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5 Klaus Holzkamp Kritische Psychologie und phänomenologische Psychologie Der Weg der Kritischen Psychologie zur Subjektwissenschaft 1. Fragestellung............................................................................................ 2. Ansatz und Begrifflichkeit phänomenologisch-psychologischer Struk- turanalyse unmittelbarer Erfahrung.......................................................... 3. Ansatz und Begrifflichkeit der genetisch-rekonstruktiven Kategorial ana- lyse innerhalb der Kritischen Psychologie............................................... 4. Unausgeführtheit der Vermittlungen zwischen gesamtgesellschaftli chem Prozeß und individueller Subjektivität, damit Vernachlässigung der phänomenologischen Analyseebene, in der früheren kritisch-psycholo- gischen Kategorialbestimmungen ........................................................... 5. Implizite Vorwegnahme notwendiger kategorialer Neuorientierungen: Das kritisch-psychologische »Konfliktmodell« individueller Subjekti vi- tät unter bürgerlichen Lebensverhältnissen.............................................. 6. Subjektwissenschaftliche Ausdifferenzierung der kategorialen Vermitt - lungsebenen zwischen gesamtgesellschaftlicher und individueller Repro- duktion: Möglichkeitsbeziehung / subjektive Handlungsgründe.............. 7. Systematische Berücksichtigung phänomenanalytischer Strukturbe stim- mungen innerhalb der subjektwissenschaftlich entfalteten kritisch-psy- chologischen Kategorialanalyse............................................................... 8. Widersprüchliches Verhältnis zwischen Unhintergehbarkeit und han- delnder Überschreitung der unmittelbaren Erfahrung bei gesamtgesell- schaftlicher Vermitteltheit individueller Existenz.................................... 9. Der Stellenwert phänomenologischer Analyse innerhalb marxistischer Methodologie in ihrer subjektwissenschaftlichen Spezifizierung............ 1. Fragestellung Prinzipielle Auseinandersetzungen mit der phänomenologischen Psycho - logie sind bisher innerhalb der Kritischen Psychologie nicht zu finden: Of- fensichtlich hielten wir die kritische Abarbeitung unserer Positionen an den »Hauptströmen« der traditionellen Psychologie, wie Behaviorismus und Psychoanalyse, für dringlicher – dies besonders auch angesichts des relativ marginalen Stellenwertes der phänomenologisch-psychologischen Herangehensweise im gegenwärtigen psychologischen Forschungsbe trieb. Durch das auf dem letzten Marburger Kongreß gehaltene Referat von FORUM KRITISCHE PSYCHOLOGIE 14 (AS 114)

Kritische Psychologie und phänomenologische Psychologie · genannten Referat.) Die phänomenologische Analyse ist darauf gerichtet, im Ansatz an der un- mittelbaren Lebenswelt des

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Klaus Holzkamp

Kritische Psychologie undphänomenologische PsychologieDer Weg der Kritischen Psychologiezur Subjektwissenschaft

1. Fragestellung............................................................................................2. Ansatz und Begrifflichkeit phänomenologisch-psychologischer Struk-

turanalyse unmittelbarer Erfahrung..........................................................3. Ansatz und Begrifflichkeit der genetisch-rekonstruktiven Kategorialana-

lyse innerhalb der Kritischen Psychologie...............................................4. Unausgeführtheit der Vermittlungen zwischen gesamtgesellschaftlichem

Prozeß und individueller Subjektivität, damit Vernachlässigung derphänomenologischen Analyseebene, in der früheren kritisch-psycholo-gischen Kategorialbestimmungen ...........................................................

5. Implizite Vorwegnahme notwendiger kategorialer Neuorientierungen:Das kritisch-psychologische »Konfliktmodell« individueller Subjektivi-tät unter bürgerlichen Lebensverhältnissen..............................................

6. Subjektwissenschaftliche Ausdifferenzierung der kategorialen Vermitt-lungsebenen zwischen gesamtgesellschaftlicher und individueller Repro-duktion: Möglichkeitsbeziehung / subjektive Handlungsgründe..............

7. Systematische Berücksichtigung phänomenanalytischer Strukturbestim-mungen innerhalb der subjektwissenschaftlich entfalteten kritisch-psy-chologischen Kategorialanalyse...............................................................

8. Widersprüchliches Verhältnis zwischen Unhintergehbarkeit und han-delnder Überschreitung der unmittelbaren Erfahrung bei gesamtgesell-schaftlicher Vermitteltheit individueller Existenz....................................

9. Der Stellenwert phänomenologischer Analyse innerhalb marxistischerMethodologie in ihrer subjektwissenschaftlichen Spezifizierung............

1. Fragestellung

Prinzipielle Auseinandersetzungen mit der phänomenologischen Psycho-logie sind bisher innerhalb der Kritischen Psychologie nicht zu finden: Of-fensichtlich hielten wir die kritische Abarbeitung unserer Positionen anden »Hauptströmen« der traditionellen Psychologie, wie Behaviorismusund Psychoanalyse, für dringlicher – dies besonders auch angesichts desrelativ marginalen Stellenwertes der phänomenologisch-psychologischenHerangehensweise im gegenwärtigen psychologischen Forschungsbetrieb.

Durch das auf dem letzten Marburger Kongreß gehaltene Referat von

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Carl Friedrich Graumann zum Problem der Vermittlung zwischen phäno-menologischer Analytik und experimenteller Methodik in der Psychologieund die inhaltlich daran anschließende Diskussion mit Graumann in derAG »Ausklammerung des Bewußtseins aus der psychologischen For-schung: Methodische Notwendigkeit oder Gegenstandsverfehlung?«1 ak-tualisierten sich für mich schon länger latente Zweifel, ob dies Versäumnistatsächlich zu rechtfertigen ist. Schon in der kritisch-psychologischen Pro-grammschrift »Sinnliche Erkenntnis« etc. (1973), insbesondere aber inmeinem neuen Buch »Grundlegung der Psychologie« (1983) finden sichmannigfache, explizite oder implizite Bezüge auf phänomenologische Ver-fahrensweisen und Konzeptionen: Konnte man es sich tatsächlich leisten,den inhaltlichen und methodischen Stellenwert solcher Bezüge innerhalbunseres Gesamtansatzes unhinterfragt zu lassen – zumal ja im Kontextmarxistischer Grundpositionen die Einbeziehung von »Phänomenologie«sich nicht gerade von selbst versteht?

Diese Zweifel verdichteten sich für mich zur Gewißheit, als ich meineErfahrungen und Eindrücke aus den Kongreßveranstaltungen etwas syste-matischer auszuwerten begann: Dabei wurde mir immer klarer, daß hiernicht nur ein psychologiegeschichtlicher Rückstand aufzuarbeiten war,sondern daß aus der Rechenschaftslegung darüber, warum und in welchenZusammenhängen bei uns phänomenologische Aussagen vorkommenbzw. fehlen, sich wichtige Einsichten über die Grundlagen unserer eigenenVorgehensweise, insbesondere des innerhalb kritisch-psychologischer For-schung zentralen Verfahrens der Kategorialanalyse und seiner Resultate,ergeben müssen. Mehr noch: Indem ich den Spuren der Phänomenologiein den Arbeiten der Kritischen Psychologie nachzugehen begann, eröffne-te sich mir ein neuer Zugang zur Frage der Stufen und der Richtung derdabei vollzogenen Entwicklung: Hier besteht – wie mir scheint – dieMöglichkeit, in kritisch-selbstkritischer Aufarbeitung früherer Widersprü-che und Verkürzungen die Besonderheiten und die Perspektiven unserergegenwärtigen Positionen klarer herauszuheben. (In diesem Zusammen-hang bot sich für mich Gelegenheit, eine Teilantwort auf die gelegentlichgestellte Frage zu versuchen, worin denn nun präzise das »Neue« der»Grundlegung der Psychologie«, jenseits bloßer Systematisierungen älte-rer Konzeptionen, zu finden sei.)

So geriet mir meine zunächst mehr beiläufig gemeinte Kongreß-Nachle-se zu dem hier vorgelegten kritisch-psychologischen Selbstverständigungs-artikel, dessen Umfang und Anspruch durchaus der grundsätzlichen Be-deutung entspricht, die ich ihm beimesse.

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2. Ansatz und Begrifflichkeit phänomenologisch-psychologischerStrukturanalyse unmittelbarer Erfahrung

Die Phänomenologie – als philosophische Schule von Brentano undHusserl begründet – hat sich seither in unterschiedliche Ebenen von als»phänomenologisch« bezeichneten Arbeitsrichtungen differenziert. Sofinden sich neben philosophischen auch einzelwissenschaftliche Grundan-sätze, die programmatisch als »phänomenologisch« auftreten bzw. sichauf phänomenologische Traditionen beziehen, etwa in der Soziologie dieEthnomethodologie (Garfinkel, Cicourel etc.). Für jeweils andere Spielar-ten des »phänomenologischen« Herangehens stehen die Namen Schütz,A. Strauß, Gurwitsch, Merleau-Ponty, Buytendijk, Linschoten etc. Ichkann die komplexe und widersprüchliche Entwicklung solcher phänome-nologischer Richtungen hier nicht nachzeichnen, muß aber wenigstenspragmatisch darlegen, was ich im folgenden unter phänomenologischerPsychologie verstehen will: Phänomenologische Psychologie (wie ich sie inÜbereinstimmung mit dem Graumann-Referat fasse) ist einerseits (ob-wohl sich mannigfache Berührungen und Verflechtungen mit philosophi-schen Problemen ergeben) kein philosophischer Ansatz, in dem es um ir-gendwelche Erst- oder Letztbegründungsfragen unserer Erfahrung ginge,sondern gehört in die einzelwissenschaftliche Psychologie. Sie ist aber an-dererseits keine besondere psychologische Schule oder Teildisziplin, son-dern eine bestimmte Ebene psychologischen Denkens/Forschens, in wel-cher als Voraussetzung für angemessene Forschung/Praxis innerhalb dergesamten Psychologie allgemeinste Dimensionen menschlicher Erfahrunganalytisch herausgehoben werden sollen, um so eine Klärung und Verstän-digung über die nicht-hintergehbaren Grundzüge des Gegenstandes derPsychologie, also das, worum es in spezifisch psychologischer For-schung/Praxis geht bzw. gehen sollte, zu erreichen. Ich rede dementspre-chend – wie Graumann – in diesem Zusammenhang von phänomenolo-gischer Analyse oder Phänomenanalyse und halte mich in der folgendenDarstellung – obwohl ich mich einer etwas anderen Anordnung und Ter-minologie bediene – prinzipiell an die von Graumann herausgehobenenGesichtspunkte. (Weitergehende Klärungen über die phänomenologischeAnalyse, ihre Bedeutung und ihre Mißdeutungen, finden sich in seinemgenannten Referat.)

Die phänomenologische Analyse ist darauf gerichtet, im Ansatz an der un-mittelbaren Lebenswelt des Menschen durch bestimmte abstraktive Ver-fahren der Einklammerung, Reduktion etc. in Absehung von deren je be-sonderer Inhaltlichkeit zu Aussagen über die unhintergehbare, da mit derspezifischen Weise menschlicher Existenz mitgegebene Grundstruktur die-ser Lebenswelt als Mensch-Welt-Zusammenhang zu gelangen (Graumann

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nennt demgemäß die phänomenologische Analyse eine »Strukturanaly-se«). Als zentrales Strukturmerkmal wird dabei die intentionale Bezogen-heit des Subjekts auf etwas, das als davon unabhängig gemeint ist, heraus-gestellt: »Intentionalität« impliziert jeweils »mich« als »Intentionalitäts-zentrum«, von dem aus ich mich zur unabhängig von mir gegebenen Weltins Verhältnis setze, das heißt in diesem Sinne »verhalte«. Dies »Verhal-ten-Zu« wiederum schließt ein, daß auch der jeweils andere von mir alssich zu mir »verhaltend«, also als von mir unabhängiges, auf mich bezo-genes »Intentionalitätszentrum« erfahren wird, daß ich ihn also quasi als ei-nen mich Wahrnehmenden wahrnehme. Durch diese reziproke Strukturist unsere Erfahrung genuin »sozial«, genauer »intersubjektiv« konstitu-iert. Dabei ist im »Verhalten-Zu« die »Intersubjektivität« notwendig auchauf mich selbst zurückbeziehbar: Ich kann mich auch zu mir selbst als zueinem Subjekt »verhalten«, womit gleichzeitig realisiert ist, daß, wie derandere für mich der andere ist, ich selbst auch für den anderen »der ande-re« bin. In dieser Rückbezogenheit und Dezentrierung bedeutet Intentio-nalität also immer auch die »Reflexivität« unserer intersubjektiven Welt-und Selbstbeziehung.

Indem ich mich als »Intentionalitätszentrum« mit der Realität, die alsunabhängig von mir gegeben gemeint ist, ins Verhältnis setze, finde ichmich als Erfahrender immer schon auf einem bestimmten Standpunkt miteiner bestimmten Perspektive auf die Welt und mich selbst, wodurch mei-ne Erfahrung begrenzt ist: Erfahrung bezieht sich somit auf die von mirunabhängige Realität, soweit und in den Zügen, wie sie mir von meinemStandpunkt aus in meiner Perspektive zugänglich ist. Da mithin die Reali-tät selbst immer mehr ist, als ich von ihr schon erkannt oder handelnd er-griffen habe, ist meine Welt- und Selbsterfahrung strukturiert als Hori-zont allseitig unabgeschlossener Möglichkeiten. Indem ich mich so als Er-kennender/Handelnder immer der Realität als Inbegriff bestimmter situa-tiver Möglichkeitsräume gegenübersehe, ist die Intentionalität eine Mög-lichkeitsbeziehung zur Welt und zu mir selbst, in welcher die Dimensionenund die Reichweite meiner Handlungsalternativen zwar durch den situati-ven Möglichkeitsraum selegiert bzw., begrenzt sind, in der ich aber im»Verhalten-Zu« notwendig Alternativen habe und in diesem Sinne »frei«bin.

Aus dem Umstand, daß die Realität das von mir Intendierbare stets all-seitig überschreitet, wodurch einerseits die intentionale Beziehung alsMöglichkeitsbeziehung konstituiert ist, ergibt sich andererseits auch dieallseitige Beschränkung meiner Handlungsmöglichkeiten durch das vonmir (noch) nicht er- bzw. begriffene bloß »Faktische«. Diese meine Mög-lichkeiten begrenzende »Faktizität« ist nicht nur mitgemeint, wenn ich mirdie notwendige Unabgeschlossenheit des von mir intentional Durchdrun-genen vergegenwärtige, sie ist auch Inbegriff der nicht intendierten oder

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gar meiner Intention zuwiderlaufenden »zufälligen« Einbrüche »blinder«Ereignisse oder Prozesse in meine intentional geordnete Erfahrung, wo-durch jedesmal eine Umstrukturierung der intentionalen Ordnung in Be-rücksichtigung der »Widerständigkeiten« der Realität erzwungen wird etc.

Das in meiner intentionalen Möglichkeitsbeziehung zur Welt, zu ande-ren und zu mir selbst liegende antizipatorische Moment läßt sich verallge-meinern als umgreifende Dimension der Zeitlichkeit meiner Erfahrung,wobei meine eigene, standortgebundene Lebenszeit den Bezug darstellt, fürdie sich damit überschneidenden und darin verschränkten besonderenZeitlichkeiten, wie ich sie in der Existenz anderer Menschen und Welter-eignisse/-prozesse erfahre. Durch die Rückbeziehbarkeit des »Verhaltens-Zu« auf mich selbst hat. somit meine Selbsterfahrung den Grundzug derphänomenalen »Geschichtlichkeit«, in welcher mir meine Vergangenheitals Inbegriff realisierter oder vertaner Möglichkeiten und meine Zukunftals Inbegriff (mehr oder weniger) offener Möglichkeiten gegeben sind. Diejeweils an Möglichkeitsräume »angrenzende« unintendierbare und un-durchdringliche »Faktizität« erscheint in diesem Zusammenhang als er-fahrene Endlichkeit meiner Lebensspanne, womit der letzte, nicht mehrzur Disposition stehende Rahmen für die zeitliche Strukturierung meinerPhänomenalbiographie gesetzt ist, etc.

