich theoretisch fundiert und zugleich praxisnah der Berufstätigkeit in der Sozialen Arbeit insbesondere der Straffälligen- und Ju-gendhilfe.Die Autoren und Autorinnen, überwiegend aus Studien-gängen der Sozialen Arbeit, verfügen über Erfahrungen mit Kriminalisierungsprozessen und der Reaktionen auf Delinquenz. Die Beiträge des ersten Teils sind einführend und grundlegend. Im zweiten Teil werden Handlungsan-sätze und Verfahren vorgestellt, im dritten Teil spezifische Akteurinnen und Zielgruppen. Die 20 Einführungen sind bei gleichzeitiger Pluralität der Ansätze einheitlich aufge-baut und überzeugen durch ihren Servicecharakter.

www.juventa.deISBN 978-3-7799-2924-6

AK HochschullehrerInnen Kriminologie | Straffälligenhilfe in der Sozialen Arbeit (Hrsg.)

Kriminologie und Soziale ArbeitEin Lehrbuch

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AK HochschullehrerInnen Kriminologie/Straffälligenhilfe in der Sozialen Arbeit (Hrsg.) Kriminologie und Soziale Arbeit

AK HochschullehrerInnen Kriminologie/ Straffälligenhilfe in der Sozialen Arbeit (Hrsg.)

Kriminologie und Soziale Arbeit Ein Lehrbuch

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2014 Beltz Juventa · Weinheim und Basel www.beltz.de · www.juventa.de

ISBN 978-3-7799-4312-9

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Zum Geleit

Dieses Lern- und Lehrbuch mit 20 Beiträgen zur Kriminologie und Sozialen Arbeit wird herausgegeben vom „Arbeitskreis der Hochschullehrer und Hochschullehrerinnen Kriminologie/Straffälligenhilfe in der Sozialen Ar-beit“. Der Arbeitskreis wurde 2010 in Berlin gegründet und besteht aus Pro-fessorinnen und Professoren der Sozialen Arbeit, des Strafrechts und der Kri-minologie, die sich in Forschung und Lehre mit Fragen der Delinquenz und den Reaktionen darauf beschäftigen und über praktische Erfahrungen in die-sem Arbeitsfeld verfügen.

Durch das Zusammenwirken in dem Arbeitskreis hat sich zur Heraus-gabe dieses Lehrbuchs eine Redaktion gebildet, der folgende Personen ange-hören:

Heinz Cornel, Berlin Brigitta Goldberg, Bochum Christine Graebsch, Dortmund Gabriele Kawamura-Reindl, Nürnberg Michael Lindenberg, Hamburg Heike Ludwig, Jena Ulrike Mönig, Bielefeld Sabine Schneider, Esslingen Thomas Trenczek, Jena

Entsprechend dem Bedarf in Ausbildung und Praxis haben wir Beiträge er-fahrener Autoren und Autorinnen zusammengestellt und abgestimmt, wobei wir bei aller Praxisrelevanz auf die Vermittlung lang andauernder berufsfeld-bezogener und die Institutionen übergreifende theoretische Diskurse von grundlegender Bedeutung abgezielt haben, die, anders als bei einem einschlä-gigen Handbuch, durch Gesetzesänderungen oder Organisationsentwicklun-gen nicht so schnell ihre Aktualität verlieren dürften.

Für die Redaktion und den Herausgeberkreis des Arbeitskreises: Heinz Cornel, Berlin Michael Lindenberg, Hamburg

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Inhalt

Abkürzungsverzeichnis 9 Teil 1 Grundlagen und Perspektiven

Heinz Cornel und Michael Lindenberg Warum „Kriminologie und Soziale Arbeit?“ Zur Einführung 11

Michael Lindenberg Verstehen und Gestalten. Zum Verhältnis von Kriminologie und Sozialer Arbeit 16

Heinz Cornel Geschichte des Strafens und der Straffälligenhilfe 31

Theresia Höynck Kriminalitätstheorien und Soziale Arbeit 48

Thomas Feltes und Thomas A. Fischer Gegenstand und Methoden kriminologischer Forschung 65

Christine M. Graebsch What works? Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlich fundierter Kriminalprävention 84

Lydia Seus Doing Gender While Doing Deviance? Die Genderperspektive in der Kriminologie 100 Teil 2 Handlungsansätze und Verfahren

Michael Lindenberg und Tilman Lutz Soziale Arbeit in Zwangskontexten 114

Sabine Schneider Theoretische Profilierungen Sozialer Arbeit mit Straffälligen 127

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Gabriele Kawamura-Reindl Lebenslagen Straffälliger als Ausgangspunkt für professionelle Interventionen in der Sozialen Arbeit 144

Wolfgang Deichsel Sozialadvokatorische Kriminologie – Sozialanwaltskriminologie für soziale Berufe 160

Heike Ludwig Diagnose und Prognose in der Sozialen Arbeit mit straffällig gewordenen Menschen 176

Thomas Trenczek Restorative Justice – (strafrechtliche) Konflikte und ihre Regelung 193

Johannes Lohner und Willi Pecher Behandlung und Sozialtherapie im Strafvollzug 211 Teil 3 Ausgewählte Akteure und Zielgruppen

Ulrike Mönig Das Strafverfahren und die Beteiligten 227

Ute Ingrid Haas Das Kriminalitätsopfer 242

Brigitta Goldberg und Thomas Trenczek Jugend und Delinquenz 263

Thomas Kunz Kriminalität und Migration 282

Marco Stürmer Illegale Drogen: Hintergründe und Grundlagen für die Praxis 297

Michael Jasch Kriminalität der Mächtigen: (K)ein Thema für die Soziale Arbeit? 316 Glossar 331 Die Autoren und Autorinnen 340

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Abkürzungsverzeichnis

Abb. Abbildung Abs. Absatz Art. Artikel ATA außergerichtlicher Tatausgleich BAMF Bundesamt für Migration und Flüchtlinge BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGH Bundesgerichtshof BKA Bundeskriminalamt BMG Bundesministerium für Gesundheit BMI Bundesministerium des Inneren BMJ Bundesministerium der Justiz BT-Drs. Bundestags-Drucksache BtMG Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (Betäubungsmittelgesetz) BtMVV Verordnung über das Verschreiben, die Abgabe und den Nachweis des Ver-

bleibs von Betäubungsmitteln (Betäubungsmittel-Verschreibungsverord-nung)

BVerfG Bundesverfassungsgericht BZgA Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung DJI Deutsches Jugendinstitut DSM Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorder (von der American

Psychiatric Association herausgegebenes Klassifikationssystem) ebd. ebenda Ed/eds. Editor/s (Herausgeber) EMRK Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Euro-

päische Menschenrechtskonvention) f., ff. folgende, fortfolgende GG Grundgesetz GVG Gerichtsverfassungsgesetz Hrsg. Herausgeber ICD International statistical Classification of Desease and Related Health Prob-

lems (von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebenes Diagnoseklas-sifikationssystem der Medizin)

IzKK Informationszentrum Kindesmisshandlung/Kindesvernachlässigung am DJI (gleichzeitig Kurzform für die Zeitschrift IzKK-Nachrichten)

Jg. Jahrgang JGG Jugendgerichtsgesetz JGH Jugendgerichtshilfe (nach § 52 SGB VIII „Mitwirkung des Jugendamts im

Verfahren nach dem Jugendgerichtsgesetz“) KFN Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachen KIK Konstanzer Inventar Kriminalitätsentwicklung KrimJ Kriminologisches Journal (Zeitschrift) KJB Kinder- und Jugendbericht LG Landgericht m.w.N. mit weiteren Nachweisen MschKrim Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform (Zeitschrift)

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NK Neue Kriminalpolitik (Zeitschrift) NStZ Neue Zeitschrift für Strafrecht OLG Oberlandesgericht PKS Polizeiliche Kriminalstatistik RJ Restorative Justice Rn. Randnummer Rz. Randziffer SGB Sozialgesetzbuch (in der Regel folgt dann eine römische Ziffer zur Bezeich-

nung des konkreten Gesetzes) SGB VIII Sozialgesetzbuch Achtes Buch (Kinder- und Jugendhilfe) StGB Strafgesetzbuch StPO Strafprozessordnung StV Strafverteidiger (Zeitschrift) StVollzG Strafvollzugsgesetz TOA Täter-Opfer-Ausgleich TVBZ Tatverdächtigenbelastungszahl UN United Nations (Vereinte Nationen) UZwG Gesetz über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt

durch Vollzugsbeamte des Bundes Vol. Volume (deutsch: Jahrgang) VwVG Verwaltungs-Vollstreckungsgesetz ZJJ Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe ZKM Zeitschrift für Konfliktmanagement ZWG Zuwanderungsgesetz (Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwande-

rung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unions-bürgern und Ausländern)

Im Übrigen werden die allgemein üblichen, im Duden erläuterten Abkürzungen verwen-det.