In der vorstehenden Skizzierung wesentlicher Dimensionen der Strukturunserer Erfahrung, wie sie in phänomenologischer Analyse aufgewiesenwurden, sollte (zur Vorbereitung meiner weiteren Überlegungen) vor allemdie Besonderheit gerade der phänomenanalytischen Herangehensweise anunsere Erfahrung deutlich werden: Die Erfahrung wird hier weder einfach»beschrieben« noch irgendwo »überschritten«, sondern lediglich durchvorübergehendes Absehen von ihrer Inhaltlichkeit auf ihre strukturellenGrundzüge hin befragt, die dann, bei »Wiedereinführung« der inhaltli-chen Fülle und Vielgestaltigkeit der Erfahrung, als deren allgemeineStrukturmomente erkennbar werden sollen. Die aufgewiesene intentionaleStruktur der Mensch-Welt-Beziehung wird so als universelles Konstituensmenschlicher Erfahrung, unabhängig von verschiedenen Inhalten, damitauch unabhängig von gesellschaftlichen oder »kulturellen« Unterschiedenaufgefaßt: Auch die spezifische Art etwa von Sozialbeziehungen der Men-schen in Vietnam ist (wie verschieden von den unseren sie im übrigen im-mer sein mögen) gleichwohl charakterisiert als reziprokes Verhältnis zwi-schen »Intentionalitätszentren«, innerhalb dessen jeder den anderen alsihn wahrnehmend wahrnimmt etc. Man diskutiert und streitet unter Phä-nomenologen natürlich darüber, welche Dimensionen unserer Erfahrungals deren Grundstruktur zukommen, wie man sie am präzisesten sprach-lich zu umschreiben hat u.ä.; das Aufgeben des Anspruchs, daß diese

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Struktur, wie immer man sie näher bestimmen muß, eine für Menschenuniverselle Weise der Welt- und Selbstbeziehung charakterisiert, wäre abergleichbedeutend mit dem Aufgeben der Eigenständigkeit des phänomeno-logischen Ansatzes, die vielfältigen, von unterschiedlichen Lebensbedin-gungen und historischen Umständen abhängigen Erfahrungen durchRückgriff auf deren phänomenale Grundstruktur als Spielarten menschli-cher Erfahrung in ihren Unterschieden faßbar, damit vergleichbar zu ma-chen.

Ein zentrales methodologisches Problem phänomenologischer Analy-sen ist sicherlich, wieweit es sich in den phänomenanalytischen Struktur-bestimmungen lediglich um beliebige Definitionen oder Konventionenhandelt, die genausogut auch anders lauten könnten, und wieweit bzw.auf welche Weise man solche Bestimmungen, obwohl sie nicht den übli-chen Kriterien empirischer Forschung unterworfen werden können, wis-senschaftlich verbindlich machen kann. Die vielfältigen und widersprüch-lichen Erörterungen dieser Frage innerhalb der Phänomenologie sind fürmich nicht leicht durchschaubar; ich habe mir aber bezüglich der phäno-menologischen Psychologie darüber folgende Hilfskonstruktion zurecht-gelegt: Die phänomenologisch-psychologischen Aussagen sind zwar, daResultat analytischer Anstrengungen, keineswegs »naheliegend« oder tri-vial, müssen aber, wenn einmal gewonnen, sofern damit tatsächlich struk-turelle Grundzüge unserer aller Erfahrung getroffen sind, im Nachvollzugihres analytischen Zustandekommens konsensfähig sein. Anders gewen-det: Sofern jemand leugnet, bestimmte phänomenologisch-psychologischeStrukturbestimmungen als Grundzüge seiner eigenen Erfahrung wiederzu-finden, so mußt er damit (wenn diese Bestimmungen triftig sind) sich ein-deutig und für alle einsehbar von der gemeinsamen Erfahrungsgrundlage,durch welche intersubjektive Verständigungsprozesse (alltäglicher wie wis-senschaftlicher Art) zwischen uns als Menschen überhaupt möglich sind,entfernen, sich also zu diesem Thema selbst aus solchen Verständigungs-prozessen ausschließen.Nehmen wir etwa an, jemand sage zu mir, »Erfahrung« sei keineswegs an jeweilsmich als erfahrendes Subjekt gebunden (dies sei vielmehr ein subjektivistischesVorurteil), tatsächlich sei sein Zahnschmerz keineswegs nur der seine, sonderngleichzeitig der Zahnschmerz jedes beliebigen anderen; ebenso erfahre er dasHaus dort keinesfalls nur von seinem Standort aus in der dadurch gegebenen Per-spektive (dies sei vielmehr eine agnostizistische Verirrung), sondern er erfahre dasobjektive Haus, so wie es außerhalb von ihm selbst sei und wie es deshalb jederandere genau so auch erfahren müsse: Ich könnte einem solchen fiktiven Spre-cher zwar sagen, er vermenge die phänomenologische mit der erkenntnistheoreti-schen Ebene und rede deshalb Unsinniges, könnte ihn aber, wenn er trotz dieserEinrede auf seinen Erfahrungen beharrt, nicht eigentlich widerlegen. Allerdingsgehörte er dann, da er elementare Voraussetzungen dafür nicht erfüllt, nicht zumKreise derjenigen, mit denen man über Belange menschlicher Subjektivität sinn-

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voll reden kann. Mögliche Gesprächspartner für ihn wären Individuen, die eben-falls in einer Welt subjektloser Erfahrung leben (womit ein solcher Gesprächs-kreis allerdings irdischen Verhältnissen entrückt wäre).

Auf dem Wege zur Klärung des Verhältnisses zwischen Kritischer undphänomenologischer Psychologie ist nun – nach Skizzierung der phäno-menologischen Strukturanalyse unmittelbarer Erfahrung – die Besonder-heit der historischen Kategorialanalyse, wie sie innerhalb der KritischenPsychologie entwickelt wurde, in wesentlichen Zügen zu kennzeichnen.lm nächsten, dritten Teil des vorliegenden Beitrages werden dabei zu-nächst nur die Schritte und Aspekte des kategorialanalytischen Vorgehensdargelegt, die in allen kritisch-psychologischen Arbeiten prinzipiell in glei-cher Weise charakterisiert werden. Deswegen kann ich in diesem Zusam-menhang jeweils auf die Abschnitte in der »Grundlegung der Psycholo-gie« (GdP) verweisen, innerhalb derer frühere Positionen – im wesentli-chen aus »Sinnliche Erkenntnis« (SE), den beiden Motivationsbüchernvon Ute H.-Osterkarnp, 1975 und 1976 (MI und MII) und Volker Schu-rigs drei Büchern zur naturgeschichtlichen Entwicklung des Psychischenbzw. der Entstehung des Bewußtseins, 1975a, b, c und 1976 – im neuenBegründungskontext zusammenfassend dargestellt werden. DiejenigenSchritte/Aspekte der Kategorialanalyse, hinsichtlich derer ich in GdP ingrundsätzlichen Positionen über die früheren Arbeiten hinausgehen muß-te, werden dann vom 4. Teil des Artikels an schrittweise in die Diskussioneinbezogen.

3. Ansatz und Begrifflichkeit der genetisch-rekonstruktiven Kategorialanalyse innerhalb der Kritischen Psychologie

Das Erfordernis kritisch-psychologischer Kategorialanalyse begründet sichaus der Notwendigkeit einer fundamentalen Kritik/Revision der vorfindli-chen psychologischen Grundbegrifflichkeit. – An den psychologischenTheorien (ob nun wissenschaftlich oder »alltäglich«) wird deren implizitesVorverständnis über die Eigenart des zu erforschenden Gegenstandes alskategorialer Gegenstandsbezug expliziert, der in der empirischen For-schung (traditioneller Prägung) nicht zur Disposition steht, sondern vondem im Gegenteil abhängt, welche Aspekte des Gegenstandes jeweilsüberhaupt identifiziert und der Forschung zugänglich gemacht werden. Inden Kategorialbestimmungen gegebener psychologischer Theorien ist –so wird angenommen – aufgrund mangelnder theoretisch-methodologi-scher Reflexion das ideologisch geprägte Alltagsverständnis dergestaltblind reproduziert und »verdoppelt«, daß sich daraus eine durchgängige– durch kein nachgeordnetes Forschungsverfahren bzw. -resultat heilba-re – Verkürzung und Zerstückelung des in den Grundbegriffen abgebil-deten psychologischen Gegenstandes ergibt. Diese Annahme ist nur soweit

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begründbar, wie sich in wissenschaftlich fundierter Weise kategoriale Be-stimmungen gewinnen lassen, die den psychologischen Gegenstand ver-gleichsweise unverkürzt und im Zusammenhang abbilden, weil erst vonda aus die traditionell-psychologischen Kategorialbestimmungen als dem-gegenüber verkürzend und zerstückelnd auf den Gegenstand bezogen aus-gewiesen werden können – womit die allgemeinste Zielsetzung des kate-gorialen Verfahrens umschrieben ist. Die so gefaßte Kategorialanalyse istzu verstehen als ein (in den Prinzipien materialistischer Geschichtsdialek-tik gegründetes) empirisches Analyseverfahren an historischem Material(und als solches in seinen Resultaten unabgeschlossen und methodisch be-gründet dem Scheitern an der Empirie auszusetzen). Die Kategorialanaly-se steht, da auf die Kritik/Revision psychologischer Grundbegrifflichkeitbezogen, in ihrem Versuch der historisch-empirischen Gewinnung katego-rialer Bestimmungen des psychologischen Gegenstandes nicht mit den em-pirisch-psychologischen Verfahren im üblichen Sinne (die wir zur Abhe-bung von der historisch-empirischen Kategorialanalyse »aktualempirisch«nennen) in Konkurrenz, sondern stößt in einen bisher weitgehend »wis-senschaftsfreien« Raum vor. Aufgrund notwendiger methodologischerImplikationen psychologischer Kategorienbildung ergeben sich allerdingsda aus deren Kritik/Revision auch Konsequenzen für eine gegenstandsad-äquate Methodik der aktualempirischen Forschung etc. (zu diesem Ab-schnitt vgl. GdP, Kap. 1.2, 1.3 und 9).

Das kategorialanalytische Verfahren ist zwar, wie die phänomenologi-sche Strukturanalyse2 eine Herangehensweise »oberhalb« der Theorien-bildung und -prüfung, indem hier erst einmal die begrifflichen Vorausset-zungen zur adäquaten Erfassung des Gegenstandes, um den es in denTheorien gehen soll, zu schaffen sind. Phänomen- wie Kategorialanalysekönnen also in ihrer forschungsstrategischen Funktion nur dann richtigverstanden werden, wenn man eingesehen hat, daß die in psychologischenTheorien enthaltenen Grundbegriffe hinsichtlich ihres Gegenstandsbezu-ges nicht auf die übliche Weise empirisch geprüft werden können, sonderndaß es vielmehr umgekehrt von diesem Gegenstandsbezug abhängt, wasman in der empirischen Forschung überhaupt vom psychologischen Ge-genstand zu Gesicht bekommt, und wenn man so die methodologische Ei-genständigkeit der Kategorial- bzw. Phänomenanalyse gegenüber den spe-zielleren Theorienbildungs- und -prüfungsverfahren anerkennt. Dabeisetzt in gewissem Sinne auch das phänomenanalytische Verfahren wie dieKategorialanalyse an unmittelbar Gegebenem, nämlich den (alltagspsy-chologischen bzw. wissenschaftlich-psychologischen) »Vorbegriffen« an,da ja beide Herangehensweisen auf die Klärung der Voraussetzungen ge-richtet sind, unter denen psychologische Forschung/Praxis erst sinnvollmöglich ist. Dennoch unterscheidet sich die Kategorialanalyse von derPhänomenanalyse prinzipiell durch eine methodisch anders gerichtete Er-

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kenntnishaltung: Hier wird (zunächst) nicht versucht, das unmittelbar Ge-gebene auf die darin liegende intentionale Struktur etc. hin zu analysieren,vielmehr wird die in den Vorbegriffen vollzogene Intention auf den Er-kenntnisgegenstand übersprungen und gleich das darin Intendierte, derpsychologische Erkenntnisgegenstand selbst, angesprochen. Darin erweistsich die Kategorialanalyse als ein durch Absehen von der Struktur der un-mittelbaren Erfahrung »realwissenschaftlich« konstituierter Ansatz, derinsoweit mit der phänomenologischen Analyse nicht auf gleicher Ebene inBeziehung gesetzt werden kann. Da nun wissenschaftliche Gegenstände janicht unabhängig von dem auf sie bezogenen intentionalen Akt »als sol-che« vorliegen, sondern gegenüber ihren standpunkt-/perspektivenabhän-gigen Ansichten und Hinsichten etc. als diese überschreitend in ihrer»wirklichen« Eigenart gedanklich nachkonstruiert/modelliert werdenmüssen, ist die Kategorialanalyse als historisch-rekonstruktiver Ansatz zuspezifizieren.

Wenn das historisch-rekonstruktive Herangehen an den psychologi-schen Gegenstand einen Sinn machen soll, so muß sich daran überhauptetwas historisch rekonstruieren lassen. In der Tat gehen wir davon aus,daß sich in der Kategorialanalyse am Gegenstand der Psychologie eine hi-storische Dimension eröffnet, die nicht lediglich die phänomenanalytischaufgewiesene Geschichtlichkeit unserer individuellen und sozialen Erfah-rung, sondern weit darüber hinausgehend naturgeschichtliche und gesell-schaftlich-historische Prozesse umgreift. Das »Erleben und Verhalten«,»Bewußtsein« etc., wie es in traditionellem Verständnis allein den Gegen-stand der Psychologie ausmacht und wie es phänomenologisch auf seineGrundstruktur als menschliche Erfahrung hin analysiert wird, ist so gese-hen nur der (vorläufige) »Endzustand«, in welchem sehr viel »ältere« undallgemeinere Bestimmungen des Lebensprozesses die besondere Erschei-nungsweise des »Bewußtseins« haben. Das »Psychische« (wie wir den ge-suchten Gegenstand der Psychologie global nennen wollen) geht also, wiewir annehmen, in seinen unserer unmittelbaren Erfahrung zugänglichenbzw. an dieser heraushebbaren Kennzeichen nicht auf: sondern hat objek-tive Charakteristika als besondere Ausprägungsform des naturgeschicht-lich-geschichtlichen Prozesses, die sich erst unter spezifischen, historisch»späten« Bedingungen als »Bewußtsein«, subjektive »Erfahrung« o.ä.qualifizieren.

Sofern diese Sichtweise adäquat ist, läßt sich allein im Blick auf dasPsychische in seinem »Endzustand« als Bewußtsein, »Verhalten«, »Erfah-rung« etc. die der traditionell-psychologischen Begrifflichkeit unterstellteReduziertheit, Verkürztheit, Zusammenhangsblindheit des kategorialenGegenstandsbezuges nicht überwinden: Es ist nämlich am Psychischen inder Weise, wie es uns jetzt gegeben ist, durch keine noch so eindringendephänomenologische Analyse wissenschaftlich begründet ausmachbar,

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welche Züge des Psychischen diesem überhaupt, das heißt in allen seinenEntwicklungsstadien, zukommen, welche Züge spezifischere Ausprägun-gen darstellen und welche nur für die »menschliche« Endausprägung desPsychischen charakteristisch sind. Somit ist in dieser Sichtbeschränkung,da hier nur soziale Tatbestände als Modi unmittelbarer Erfahrung in denBlick kommen, prinzipiell nicht unterscheidbar, welche Aspekte/Dimen-sionen lediglich »natürliche«, »biologische« Bestimmungen, welche allge-meinste gesellschaftliche Bestimmungen und welche historisch-konkreteBestimmungen des Psychischen unter formations-, klassen- und positions-spezifischen Verhältnissen (etwa der bürgerlichen Gesellschaft) sind: »Ge-sellschaftlichkeit« ist, anders als »Sozialität«, kein phänomenologisches,sondern ein »rekonstruktives« Konzept. Da mithin am »Endzustand« desPsychischen weder das Allgemeinere vom Besonderen noch das Spezifi-schere vom Unspezifischeren noch auch das Natürlich-Biologische vomAllgemeingesellschaftlichen und von dessen historischer Konkretion zuunterscheiden ist, kann auf diesem Wege der Zusammenhang verschiede-ner Aspekte und Dimensionen des Psychischen nicht adäquat und diffe-renziert begrifflich abgebildet und nicht mit wissenschaftlich fundiertenArgumenten gegen die unterstellten Verkürzungen und Zerstückelungentraditionell-psychologischen Gegenstandsverständnisses zur Geltung ge-bracht werden. Mithin sind so die durch den verkürzenden und isolieren-den Kategorialbezug beschränkten Züge des Psychischen nicht als Sonder-fall psychischer Prozesse unter historisch bestimmten, einschränkend-wi-dersprüchlichen Lebensbedingungen faßbar und kann dementsprechendauch die Begriffsbildung der traditionellen Psychologie nicht als ideolo-gisch geprägte »allgemein-menschliche« Universalisierung derartig einge-schränkter Formen des Psychischen begriffen werden. – In dieser an undaus den Erscheinungen selbst nicht aufklärbaren »Vermischtheit« und da-mit Ununterscheidbarkeit wesentlicher Bestimmungen des Psychischenbegründet sich für uns die methodologische Notwendigkeit, die unmittel-bare Erfahrung und deren phänomenologische Aufklärung in Richtungauf die historisch-rekonstruktive Kategorialanalyse des Psychischen zuüberschreiten.

Das kategorialanalytische Verfahren, soweit – als »funktional-historischeAnalyse« – auf die durch biologische Evolutionsprozesse phylogenetischgewordenen objektiven Charakteristika des Psychischen bezogen, ist me-thodologisch zu kennzeichnen als historische Ursprungs- und Differenzie-rungsanalyse, durch welche die vorgefundenen begrifflichen Verhältnissein ihrem Gegenstandsbezug auf das Psychische durch Herausarbeitungder genetischen Verhältnisse verschiedener Bestimmungen des Gegenstan-des kritisierbar/revidierbar werden sollen. Die angestrebte adäquate kate-goriale Abbildung der wesentlichen Züge des Psychischen in ihrem Zu-

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sammenhang ist hier also definiert als in der funktional-historischen Ana-lyse herzustellende Isomorphie zwischen den begrifflichen und den geneti-schen Verhältnissen des Gegenstandes (in roher Analogie zur Erstellungdes Linneschen Systems der Tiere und Pflanzen, in dem frühere, nurmerkmalsbezogene Taxonomien durch eine Klassifikation gemäß geneti-schen Verwandtschaftsverhältnissen kritisiert/revidiert worden sind).

Zur Entwicklung eines solchen genetisch fundierten Systems psycholo-gischer Kategorialbestimmungen wurde zunächst an den vorgefundenen»vermischten« und unaufgeklärten Begriffsverhältnissen diejenige Be-stimmung herausgehoben, durch welche in der empirischen Analyse desphylogenetischen Prozesses eine neue Qualität von Lebensvorgängen auf-gewiesen werden konnte, die einerseits sämtlichen entwickelten »psychi-schen« Erscheinungen (bis hin zur »bewußten« Endform) als allgemein-stes Charakteristikum zukommt und durch die andererseits das »psychi-sche« Stadium der Lebensprozesse eindeutig von den phylogenetisch älte-ren »vorpsychischen« Lebensprozessen abhebbar ist, indem nach Maßga-be des systemerhaltenden Effektes im Evolutionsprozeß ein entwick-lungslogisch unumkehrbares Verhältnis zwischen vorpsychischem undpsychischem Stadium der Phylogenese besteht. Auf diesem Wege wurdemit der Herausarbeitung der »genetischen Grundform« des Psychischengleichzeitig dessen allgemeinste kategoriale Grundbestimmung aus denvermischten vorbegrifflichen Bestimmungen heraushebbar, also in diesemPunkt die begrifflich-genetische Isomorphie hergestellt (vgl. GdP, Kap.2).3

Die Kritik/Revision der weiteren begrifflichen Differenzierung des Psy-chischen in verschiedene seiner Bestimmungen erfolgte sodann, indem diegenetischen Differenzierungen des Psychischen im phylogenetischen Pro-zeß (an ethologischem Material) empirisch rekonstruiert und die darauf zubeziehende Begrifflichkeit so gestaltet wurde, daß gemeinsame Vorformenjeweils mit einem allgemeineren Oberbegriff und genetische Ausdifferen-zierungen aus den Vorformen mit gleichgeordneten begrifflichen Diffe-renzierungen gekennzeichnet und auf diese Weise eine Isomorphie zwi-schen dem »genealogischen Baum« des psychophylogenetischen Differen-zierungsprozesses und den darauf bezogenen begrifflichen Über- undUnterordnungen der Kategorialbestimmungen hergestellt wurde: So solltedie (auf bloß »definitorischer« Ebene unverbindliche) Frage, welche psy-chischen Bestimmungen gegenüber anderen die allgemeineren bzw. spe-zielleren seien, durch Transformierbarkeit in die Frage, welche psychi-schen Aspekte/Dimensionen aus welchen hervorgegangen seien, wissen-schaftlich klärbar gemacht werden. Auf diesem Wege kam es zu begriff-lich-genetischen Differenzierungen der Grundform/Grundkategorie desPsychischen unter den generellen Gesichtspunkten »Orientierung, Bedeu-tungsstrukturen«,- »Emotionalität, Bedarfsstrukturen« und »Kommuni-

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kation, Sozialstrukturen«: Damit sollten in diesem Bereich auf der einenSeite die biologisch relevanten Bestimmungen der jeweiligen psychischenDimensionen/Aspekte aus der Analyse ihres »systemerhaltenden« Effektesim Evolutionsprozeß (aufgrund der mikroevolutionären MechanismenMutation, Selektion etc.) gewinnbar und so auf der anderen Seite derübergreifende kategoriale Zusammenhang zwischen den verschiedenenpsychischen Momenten als genetischer Zusammenhang verbindlich ge-macht werden (vgl. GdP, Kap. 3).

Eine Frage, die mit den bisher genannten Gesichtspunkten der geneti-schen Ursprungs- und Differenzierungsanalyse nicht hinreichend geklärtwerden kann, ist das Problem der Begründbarkeit von Kategorialbestim-mungen, in denen nicht nur psychische Aspekte/Dimensionen verschiede-nen Allgemeinheitsgrades, sondern unterschiedliche qualitative Ausprä-gungen des Psychischen angesprochen sind: Aus der »Logik« der funktio-nal-historisch herzustellenden Isomorphie zwischen begrifflichen und ge-netischen Verhältnissen ergibt sich, daß in diesem Verfahrenskontext neueQualitäten des Psychischen nur hinsichtlich solcher Charakteristika kate-gorial herausgehoben werden dürfen, die als bestimmende Dimensionenvon qualitativen Sprüngen im evolutionären Prozeß der Psychophyloge-nese empirisch aufweisbar sind: Es muß jeweils zu zeigen sein, daß undauf welche Weise angesichts geänderter äußerer oder innerer Entwick-lungsbedingungen das Systemgleichgewicht zwischen Organismen und ih-rer Umwelt nur durch eine qualitative Umstrukturierung des psychischenGesamtsystems mit dem zur Frage stehenden Merkmal als bestimmenderEntwicklungsdimension erhalten werden konnte. Damit eröffnete sich unshier die Problematik, wie Annahmen über »qualitative Sprünge« im Pro-zeß der Psychophylogenese im Rahmen der als »Stand der Forschung« zuakzeptierenden Annahmen über Evolutionsmechanismen und -gesetzewissenschaftlich begründet werden können.

Wir begegneten dieser Problematik zum ersten Mal anläßlich des ge-schilderten Versuchs, die allgemeinste kategoriale Bestimmung des Psychi-schen als die Dimension herauszuheben, auf welcher der Prozeß der Psy-chophylogenese gegenüber dem »vorpsychischen« Lebensprozeß eineneue Qualität gewinnt. Dabei unterscheiden wir, um das allgemeine dia-lektische Prinzip des Umschlags von Quantität in Qualität für unseren Ge-genstandsbereich operationalisierbar zu machen, mehrere Stufen, die aneinem solchen »Umschlag« empirisch auszumachen sind, insbesondereden »Funktionswechsel« als »ersten qualitativen Sprung« und den »Do-minanzwechsel« als »zweiten qualitativen Sprung«. Die qualitativ neueDimension tritt, so wird hier angenommen, zunächst dadurch in Erschei-nung, daß eine bisher relativ unspezifische Lebensfunktion, indem sie inden Zusammenhang des »alten« Systems einbezogen ist, einen höherenevolutionären »Anpassungseffekt« gewinnt und durch diesen »Funktions-

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wechsel« als »erstem qualitativen Sprung« zunächst die Kapazität diesesSystems erhöht: Indem sich nun aber, eben durch ihren Anpassungsef-fekt, die zunächst untergeordnete neue Funktion durch die Evolutionsme-chanismen/-gesetze immer mehr verstärkt, wird sie schließlich gegenüberder im »alten« System bestimmenden Lebensfunktion dominant, womitsich in diesem »Dominanzwechsel« der »zweite qualitative Sprung« voll-zieht, durch welchen von der nun bestimmenden neuen Funktion/Di-mension her das Gesamtsystem eine neue Qualität gewinnt und eine ande-re Entwicklungsrichtung nimmt, so die bisher bestimmenden Funktionenzurücktreten bzw. »überflüssig« werden etc. (vgl. GdP, Kap. 2.4 und 2.5).

Mit dem so gewonnenen methodischen Rüstzeug der funktional-histori-schen Analyse von »qualitativen Sprüngen« im Evolutionsprozeß rekon-struierten wir nun die weitere Entwicklung des Psychischen über die ge-nannten ersten Differenzierungen hinaus daraufhin. wieweit – nun inner-halb der Psychophylogenese – (nach den Gesichtspunkten »Funktions-wechsel« und »Dominanzwechsel«) weitere qualitative Spezifizierungeninnerhalb des von uns zu erarbeitenden Kategoriensystems gerechtfertigtwären. Auf diesem Wege kamen wir zur Heraushebung einer neuen quali-tativen Entwicklungsstufe des Psychischen als artspezifisch geprägte indi-viduelle Lern- und Entwicklungsfähigkeit: Es sollte gezeigt werden, daßauf dieser Stufe die vorher ausdifferenzierten psychischen Funktions-aspekte/-dimensionen (wie sie unter den Globalgesichtspunkten »Orien-tierung, Bedeutungsstrukturen« .»Emotionalität, Bedarfsstrukturen« und»Kommunikation. Sozialstrukturen« herausgehoben worden sind) einer-seits erhalten bleiben, aber andererseits im Zusammenhang der neuen Stu-fe der Psychophylogenese eine neue funktionale Qualität als individuellgelernte bzw. entwickelte »Orientierung«, »Emotionalität«, »Kommuni-kation« gewinnen. Auf der Stufe der »Dominanz« der individuellen Lern-fähigkeit ergaben sich dabei aufgrund der neuen phylogenetischen Ent-wicklungsrichtung weitere genetische Differenzierungen (etwa »Motiva-tion« als gelernte Wertungsantizipation. »Spielverhalten«. »Traditionsbil-dungen« als soziales Beobachtungslernen. »Sozialisation/Soziabilität«etc.), die als zusätzliche kategoriale Differenzierungen festgehalten wur-den etc. (vgl. GdP, Kap. 4).

Bei der weiteren funktional-historischen Rekonstruktion der Psychophy-logenese näherten wir uns sodann einem neuerlichen qualitativen Um-schlag des Gesamtsystems von herausragender forschungsstrategischer Be-deutung: dem Umschlag von der »vormenschlichen« zur »menschlichen«Stufe/Qualität des Psychischen: Während die bisherigen Differenzierun-gen/Qualifizierungen des Psychischen (unserer Konzeption nach) zwar inihren allgemeinen Bestimmungen auch dem Menschen (als »biologische«Funktionsgrundlage) zukommen, aber nicht für den Menschen spezifisch

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sind, galt es mithin, jetzt funktional-historisch herauszuarbeiten, welcheneuerlichen qualitativen Veränderungen die aufgewiesenen psychischenDimensionen als Aspekte individueller Lern- und Entwicklungsfähigkeitgewinnen, wenn sie in die menschlich-gesellschaftliche Stufe der Lebenstä-tigkeit einbezogen sind – womit gleichzeitig die kategoriale Qualifizie-rung und Identifizierung der spezifisch menschlich-gesellschaftlichen Zügedes Psychischen gegenüber dessen mehr oder weniger unspezifischen Zü-gen empirisch begründet möglich werden muß.

Wenn es um die begrifflich-genetische Herausarbeitung der »menschli-chen« Spezifik des Psychischen geht, sieht sich die funktional-historischeAnalyse dadurch vor einer neuen Problemsituation, daß die Menschwer-dung nicht lediglich ein Prozeß innerhalb der Phylogenese ist, sondern imZuge dieser Entwicklung der phylogenetische, evolutionsgesetzlich be-stimmte Entwicklungstyp von einem anderen, dem gesellschaftlich-histori-schen Entwicklungstyp mit eigenen Entwicklungsgesetzlichkeiten überla-gert wird. – Demnach müssen hier zunächst auf einer allgemeineren Ana-lyseebene oberhalb der Ebene psychischer Entwicklung die wesentlichenDimensionen des qualitativen Umschlags von der Dominanz des phyloge-netischen zur Dominanz des gesellschaftlich-historischen Entwicklungs-typs herausgearbeitet werden: »Funktionswechsel« vom individuellenMittelgebrauch der »vormenschlichen« Hominiden zur verallgemeinertensozialen Werkzeugherstellung/-nutzung, damit Qualifizierung der sozialenKommunikation zur über »Arbeitsmittel« auf gegenständliche Realitäts-veränderung bezogenen »Kooperation«, so allmähliche Durchsetzung undschließlich Dominanz der neuen gesellschaftlichen Lebensgewinnungs-form, in welcher nicht mehr lediglich vorhandene »natürliche« Ressour-cen individuell oder sozial genutzt, sondern menschliche Lebensbedingun-gen in gemeinschaftlicher, bewußt-vorsorgender Planung gesellschaftlichproduziert werden. So erhalt auch der einzelne sein Leben immer wenigerin direkter Konfrontation mit natürlichen Umständen und immer ausge-prägter in Teilhabe an der gesellschaftlichen Produktion, womit die indivi-duelle Reproduktion des Lebens über die gesellschaftliche Reproduktionvermittelt und so durch die historisch-bestimmten Verhältnisse, in denendies geschieht, charakterisiert ist, etc. (vgl. dazu GdP, Kap. 5.1-5.3).

Erst nach der historischen Rekonstruktion des Übergangs von der Do-minanz des phylogenetischen zur Dominanz des gesellschaftlich-histori-schen Prozesses im Ganzen kann zur »psychischen« Analyseebene zu-rückgekehrt werden, indem die Frage geklärt wird, welche weiteren Quali-fizierungen und Differenzierungen an den bisher herausgearbeiteten psy-chischen Aspekten/Dimensionen individueller Lern- und Entwicklungsfä-higkeit genetisch-begrifflich vorgenommen werden müssen, wenn »Ler-nen« und »Entwicklung« sich nicht mehr in der »natürlichen« Umwelt,sondern in der von Menschen produzierten/reproduzierten gesellschaftli-

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chen Lebenswelt vollziehen. Dies Problem ist insoweit im bisher darge-stellten Sinne »funktional-historisch« zu bearbeiten, wie im Übergang vonden Frühformen kooperativer Mittelherstellung/-benutzung bis zur Do-minanz der neuen gesellschaftlichen Lebensgewinnungsform noch die Do-minanz der evolutionsgesetzlichen Entwicklung vorausgesetzt werdenmuß: Demnach kann man davon ausgehen, daß der spezifische »syste-merhaltende« Effekt der ersten Ansätze kooperativ-vergegenständlichen-der Lebenssicherung, also die dadurch bedingten »Selektionsvorteile«, indieser Übergangsphase noch zur Veränderung der genomischen Informa-tion in Richtung auf »natürliche« Potenzen etc. des Menschen zur Beteili-gung am gesellschaftlichen Produktions-/Reproduktionsprozeß geführthaben. Somit konnten wir, nunmehr in Durcharbeitung anthropologi-schen und paläontologischen Materials, zu begründeten Annahmen dar-über kommen, wie die bisher rekonstruierten Aspekte/Dimensionen desPsychischen weiter genetisch-begrifflich zu qualifizieren/differenzierensind, wenn sie sich als Charakteristika der (so bestimmten) »gesellschaftli-chen Natur« des Menschen evolutionär entwickeln: Es war also im einzel-nen zu klären, wie die bisher herausgearbeitete psychische Funktions-grundlage der Orientierung, Emotionalität, Kommunikation (in ihrer Mo-difizierbarkeit durch individuelles Lernen) näher zu charakterisieren ist,wenn begreiflich werden soll, wie der Mensch seine Existenz in Teilhabeam gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß erhalten und entwickeln kann– mithin die individuelle Lern- und Entwicklungsfähigkeit in ihren ver-schiedenen psychischen Momenten nicht mehr als Entwicklung in eine»natürliche« Umwelt hinein, sondern als »individuelle Vergesellschaf-tung« wissenschaftlich faßbar gemacht werden muß. Die in solchen Ana-lysen gegründeten weiteren kategorialen Qualifizierungen/Differenzierun-gen (die hier nicht inhaltlich auseinandergelegt werden können) wurdendabei stets in ihrer Eigenart und Stoßrichtung verdeutlicht durch eine Kri-tik an den jeweils entsprechenden kategorialen Grundlagen der herkömm-lichen Psychologie, indem aufgewiesen wurde, in welchen Aspekten dabeidurch die Reduzierung der gesellschaftlichen Lebensgewinnung auf indivi-duelle Daseinsbewältigung in einer natürlich-sozialen Umwelt die mensch-liche Spezifik des Psychischen verfehlt werden mußte, etc. (vgl. dazuGdP, Kap. 6.2 und 7.2).