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Heinz Cornel und Michael Lindenberg

Warum „Kriminologie und Soziale Arbeit?“ Zur Einführung

Der Schwerpunkt der bisherigen Lehrbücher im deutschsprachigen Raum, die Soziale Arbeit und Kriminologie aufeinander bezogen, lag darauf, die So-ziale Arbeit mit den empirischen Erkenntnissen der Kriminologie über Um-fang und Charakter von Kriminalität und ihren theoretischen Zugängen zur Entstehung von Kriminalität vertraut zu machen (etwa: Janssen/Peters 1997; Dollinger/Schmidt-Semisch 2011; Oberlies 2013). Bei diesem Zugang wird unausgesprochen davon ausgegangen, dass die Soziale Arbeit dieses Wissens bedarf, weil sie als ausschließlich handelnde Profession eigenes wissenschaft-liches Wissen nicht selbst generieren kann, denn, so die Begründung: Die So-ziale Arbeit selbst ist überhaupt keine Wissenschaft, sondern ein Beruf. Ge-gen dieses Vorurteil hat sie schon immer ankämpfen müssen, aber sie hat es auch selbst erzeugt, weil sie sich stets auf bereits etablierte wissenschaftliche Disziplinen bezogen hat. Bereits Alice Salomon, die deutsche Begründerin einer systematischen, auf gesonderter Ausbildung gegründeten Sozialen Ar-beit, hatte 1908 die Volkswirtschaftslehre noch an die erste Stelle ihres Aus-bildungsprogramms für Soziale Arbeit gerückt, „weil sie die wesentlichste Voraussetzung für alles soziale Denken ist; für ein gerechtes Handeln gegen die Menschen, mit denen das Leben uns in Beziehung bringt“ (Salomon 1908/1997, S. 382).

Diese Situation hat sich nachhaltig geändert. Die Soziale Arbeit und ihre Studiengänge vermitteln soziales Denken nicht mehr als nur einschlägiges Professionswissen, das aus wissenschaftlichen Disziplinen wie der Soziologie, der Psychologie, der Erziehungswissenschaft, der Volkswirtschaftslehre, der Rechtswissenschaft oder eben der Kriminologie für den jeweiligen Berufsall-tag abgeleitet wird, und dessen die Praktiker für das Verstehen und das Ein-ordnen ihres unmittelbaren Arbeitsalltags bedürfen. Mittlerweile hat sich die Soziale Arbeit als Disziplin mit eigenständigen wissenschaftlichen Sichtwei-sen etabliert. Sie hat die Ebene einer nur vollziehenden Beruflichkeit, der Pro-fession, die sich an Bezugswissenschaften orientieren muss, um ihren Berufs-

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alltag verstehen und handelnd meistern zu können, längst überschritten. Sie hat ein eigenes wissenschaftliches Bezugssystem aufgebaut, mit dem sie ihre Handlungsvollzüge selbst erkennt, versteht und beschreibt. Sie will nicht mehr nur als Profession wirksam sein, sondern zugleich auch selbst verstehen und bestimmen, ob das, was sie alltäglich tut, den wissenschaftlichen Krite-rien der Wahrheit und der Richtigkeit standhält – und zwar wissenschaft- lichen Kriterien, die sie aus ihrer eigenen Praxis heraus selbst bestimmt (Thole 2005, S. 17).

Mit dem vorliegenden Lehrbuch verfolgen wir daher den Ansatz, das Be-standswissen der Kriminologie und das Bestandswissen der Sozialen Arbeit zusammenzuführen, um der Sozialen Arbeit im System der Strafjustiz ihren wissenschaftlichen und praktischen Ort entsprechend ihres Selbstverständ-nisses zuzumessen. Die Herausgeber und Herausgeberinnen fassen daher die Kenntnisse der Kriminologie nicht als bloße disziplinäre Bezugswissenschaft für die professionelle Soziale Arbeit auf, sondern stellen das kriminologische Wissen als disziplinäres Wissen der Sozialen Arbeit selbst in den Handlungs-zusammenhang der Sozialen Arbeit, ohne die Kriminologie vereinnahmen zu wollen. Im Zentrum vieler Beiträge steht daher das Handlungssystem der Sozialen Arbeit in ihrem Umgang mit straffälligen- oder von Straffälligkeit bedrohten Menschen jeden Alters.

Aus diesem wissenschaftstheoretischen Blickwinkel heraus betrachten wir das disziplinäre Wissen der Kriminologie und das disziplinäre Wissen der Sozialen Arbeit als gleichwertig, weil sie nur in Gleichwertigkeit dem Ziel dienen können, dem sich die Herausgeber und Herausgeberinnen, Verfasser und Verfasserinnen des vorliegenden Lehrbuchs verpflichtet sehen: Sie füh-ren nicht in die Kriminologie ein, sondern liefern ein zusammenhängendes kriminologisches und sozialpädagogisches/sozialarbeiterisches Wissen, das in dieser Zusammenschau hilfreich auf die professionellen Handlungserfor-dernisse der Sozialen Arbeit in der Arbeit mit Straffälligen abstellen soll. Wir beziehen die Perspektiven der Kriminologie und der Sozialen Arbeit aufei-nander und qualifizieren so für die fachliche Arbeit im Bereich der Delin-quenz.

Die empirischen Erkenntnisse der Kriminologie und ihre Menschenbil-der und das gleichfalls vorhandene Wissen der Sozialen Arbeit und ihre Er-kenntnisse und Menschenbilder bilden in diesem Lehrbuch „Kriminologie und Soziale Arbeit“ einen gleichrangigen Zusammenhang, um die aktuellen und drängenden Handlungserfordernisse der Sozialen Arbeit im oder mit Bezug auf das Strafjustizsystem anzuleiten. Adressaten des Lehrbuchs sind daher Studierende und beruflich Tätige in der Sozialen Arbeit.

Die Herausgeber und Herausgeberinnen und fast alle Autoren und Auto-rinnen stehen an deutschen Hochschulen in der Lehre der Sozialen Arbeit und streben mit dem vorliegenden Band eine weitere Qualifizierung dieser

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Lehre an, deren Bedarf sie hinsichtlich der kriminologischen, sozialpädago-gischen/sozialarbeiterischen und strafrechtlichen Kompetenzen kennen. Sie alle sind mit der Praxis der Sozialen Arbeit in diesem besonderen Arbeitsfeld gut vertraut. Daher haben sie sich dem Ziel verpflichtet, zu einem Buch für die Praxis und für die Lehre, mithin einem Buch für das Lernen beizutragen. Dabei sind wir uns der Vielfältigkeit des Faches der Sozialen Arbeit bewusst. Diese Vielfältigkeit trifft auch auf die Arbeit im oder mit Bezug auf das Straf-justizsystem zu, wobei für Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen bzw. Sozi-alpädagoginnen und Sozialpädagogen kriminologische Kenntnisse auch bei-spielsweise in der Heimerziehung, der Familienhilfe oder dem Jugendtreff von Nutzen sein können. Wir haben diese Vielfältigkeit durch eine gemein-same Struktur bei gleichzeitiger Pluralität der Ansätze abzubilden versucht. Im Blick auf die gemeinsame Struktur haben wir uns entschieden, eine Drei-teilung des Bandes vorzunehmen:

● Die Beiträge des ersten Teils (Grundlagen und Perspektiven) sind einfüh-render Natur. Sie haben den Charakter von Überblickswissen über das gesamte Feld der Sozialen Arbeit in der Strafjustiz und sollen die histori-sche Entwicklung der Sozialen Arbeit in diesem Teilsegment verdeutli-chen, in dem sie es mit abweichendem, gegen Strafgesetze verstoßendem Verhalten und den Reaktionen darauf zu tun hat. Hier wird in erster Linie der Blick für den disziplinären, wissenschaftlichen Zusammenhang dieses Feldes geschärft.