Die aus den damit skizzierten Analysen sich ergebende Grundvorausset-zung, daß die »menschliche« Spezifik des Psychischen nur durch die kate-goriale Aufschlüsselung des Zusammenhangs zwischen gesellschaftlicherund individueller Reproduktion des Lebens erfaßt werden kann, ist (wiealle bisher dargestellten kritisch-psychologischen Positionen) Allgemein-gut der Kritischen Psychologie. Allein: Ist die kategoriale Aufschlüsselungdieses Zusammenhangs mit der funktional-historischen Rekonstruktion

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der Qualifizierung/Differenzierung der »gesellschaftlichen Natur« desMenschen bereits hinreichend geleistet? Sind wir also mit solchen katego-rialen Spezifizierungen bereits bei den allgemeinen Bestimmungen jenespsychischen »Endzustandes« des Bewußtseins bzw. der subjektiven Er-fahrung angelangt, auf den sich (wie auf S. 13 dargelegt) die Begrifflich-keit der phänomenologischen Strukturanalyse bezieht? Oder sind, ehe wirdavon ausgehen können, daß nunmehr die phänomenanalytische und diekritisch-psychologische Begrifflichkeit präzise den gleichen »Gegenstand«anzielen, so daß die bisherigen abgrenzenden Bestimmungen nicht mehrausreichen, sondern das Verhältnis der beiden Begrifflichkeiten zueinan-der kritisch analysiert werden muß, noch weitere kategorialanalytischeSpezifizierungen des Psychischen in seiner menschlichen Besonderheit er-fordert?

Mit dem Aufweis des Problems bin ich nunmehr an dem Punkt ange-langt, wo ich unsere Auffassungen nicht mehr lediglich darstellen kann,sondern bestimmte Schwierigkeiten und Widersprüchlichkeiten innerhalbfrüherer kritisch-psychologischer Arbeiten herausheben muß, die meinesErachtens erst mit dem neuerlichen kategorialanalytischen Durchgang inGdP überwindbar wurden. Dabei wird sich herausstellen, daß gerade mitBezug auf das Verhältnis der kritisch-psychologischen zu den phänomen-analytischen Bestimmungen subjektiver Erfahrung sowohl die früherenSchwierigkeiten wie die Weise ihrer Überwindung erst adäquat auf denBegriff zu bringen sind.

4. Unausgeführtheit der Vermittlungen zwischen gesellschaftlichem Pro-zeß und individueller Subjektivität, damit Vernachlässigung der phä-nomenologischen Analyseebene in früheren kritisch-psychologischen Kategorialbestimmungen.

In allen prinzipiellen Darlegungen über die menschlich-gesellschaftlicheSpezifik des Psychischen innerhalb der Kritischen Psychologie vor der»Grundlegung der Psychologie« (in ihrer letzten, veröffentlichten Fas-sung) wurde davon ausgegangen, daß mit den funktional- historisch her-ausgearbeiteten psychischen Aspekten der gesellschaftlichen Natur desMenschen gleichzeitig auch die allgemeingesellschaftlichen Bestimmungendes Psychischen gewonnen worden seien. Noch in meinem Artikel »Zurkritisch-psychologischen Theorie der Subjektivität« (1979a) heißt es dazu:»Die in funktional-historischer Analyse aufgewiesenen bestimmendenMomente des qualitativen Sprungs von der phylogenetischen zur gesell-schaftlich-historischen Entwicklung der Lebenstätigkeit und des Psychi-schen sind identisch mit den bestimmenden Momenten der 'natürlichen'Möglichkeiten individueller Vergesellschaftung und gleichzeitig die allge-meinsten, allen historisch bestimmten Formen gemeinsamen Dimensio-

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nen, in denen die wesentlichen und bestimmenden spezifisch 'menschli-chen' Charakteristika der Individualentwicklung faßbar gemacht werden«(47).

In derartigen Vorstellungen liegt eine von uns zunächst nicht geseheneProblematik, die von mir im Laufe der folgenden Überlegungen immerschärfer herausgehoben werden soll. Der Ansatz für die Entfaltung dieserProblematik liegt in dem Umstand, daß in der genannten Gleichsetzungder phylogenetisch entstandenen psychischen Dimensionen der »gesell-schaftlichen Natur« des Menschen mit den allgemeinsten Dimensionender individuellen Vergesellschaftung die biologischen Entwicklungspo-tenzen zur Vergesellschaftung des Individuums mit dem Prozeß ihrer Rea-lisierung durch »Hineinentwicklung« in konkrete gesellschaftliche Ver-hältnisse weitgehend identifiziert sind. Damit ist nämlich der Sachverhaltvernachlässigt, daß im phylogenetischen Entstehungsprozeß der »gesell-schaftlichen Natur« des Menschen noch die biologische Lebensgewin-nungsform dominant war, so daß die gesellschaftlichen Entwicklungspo-tenzen des Menschen durch den »Selektionsvorteil« der Frühformen ge-sellschaftlicher Arbeit sich herausbilden konnten, während die Realisie-rung dieser Potenzen unter den Bedingungen der Dominanz des gesell-schaftlich-historischen Prozesses, also verselbständigter »gesamtgesell-schaftlicher« Systeme erfolgt, deren allgemeine Bestimmungen stets ab-straktive Kennzeichnungen jener konkret-historischen arbeitsteilig-klas-senbestimmten, in unterschiedliche gesellschaftliche Ebenen und Bereichegegliederte Strukturen darstellen, in denen gesellschaftliche Verhältnisse»für uns« allein vorfindlich sind. Dies würde bedeuten, daß man – soferndie allgemeinen Merkmale gesellschaftlicher Lebensgewinnung (aus denensich deren phylogenetische Entstehung ergeben hat) umstandslos zurKennzeichnung der Dimensionen der Existenzerhaltung und Entwicklungdes einzelnen benutzt werden – die »Abstraktion« hier mit deren Kon-kretisierung kontaminiert, also die mannigfachen strukturbedingten Ver-mittlungen zwischen dem gesamtgesellschaftlichen Prozeß und den kon-kreten gesellschaftlichen Lebensbedingungen, unter denen die Individuenleben und sich entwickeln müssen, in den Kategorialbestimmungen nichthinreichend zu differenzieren vermag.

In der Tat finden sich in den grundsätzlichen kritisch-psychologischenDarlegungen über das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschafthäufig Formulierungen, in welchen durch die Unausgeführtheit der Ver-mittlungen zwischen gesamtgesellschaftlichem und individuellem Lebens-prozeß gesellschaftliche und individuelle Lebensnotwendigkeiten weitge-hend mit den gleichen Begriffen charakterisiert werden; so in der folgen-den Passage: »Dem Umstand, daß die Menschen ihre Lebensbedingungenals in vergegenständlichten Strukturen sich entwickelnde gesellschaftliche

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Verhältnisse produzieren müssen, um ihr Leben auf spezifisch 'menschli-chem' Niveau, d.h. in verallgemeinerter, bewußt kollektiver Vorsorge, er-halten zu können, korrespondiert auf der Seite der konkreten Individuendie Erweiterung der bewußt-vorsorgenden Kontrolle über die eigenen Le-bensbedingungen als zentrale Dimension der Individualentwicklung. Diemenschliche Spezifik der in der gesellschaftlichen Natur des Individuumsliegenden Entwicklungspotenzen läßt sich also hinsichtlich der verschiede-nen Funktionsaspekte stets charakterisieren als gerichtet auf Überwindungder Bedingtheit der Lebenstätigkeit durch jeweils aktuell-zufällige Einflüs-se, als erweiterte bewußte Verfügung über die eigenen Lebensumstände inverallgemeinert-vorsorgender Antizipation zukünftiger Lebensnotwendig-keiten ...« (Holzkamp 1979b, 10).

Solche Darlegungen sind sicherlich insoweit unproblematisch, wie in ih-nen lediglich allgemeine Zusammenhänge zwischen gesellschaftlicher undindividueller Reproduktion angesprochen sind. Die Schwierigkeiten ent-stehen hier aber dadurch, daß die Art der Begriffsbildung den Eindruckerweckt, daß mit den auf die Individuen bezogenen Konzepten schon ka-tegoriale Aufschlüsselungen von deren subjektiver Welt- und Selbstsichtvollzogen worden seien, daß also »bewußt vorsorgende Kontrolle über dieeigenen Lebensbedingungen«, Gerichtetheit auf »Überwindung der Be-dingtheit der Lebenstätigkeit durch jeweils aktuell-zufällige Einflüsse, ...erweiterte bewußte Verfügung über die eigenen Lebensumstande in verall-gemeinert-vorsorgender Antizipation zukünftiger Lebensnotwendigkei-ten« etc. bereits allgemeine Charakterisierungen der unmittelbaren Erfah-rung und Befindlichkeit der sich vergesellschaftenden Individuen, mithinphänomenanalytisch ausgewiesen seien. Wenn dergestalt die Individuendirekt unter »gesamtgesellschaftlichen« Verhältnissen lebend und durchderen Reproduktionsnotwendigkeiten subjektiv bestimmt aufgefaßt wer-den, ist aber die Frage nach den Vermittlungsebenen zwischen globalenNotwendigkeiten individueller Beiträge zur gesellschaftlichen Reproduk-tion und der Situation/Befindlichkeit der real in diesen Reproduktions-prozeß einbezogenen Subjekte bereits mit deren Antwort gleichgesetztund damit als Frage unsichtbar. In der Feststellung, daß – da gesell-schaftliche Reproduktion ja stattfindet – die Gesellschaftsmitglieder imGanzen hinreichende Beiträge dazu leisten, also an der bewußt-vorsorgen-den Kontrolle über die Lebensbedingungen etc. faktisch beteiligt sein müs-sen (was entsprechende psychische Entwicklungsmöglichkeiten ein-schließt), ist nämlich noch nichts darüber gesagt, wie die einzelnen die ge-sellschaftlichen Notwendigkeiten subjektiv erfahren, ja nicht einmal, obsie diese überhaupt als subjektive Handlungsnotwendigkeiten erfahren.Solche Erfahrungen in ihrer vollen »phänomenalen« Eigenständigkeitund Unreduzierbarkeit kategorial aufschließbar zu machen, ohne dabeiden übergreifenden Vermittlungszusammenhang zwischen gesamtgesell-

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schaftlicher und individueller Reproduktion, der hier (wie verkürzt und»verkehrt« auch immer) erfahren wird, aus dem Auge zu verlieren, wäresomit durch die dargestellte kategoriale Unausgeführtheit der Vermittlun-gen zwischen gesamtgesellschaftlichem Prozeß und individueller Subjekti-vität als zentrale Aufgabe subjektwissenschaftlicher Kategorialanalyseeher verdunkelt als erhellt.

Die Implikationen und Konsequenzen der damit umschriebenen Proble-matik lassen sich noch unter einem anderen Gesichtspunkt verdeutlichen,wenn man betrachtet, wie von uns das Bewußtsein als Spezifikummenschlicher Gesellschaftlichkeit naher bestimmt worden ist: Ute H.-Osterkamp charakterisiert etwa – in »Grundlagen der psychologischenMotivationsforschung I« – »Bewußtsein« als bewußtes »Verhalten« desMenschen zur Natur und zu anderen Menschen: die Naturgesetze und diesozialen Gesetze wirken auf menschlich-gesellschaftlichem Niveau nichtmehr »durch den Organismus hindurch«, sie liegen vielmehr »vor den Au-gen« des Menschen, und er kann sich dazu bewußt »ins Verhältnis« setzen(1975, 252). Mit dieser Bestimmung des Bewußtseins-Konzeptes beziehtsich Ute H.-Osterkamp auf Marx' berühmte Formulierungen in der»Deutschen Ideologie«: »Wo ein Verhältnis existiert, da existiert es fürmich, das Tier 'verhält' sich zu nichts und überhaupt nicht.« »Mein Ver-hältnis zu meiner Umgebung ist mein Bewußtsein« (MEW 3, 30). – Wei-terhin wird von Ute H.-Osterkamp die im bewußten »Sich-Verhalten« derMenschen liegende Freiheit hervorgehoben und diese Freiheit sodann alsbewußte Bestimmtheit des Menschen durch gesellschaftliche Notwendig-keiten gefaßt: »Der Mensch hat, indem er durch die bewußte Realitäts-kontrolle den Naturgesetzen nicht mehr blind ausgeliefert ist, sondern sieauf dem Weg der Erkenntnis seinen Zwecken dienstbar machen kann, ei-ne neue Qualität der Freiheit gegenüber der äußeren und seiner eigenenNatur gewonnen; diese Freiheit steht jedoch in keinem Ausschließungs-verhältnis zur Notwendigkeit, ..., sondern beruht vielmehr auf Einsicht indie Notwendigkeit«: »Der Mensch kann nicht nur, er muß die Gesetze derNatur, sofern auf einer bestimmten gesellschaftlichen Stufe relevant, er-kennen und richtig anwenden, wenn er sein gesellschaftliches Leben erhal-ten soll« (MI, 254) – dies unter Bezug auf eine nicht weniger berühmtePassage von Engels, aus der »Dialektik der Natur« (MEW 20, 106).

Die hier vollzogenen beiden Bestimmungen des Bewußtseins als bewuß-tes »Verhalten-Zu« und der damit verbundenen »Freiheit« als »Einsicht indie Notwendigkeit« sind m.E. prinzipiell gesehen wesentliche und unver-zichtbare Aspekte eines adäquaten marxistischen Verständnisses der Spe-zifik menschlichen Bewußtsein. Dennoch kann man auch an diesen Darle-gungen (und den daraufbegründeten differenzierteren Bestimmungen der»bewußten« Qualität des Psychischen) im Kontext kritisch-psychologi-

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scher Kategorialbestimmungen problematische Konsequenzen der geschil-derten kategorialen Unausgeführtheit der Vermittlungen zwischen gesamt-gesellschaftlichem Prozeß und individueller Subjektivität explizieren:nämlich Unklarheiten darüber, wieweit mit den genannten Charakterisie-rungen lediglich allgemeine Merkmale des »Bewußtseins« als Spezifik in-dividueller Teilhabe am gesellschaftlicher Reproduktion im Ganzen ange-sprochen sind oder bereits kategoriale Aufschlüsselungen des Bewußtseinsals Bestimmungsmoment subjektiver Erfahrungen in konkreter gesell-schaftlicher Lebenslage geleistet sein sollen, und wieweit die beiden ge-nannten Bestimmungen in dieser Hinsicht vergleichbar sind, das heißt aufgleichen kategorialen Vermittlungsebenen angesiedelt werden dürfen.