● Im zweiten Teil (Handlungsansätze- und Verfahren) werden besondere Handlungsansätze in ihren praktischen Bezügen vorgestellt, die derzeit durchgehend das Feld bestimmen: Wie geht die Soziale Arbeit mit Zwangskontexten um, wie gestaltet sie ihre Arbeit lebensweltorientiert und an einem Lebenslagenkonzept orientiert, wie geht sie mit Fragen der Diagnose und der Behandlung zu Werke, welche Alternativen entwickelt die Soziale Arbeit im System der Strafjustiz? Dabei handelt es sich weniger um die reine Beschreibung ihres Umgangs mit diesen Fragen, sondern vielmehr verdeutlichen die Verfasser und Verfasserinnen die Entwick-lung normativer Vorgaben auf der Basis empirischer Beobachtungen und kritischer Analyse: Sie fragen auch danach, warum gerade in dieser Weise gehandelt wird.

● Im dritten Teil (ausgewählte Akteure und Zielgruppen) widmen sich die Verfasserinnen und Verfasser aus einem überwiegend subjektorientierten Blickwinkel den Akteuren in diesem System. Dabei werden die Macht-ausübenden betrachtet (wenngleich die Fachkräfte, die diese Macht aus-üben, sich nicht vorrangig in dieser Funktion erkennen, obwohl sie so-wohl helfen als auch kontrollieren), aber auch die Machtunterworfenen. Beide Gruppen sind, jedenfalls aus Sicht der Sozialen Arbeit, relevante

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Handelnde: Neben den Machtausübenden im System selbst sind es etwa Migranten und Migrantinnen, Opfer von Kriminalität, Abhängige illega-ler Substanzen und Mittel, Jugendliche, aber auch die gesellschaftlich Mächtigen in Wirtschaft und Politik. Die Überschrift verheißt eine Aus-wahl an Akteuren und Zielgruppen – selbstverständlich gibt es andere darüber hinaus, die hier nicht erörtert werden können.

Dieses Lehr- und Lernbuch soll die Soziale Arbeit im Bereich der Delinquenz und Strafjustiz qualifizieren, stellt aber keine Einführung in die spezifischen Dienste der Sozialen Arbeit in der Justiz dar und hat auch nicht die Darstel-lung der jeweiligen rechtlichen Grundlagen in diesen Bereichen zum Thema. Diesbezüglich wollen wir gerne auf das Handbuch der Resozialisierung (Re-sozialisierung. Handbuch 2009) verweisen, das eine gute Ergänzung darstellt.

Die 20 Themen der Beiträge sind bei gleichzeitiger Pluralität der Ansätze einheitlich aufgebaut und streben einen Servicecharakter an. Dazu soll auch dienen, dass alle Beiträge mit einem Inhaltsverzeichnis mit Überblickscha-rakter beginnen, dass sie mit einer Zusammenfassung enden und mit Übungsaufgaben angereichert werden. Das Lehrbuch unterstreicht seinen Servicecharakter durch ein gemeinsames, abgestimmtes Glossar im An-schluss an die 20 inhaltlichen Beiträge. Darüber hinaus haben sich die Her-ausgeber und Herausgeberinnen entschieden, alle Beiträge in ihrem Umfang zu vereinheitlichen sowie zu den jeweiligen Literaturlisten drei bis fünf Titel als vertiefende Literatur zu empfehlen.

Den Herausgebern und Herausgeberinnen ist bewusst, dass jedes Lehr-buch nichts anderes tun kann als den Stand der „normal- wissenschaftlichen Tradition“ (Kuhn 1976, S. 148) abzubilden, also jenen Wissensbestand, auf den sich die Vertreter und Vertreterinnen der Disziplin einigen konnten, und der für einen bestimmen Zeitraum als durchgesetzt und daher als „wahr“ gel-ten darf. Wahr deshalb, weil den Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen einer besonderen Gemeinschaft – hier jenen der Kriminologie und der Sozi-alen Arbeit – die Vollmacht zuerkannt wird, über Grundlagen und Perspek-tiven, Handlungsansätze und Verfahren sowie ausgewählte Akteure und Zielgruppen zu sprechen und sie zu bestimmen. Daher sollte auch dieses Lehrbuch daraufhin betrachtet werden, dass Wissenschaft ein Feld der Aus-einandersetzung, wenn nicht ein Kampffeld (Bourdieu 1985) ist, in dem be-stimmte Positionen gewinnen und andere unterliegen – eine Auseinander-setzung unter der Fahne vermeintlicher „Objektivität“ und „Wissenschaft-lichkeit“, die nur der Wahrheit verpflichtet seien. Dass das mitnichten so ist, zeigen in diesem Band insbesondere die Beiträge im ersten Teil dieses Lehr-buches, die den Durchsetzungscharakter jeder Wissenschaft, also auch der Kriminologie und der Sozialen Arbeit, auf das Klarste verdeutlichen.

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Literatur

Bourdieu, P. (1985): Sozialer Raum und „Klassen“. Zwei Vorlesungen. Frankfurt. Dollinger, B./Schmidt-Semisch, H. (Hrsg.). (2011): Handbuch Jugendkriminalität. Krimi-

nologie und Sozialpädagogik im Dialog. 2. Auflage. Wiesbaden. Jannsen, H./Peters, F. (1997): Kriminologie für Soziale Arbeit. Münster. Kuhn, T. (1976): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Zweite revidierte und um

das Postskriptum von 1969 ergänzte Auflage. Frankfurt am Main. Oberlies, D. (2013): Strafrecht und Kriminologie für die Soziale Arbeit. Stuttgart. Cornel, H./Kawamura-Reindl, G./Maelicke, B./Sonnen, B. R. (Hrsg.) (2009): Resozialisie-

rung. Handbuch. 3. Auflage. Baden-Baden. Salomon, A. (1908/1997): Die soziale Ausbildung in der ‚Frauenschule‘. In: Salomon, A.:

Frauenemanzipation und soziale Verantwortung. Ausgewählte Schriften Band I (Hrsg. von A. Feustel). Neuwied und Kriftel und Berlin, S. 373–392.

Thole, W. (2005): Soziale Arbeit als Profession und Disziplin. Das sozialpädagogische Pro-jekt in Praxis, Theorie, Forschung und Ausbildung – Versuche einer Standortbestim-mung. In: Thole, W. (Hrsg.) (2005): Grundriss Soziale Arbeit. 2. Auflage. Wiesbaden, S. 15–60.

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Michael Lindenberg

Verstehen und Gestalten Zum Verhältnis von Kriminologie und Sozialer Arbeit

1. Kriminologie und Soziale Arbeit: Unterschiedliche Diskurse, ein Gegenstand 2. Theoretisches Denken in der Praxis der Sozialen Arbeit 3. Unterschiedliche Aufgaben von Kriminologie und Sozialer Arbeit 4. Objektivität und Wissenschaft? 5. Unterschied von Disziplin und Profession 6. Zusammenhang von Handeln und Strukturen

1. Kriminologie und Soziale Arbeit: Unterschiedliche Diskurse, ein Gegenstand

Mit diesem Text soll die Verschränkung von Sozialer Arbeit und Kriminolo-gie verdeutlicht und zugleich gezeigt werden, dass sich beide Fächer einem gesellschaftlichen Auftrag stellen. Dabei fasse ich die Kriminologie als Sozi-alwissenschaft, die Kriminalität nicht als ein Naturereignis, eine genetische Abweichung oder ein rechtliches Problem betrachtet, sondern aus den sozi-alen Zusammenhängen heraus bestimmt. Aus dieser Position beantwortet sie die Frage und will Antworten liefern, wie Ordnung trotz des in jeder Gesell-schaft vorhandenen „abweichenden“ oder auch „devianten“ Verhaltens möglich ist. In der sozialwissenschaftlichen Kriminologie wird in der Regel von abweichendem oder deviantem statt von kriminellem Verhalten gespro-chen. Mit „kriminellem Verhalten“ meinen wir im allgemeinen Sprachge-brauch einen Verstoß gegen das Strafgesetz. Mit „deviantem Verhalten“ ist viel weitergehend die Abweichung von einer gesellschaftlichen Norm ge-meint. Dafür gib es meist abwertende Begriffe, die mit dem Strafgesetzbuch nichts zu tun haben müssen, zum Beispiel „arbeitsscheu“ oder „fettleibig“. Die sozialwissenschaftliche Kriminologie beschränkt sich daher nicht auf die Normenverstöße, die im Strafgesetzbuch geregelt sind, sondern beschäftigt sich auch mit den moralischen Urteilen, die mit Devianz verbunden werden. Das tut sie, weil diese moralischen Urteile ebenfalls zur gesellschaftlichen

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Ausschließung beitragen können. Und an dieser moralischen Urteilsfindung ist die Soziale Arbeit beteiligt, die das Verhalten der ihr überantworteten Menschen zu beurteilen hat.