Die erste Bestimmung des Bewußtseins als bewußtes »Verhalten-Zu«ist, wie mir scheinen will – obwohl von Marx übernommen –, tatsäch-lich eine phänomenanalytische Strukturbestimmung des Bewußtseins, diedem entspricht, was etwa von Graumann als intentionales »Verhältnis«zur Welt und den Menschen umschrieben worden ist (vgl. 7ff.). DieserUmstand, daß Marx hier phänomenologische Analysen »vorweggenom-men« hat verdeutlicht sich noch, wenn man seine folgende erläuterndePassage, in welcher quasi im Ansatz an der »Lebensweltlichkeit« der »in-tentionale« Charakter des bewußten »Verhaltens« aufgewiesen wurde,hinzunimmt: »Das Bewußtsein ist natürlich zuerst bloß Bewußtsein überdie nächste sinnliche Umgebung und Bewußtsein des bornierten Zusam-menhangs mit anderen Personen und Dingen außerhalb der sich bewußtwerdenden Individuen« (MEW 3, 31). – Kann man aber nun »Einsicht indie Notwendigkeit« in gleicher Weise als phänomenales Strukturmerkmaldes Bewußtseins, das mithin als allgemeinstes Charakteristikum jedem Be-wußtseinsprozeß, wie er auch sonst beschaffen sein mag, zukommt, auf-fassen? Diese Frage so zu stellen, heißt eigentlich schon, sie zu verneinen.Bewußtes »Verhalten-Zu« als spezifisch menschlicher Modus des In-der-Welt-Seins bedeutet keineswegs zwingend, daß damit auch schon die indi-viduellen Subjekte Einsicht in gesamtgesellschaftliche Notwendigkeitenhaben müssen. Das bewußte »Verhalten« (mit den darin liegenden Alter-nativen) kann vielmehr auch auf mehr oder weniger begrenzte Ausschnitteder individuellen Lebenswelt der Subjekte bezogen und dadurch (um denMarxschen Ausdruck zu verwenden:) »borniert« sein, ja in ihm kann derobjektive Zusammenhang mit gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen be-kanntermaßen sogar in der Erfahrung geradezu negiert werden.

Von da aus wird deutlich, daß die Engelssche Bestimmung von Freiheitals »Einsicht in die Notwendigkeit« offensichtlich in einem anderen Dis-kurs-Zusammenhang steht als dem phänomenologischen: Engels hebt hierden marxistischen Freiheitsbegriff von der bürgerlichen Gleichsetzung derFreiheit mit bloßer Freizügigkeit/Willkür ab, indem er herausarbeitet, daßFreiheit des einzelnen sich nur in der Beteiligung an der bewußten Verfü-

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gung über den gesellschaftlichen Prozeß, von dem jede individuelle Exi-stenz abhängt, realisieren kann, also Einsicht in die Notwendigkeiten desgesamtgesellschaftlichen Lebens implizieren muß. Die Möglichkeit einersolchen Freiheit ist mithin gesamtgesellschaftlich bestimmt durch denGrad, in dem die Menschen tatsächlich schon bewußt in der Verfügungüber den gesellschaftlichen Prozeß miteinander assoziiert sind bzw. in demsich die für die gesellschaftliche Lebenserhaltung »notwendigen« Einsich-ten noch mehr oder weniger blind im Selbstlauf durchsetzen; demgemäßist »Freiheit« für den einzelnen ebenfalls lediglich eine Möglichkeit, die ernach Maßgabe des Standes der gesamtgesellschaftlichen Verfügung reali-sieren kann bzw. die er realisieren muß, sofern er in den jeweiligen Gren-zen historischer Möglichkeiten mit der Beteiligung an gesamtgesellschaftli-cher Verfügung seine eigene Selbstbestimmung erweitern will. »Freiheit«als »Einsicht in die Notwendigkeit« ist dem Individuum also (global for-muliert) nicht einfach »gegeben«, sondern »aufgegeben«. – Wenn also»Einsicht in die Notwendigkeit« in einer Weise zur näheren Bestimmungdes »bewußten Verhaltens« benutzt wird, durch welche beides kategorialgleichgeordnet und als »phänomenales« Charakteristikum jeder bewuß-ten Erfahrung erscheinen kann, so kann hier wiederum der Eindruck ent-stehen, als ob die zentrale subjektwissenschaftliche Aufgabe, die vielfälti-gen und widersprüchlichen Vermittlungen zwischen gesamtgesellschaftli-chem Prozeß und individueller Subjektivität – also auch zwischen ge-samtgesellschaftlichen Notwendigkeiten und dem Grad und der Art ihrersubjektiven Erfassung/Verkennung – kategorial aufzuschlüsseln, mitden genannten Globalbestimmungen des Bewußtseins schon geleistet undleistbar sei.

Die hier diskutierte Problematik manifestiert sich auf allgemeinster Ebenein der Weise unserer Bestimmung des Verhältnisses zwischen gesellschaftli-cher Subjektivität und individueller Subjektivität. Es wurde von uns invielfältigen Zusammenhängen herausgehoben, daß – da relevante indivi-duelle Lebensbedingungen immer individuell relevante gesellschaftlicheLebensbedingungen sind – die individuellen Subjekte die »bewußt vor-sorgende Kontrolle« über die eigenen Lebensbedingungen nur in dem Ma-ße erreichen können, wie sie durch Überschreitung der individuellen Sub-jektivität in Richtung auf gesellschaftliche Subjektivität ihren Einfluß zueiner Größenordnung potenzieren, die die »Kontrolle« über gesellschaftli-che Prozesse erlaubt. Ich habe dies zum Beispiel in meinem programmati-schen Eröffnungsreferat zum 1. Marburger Kongreß mit aller Schärfe her-ausgestellt: »Nur gesellschaftliche Subjekte können ... jene 'historischeGrößenordnung' der Wirksamkeit erlangen, mit der tatsächlich eine be-wußte Veränderung gesellschaftlicher Lebensbedingungen möglich ist.Demgemäß können die individuellen Subjekte nur in dem Maße Einfluß

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auf ihre eigenen relevanten Lebensbedingungen, die ja immer gesellschaft-liche Lebensbedingungen sind, gewinnen, wie sie Gruppen oder Klassen ingleicher objektiver Lage als gesellschaftlichen Subjekten mit historisch be-stimmendem Einfluß zugehören und somit im Beitrag zur bewußten ge-sellschaftlichen Realitätskontrolle auch die Kontrolle über ihre eigenenRealitätsumstande »erhöhen« (1977a, 58f). In der bürgerlichen Gesell-schaft bedeutet dies, wie von uns immer wieder hervorgehoben, daß einprinzipieller Zusammenhang zwischen der Entfaltung individueller Sub-jektivität und der Assoziation mit dem »proletarischen Klassensubjekt«,also der Arbeiterbewegung besteht, da sie die einzige gesellschaftlicheKraft ist, die potentiell die Macht hat, mit der Brechung der Kapitalmachtdie Voraussetzungen für eine gesellschaftliche Entwicklung in Richtungauf die Verfügung aller über den gesellschaftlichen Prozeß (damit ihre ei-genen Angelegenheiten) somit auch die Voraussetzungen für eine neueGrößenordnung freier Lebenstätigkeit und Entwicklung jedes einzelnenzu schaffen: »Individuelle Subjekte sind so gesehen ein Teilaspekt gesell-schaftlicher Subjekte Die Individuen bilden stets in dem Maße 'Subjekti-vität' heraus, wie sie an gesellschaftlicher Subjektivität teilhaben (Holz-kamp 1979a, 12)

Derartige Ausführungen sind, soweit in ihnen der grundsätzliche Zu-sammenhang zwischen subjektiver Bestimmung und Beteiligung am ge-sellschaftlichen Bestimmungsprozeß herausgehoben ist, m.E. nicht nuradäquat, sondern von höchster Relevanz und als Grundlage jeder weiter-gehenden subjektwissenschaftlichen Klärung unverzichtbar. Problema-tisch im Kontext subjektwissenschaftlicher Kategorialanalysen werden sol-che Darlegungen indessen wiederum durch mangelnde Klärung ihres kate-gorialen Status: Sind hier tatsächlich nur prinzipielle Zusammenhängezwischen dem gesellschaftlichen und dem individuellen Bestimmungspro-zeß auf gesellschaftstheoretischer Ebene als Voraussetzung für die Auf-schlüsselung der gesellschaftlichen Bezüge subjektiver Befindlichkeit/Handlungsfähigkeit angesprochen, oder soll es sich bereits um kategorialeDimensionen der subjektiven Erfahrung (etwa unter den Bedingungenbürgerlicher Klassenverhältnisse) handeln? Wird hier also zum Beispiel dieobjektive Notwendigkeit der Überwindung antagonistischer Klassenver-hältnisse zur Durchsetzung der bewußten Bestimmung des gesellschaftli-chen Prozesses mit der erfahrenen subjektiven Notwendigkeit, sich zurErweiterung der Kontrolle über die eigenen Lebensbedingungen am Klas-senkampf zu beteiligen, gleichgesetzt und so die Frage nach den vielfälti-gen und widersprüchlichen Brechungen gesellschaftlicher Notwendigkei-ten in der subjektiven Erfahrung schon als deren Antwort unterstellt? Istdabei tatsächlich hinreichend ausgeschlossen (oder nicht in manchen For-mulierungen eher nahegelegt), den wirklichen Zusammenhang zwischengesellschaftlicher und individueller Subjektivität geradezu auf den Kopf

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zu stellen? Soweit man nämlich »gesellschaftliche Subjekte« nicht als ab-strahierende Kennzeichen der gemeinsamen Aktivitäten von individuellenSubjekten in gleicher gesellschaftlicher Lage, zur Verbesserung ihrer Le-bensbedingungen etc. begreift, sondern als eigenständigen »Träger« dergesellschaftlichen Bewegung hypostasiert und mystifiziert, der die indivi-duellen Subjekte sich nur als »unselbständige Teilmomente« assoziierenkönnen, wird das »gesellschaftliche Subjekt« den individuellen Subjektenquasi als eine »fremde Macht« außerhalb ihrer selbst gegenübergestellt.4Damit werden sie als individuelle Subjekte nur soweit bzw. in den Aspek-ten erkannt und anerkannt, wie bzw. in welchen sie unmittelbar in Partizi-pation am gesellschaftlichen Subjekt aktiv sind, sich am gemeinsamenKampf beteiligen o.ä. In einer so verkürzten Sicht auf das »aktiv-kämpfe-rische« Subjekt wäre der Umstand ausgeklammert, daß das Leiden desseine Welt und sich selbst erfahrenden Subjekts der vorgängige Bewe-gungsgrund ist, aus dem das Individuum schon als Subjekt sich für dengemeinsamen Kampf entscheidet, das heißt sich (in bewußtem »Verhal-ten«) auch dagegen entscheiden kann. Damit hatte man auch verkannt,daß »Subjektivität« kein Merkmal ist, daß Menschen in mehr oder wenigerhohem Grade zukommt, so daß man die Individuen nach der Ausprä-gung ihrer »Subjektivität« auseinanderdividieren könnte, sondern ein es-sentielles Charakteristikum humaner Existenz, das nach Maßgabe der ge-sellschaftlich-individuellen Verfügungsmöglichkeiten zwar unterschiedlichin Erscheinung tritt, aber jede Form individueller Lebensbewältigung cha-rakterisiert. – So wäre auch in dieser Wendung (diesmal im Namen »ge-sellschaftlicher Subjekte«) über das Subjektsein des Individuums schonverfügt, also die Unreduzierbarkeit »je meiner« subjektiven Welt- undSelbsterfahrung (in der allein die erste und letzte Rechtfertigung meinerBeteiligung am politischen Kampf liegen kann) verleugnet – mithin diemethodologische Ausgangslage phänomenologischer Analysen wiederumverfehlt.

Wie schon in den laufenden Darlegungen deutlich werden sollte, beziehtdie vorstehend von mir formulierte Kritik/Selbstkritik den Ansatz derphänomenologischen Analyse ein, die damit in einer bestimmten Hinsichtihre von Graumann (1984) herausgehobene »kritische Funktion« erfüllt.Denn nur, soweit in phänomenologischer Herangehensweise die Unredu-zierbarkeit der subjektiven Welt- und Selbsterfahrung, damit die Notwen-digkeit der Analyse ihrer Struktur als unmittelbare Erfahrungsgegeben-heit, berücksichtigt sind, kann kritisch aufgewiesen werden, daß Katego-rialbestimmungen, innerhalb welcher die Vermittlungen zwischen gesamt-gesellschaftlicher Reproduktion und individueller Existenz nicht ausge-führt sind, die wesentlichen Strukturmerkmale der Erfahrung von außen,(nämlich durch Projektion gesamtgesellschaftlicher Reproduktionszusam-

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menhänge in die subjektive Erfahrung) an diese herantragen und daß da-mit deren phänomenale Besonderheit verfehlt, so noch in gewisser Weise»über die Köpfe« der Betroffenen hinweggeredet und die Position derpsychologischen Subjektwissenschaft als Wissenschaft vom (verallgemei-nerten) Standpunkt individueller Subjekte (als »je meinem« Standpunkt)noch nicht voll realisiert ist.

Die geschilderten Unklarheiten aufgrund der kategorialen Unausge-führtheit gesellschaftlich/subjektiver Vermittlungsebenen haben der öfteran der Kritischen Psychologie geäußerten Kritik, sie »politisiere« die Psy-chologie, vernachlässige das Subjekt, propagiere den Klassenkampf alsHeilmittel psychischer Schwierigkeiten etc. (vgl. H. Gottschalch, Gleiß,Niemeyer u.v.a. ) sicherlich Anlässe geliefert. Besonders gravierend ist esdabei, daß (nicht nur von unseren Kritikern) die herausgearbeiteten allge-meinen Zusammenhange zwischen gesellschaftlichen Lebensnotwendig-keiten und individueller Reproduktion, da sie mit noch zu leistenden sub-jektwissenschaftlichen Konkretisierungen kontaminiert wurden, gelegent-lich als quasi »normativ« gemeint mißdeutet worden sind. Der zentraleUmstand konnte von uns noch nicht klar genug herausgestellt werden,daß in kritisch-psychologischen Kategorialbestimmungen keinesfalls (wieimmer gefaßte) »Normen« darüber aufgestellt sind, an denen die Welt-sicht und Lebenspraxis der Individuen gemäß den »Notwendigkeiten« dergesellschaftlichen Reproduktion bzw. des Klassenkampfes ausgerichtetwerden sollen: »Subjektwissenschaftlichen« Kategorien/Methodenkommt vielmehr allein die Funktion zu, auf verschiedenen Ebenen zurKlärung subjektiver Befindlichkeit, so wie sie jeweils gegeben ist, damitverallgemeinerten Verdeutlichung »je meiner« Lebensinteressen und -per-spektiven (und in diesem Sinne der Erweiterung subjektiver Verfügungüber die Lebensbedingungen) beizutragen. Der Zusammenhang zwischengesellschaftlicher und individueller Reproduktion ist also in der KritischenPsychologie niemals postuliert, sondern als Realität kategorial herausgear-beitet, die das Subjekt (bzw. die darauf bezogene Wissenschaft) mehroder weniger in ihrer tatsächlichen Bedeutung für die je eigenen Lebensin-teressen/-möglichkeiten durchdringen kann.

Wenn mithin die geschilderte Kritik an der Kritischen Psychologie auchAnlässe in Unklarheiten unserer Position hatte, so ist daraus die allgemei-ne Stoßrichtung der Kritik, die Psychologie von der Politik zu trennen, ei-ne eigenständige Subjektwissenschaft außerhalb der Begründungszusam-menhänge materialistischer Dialektik (wie die Psychoanalyse) hereinzuho-len, die interpersonal-subjektive Lebenswelt des Menschen von den (sub-jektiv vorgeblich irrelevanten) gesamtgesellschaftlichen Verflechtungen zuisolieren etc., damit noch keineswegs gerechtfertigt. Es wäre hier vielmehrselbst nach der Art der politischen Interessiertheit zu fragen, aus welcherdie geschilderten Unausgeführtheiten der Kritischen Psychologie zu deren

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»Wesen« stilisiert, also nicht gemeinsame wissenschaftliche Entwicklungs-arbeit zur Überwindung der Problematik, sondern Abkehr von der Kriti-schen Psychologie (damit Zurückwendung zu eklektizistischen Ermäßi-gungen wissenschaftlicher Stringenz und politischer Konsequenz) als Lö-sung angeboten wurde.