Um ihren Auftrag zu erfüllen, muss die Kriminologie Sinn stiften, Erklä-rungen liefern, Zwecke vorgeben. Allerdings, so Bourdieu (1985, S. 78), sind Sozialwissenschaftler „nicht übermäßig geeignet, das Elend der Menschen ohne gesellschaftliche Eigenschaften zu begreifen“, die sie zu ihrem Untersu-chungsgegenstand erhoben haben. Eben das versucht die Soziale Arbeit: ein-zelnen Menschen ein Gesicht zu geben und sie in die gesellschaftliche Ord-nung einzufügen. So entstehen in beiden Fächern jeweils unterschiedliche Sichtweisen, die über die allgemeine Frage zusammengebunden werden, wie Ordnung möglich ist und durchgesetzt werden kann.

Kriminologie und Soziale Arbeit bilden, wie jede andere Wissenschaft, ein Kräftefeld, das jeden, der in dieses Feld eintritt, vor Zwänge und Aufgaben stellt, die nicht nur auf individuelle Einzelaktionen und direkte Interaktionen zurückzuführen sind. In beiden Feldern müssen sich die Handelnden unter-schiedlichen Diskursregeln unterwerfen. Im Gegensatz zur Diskussion, die den Austausch von rationalen Argumenten zu einem aktuellen kontroversen Thema meint, bezeichnet der Begriff „Diskurs“ viel weitergehend eine übli-cherweise unausgesprochene Gedankenwelt, deren Regeln alle Beteiligten einhalten müssen, damit sie überhaupt Gehör finden. So reden Psychiater mit ganz anderen Begriffen über Straftäter als Richter oder Sozialarbeiter. Und weil Worte Gedanken ausdrücken, denken sie über die gleiche Person jeweils anders. Psychiater sprechen von Patienten, Richter von Angeklagten oder Verurteilten und Sozialarbeiter von Klienten oder Probanden. Damit ist eine immer andere Facette eines Menschen und ein Machtverhältnis zwi-schen den Beteiligten ausgesprochen.

Innerhalb der Sozialen Arbeit und der Kriminologie wirken also eigene Kräfte. Aber beide Felder erzeugen auch Kräfte, die in das jeweils andere Feld eingreifen. Meine Einführung in dieses Verhältnis soll den Lesern und Lese-rinnen verdeutlichen, wie Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen beide Dis-kurse in ihrem Alltag verbinden und zugleich zeigen, dass das Tätigkeitsfeld der Sozialen Arbeit, nämlich der Umgang mit den Sorgen von Menschen ohne gesellschaftliche Eigenschaften, zugleich das Erkenntnisinteresse der Kriminologie bestimmt. Diese Verbindung besteht, weil in beiden Wissen-schaften danach gefragt wird, warum einige Menschen gegen Normen und Regeln verstoßen, andere jedoch nicht. Geschieht das aus in der Person lie-genden Gründen, oder hat das gesellschaftliche Ursachen, oder ist es eine Mi-schung aus beidem? Und wenn es eine Mischung ist, welcher Anteil über-wiegt dann? Während in der Sozialen Arbeit diese Fragen auf den einzelnen Menschen bezogen werden und in konkrete Handlungen münden, betrach-tet die Kriminologie diese Fragen allgemeiner und verdeutlicht, dass persön-

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liches Handeln und gesellschaftliche Regeln in einem engen Zusammenhang stehen. Dies sind einige kriminologische Fragen: Warum werden die Großen oft laufen gelassen, die Kleinen aber ziemlich zuverlässig gefangen? Warum erfüllt das Gefängnis nicht die Ziele der Resozialisierung und der Abschre-ckung in dem Maße, wie es behauptet und gehofft wird (siehe Feltes und Fi-scher in diesem Band)? Dient das Recht allen Menschen im gleichen Maße, oder bevorzugt es einige, während es anderen Menschen die Daumenschrau-ben anlegt? Warum leistet sich die Gesellschaft überhaupt Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen in der Straffälligenarbeit (siehe Cornel sowie Schneider in diesem Band)? Insgesamt jedoch sind kriminologische und sozialarbeite-rische Fragen dadurch vereint, dass sie sich stets darüber Gedanken machen, wie es zum Normenverstoß gekommen ist und wie darauf reagiert wurde bzw. in Zukunft anders darauf reagiert werden soll.

Ist die Beantwortung der eben genannten allgemeinen kriminologischen Fragen für Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen im Strafjustizsystem über-haupt interessant? Zunächst sieht es nicht so aus, denn in ihrem Berufsalltag stehen sie vor sehr konkreten Aufgaben, die sie zudem ziemlich schnell zu lösen haben. So fragt sich zum Beispiel eine Sozialarbeiterin, die als Abtei-lungsleiterin im Vollzug arbeitet, wie ihre Stellungnahme zu einer geplanten bedingten Entlassung eines Jugendlichen aus der Haft ausfallen könnte, und wie sie diese Stellungnahme mit ihrem Versuch verbinden soll, dass dieser Junge in einer Haftentlassenenhilfeeinrichtung aufgenommen wird. Das ist nicht nur eine sehr komplizierte Frage, sondern auch ein große Herausfor-derung, die für sie mit vielen Unsicherheiten verbunden ist. Dahinter verber-gen sich mindestens fünf Aufgaben, deren Lösung bei ungewissen Ausgang sehr viel Zeit kosten kann: Klappt die Finanzierung, kann sie das Gericht von diesem Plan überzeugen, kann sie die Haftentlassenenhilfeeinrichtung für diese Idee gewinnen, wird die Anstaltsleiterin diesen Schritt unterstützen, und schließlich und entscheidend: wie wird sich der Jugendliche dann in die-ser Einrichtung verhalten? Soll die Sozialarbeiterin alle diese Risiken einge-hen und einen Teil ihrer Arbeitszeit in diesen Fall stecken? Unmittelbar ge-zwungen wird sie dazu nicht, sondern, wie fast immer in diesem Arbeitsfeld, kann sie in hohem Maße selbst bestimmen, wie viel Energie sie für diesen Fall aufwendet. Sie wird daher sehr genau abwägen.

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2. Theoretisches Denken in der Praxis der Sozialen Arbeit

Die Sozialarbeiterin unseres Beispielfalls legt sich bestimmt nicht bei jedem Telefonat die Frage vor, aus welchen theoretischen Gründen sie gerade mit dem Jugendrichter oder der Haftentlassenenhilfeeinrichtung telefoniert. Trotzdem handelt sie nicht ohne Theorie. Die ganze Zeit orientiert sie sich an der genannten theoretischen Frage: Warum verstoßen manche Menschen gegen Normen, andere nicht? Allerdings bezieht sie diese allgemeine Frage auf ihren konkreten Fall: Was hat gerade diesen Jungen in den Knast geführt? Waren es Fehler in der Erziehung, war es schlechter Einfluss anderer Jugend-licher, lagen wirtschaftliche Gründe vor, vielleicht ein genetischer Defekt o-der eine Mischung aus allem? Oder sie sieht mehr auf die „Gesellschaft“ und weniger auf den Jungen und würde dann antworten, dass „gesellschaftliche Ursachen“ der Grund sind. Damit meint sie wahrscheinlich, dass der junge Mann in ein schwaches sozio-ökonomisches Umfeld hineingeboren wurde und von Anfang an weniger Chancen hatte als ein Kind aus einer Mittel-schichtfamilie. Je nachdem, für welche Antwort sie sich entscheidet – und eine Theorieentscheidung wird sie unweigerlich treffen müssen, wenn sie nicht völlig hilflos agieren will –, wird sie anders handeln. Handeln, also die bewusste, zielgerichtete Tätigkeit in Kooperation mit anderen Menschen, ist stets theoriegeleitet, d. h., wir machen uns zunächst ein Bild im Kopf von dem, was wir vorhaben. Ansonsten würden wir uns lediglich verhalten, also marionettenhaft auf äußere Einflüsse reagieren. Das hat die Sozialarbeiterin aber nicht vor, sondern sie will selbst die Fäden ziehen, also gemeinsam mit den anderen Beteiligten so handeln, dass schließlich alle an einem Strang zie-hen: der Jugendliche, die anderen Bediensteten der Haftanstalt, der Richter, um nur einige zu nennen. Diese Menschen haben jedoch auch ihrerseits In-teressen, wollen ebenfalls keine Marionetten sein und selbst die Fäden in der Hand halten. Je besser die jeweiligen theoretischen Vorstellungen zusam-menpassen – manchmal ist in diesem Zusammenhang auch vom „Men-schenbild“ die Rede –, desto größer ist in dieser Pluralität die Wahrschein-lichkeit, zu einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen. Denn Handeln spielt sich zwischen den Menschen ab und zeigt ihre Einzigartigkeit, ihre Verschie-denheit und ihre Besonderheit, kurz ihre Pluralität. Handeln meint die menschliche Fähigkeit, „sich mit seinesgleichen zusammenzutun, gemein-same Sache mit ihnen zu machen, sich Ziele zu setzen und Unternehmungen zuzuwenden“ (Arendt 1970/1998, S. 81). Daher ist Handeln etwas anderes als ein Buch zu lesen, denn das können wir auch alleine bewerkstelligen. Jetzt aber muss die Sozialarbeiterin das ganze nachdenkende Theoretisieren bei-seite lassen und die Augen offen halten. Doch was sie dann sieht, ist selbst-verständlich immer von ihrer Theorie, von ihrem Menschenbild bestimmt. Dabei wird sie sich unweigerlich an eine der Theorien halten, die in der Kri-

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minologie miteinander konkurrieren, denn die Kriminologie selbst ist in ganz unterschiedliche Theorieschulen aufgeteilt (Höynck in diesem Band), die im geschichtlichen Verlauf entwickelt worden sind und unterschiedliche Menschenbilder mit daraus abgeleiteten Straf- und Hilfestrategien vertreten (Cornel in diesem Band).

An dieser Nahtstelle zwischen aktivem Handeln und seinen theoretischen Grundlagen liefert die Kriminologie allgemeine Aussagen, die auf ihre Hand-lungen in der praktischen Arbeit Einfluss nehmen – und zwar regelhaft mehr Einfluss, als es die Sozialarbeiterin in ihrem Berufsalltag bemerken mag.

3. Unterschiedliche Aufgaben von Kriminologie und Sozialer Arbeit

Vielleicht ist der von mir angesprochene Unterschied bereits in Umrissen verdeutlicht, der die zwei Seiten nur einer Medaille abbildet. In der Sozialen Arbeit fragen wir zunächst, wie etwas getan werden soll, in der Kriminologie, warum etwas getan wird. Die erste Sicht orientiert auf eine Handlung, die zweite auf ein Nachdenken über diese Handlung. Kommen wir zum Nach-denken über diese Handlung. Die Kriminologie liefert ihre allgemeine Er-kenntnisse zu der Frage, warum manche Menschen gegen Normen versto-ßen, andere hingegen nicht, in der Form „wissenschaftlicher Erkenntnis“. Was ist damit gemeint? Wissenschaftliche Erkenntnis unterscheidet sich von der Alltagserfahrung dadurch, dass sie auf regelmäßigen und systematischen Beobachtungen beruht, die dokumentiert und damit nachvollziehbar sein müssen. Wenn das gewährleistet ist, können diese Aussagen einen Anspruch auf Verallgemeinerung geltend machen. Für die Alltagspraxis der Sozialar-beiterin ist es sehr bedeutsam, dass sie auf diese Weise ergänzend mit Wissen über ihren Berufsalltag versorgt wird, denn während ihres Arbeitstages be-kommt sie immer nur einen gewissen Ausschnitt des Ganzen zu sehen. Würde sie ihren Ausschnitt verallgemeinern, also zur einzigen Grundlage ih-rer Theoriebildung erklären, würde sie zu einer „falschen“ Theorie kommen: Sie hat es wiederkehrend nur mit bestimmten Personen zu tun, etwa dem für ihren Bezirk oder ihre Buchstaben zuständigen Richter, mit zwei oder drei Abteilungsleitern im Gefängnis ihrer Stadt, vielleicht sogar nur mit Jugend-lichen, die aus einen bestimmten Wohngebiet stammen, für das sie zuständig ist. Dann sind es stets dieselben Kollegen und Kolleginnen, mit denen sie sich trifft und ihre Fälle beim Kaffee oder in der Supervision erörtert. In ihren Berufsgrenzen weiß sie daher sehr genau Bescheid, aber in einer anderen Stadt, in einem anderen Wohngebiet, in einem anderen Gefängnis, im Um-gang mit anderen Kollegen und Kolleginnen kann alles schon ganz anders aussehen.

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Wenn wir daher von wissenschaftlicher Erkenntnis sprechen, denken wir sofort an Aussagen, die auf Statistiken beruhen und dem Gesetz der großen Zahl folgen (Feltes/Fischer in diesem Band). Es besagt, dass wir erst, wenn wir viele einzelne Fälle nach einheitlichen Kriterien untersucht und dann zu-sammengefasst haben, verallgemeinern dürfen. Wir sprechen dann von quantitativen Daten. Beispiele in der Kriminologie dafür sind etwa die Straf-vollzugsziffern. Sie verdeutlichen, welcher Anteil der Gesamtbevölkerung an einem bestimmten Stichtag inhaftiert ist. Ein anderes Beispiel sind die Zahlen der Tatverdächtigen in der Polizeilichen Kriminalstatistik. Sie zeigen uns, wie viele Personen einer bestimmten Altersgruppe, eines Geschlechts oder einer ethnischen Herkunft in einem bestimmten Jahr einer bestimmten Straftat ver-dächtigt werden (Goldberg/Trenczek in diesem Band).

Aber auch systematische Gespräche mit im Vorwege ausgesuchten Ge-sprächspartnern, wobei alles Gesagte dokumentiert und anschließend nach offen gelegten Regeln ausgewertet wird, oder aber die geplante und doku-mentierte Beobachtung von Situationen liefern der Kriminologie wissen-schaftliche Erkenntnisse. Hier sprechen wir dann von qualitativen Daten, die nicht dem Gesetz der großen Zahl folgen, sondern ihre verallgemeinerbaren Erkenntnisse aus den beobachteten Besonderheiten ableiten. Und sehr häufig finden wir eine Mischung aus beiden: zunächst werden quantitative Daten erhoben (etwa die vollständige Gruppe von Personen, die in einem bestimmten Zeitraum aus einer bestimmten Haftanstalt entlassen wurden), um dann ein-zelne dieser Entlassenen nach bestimmten Gesichtspunkten zu interviewen.