Die adäquate Arbeitsperspektive angesichts der aufgewiesenen Unaus-geführtheit der Vermittlungen innerhalb des Zusammenhangs zwischengesellschaftlichem Prozeß und individueller Subjektivität konnte für unsnicht in der Leugnung oder Verwischung dieses Zusammenhangs, sondernmußte eben in der Ausführung der bisher mangelnden Vermittlung liegen.Dabei war das Verfahren der logisch-historischen Rekonstruktion einer-seits, da es die wesentlichen kategorialen Rahmenbestimmungen der Ge-sellschaftlichkeit des Individuums erbracht hatte, in seinen Grundzügenbeizubehalten, andererseits aber auch auf die Mängel und Grenzen desfunktional-historischen Vorgehens hin zu analysieren, durch welche diegeschilderten Unklarheiten und Kurzschlüssigkeiten entstehen konnten,um so in der weiteren kategorialanalytischen Entwicklungsarbeit denStandpunkt und die phänomenale Struktur unmittelbarer subjektiver Er-fahrung »einholen« zu können. – Damit ist jene Aufgabenstellung um-rissen, die in der »Grundlegung der Psychologie« zu bewältigen war, oder(richtiger), die sich auf dem Wege dahin erst immer mehr in ihrer Eigenartund Dringlichkeit verdeutlichte.

5. Implizite Vorwegnahme notwendiger kategorialer Neuorientierungen: Das kritisch-psychologische »Konfliktmodell« individueller Subjekti-vität unter bürgerlichen Lebensverhältnissen

Um diesen Weg in für unsere Fragestellung adäquater Weise nachzeichnenzu können, muß ich zunächst auf eine Einseitigkeit meiner bisherigenDarstellung der einschlägigen kritisch-psychologischen Ansätze (vor GdP)verweisen: Die von mir geschilderte und kritisierte Problematik findet sichzwar relativ durchgehend und eindeutig auf der Ebene der Herausarbei-tung/Darstellung der allgemeinen kategorialen Bestimmungen dermenschlich-gesellschaftlichen Spezifik des Psychischen. In den Passagen,wo versucht wird, die konkret-historischen Züge empirischer Subjektivitätvon Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft herauszuheben, werdenaber nicht nur jene allgemeinen Kategorialbestimmungen zugrundegelegt,sondern es wird in bestimmten Zusammenhangen eine weitere Form derBegriffsanalyse einbezogen: Die historische Konkretisierung der gewonne-nen kategorialen Bestimmungen durch »Reinterpretation« und »Aufhe-bung« fortgeschrittenster bürgerlicher Theorien über individuelle Subjek-tivität. Dieses Konzept ist von Ute H.-Osterkamp in MII methodologisch

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begründet (192ff.) und sodann im »reinterpretierenden« Durchgangdurch die Freudsche Psychoanalyse ausgeführt, insbesondere in den Teil-kapiteln 5.3.4 »Grundzüge der positiven kritisch-psychologischen Kon-zeption über menschliche Konflikte, Angst, Abwehr und das Unbewußte«(276ff.) und 5.5, »Reinterpretation der Freudschen Konzeption des 'Über-Ich' und der 'Identifizierung' durch Ausbau des kritisch-psychologischenKonfliktmodells: Kindliche Vergesellschaftung als Verarbeitungs- und Ab-wehrprozeß« (326ff.) Derartige begriffliche Neufassungen bürgerlich-psy-chologischer Konzepte fanden sich danach in weiteren Arbeiten, insbeson-dere dem umfangreichen Beitrag »Erkenntnis, Emotionalität, Handlungs-fähigkeit« (H.-Osterkamp 1978), in welchem moderne »kognitive Emo-tionstheorien« in der gleichen Weise »reinterpretiert« wurden, und in an-derer Wendung, nämlich mit Bezug auf selbstrechtfertigende »Al1tags-theorien« in den Biographien ehemaliger Nationalsozialisten, in dem Arti-kel »Faschistische Ideologie und Psychologie« (H.-Osterkamp 1982).5 –Der für uns wesentliche Aspekt dieser »Reinterpretations«-Linie innerhalbder Kritischen Psychologie liegt in einer bestimmt akzentuierten Verwen-dung des Konzeptes der »Handlungsfähigkeit« und einer damit zusam-menhängenden besonderen Fassung des Begriffes »Funktionalität«.

»Handlungsfähigkeit« wurde hier nicht nur verstanden als »Fähigkeit«des Individuums, über Beiträge zu gesellschaftlicher Realitätskontrolle sei-ne eigenen Lebensbedingungen zu kontrollieren, sondern gewann durchEinbeziehung des funktional-historisch aufgewiesenen Zusammenhangszwischen Verfügung über die Lebensbedingungen und menschlicher Spe-zifik der Bedürfnisse/Emotionalität in die Kennzeichnung der Grundzügesubjektiver Befindlichkeit (in der bürgerlichen Gesellschaft) eine neue»subjektive« Dimension: Die Notwendigkeit, unter bürgerlichen Lebens-bedingungen »Handlungsfähigkeit« zu erhalten oder zu erweitern, bedeu-tete so nicht allein Übernahme gesellschaftlicher Notwendigkeiten (kollek-tiven Kampfes gegen die kapitalistische Klassenherrschaft o.ä.), sondernwurde expliziert als subjektive Notwendigkeit zur Überwindung vonAngst und Sicherung/Erweiterung der erfahrbaren Lebensqualität dieAusgeliefertheit an aktuelle Umstände soweit und auf die Weise, wie inder jeweils konkreten Lebenslage möglich, in Richtung auf Verfügungüber die eigenen Lebensbedingungen zu reduzieren. Die »Funktionalität«von Handlungen wurde somit nicht primär daran gemessen, wieweit dasIndividuum damit einen Beitrag zur gesellschaftlichen Lebenserhaltung(bzw. kapitalistischen Systemerhaltung/-veränderung) leistet, sondern da-nach bestimmt, wieweit es (in seiner konkreten Lebenslage) durch solcheHandlungen in Sicherung/Erweiterung der Bedingungsverfügung seineAngst überwinden und subjektive Lebensqualität erhalten/erhöhen kann.Durch eine solche Ausdifferenzierung »subjektiver Funktionalität« vonHandlungen wurde überhaupt erst das zentrale Problem des Verhältnisses

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von subjektiver Funktionalität und Funktionalität für die gesellschaftlicheReproduktion, das heißt hier Reproduktion kapitalistischer Klassenherr-schaft, deutlich sichtbar, und es konnte die entscheidende Frage angegan-gen werden, unter welchen Umständen und auf welche Weise »subjektivfunktionale« Handlungen gleichzeitig für die Erhaltung des kapitalisti-schen Gesellschaftssystems »funktional« sind, d.h. das Individuum, in-dem es auf subjektive Angstvermeidung und Lebensqualität durch Verfü-gungserweiterung gerichtet ist, gleichzeitig den herrschenden Interessendient; bzw. unter welchen Umständen und auf welche Weise die Erhal-tung/Erweiterung der Bedingungsverfügung/Lebensqualität für das Sub-jekt nur in der Beteiligung am kollektiven Kampf um Erweiterung derVerfügung über gesellschaftliche Bedingungen, das heißt Zurückdrängungder bürgerlichen Klassenherrschaft, möglich ist.

Der begrifflichen Aufschlüsselung dieser Alternative diente das in der»Reinterpreation« Freudscher Konzepte entwickelte kritisch-psychologi-sche »Konfliktmodell«: Diesem »Modell« wurde der bereits allgemein beider Heraushebung der spezifisch »menschlichen« Motivation aufgewiese-ne subjektive Widerspruch zugrundegelegt, daß mit der Antizipation derErweiterung eigener Daseinsmöglichkeiten/Lebensqualität durch erhöhteVerfügung über gesellschaftliche Verhältnisse gleichzeitig immer die damitnotwendig verbundenen Anstrengungen, Risiken etc. antizipiert werdenmüssen, womit der Grad der »Motiviertheit« von Handlungen sich ausdem Verhältnis dieser widersprüchlichen Momente bei der Zielantizipationergibt (MII, 63). Angesichts der Zuspitzung der unter den Bedingungender bürgerlichen Klassenherrschaft mit dem Versuch der Erweiterung vonHandlungsmöglichkeiten/Lebensqualität verbundenen Risiken bis zur Be-drohung der schon erreichten Handlungsfähigkeit, ist – so wird ange-nommen – nicht nur die Gerichtetheit auf Handlungsfähigkeits-Erweite-rung, sondern auch die Gerichtetheit auf die Vermeidung der existentiellenBedrohung durch Arrangement mit den herrschenden Instanzen um kurz-fristiger Sicherheiten/Vorteile willen als unter bestimmten Umständen»subjektiv-funktional« in Rechnung zu stellen: Diese Alternative des»Sich-Einrichtens in der Abhängigkeit« ist dabei allerdings in ihrer sub-jektiven Funktionalität genuin widersprüchlich, da mit jedem Versuch, dieaktuelle Gefährdung der Handlungsfähigkeit durch Verzicht auf Teilhabean erweiterter Bedingungsverfügung zu vermeiden. die langfristige Ausge-liefertheit an die Herrschaftsinstanzen erhöht, ja die Unterdrückungsver-hältnisse, unter denen man leidet, von einem selbst aktiv gestützt werden,so daß man im Versuch unmittelbarer Absicherung/Kontrolle gegen sei-ne eigenen allgemeinen Lebensinteressen handelt.

Demgemäß schließt – wie hier aufgewiesen wurde – die erfahreneFunktionalität des Arrangements mit den herrschenden Instanzen not-wendig einen Akt der Realitätsverleugnung ein, indem all jene Aspekte

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der Realität, aus denen hervorgehen würde, daß ich mit einem solchen Ar-rangement mir letztendlich selbst die Lebensgrundlage entziehe, aus mei-ner Erfahrung abgedrängt worden sein müssen. Der begrifflichen Diffe-renzierung derartiger Abwehrprozesse wurden von Ute H.-Osterkampeingehende Analysen gewidmet. Von besonderer Relevanz ist dabei wohldie Reinterpretation des Freudschen »Über-Ich«-Konzeptes als Instanz»verinnerlichten Zwanges«, ein Abwehrmechanismus, durch welchen dasIndividuum die äußeren Ursachen der Unterdruckung verdrängt und soaus eigenem Antrieb quasi »automatisch« alle Handlungen, ja emotiona-len Handlungsimpulse unterdrückt, die das Risiko des Konfliktes mit denHerrschenden mit sich bringen würden, sich mithin innerhalb der objekti-ven Unterdrückungsverhältnisse subjektiv unbegrenzt »frei« wähnenkann – womit hier eine perfekte Konkordanz zwischen der »Funktionali-tät« für das Individuum und der gesellschaftlichen Funktionalität für dieSicherung kapitalistischer Herrschaftsverhältnisse (wie vermittelt auch im-mer) hergestellt wäre.

In solchen Sicht- und Herangehensweisen dokumentiert sich eine zu-nehmend veränderte Art der Anwendung der erarbeiteten Begrifflichkeitauf die empirische Subjektivität von Individuen, indem hier nicht in ir-gendeiner Form objektive Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichenund individuellen Lebensnotwendigkeiten als subjektive Erfahrungstatbe-stände hypostasiert werden, sondern umgekehrt: Die gewonnene Begriff-lichkeit dient dazu, vorfindliche Formen der Handlungsfähigkeit/Befind-lichkeit, so wie sie jeweils konkret in Erscheinung treten, daraufhin durch-dringbar zu machen, wie sie unter den gegebenen gesellschaftlichen Le-bensverhältnissen für das Individuum als subjektiv funktional erfahrenwerden können, insbesondere, welche gesellschaftlichen Widersprücheund Unterdrückungsverhältnisse es sind, unter denen die eigene Beteili-gung an der Unterdrückung, damit Stärkung der Instanzen, denen manselbst ausgeliefert ist, für das Subjekt zu einer realen Alternative der Siche-rung seiner Handlungsfähigkeit/Lebensqualität werden können. Untersolchen Gesichtspunkten wurden dann (wie erwähnt) z.B. biographischeSelbsterzeugnisse von Nationalsozialisten daraufhin analysiert, auf welcheWeise im faschistischen Unterdrückungs- und Gewaltsystem eben jene ma-teriellen und ideologischen Bedingungen hergestellt waren, unter denenfür bestimmte Individuen die Teilhabe an der Gewaltherrschaft in demMaße eine subjektiv funktionale Alternative geworden ist, daß sie jetzt»allgemein-menschliches« Verständnis dafür erheischen, d.h. die immerauch bestehende Alternative des Widerstands wegleugnen konnten (H.-Osterkamp 1982), etc.

Die damit skizzierte »Reinterpretations«-Linie innerhalb der KritischenPsychologie ist – indem hier die Widersprüchlichkeit individueller Sub-jektivität in ihrem Verhältnis zu den Widersprüchen der bürgerlichen

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Klassenrealität differenziert erfaßt wurde und darin die Perspektive einereigenständigen subjektwissenschaftlichen Begrifflichkeit auf der Basis dererarbeiteten Kategorialbestimmungen sich eröffnete – von großer psy-chologischer Relevanz. Dem steht aber nun der merkwürdige Umstand ge-genüber, daß diese Entwicklungslinie von Kritikern wie Rezipienten derKritischen Psychologie häufig kaum zur Kenntnis genommen, mindestensaber in ihrer prinzipiellen Bedeutung nicht erkannt wurde.Charakteristisch in diesem Zusammenhang ist z.B. der Umstand, daß Gott-schalch (1979) in seiner sehr ausführlichen kritischen Auseinandersetzung mitOsterkamps Motivations-Büchern, (wie Osterkamp in ihrer Antwort darlegt) sichüber die »ungemein ausführliche Psychoanalyse-Kritik und -Darstellung« des 5.Kapitels verwundert und aufgrund dieser Einschätzung die dort über 300 Seitenauseinandergelegten Konzeptionen ignoriert (vgl. H,-Osterkamp 1979, 132f). DieMeinung, das 5. Kapitel von M II sei lediglich eine Art von Anhang, in dem bloßdie Freudsche Psychoanalyse kritisiert wird, aber keine relevanten kritisch-psy-chologischen Positionen mehr entwickelt werden, liegt aber offensichtlich auchder Entscheidung des Verlags »Volk und Wissen« zugrunde, in der DDR-Ausga-be von H.-Osterkamps »Motivationsforschung« (1981) das 5. Kapitel wegzulas-sen (u.a. mit der Begründung, eine Psychoanalyse-Kritik, nämlich die von Frie-drich, sei gerade in der DDR erschienen).

Die Grunde für solche Fehleinschatzungen und Vernachlässigungen liegensicherlich zunächst in der Darstellungsweise, durch welche die weiterfüh-rend-reinterpretierenden Passagen des 5. Kapitels dergestalt in die Schilde-rung und Kritik der Freudschen Auffassungen eingebettet wurden, daß sievielleicht für manchen nicht so leicht identifizierbar sind. Dabei sind sol-che Darstellungsprobleme aber lediglich der Ausdruck von Problemen dessystematischen Begründungszusammenhangs der gesamten Arbeit: DieReinterpretationen stehen, gemessen an ihrer grundsätzlichen Bedeu-tung, innerhalb der Begründungssystematik quasi »zu weit unten«, ge-trennt von den prinzipiellen kategorialanalytischen Ausführungen im 4.Kapitel (insbesondere 4.3.3 und 4.3,4), wo sie eigentlich hingehört hätten.Damit im Zusammenhang bleibt auch das Verhältnis zwischen funktional-historischer Herangehensweise und »Reinterpretation« noch relativ un-klar: Welche Art von Kategorialbestimmungen können nur funktional-hi-storisch gewonnen werden und welche auf »reinterpretative« Weise? Diesschließt weitgehende Unklarheit darüber ein, wie die historische Konkreti-sierung von Kategorialbestimmungen durch »Reinterpretation« methodo-logisch naher zu kennzeichnen und abzusichern ist: Woran erkennt mandie »Fortgeschrittenheit« von Theorien, die deren »Reinterpretation«rechtfertigt, woran ist zu erkennen, ob dabei die vorfindliche Begrifflich-keit auf adäquate Weise vom kritisch-psychologischen Kategorialzusam-menhang her reinterpretiert worden sind etc.