4. Objektivität und Wissenschaft?

Allen eben genannten Verfahren ist gemeinsam, dass Erfahrungen interpre-tiert und ausgelegt werden müssen. Auch in der Wissenschaft ist die Erfah-rung der Rohstoff, mit dem alles beginnt. Daher sind wir mit diesen quanti-tativen und qualitativen Verfahren nicht auf dem Weg zur objektiven Wissenschaft. Im Gegenteil, diese Bemerkungen zeigen eher, dass es „objek-tive Wissenschaft“, also ein Verfahren, das die Wirklichkeit in ihrer Ganzheit in Echtheit abbildet, gar nicht geben kann. Eher kann gesagt werden, „dass die Wissenschaft selber die Realität mit erzeugt, die es zu begreifen erlaubt“ (Bourdieu 1985, S. 55). Das verdeutlicht noch einmal, warum Kriminologen und Kriminologinnen vorzugsweise von Abweichung und Devianz anstatt von Kriminalität sprechen. Kriminalität klingt nach objektiver Feststellung (so ist es wirklich) und ignoriert, dass gleiches Verhalten ganz unterschied-lich bewertet werden kann. Wie schon angedeutet, soll mit den Begriffen der Abweichung und der Devianz gezeigt werden, dass in jeder wissenschaftli-chen Erkenntnis eine moralische Wertung schlummert, so wie auch gleiche

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Handlungen unterschiedlich bewertet werden: In Paris gehen die Menschen bei Rot über die Kreuzung, und kleinere Blechschäden an ihren Autos neh-men sie kommentarlos hin. Wer in Deutschland bei Rot die Straße überquert, erntet mindestens Stirnrunzeln, und bei einem Blechschaden ist er bereit, aufwendige Versicherungsprozeduren auf sich zu nehmen. Daher ist es an-gemessener zu formulieren, dass Wissenschaft nicht hilft, etwas umfassend und allgemeingültig zu erklären, sondern dazu beitragen kann, ein Phäno-men aus einer bestimmten theoretischen Sicht (wir sprechen dann auch von „Vorannahmen“) zu verstehen.

Dieser Unterschied muss verdeutlicht werden. Karl Marx hat formuliert, dass alle Wissenschaft überflüssig wäre, „wenn die Erscheinungsformen und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen“ (Marx [1867] 1962, S. 825). Und er fährt fort, dass die „Verhältnisse um so selbstverständlicher erscheinen, je mehr der innere Zusammenhang an ihnen verborgen ist, sie aber der ordinären Vorstellung geläufig sind“ (ebd.). Diese „ordinäre“ Vor-stellung oder auch Vorstellung von dem, was von der großen Mehrheit für „normal“ und damit für moralisch richtig gehalten wird, nennt Marx „Bür-gervorstellung“ (ebd., S. 826). Damit meint er, dass die Wissenschaft oft ge-nug dazu verwendet wird, bereits vorhandene Vorstellungen zu verstärken und zu bekräftigen. Sie sollte aber hinter die Erscheinungen sehen. Sie sollte nicht sagen: Wir haben festgestellt, dass dieses normal ist, jenes aber nicht, sondern sie sollte fragen: Warum bezeichnen wir dieses als normal, jenes aber nicht? Wenn sie nur in der ersten Hinsicht Feststellungen trifft, trägt sie le-diglich dazu bei, die „Bürgervorstellung“ zu bestärken, sie beschreibt nur den Vorhang, anstatt ihn zu lüften.

Wenn sie den Vorhang lüftet, wird sie sehr oft angefeindet, weil sie lieb-gewonnene Vorstellungen, Alltagswissen eben, an dem sich auch Sozialarbei-ter und Sozialarbeiterinnen orientieren, in Frage stellt. Anhand der For-schung des amerikanischen Kriminologen Chambliss (1973) will ich erläutern, was damit gemeint ist, hinter die normale Bürgervorstellung zu se-hen und das als normal und damit als wahr und gültig Angenommene in Frage zu stellen.

Chambliss hielt sich zwei Jahre an einer Oberschule in Missouri auf, um zwei Gruppen von Jungen zu beobachten. Der einen Gruppe gab er den Na-men „Heilige“, die andere nannte er „Rowdies“. Damit ordnete er die Mit-glieder dieser Gruppen zwei unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern zu: Die acht Mitglieder der „Heiligen“ kamen aus Familien der oberen Mittel-schicht. Sie waren im Allgemeinen gute Schüler, verhielten sich während der Woche angepasst und engagierten sich in Schulangelegenheiten. An den Wo-chenenden jedoch wurden die „Heiligen“ zu Normabweichlern. Sie tranken zu viel Alkohol, fuhren rücksichtslos mit ihren Autos, und für kleinere Dieb-stähle waren sie sich nicht zu schade. Doch konnte das ihr gutes Bild nicht

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erschüttern, weil die Leute in der Stadt der Ansicht waren, dass sie sich nur die Hörner abstießen, aber auf lange Sicht anständige Bürger in ihrem Ge-meinwesen werden sollten. Die Polizei sah das wohl ähnlich, denn während der zwei Jahre, die Chambliss dort verbrachte, wurde nicht einer von ihnen aufgegriffen. Die sechs Mitglieder der „Rowdies“ dagegen kamen aus Fami-lien der Unterschicht. Zugegeben, als Schüler waren sie nicht gerade be-rühmt, aber an den Wochenenden taten sie genau das, was auch die „Heili-gen“ auszeichnete. Sie tranken Alkohol, gelegentlich verwickelten sie sich in eine Schlägerei, und kleinere Diebstähle waren nichts Ungewöhnliches. Ob-wohl sich die „Heiligen“ und die „Rowdies“ an den Wochenenden ähnlich verhielten, bekamen nur die „Rowdies“ ständig Ärger mit der Polizei.

Chambliss riskierte einen Blick hinter den Vorhang auf die Bühne dieser Stadt und ihrer männlichen Jugendlichen. Er sah folgendes: Die „Heiligen“ waren anständig gekleidete, ordentliche Jungen, die höflich mit den Autori-täten sprachen. Das entschärfte die Situation schon einmal. Weiter, wenn die Polizei jemanden von den „Heiligen“ aufgriff, würde sie dann nicht Ärger mit ihren einflussreichen Eltern bekommen? Schließlich, diese Jungen wür-den einmal selbst zu den führenden Köpfen der Stadt gehören. Warum sollte man sich dann mit ihnen anlegen? Diese Gefahr bestand bei den „Rowdies“ nicht: „Für jeden war klar, dass diese nicht so gut gekleideten, nicht so ma-nierlichen und nicht so reichen Jungen geradewegs auf Konflikte und Schwierigkeiten zusteuerten“ (Chambliss 1973, S. 27).

Nur die „Rowdies“ wurden durch eine in die Machtbeziehungen der Stadt eingelagerte selektive Wahrnehmung als kriminell bezeichnet oder „etiket-tiert“ und damit zu Kriminellen erklärt. Dabei war die Erscheinung im Kern in beiden Gruppen gleich; es handelte sich stets um eindeutige Formen von Jugendkriminalität. Aber gleiches Verhalten wurde nicht gleich, sondern höchst unterschiedlich bewertet. Die Erscheinungsformen und das Wesen der Erscheinungen fallen nicht zusammen. Es ist die Aufgabe der Krimino-logie, diesen Unterschied herauszuarbeiten. Und da es auch die Aufgabe der Sozialen Arbeit ist, hinter den Vorhang zu sehen und die Ursachen für die kriminellen Handlungen ihrer Klienten zu erkennen – sonst könnte sie ja überhaupt nicht intervenieren –, passen diese beiden Puzzleteile sehr gut zu-sammen. Um ihrer Aufgabe fachlich gerecht zu werden, benötigt die Soziale Arbeit wissenschaftliche Erkenntnis von der Art, wie Chambliss sie zusam-mengestellt hat (in diesem Fall handelte es sich um eine qualitative, auf Be-obachtung beruhende Forschung). So kann den Fachkräften in der Sozialen Arbeit mit diesem Beispiel gezeigt werden, dass auch sie selektiv intervenie-ren und damit gleiches Verhalten ungleich behandeln, denn obwohl die „Rowdies“ und die „Heiligen“ gleichermaßen Straftaten begehen, würden es vermutlich nur die Mitglieder der „Rowdies“ mit dem Jugendamt zu tun be-kommen.

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Daher steckt für die Soziale Arbeit viel nützliche Theorie in diesem Bei-spiel. Zwar heißt es in dem berühmten ersten Satz aus Kants „Kritik der rei-nen Vernunft“ (Kant 1788/1966, S. 49), „daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel.“ Das bedeutet aber lediglich, dass die Erfahrung der Erkenntnis zeitlich vorangestellt ist. Allein auf die Er-fahrung kann sich der Verstand nicht verlassen, sie ist, wie Kant formuliert, „bei weitem nicht das einzige Feld, darin sich unser Verstand einschränken läßt. Sie sagt uns zwar, was da sei, aber nicht, daß es notwendiger Weise, so oder nicht anders, sein müsse“ (ebd.). Und so zeigt Chambliss, dass Krimi-nalität als eine allgemeine soziale Tatsache besteht und keinesfalls an eine be-stimmte gesellschaftliche Gruppe gebunden ist, etwa die Armen, die Unter-schicht oder die arbeitslosen Jugendlichen aus den Randbezirken der Stadt. Das ist für die Soziale Arbeit eine sehr wichtige Aussage, denn sie hat es in ihrem Alltag gerade mit diesen Personen zu tun, den „Menschen ohne gesell-schaftliche Eigenschaften“, wie sie eingangs genannt wurden. Die anderen Kriminellen, etwa jene aus der Wirtschaft und der Politik, kommen in ihrem Alltag nicht vor. Wenn sie sich nur auf ihre Alltagserfahrung verlassen würde, läge der Schluss nahe, dass Kriminalität ein Unterschichtenproblem ist. Und das ist falsch (Jasch in diesem Band).

Chambliss selbst, der sich ebenfalls an theoretischen Vorstellungen ande-rer Wissenschaftler orientierte und auf ihnen aufbaute, mag sich bei seiner Forschung an die Aussage eines Klassikers der Kriminologie gehalten haben. Emile Durkheim schreibt: „Das Verbrechen wird nicht nur bei der überwie-genden Majorität von Gesellschaften dieser oder jener Gattung, sondern bei allen Gesellschaften aller Typen angetroffen. Es gibt keine Gesellschaft, in der keine Kriminalität existierte. Sie wechselt zwar der Form nach; es sind nicht immer dieselben Handlungen, die so bezeichnet werden“ (Durkheim 1895/1976, S. 156). Wenn es also insgesamt keine Gesellschaft ohne Krimi-nalität geben kann, so kann es auch keine gesellschaftliche Gruppe geben, die völlig frei von Kriminalität ist. So ist Chambliss auch als Theoretiker selbst von einer theoretischen Vorstellung geleitet worden. Damit ist gesagt, dass nicht nur die Soziale Arbeit Theorien benötigt, um professionell handeln zu können, sondern auch die Wissenschaft selbst baut auf Theorien auf. Daher ist es falsch, Wissenschaft und Praxis als voneinander getrennt aufzufassen, vielmehr sind sie notwendig aufeinander bezogen. Zwischen dem Praxisfeld der Sozialen Arbeit als Profession und ihrem wissenschaftlichen Feld (der Disziplin) besteht ein enger Zusammenhang.

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5. Unterschied von Disziplin und Profession

Diese Unterscheidung von Disziplin und Profession ist für die Soziale Arbeit bedeutsam und muß daher erläutert werden. Profession meint die auf fach-licher Grundlage basierenden Handlungen, die zu einem System zusammen-gefasst werden. Der Begriff beschreibt damit die berufliche Wirklichkeit des Faches, also all jenes, was in der Realität fachlich begründet geschieht. Diese Realität entsteht aus den möglichen Hilfeleistungen und den Kontrollerfor-dernissen der Sozialen Arbeit im Strafjustizsystem, die mit den Ansprüchen und Wünschen der Klienten in Einklang gebracht werden müssen. „Zielt die Profession auf Wirksamkeit, so setzt die Disziplin auf Wahrheit und Richtig-keit (Merten 1997, S. 201) – anders formuliert: Geht es wissenschaftlichen Disziplinen primär darum, über Forschung, Reflexion und Produktion von Theorien Welt- und Gesellschaftsbilder zu kreieren und zu beeinflussen, wün-schen Professionen ihre Adressaten und KlientInnen durch Handeln zu beein-druckten, zu ‚bilden’ und zu ‚helfen’ (vgl. Stichweh 1987)“ (Thole 2005, S. 17).

Damit ist gesagt, dass in der Sozialen Arbeit vor Entscheidungen stets dar-über Rechenschaft abzulegen ist, welche Informationen warum gesammelt und welche warum weggelassen werden. Denn was zusammengetragen wird, hängt von den vorgängigen theoretischen Überzeugungen und den prakti-schen Möglichkeiten ab. Daher gehört es zum Handwerkszeug der Sozialen Arbeit, wissenschaftliche Erkenntnisse zu berücksichtigen, denn „solche Auswahl ist prinzipiell unvermeidbar. […] Informationen werden also nach Maßgabe der Bedeutsamkeit für den Informationssammler herangezogen, und über ihre Bedeutsamkeit entscheiden theoretische Kategorien – unab-hängig davon, ob der Sammler das weiß oder ob ihm seine eigenen Katego-rien bekannt sind“ (Wurr/Trabandt 1980, S. 17). Das disziplinäre Wissen – die Theorie – ist daher für das berufliche Handeln – die Profession – unbe-dingt zu bedenken.

Das gibt der in unserem Beispiel eingangs genannten Sozialarbeiterin, die immer noch über ihrer Stellungnahme zu einer vorzeitigen Entlassung eines Jugendlichen in eine Haftentlasseneneinrichtung brütet darüber nachdenkt, wie sie die vielen offenen Fragen auflösen kann, selbstverständlich nicht die uneingeschränkte Möglichkeit, entsprechend ihres theoretischen Wissens zu handeln. Auch das zeigt die Forschung von Chambliss. Wie die Polizisten in seiner Untersuchung ist die Bewährungshelferin Teil des Systems. Sie muß und wird sich an den Handlungen und den Einflussmöglichkeiten der ande-ren Beteiligten orientieren. Nehmen wir einmal an, dass sie einen guten Draht zu der Leiterin der Haftentlassenenhilfeeinrichtung hat, nicht aber zu dem zuständigen Richter. Das ist schon einmal ganz gut, besser wäre es aber umgekehrt, denn der Richter hat mehr Einfluss als die Leiterin. Am besten wäre es jedoch, wenn sie mit beiden gut klar kommt, denn wenn die Leiterin

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keine Anstalten macht, für den Jugendlichen einen Platz vorzuhalten, hat der Richter kaum eine Entscheidungsgrundlage. Alle Handlungen hängen mitei-nander zusammen, und wenn die Sozialarbeiterin kein gutes Händchen da-rin hat, die Macht und die Reichweite einzelner Handlungen aufeinander zu beziehen, wird sie kaum eine Erfolgschance haben, jedenfalls nicht dann, wenn so viele Entscheidungspersonen beteiligt sind wie in dem geschilderten Beispiel.

6. Zusammenhang von Handeln und Strukturen

Sie muß demnach ihr Handeln auf die Strukturen beziehen, und diese ändern sich laufend. Was gestern als ein Verbrechen galt, kann heute schon straflos sein, wie etwa Homosexualität. Also darf sich die Kriminologie, wenn sie wis-senschaftliche Antworten geben will, nicht mit der Frage begnügen, wie das Verbrechen zustande gekommen ist, sondern sie muß darüber hinaus immer danach fragen, wie es zu der sich im geschichtlichen Verlauf immer ändern-den Norm gekommen ist, nach der eine Handlung als Verbrechen (d. h. „Cri-men“, daher „Kriminologie“) bezeichnet werden kann. Kriminologen und Kriminologinnen sind der Überzeugung, dass die einzelnen kriminellen Handlungen nur im Zusammenhang mit anderen Handlungen verstanden werden können und in die Machtbeziehungen der Gesellschaft eingelagert sind. Heinrich Hannover (1993, S. 79) hat diesem Zusammenhang in einem kleinen Gedicht ausgedrückt: „Schon immer hat, wer an der Macht, sich neue Strafen ausgedacht. Vermieden aber wurden Strafen, die die Erfinder selbst betrafen.“

Mithin besteht ein Zusammenhang zwischen dem Verhalten Einzelner und den Verhältnissen oder Strukturen. Erst beides zusammen bestimmt das Han-deln als ein soziales Handeln. Dieses soziale Handeln hat zwei Wirkungen: Das Handeln im Prozess ist strukturierend, und das Resultat dieses Prozesses ist strukturiert. Die Strukturen sind das Resultat und das Medium Sozialen Han-delns (Giddens 1984, S. 24, Herv.d.A.). Strukturen fallen nicht vom Himmel, sondern sie sind „reproduziertes Verhalten situativ Handelnder, die klar be-stimmbare Intentionen und Interessen haben“ (Giddens 1984, S. 155). Das heißt, die Sozialarbeiterin in unserem Beispiel kann sich nicht hinter den Strukturen verstecken, denn sie ist Teil davon und formt sie durch ihre Hand-lungen, denn „Alles Gesagte ist von jemandem gesagt“ (Maturana/Varela 1984/1987, S. 32). Wer anderes als die Handelnden selbst könnte die Struktu-ren strukturieren? Außer ihnen ist niemand da, der das tun kann.