Die damit angedeutete Problematik impliziert nun aber keineswegs, daßauf irgendeine Weise eklektizistisch Anleihen bei der Psychoanalyse ge-

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macht wurden und unter der Hand »freudomarxistische« o.a.. Sichtweisenin die Kritische Psychologie Eingang gefunden hätten etc. Vielmehr mußman hier von bestimmten Ungleichzeitigkeiten im Prozeß der allmähli-chen Weiterentwicklung wesentlicher Grundkonzeptionen innerhalb desgesamten Arbeitszusammenhanges ausgehen: In H.-Osterkamps »reinter-pretierenden« Analysen wurden so bereits bestimmte Neuorientierungenund Neubestimmungen kategorialanalytischer Verfahren und Resultatevorweggenommen, deren systematische Ausarbeitung erst noch zu leistenwar .Auf diese Weise entstanden (vorübergehend) Widersprüche zwischenden von uns explizit dargelegten Spezifizierungen des Psychischen aufmenschlich gesellschaftlichem Niveau und den in den dargestellten Aus-einanderlegungen des »Konfliktmodells«, der »Abwehr«, des »Unbewuß-ten« etc. enthaltenen impliziten Bestimmungen. Genauer: In den »rein-terpretierend« vollzogenen Konkretisierungen der Begrifflichkeit auf dieempirische Subjektivität in der bürgerlichen Gesellschaft waren allgemeineKategorialbestimmungen über die Vermittlung zwischen gesellschaftli-chem und individuellem Lebensprozeß implizit vorausgesetzt, die durchdie explizit ausgearbeiteten Allgemeinbestimmungen (noch) nicht gedecktwaren.

In dem Maße, wie uns dieser Widerspruch bewußt wurde, verdeutlichtesich die Aufgabe, die »vorweggenommenen« Änderungen der Allge-meinbestimmung auf den Begriff zu bringen, zu präzisieren und (wo nö-tig) zu korrigieren und dabei in jenen inhaltlich begründeten systemati-schen Zusammenhang zu bringen, von dem aus im Rahmen weitergehen-der methodischer und materialer Konsequenzen ihr Stellenwert und ihreReichweite explizit faßbar werden. Zunächst hatten wir noch angenom-men, daß eine solche Klärungsarbeit allein durch begriffliches In-Bezie-hung-Setzen der bisher voll integrierten Konzeptionen hinreichend zu leis-ten wäre (vgl. Holzkamp u. H.-Osterkamp 1977). Allmählich stellte sichjedoch immer deutlicher heraus, daß hier eine Forderung ganz andererGrößenordnung auf uns zukam, indem unsere gesamte bisher geleistetekategorialanalytische Arbeit (wie sie insbesondere in SE, in MI und MIIund in Volker Schurigs umfassenden naturgeschichtlichen bzw. anthropo-genetischen Arbeiten, 1975a, b und 1976, vorliegt) noch einmal unterprinzipiellen Gesichtspunkten aufgegriffen und methodisch wie inhaltlichweitergeführt werden mußte.

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6. Subjektwissenschaftliche Ausdifferenzierung der kategorialen Ver-mittlungsebenen zwischen gesamtgesellschaftlicher und individuellerReproduktion: Möglichkeitsbeziehung / subjektive Handlungsgründe

Der Grund dafür, warum die geschilderten notwendigen Neuorientierun-gen nicht allein durch begriffliche Klärungen, Integrationsversuche etc. er-reichbar waren, liegt in unserem (auf 14ff. dargestellten) methodologi-schen Prinzip der in der historischen Analyse herzustellenden Isomorphiezwischen begrifflichen und genetischen Verhältnissen, d.h. der Begriffskri-tik anhand der Analyse der im Begriff zu erfassenden genetischen Diffe-renzierungen/Qualifizierungen: So konnte eine weitreichende und fun-dierte Ausarbeitung der Kategorialbestimmungen durch Differenzierungder »subjektiven« Vermittlungsebenen zwischen gesellschaftlicher und in-dividueller Reproduktion nur als Entwicklung unserer Auffassungen überden dabei abzubildenden anthropogenetischen Differenzierungs-/Qualifi-zierungsprozeß gelingen (was wiederum eine kritische Überprüfung dervorgängigen Ursprungs- und Differenzierungsanalysen, mit welchen diejeweils »anthropogenetisch« zu spezifizierenden allgemeineren Bestim-mungen gewonnen wurden, einschließen mußte).

In dem darauf gerichteten widersprüchlichen und umwegigen Arbeits-prozeß kam ich schließlich zu einer Problematisierung der bisherigen kri-tisch-psychologischen »Selbstverständlichkeit«, daß mit den funktional-historisch herausgearbeiteten psychischen Aspekten der »gesellschaftli-chen Natur« des Menschen gleichzeitig auch die allgemeinsten mensch-lich-gesellschaftlichen Bestimmungen des Psychischen erreicht worden sei-en, indem mir deutlich wurde, daß in dieser Gleichsetzung die Gründe fürdie geschilderte Vermittlungsproblematik lagen (vgl. 20ff.).

Der erste Schritt auf dem Weg, der schließlich zu einer kategorialen Dif-ferenzierung des Verhältnisses zwischen gesellschaftlichen und subjektivenBestimmungen der Lebenstätigkeit führte, bezog sich auf die methodolo-gischen Grundlagen des kategorialanalytischen Vorgehens. – Wir warenbisher davon ausgegangen, daß das »funktional-historische« Verfahren(wie ich es auf 14ff. skizziert habe) als Spezifizierung des logisch-histori-schen Ansatzes materialistischer Dialektik auf unseren Gegenstandsbe-reich die universelle methodische Grundlage des kategorialanalytischenVerfahrens darstellt. Indem ich nun unsere einschlägigen anthropogeneti-schen Analysen, aus denen sich die allgemeinen menschlich-gesellschaftli-chen Bestimmungen des Psychischen ergeben hatten, in konsequenter An-wendung der (in GdP neu eingeführten) Schrittfolge der Analyse qualitati-ver Umschläge (»Funktionswechsel« und »Dominanzwechsel« als ersterbzw. zweiter qualitativer Sprung, vgl. 15f.) nachvollzog, stieß ich auf gra-vierende Widersprüchlichkeiten und Inkonsequenzen einer Universalisie-rung des funktional-historischen Herangehens bei der Herausarbeitung

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der gesellschaftlichen Qualität des Psychischen: Es ist zwar angemessen,die Qualifizierung der vorher herausgearbeiteten Dimensionen undAspekte des Psychischen in der Entwicklungsphase zwischen dem »Funk-tionswechsel« zur verallgemeinerten kooperativen Mittelherstellung unddem Wechsel zur Dominanz des gesellschaftlich-historischen Prozesses inHerausbildung der »gesellschaftlichen Natur« des Menschen als selek-tionsbedingte Rückwirkung der neuen gesellschaftlichen Lebensgewin-nungsform auf die genomische Information im phylogenetischen Prozeßfunktional-historisch zu analysieren. Wenn aber, wie wir aufgewiesen ha-ben, mit der Dominanz des gesellschaftlich-historischen Prozesses derphylogenetisch-evolutionäre Entwicklungstyp nicht mehr für den ge-schichtlichen Gesamtprozeß bestimmend ist, so können auch die allgemei-nen psychischen Qualifizierungen nach dem Dominanzwechsel nicht mehrunter Zugrundelegung phylogenetisch-evolutionärer Gesetzlichkeiten, dasheißt nicht mehr funktional-historisch herausgearbeitet werden. Da dem-gemäß mit der Dominanz der gesellschaftlich-historischen Bestimmungendes Psychischen die Anwendungsvoraussetzungen für die funktional-hi-storische Analyse aufgehoben sind, ist es falsch, die funktional-historischgewinnbaren psychischen Qualifizierungen der gesellschaftlichen Naturdes Menschen mit den gesellschaftlichen Allgemeinbestimmungen desPsychischen gleichzusetzen. Solche Bestimmungen lassen sich nur als überdie Qualifizierungen der »gesellschaftlichen Natur« hinausgehende neuer-liche Qualifizierungen des Psychischen unter den Bedingungen des neuen,gesellschaftlich-historischen Entwicklungstyps nach dem Dominanzwech-sel, das heißt aber mit einem logisch-historischen Analyseverfahren jen-seits der funktional-historischen Analyse gewinnen (zu diesem Absatz vgl.GdP, 57ff). – Ich habe das so geforderte neue kategorial-analytische Ver-fahren folgendermaßen in seinem Verhältnis zum funktional-historischenVerfahren zu charakterisieren versucht:»Zunächst sind die bisher genetisch herausdifferenzierten Funktionsaspekte desPsychischen samt ihrer ersten qualitativen Veränderung zu Aspekten individuel-ler Lern- und Entwicklungsfähigkeit bis an die Schwelle zum Dominanzumschlagvom phylogenetischen zum gesellschaftlich-historischen Prozeß auf die mit derHerausbildung der 'gesellschaftlichen Natur' des Menschen entstehenden neuerli-chen qualitativen Veränderungen hin funktional-historisch zu analysieren. So-dann sind die so erlangten Resultate über gesellschaftlich gerichtete Qualifizie-rungen der psychischen Dimensionen und Funktionsaspekte daraufhin zu analy-sieren, welche Zuspitzungen bzw. weiteren qualitativen Bestimmungen der Ge-sellschaftlichkeit den Funktionsaspekten etc. aus ihrem Verhältnis zum dominantgewordenen gesellschaftlich-historischen Gesamtprozeß erwachsen. Dies ge-schieht dadurch, daß zunächst das Verhältnis Individuum / gesellschaftlicher Pro-duktions- und Reproduktionsprozeß, also der gesellschaftliche Mensch-Welt-Zusammenhang, in den jeweils relevanten Momenten als objektiv-materiellesVerhältnis gesellschaftstheoretisch erfaßt wird und sodann von da aus die psychi-

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schen Funktionsaspekte individueller Lern- und Entwicklungsfähigkeit darauf-hin interpretiert werden, welche aber die bisher erarbeiteten hinausgehenden ge-sellschaftlichen Spezifizierungen sich aus dem objektiven Verhältnis Individu-um / gesellschaftlich-historischer Gesamtprozeß, dessen psychische Momente siesind, ergeben. Die zur Aufschließung der menschlich-gesellschaftlichen Spezifikdes Psychischen zu erarbeitenden individualwissenschaftlichen Kategorien müs-sen also nicht nur die neue Qualität der vorgängig ausdifferenzierten psychischenFunktionsaspekte beim Umschlag zur gesellschaftlichen Entwicklungsstufe erfas-sen, sie müssen darin zugleich Vermittlungskategorien darstellen, in welchen dieVermittlung zwischen den objektiven (d.h. materiell-ökonomischen etc.) und denpsychischen Bestimmungen des gesellschaftlichen Mensch-Welt-Zusammenhangsadäquat begrifflich abgebildet ist.« (GdP, 191f)

Nachdem sich so die Notwendigkeit einer gegenüber der funktional-histo-rischen Analyse verselbständigten logisch-historischen Vermittlungsanaly-se des Psychischen (wie man sich ausdrücken könnte) erwiesen hatte unddabei gleichzeitig deutlich wurde, daß mit der Herausarbeitung der Quali-fizierungen des Psychischen als Aspekten der gesellschaftlichen Natur desMenschen zwar die Voraussetzungen für die Gewinnung der allgemeinge-sellschaftlichen Bestimmungen des Psychischen, aber nicht schon dieseselbst, erarbeitet worden waren, war nun der Weg frei für den Versuch ei-ner inhaltlichen Rekonstruktion der hier gesuchten Vermittlungskatego-rien:6 Es mußte der neue Zusammenhang expliziert werden, in welchemdie unter den Lebensbedingungen der Übergangsphase zwischen erstemAuftreten und Dominanz der gesellschaftlichen Reproduktionsweise her-ausgebildeten psychischen Aspekte der »gesellschaftlichen Natur« stehen,wenn die Individuen unter den Lebensbedingungen des dominanten ge-sellschaftlich-historischen Prozesses ihr Dasein reproduzieren, und es wa-ren die Spezifika der Realisierung der vorgängig entstandenen natürlich-gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten des Psychischen innerhalbdieses neuen gesellschaftlichen Lebenszusammenhanges als dessen allge-meinste gesellschaftliche Qualitäten aufzuweisen.

Der Schlüssel zur Gewinnung adäquater kategorialer Vermittlungen zwi-schen gesellschaftlicher und individueller Reproduktion ist die Herausar-beitung des Umstandes, daß innerhalb des anthropogenetischen Prozessesdie gesellschaftlichen Lebensbedingungen vor dem Dominanzwechsel, un-ter denen und durch die sich die »gesellschaftliche Natur« des Menschenherausbildete, andere waren/sind als die Lebensbedingungen, unter denennach dem Dominantwerden des gesellschaftlich-historischen Entwick-lungstyps die Individuen ihr Dasein reproduzieren:

In der Phase vor dem Dominanzwechsel war ja noch die überkommenenatürliche Lebensgewinnungsform bestimmend, und die Anfänge gesell-schaftlicher Lebensgewinnung waren demgemäß zunächst nur quasi »In-seln« kooperativer Mittelherstellung/-benutzung und vergegenständli-

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chender vorsorgender Realitätskontrolle innerhalb der »natürlichen« Le-bensweise, also ohne weitergehende Verselbständigung übergreifendergesellschaftlicher Strukturen. Somit ist davon auszugehen, daß sich hierzwar einerseits schon überindividuelle Formen des kooperativen Zusam-menwirkens herausbildeten, die aber andererseits noch als unmittelbareEinheiten gemeinsamer Lebensbewältigung vom je individuellen Subjektdirekt überschaubar und »einsehbar« waren, so daß sich der jeweils not-wendige individuelle Beitrag zur kooperativen Daseinsbewältigung auchfür den einzelnen selbstevident aus der jeweiligen Zielsetzung und Funk-tions-/Arbeitsteilung im Kooperationszusammenhang ergeben mußte. Sokann man für die anthropogenetische Phase, in der die gesellschaftlicheLebensgewinnungsform noch nicht der bestimmende Entwicklungstypwar, tatsächlich von einer vom Standort des jeweiligen Individuums auskonstituierten Einheit zwischen kooperativ-gesellschaftlichen und indivi-duellen Lebensnotwendigkeiten sprechen.

Ein prinzipiell anderes Verhältnis zwischen gesellschaftlicher und indivi-dueller Lebensgewinnung besteht aber nach dem Dominanzwechsel, woeinerseits die biologische Qualifizierung der »gesellschaftlichen Natur« desMenschen praktisch abgeschlossen ist, aber im Resultat der vorgängigenevolutionären Entwicklung der Mensch nun über die vollen natürlichenPotenzen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß ver-fügt: Mit dem Dominantwerden des gesellschaftlichen Entwicklungstypswurden nämlich die gesellschaftlichen Strukturen zum verselbständigtenTräger des gesellschaftlich-historischen Prozesses, der die Generationen(mindestens seit dem Neolithicum) überdauert, indem er historisch wech-selnde und aufeinanderfolgende Systemcharakteristika (etwa als »Skla-venhaltergesellschaft«, »Feudalismus«, »Kapitalismus« o.ä..) annahm.»Gesellschaftlichkeit« als dominante Lebensgewinnungsform ist also einden jeweils individuellen bzw. vom Individuum überschaubaren sozial-ko-operativen Zusammenhang nach allen Seiten raumzeitlich weit überschrei-tendes »in sich« lebensfähiges »Erhaltungssystem«, das zwar global,durchschnittlich o.ä. durch die Beiträge der Gesellschaftsmitglieder re-produziert wird, wobei aber keineswegs mehr ein eindeutiger objektiverZusammenhang zwischen dem jeweils aktuellen Beitrag des einzelnen undder Systemerhaltung des gesellschaftlichen Ganzen besteht. Die Identitätzwischen den gesellschaftlichen und seinen subjektiven Lebensnotwendig-keiten ist also für das Individuum nicht nur aus Gründen der Unüber-schaubarkeit des gesellschaftlichen Gesamtsystems unerfaßbar, sondernprinzipieller schon deswegen, weil eine derartige Identität hier real nichtmehr vorliegt. Wir bezeichnen dieses neue Verhältnis als Durchbrechungder Unmittelbarkeitsbeziehung zwischen individueller und gesellschaftli-cher Reproduktion bei gesamtgesellschaftlicher Vermitteltheit individuel-ler Existenz (vgl. GdP, Kap. 5.4, besonders 192ff.).