Dieses Strukturieren der Strukturen (ein anderes Wort dafür wäre „ge-sellschaftlicher Wandel“) kann sie jedoch nur im Rahmen ihres gesellschaft-lichen und gesetzlichen Auftrages tun, und darin besteht selbstverständlich

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die Einschränkung. Sie darf nicht alles tun, sondern nur etwas bestimmtes, denn der Sinn ihres Handelns in der Sozialen Arbeit „ist und bleibt, allen ihren theoretischen Rationalisierungen zum Trotz, praktische Arbeit an der Gesellschaft und für die Gesellschaft“, schreibt der Soziologe Berger (1971, S. 14). Alle Soziale Arbeit ist letztlich „auf das Vorhandensein sozialer Not und Notstände zurückzuführen“ (Mollenhauer 1959, S. 129, zit. nach Kessl/ Otto 2011, S. 61) und zielt auf die Inklusion mit dem Ziel der vollen Teilha-bebefähigung. Die Kriminologie ist komplementär davon geprägt, die Pro-zesse der Exklusion zu kommentieren (denn darum handelt es sich im Straf-justizsystem), sie zu begreifen und Vorschläge zu machen, wie damit umgegangen werden soll. Soziale Arbeit und Kriminologie sehen sich daher in ihrem Selbstverständnis als integralen Bestandteil moderner Infrastruktur zur Unterstützung von Prozessen der Lebensbewältigung, eingebettet in Po-litik und Sozialpolitik.

Wir kommen nun zu den abschließenden und zusammenfassenden Be-merkungen. Die Kriminologie untersucht die Ordnungen, die Soziale Arbeit setzt sie durch. Doch ist bei diesem Satz Vorsicht geboten, denn eine krimi-nologische Untersuchung, das habe ich zu verdeutlichen versucht, kann nie-mals neutral, objektiv oder wertfrei sein; jede Untersuchung will eine be-stimmte Sichtweise etablieren, und ihre durch Wissenschaftlichkeit ver-mittelte vermeintliche Neutralität und Objektivität kann daher ein Mittel für diesen Durchsetzungszweck sein. Und weiter sollte deutlich geworden sein, dass die Soziale Arbeit nicht nur Ordnung durchsetzt, also moralische Urteile übernimmt, sondern selbst auch über Gestaltungsmacht verfügt. Darum ist es vielleicht besser zu sagen, dass es im kriminologischen Diskurs überwiegend um Verstehen geht, in dem der Sozialen Arbeit überwiegend um Gestalten. Doch gehen untersuchen und durchsetzen, gehen Verstehen und Gestalten Hand in Hand. Die Kriminologie als Sozialwissenschaft interessiert sich für Soziale Fragen und trifft sich hier mit der Sozialen Arbeit. Die Tat ist für sie nicht in erster Linie eine Straftat, sondern eine abweichende Handlung, das Verbrechen ist für sie Delinquenz, und der Täter wird nicht in seinem kon-kreten Tathandeln gesehen, sondern in seinem sozialen Handeln. Die Krimi-nologie will also nicht Klarheit über die Tat, sondern Aufklärung über den Tatzusammenhang. Die Kriminologie liefert der Sozialen Arbeit daher nicht nur Statistiken und Zahlen über das registrierte Ausmaß der Kriminalität, sondern darüber hinaus soziologische Deutungsmuster zur Entstehung und zum Umgang mit Kriminalität. Sie bildet damit die Ergänzung zur Sozialen Arbeit, die als Handlungswissenschaft zur Gestaltung der Gesellschaft als eine von vielen gesellschaftlichen Akteuren einen aktiven Beitrag zur Gestaltung und auch Kritik der sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen leisten will. Die Soziale Arbeit nimmt diese Aufgabe wahr, indem sie jene Menschen un-terstützt, die aktuell nicht über ausreichende Ressourcen verfügen. Zugleich

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hat sie im Arbeitsfeld der Strafjustiz eine besonders ausgeprägte Funktion, Normen zu verdeutlichen. Das bringt sie immer wieder in die Klemme, denn die Profession (das fachliche Handlungssystem) der Sozialen Arbeit ist ge-kennzeichnet von Mitwirkung; Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen versu-chen, sich an dem Wollen und Wünschen der Menschen zu orientieren. Da-mit geraten sie immer erneut unter Druck. Das trifft in besonderer Weise auf die Soziale Arbeit im Strafjustizsystem zu. Denn die Menschen, mit denen sie es hier beruflich zu tun hat, stehen unter richterlicher oder staatsanwaltlicher Aufsicht, empfangen sehr oft staatliche Geldleistungen, wohnen häufig in staatlich finanzierten Einrichtungen, um nur einige Beispiele dafür zu nen-nen, welcher hohen Kontrolldichte sie ausgeliefert sind. Sozialarbeiter und So-zialarbeiterinnen im Strafjustizsystem gehören zu den Menschen, die sie zu beaufsichtigen haben und in ihren Entscheidungsmöglichkeiten einschrän-ken müssen; sie helfen nicht nur, sondern sie tragen bei zur Bestrafung der Armen (Wacquant 2009). Dieser Konflikt ist nicht aufzulösen. Die Krimino-logie hilft, ihn zu verstehen.

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Thole, W. (2005): Soziale Arbeit als Profession und Disziplin. Das sozialpädagogische Pro-jekt in Praxis, Theorie, Forschung und Ausbildung – Versuche einer Standortbestim-mung. In: Thole, W. (Hrsg.) (2005): Grundriss Soziale Arbeit. 2. Auflage. Wiesbaden, S. 15–60.

Wacquant, L. (2009): Bestrafen der Armen. Zur neoliberalen Regierung der sozialen Un-sicherheit, Opladen und Farmington Hills.

Wurr, R./Trabandt, H. (1980): Abweichendes Verhalten und sozialpädagogisches Han-deln. Lehr- und Arbeitsbuch zur Sozialpädagogik. Stuttgart und Berlin und Köln und Mainz. Giddens, A. (1984): Interpretative Soziologie. Eine kritische Einführung. Frankfurt am Main.

Zusammenfassung

In diesem Beitrag werden die unterschiedlichen Zugänge von Kriminologie und Sozi-ale Arbeit auf das Feld der Strafjustiz behandelt und gezeigt, dass beide Zugänge die zwei Seiten nur einer Medaille abbilden. Während in der sozialwissenschaftlichen Kri-minologie vor allem thematisiert wird, dass die sozialen Zusammenhänge bestimmte abweichende Verhaltensweisen begünstigen, andere jedoch nicht, beschäftigt sich die Soziale Arbeit in erster Linie mit den Lebenslagen und dem sozialen Umfeld kon-kreter Personen. Dabei fragt sie im Rahmen ihres Gestaltungsauftrages stets da-nach, wie die gesellschaftlichen Verhältnisse beeinflusst werden können, damit nicht immer wieder solche Fälle produziert werden. In der Praxis hat sie sich damit ausei-nanderzusetzen, dass sie diesen Menschen nicht nur helfen soll, sie in den gesell-schaftlichen Zusammenhang einzuordnen, sondern stets auch an ihrer Bestrafung mitzuwirken hat. Die Kriminologie hilft ihr, diesen doppelten Gestaltungsauftrag zu verstehen und in ihrem Handeln umzusetzen.

Übungsaufgaben

1. Bitte äußern Sie sich zu dem Begriff der „Wissenschaftlichen Erkenntnis“ und unter-scheiden sie diesen von der Alltagserfahrung.

2. Welche unterschiedlichen Zugänge auf abweichendes Verhalten sehen sie für die Kriminologie und für die Soziale Arbeit, und worin besteht ihr Zusammenhang?

3. Bitte skizzieren Sie die Bedeutung kriminologischen Denkens für die Praxis der So-zialen Arbeit.

4. Bitte äußern Sie sich zu der Frage, warum die Alltagserfahrung allein noch kein pro-fessionelles Handeln ermöglicht.

5. Bitte erläutern Sie den Unterschied von „Disziplin“ und „Profession“.