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Diese logisch-historische Spezifizierung der Stufe dominanter Gesell-schaftlichkeit erfordert nun zunächst eine kategoriale Differenzierung zwi-schen dem übergreifenden, objektiven gesamtgesellschaftlichen Zusam-menhang einerseits und der unmittelbaren Lebenswelt des Individuumsandererseits: Es ist die Vorstellung zurückzuweisen, daß das Individuumquasi direkt in »der« Gesellschaft lebt und sich reproduziert. »Gesell-schaft« ist zwar real das »Erhaltungs-System«, durch das die Lebenserhal-tung der einzelnen ermöglicht ist, aber für sich genommen kein unmittel-barer Erfahrungstatbestand. Vielmehr existiert das Individuum primär inpraktischen Lebenszusammenhängen, die sich aus seiner Lage innerhalbdes gesellschaftlichen Ganzen ergeben und die keineswegs einfach nachdem Muster gesellschaftlicher Systemzusammenhange strukturiert sind,ja, denen nicht einmal »ansehbar« sein muß, daß sie überhaupt gesell-schaftliche Strukturmomente darstellen. Die Frage nach den psychischenAspekten des Zusammenhangs zwischen gesellschaftlicher und individuel-ler Reproduktion spezifiziert sich somit in erster Annäherung als Fragenach den psychischen Aspekten des Vermittlungszusammenhangs zwi-schen gesamtgesellschaftlichem Prozeß und unmittelbarer Lebenswelt derIndividuen (vgl. GdP, 195ff. und 229ff.).

Aus den geschilderten allgemeinen Bestimmungen der gesamtgesell-schaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz läßt sich indessen nocheine weitere kategoriale Differenzierung ableiten: Wenn auf der Stufe ge-samtgesellschaftlicher Vermitteltheit, anders als auf der vorgängigen ko-operativ-gesellschaftlichen Stufe, für das Individuum kein unmittelbarerund zwingender Zusammenhang mehr zwischen seinem Beitrag zur gesell-schaftlichen Lebensgewinnung und seiner eigenen Existenzerhaltung be-steht, wenn vielmehr von der Lebenswelt des einzelnen aus gesehen dasverselbständigte gesellschaftliche »Erhaltungssystem« sich prinzipiell auchohne die permanente Beteiligung jedes einzelnen reproduzieren und damitdessen Existenz miterhalten kann, ist es offensichtlich unangemessen, dasVerhältnis zwischen gesamtgesellschaftlichem Prozeß und unmittelbarerLebenswelt primär in Termini gesellschaftlicher Handlungsnotwendigkei-ten der Individuen kategorial zu kennzeichnen – und dies unabhängig da-von, inwieweit diese Notwendigkeiten als vom Individuum »eingesehen«charakterisiert werden oder nicht. Vielmehr scheint es adäquat, kategorialzwischen gesamtgesellschaftlichen Handlungsnotwendigkeiten (durch-schnittlicher Art) und subjektiven Handlungsmöglichkeiten zu differen-zieren, und so die Beziehung von Individuen in ihrer unmittelbaren Le-benswelt zu gesellschaftlichen Handlungsanforderungen (welcher Artauch immer) generell als eine Möglichkeitsbeziehung zu qualifizieren: DasIndividuum kann die jeweiligen gesellschaftlichen Handlungsanforderun-gen realisieren, es hat aber grundsätzlich immer auch die Alternative, an-ders oder gar nicht zu handeln, und kann sich in diesem Sinne (also nicht

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im geschilderten Sinne der Alternative zwischen Einsicht oder Nichtein-sicht in gesellschaftliche Notwendigkeiten) bewußt dazu »verhalten«: Diesist eine zwingende Implikation seiner Lebenslage bei gesamtgesellschaftli-cher Vermitteltheit individueller Existenz (vgl. dazu GdP, 233ff.).

Damit ist in der kategorialanalytischen Rekonstruktion der Standortdes Subjekts als dessen über Lebenswelt und Möglichkeitsbeziehung ver-mitteltes Verhältnis zum gesamtgesellschaftlichen Prozeß »eingeholt«,und die weitere Klärungsarbeit mußte demgemäß der kategorialen Auf-schlüsselung der Handlungsfähigkeit/Befindlichkeit von individuellenSubjekten in diesem Vermittlungsverhältnis dienen, insbesondere einerKlärung der Frage, mit welcher Begrifflichkeit individuelle Handlungenund Befindlichkeiten, obwohl sie nicht einfach als durch die gesellschaftli-che Umwelt »bedingt« betrachtet werden dürfen, sondern als Resultatebewußten »Verhaltens« zu Handlungsmöglichkeiten angesichts von Alter-nativen etc. verstanden werden müssen, dennoch wissenschaftlich analy-sierbar sein können.

Ich habe eine solche kategoriale Differenzierung der Vermittlungen zwi-schen gesellschaftlichem Prozeß und individueller Lebenswelt in den Kapi-teln 6.3, 7.3 und 7.4 von GdP versucht. Dabei wurden zunächst die vorherfunktional-historisch aufgewiesenen psychischen Aspekte der »gesell-schaftlichen Natur« des Menschen -Bedeutungen/Bedürfnisse, kogniti-ve, emotionale und motivationale Bestimmungen – anhand des neuenVerfahrens der »Vermittlungsanalyse« daraufhin qualifiziert, welche wei-teren allgemeinen Charakteristika ihnen zugesprochen werden müssen,wenn sie nicht mehr Funktionsaspekte in unmittelbaren kooperativ-gesell-schaftlichen Lebenszusammenhangen sind, sondern Funktionsaspekte desPsychischen von Individuen, die sich zu gesellschaftlichen Anforderungenals Handlungsmöglichkeiten bewußt »verhalten« können, also angesichtsvon Alternativen handlungsfähig werden/bleiben (Kap. 6.3 und 7.3). InVerallgemeinerung dieser Analysen kam ich dann zur Heraushebung einerneuen Vermittlungsebene zwischen individueller Lebenspraxis und ge-samtgesellschaftlichem Prozeß, der Ebene der »subjektiven Handlungs-gründe«.

Dabei versuchte ich einerseits zu zeigen, daß und auf welche Weise diegesellschaftlichen Lebensbedingungen die Handlungen der Individuennicht direkt determinieren, sondern nur als »Prämissen« innerhalb sub-jektiver Begründungszusammenhänge fungieren, und wollte andererseitsaufweisen, wie die »Begründetheit« von Handlungen angesichts bestimm-ter gesellschaftlich-historischer Handlungsprämissen aus der bedürfnisge-gründeten subjektiven Notwendigkeit der Bedingungsverfügung, alsoAngstvermeidung und Erhöhung der Lebensqualität, im Rahmen der je-weils unter diesen Prämissen gegebenen »Möglichkeitsräume« subjektiv/-intersubjektiv »verständlich« wird (Kap. 7.4). Des weiteren sollte dann

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herausgearbeitet werden, daß ein so gefaßter und quasi »operationalisier-barer« Begriff von intersubjektiver »Verständlichkeit« nicht nur notwen-dige Voraussetzung für die individuelle Lebenspraxis unter den »proble-matischen« Verhältnissen gesamtgesellschaftlicher Vermitteltheit ist, son-dern daß, wenn der Gegenstand der Analyse nicht verlorengehen soll,auch in wissenschaftlich-psychologischen Analysen der Handlungen/Be-findlichkeiten individueller Subjekte der so charakterisierte »intersubjekti-ve Verständigungsrahmen« keinesfalls (etwa in Richtung auf bloße »Be-dingungsanalyse«) unterschritten werden darf (dies habe ich, mit den dar-aus abzuleitenden methodischen Konsequenzen, in Kap. 9 von GdP dar-gelegt). – Ich kann und muß die damit gegebenen Hinweise hier nichtnäher ausführen (und verweise auf den angegebenen Originaltext).

Wenn wir nun unter Berücksichtigung der so erarbeiteten Differenzierun-gen des Vermittlungsverhältnisses zwischen gesellschaftlicher und indivi-dueller Reproduktion die Konkretisierung der gewonnen allgemeinen Ka-tegorialbestimmungen des Psychischen in menschlich-gesellschaftlicherSpezifik auf die Lebensverhältnisse der bürgerlichen Klassenrealität neu zufassen suchen, so wird deutlich, daß dabei die früher (auf 33ff.) dargestell-ten »Ungleichzeitigkeiten« und Widersprüche zwischen den impliziten all-gemeinen Bestimmungen der »reinterpretativen« Konkretisierungsversu-che und den kategorialen Allgemeinbestimmungen der Spezifik menschli-cher Lebenstätigkeit überwindbar sind: Die von Ute Osterkamp vorgängigvollzogene Neufassung der Konzepte von subjektiver Notwendigkeit undFunktionalität im Rahmen des »Konfliktmodells« der Handlungsfähig-keit/Befindlichkeit unter bürgerlichen Lebensbedingungen (vgl. 3lff.) istnämlich nun nicht mehr angesichts der früheren Unausgeführtheit derVermittlungen zwischen gesellschaftlichen und individuellen Lebensnot-wendigkeiten quasi systematisch »heimatlos«, sondern kann jetzt als hi-storische Konkretisierung der neu ausdifferenzierten allgemeinen katego-rialen Vermittlungsebene der subjektiven Möglichkeitsbeziehung/Begrün-dungszusammenhänge interpretiert werden. Damit ist einmal das Verhält-nis zwischen historischer Bestimmtheit der Handlungen und dem bewuß-ten »Sich-verhalten-Können« zu den gesellschaftlichen Bedeutungen derbürgerlichen Gesellschaft als Spezifizierung des allgemeinen Verhältnisseszwischen historischer Relativität und menschlicher Universalität der »Frei-heit« subjektiver Möglichkeitsräume zu begreifen. Zum anderen wird ausdiesem Kontext klar, daß die Alternative des individuellen »Sich-Einrich-tens in der Abhängigkeit« oder die kollektiven Zurückdrängung derFremdbestimmtheit in ihren Dimensionen und ihrer Reichweite aus den jekonkreten widersprüchlich-repressiven Lebensverhältnissen als »Prämis-sen« subjektiver Handlungsgründe im gegebenen Möglichkeitsraum faß-bar ist und daß so die jeweiligen Erscheinungsformen der subjektiven

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Handlungsweise/Befindlichkeit als Formen der Absicherung/Erweiterungder Handlungsfähigkeit/Lebensqualität aus eben jenen Prämissen inter-subjektiv »verständlich« zu machen und auf dieser Grundlage (etwa inOsterkamps Faschismus-Arbeiten) wissenschaftlich zu analysieren sindetc. (vgl. GdP, 352ff.). So bestätigt sich, daß die im Rahmendes Konflikt-modells entwickelte Begrifflichkeit »vom Standpunkt des Subjekts« undseiner Lebensmöglichkeiten/-notwendigkeiten keine Abweichung von un-serem Grundansatz des Zusammenhangs zwischen gesellschaftlicher undindividueller Reproduktion war, sondern vielmehr die vorweggenommeneadäquate Fassung dieses Zusammenhangs unter den Bestimmungen dergesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz implizierte.

Die mit der Herausarbeitung der neuen Vermittlungsebenen wiederher-gestellte Widerspruchsfreiheit und Stringenz unserer kategorialen Bestim-mungen auf verschiedenen Allgemeinheitsstufen ist – wie wohl ersichtlich– nicht durch »nachgiebiges« Umfrisieren der Begriffe im Interesse ihrerStimmigkeit zustande gekommen, sondern eben durch eine (dem An-spruch nach) wissenschaftlich aus den methodischen Kriterien logisch-hi-storischer Rekonstruktion selbständig begründbare Kritik und Neufas-sung der Kategorialbestimmungen über den Zusammenhang zwischen ge-sellschaftlicher und individueller Lebensgewinnung (man mag an der Ori-ginalarbeit überprüfen, wieweit dieser Anspruch berechtigt ist). Der Um-stand, daß auf diesem Wege tatsächlich die entstandenen Widersprücheschließlich überwindbar wurden, erscheint mir jetzt, wo ich mir dies erstvollends klar mache, fast als ein glücklicher Zufall. Realistischer ist hieraber wohl davon auszugehen, daß in unserem kooperativen Arbeitszu-sammenhang die Richtung, in der die Analysen zur Neufassung unsererkategorialen Grundbestimmungen gehen, schon lange vor deren Ausar-beitung antizipierbar oder mindestens zu erahnen war und so die Konver-genz der verschiedenen Analyseebenen sich ergab.

Mit der nun bestehenden neuen Möglichkeit der kategorialen Einord-nung ist die früher um das Konfliktmodell erarbeitete »subjektwissen-schaftliche« Begrifflichkeit jetzt nicht mehr auf zu speziellen Darstellungs-ebenen in Zusammenhängen der Rezeption bürgerlicher Theorien ver-steckt, sondern kann in den ihrer Bedeutung gemäßen kategorialen Kon-text gestellt werden (damit ist eine Kritik, die uns weiterhin die Vernachläs-sigung des Subjekts gegenüber den objektiven Lebensbedingungen vor-wirft, jetzt nicht mehr nur einäugig, sondern blind). Auf dieser Grundlagekonnte ich nun versuchen, die Bestimmungen des Konfliktmodells zu ver-allgemeinern und weiter zu explizieren. Dazu differenzierte ich (wie hiernicht näher auszuführen) die in der Erhaltung und Erweiterung der Bedin-gungsverfügung/Lebensqualität »begründete« Handlungsfähigkeit unterbürgerlichen Verhältnissen als prinzipielle Alternative der Gewinnung»verallgemeinerter« oder »restriktiver Handlungsfähigkeit« und kam so

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zu einer entsprechenden Differenzierung der psychischen Funktionsaspek-te der Handlungsfähigkeit: »Begreifen« versus »Deuten«, »verallgemei-nerbare« versus »restriktive« Emotionalität/Motivation (als Innerlichkeitbzw. »innerer Zwang«), wobei ich die übergreifende sozial-interpersonaleCharakteristik dieser Alternativen mit dem Begriffspaar »Subjektbezie-hungen versus Instrumentalbeziehungen« kennzeichnete. In genauererAnalyse der »restriktiven« Alternative der Handlungsfähigkeit arbeiteteich deren innere Widersprüchlichkeit unter dem Terminus »Selbstfeind-schaft« heraus und kam auf diesem Wege zu einer genaueren kategorialenExplikation der Genese/Funktion psychischer Abwehrprozesse, des »Un-bewußten« etc. (vgl. GdP, Kap. 7.5). Die so gewonnenen kategorialenDifferenzierungen der Handlungsfähigkeit ermöglichten mir weiterhinauch die kategoriale Erfassung der Widersprüchlichkeiten menschlicherOntogenese, insbesondere kindlicher Entwicklung als »Entwicklung zurHandlungsfähigkeit«, indem ich bei der logisch-historischen Rekonstruk-tion der entwicklungsnotwendigen Vorformen von »Handlungsfähigkeit«deren allgemeine Bestimmungen mit ihrer bürgerlichen Formbestimmtheitals Vorformen der Alternative »verallgemeinerte versus restriktive Hand-lungsfähigkeit« ins Verhältnis setzen konnte etc. (vgl. GdP, Kap. 8).

Auf der Basis der nun geleisteten kategorialen Verallgemeinerungenund Explikationen verdeutlicht sich auch, welche Funktion und welchenStellenwert der »Reinterpretation« bürgerlicher Theorien wie der Psycho-analyse im subjektwissenschaftlichen Forschungsprozeß haben kann: Da-durch werden nicht (als Alternative zu der logisch-historischen Rekon-struktion) »durch« die bürgerlichen Begriffe »hindurch« auf geheimnis-volle Weise neue kategoriale Bestimmungen gewonnen. Die traditionell-psychologischen Konzepte gehören vielmehr quasi auf die »Gegenstands-seite« der subjektwissenschaftlichen Analyse: In der »Reinterpretation«wird der faktische Kategorialbezug der gegebenen Theorien mit dem Rüst-zeug der erarbeiteten verallgemeinerten Kategorialbestimmungen so expli-ziert, daß deutlich wird, welche Art von psychischer Realität in diesenTheorien erfaßt ist (so wurde in den genannten »Reinterpretationen« psy-choanalytischer Konzepte deren »allgemein-menschlicher« Universalitäts-anspruch mit Hilfe der von uns abgeleiteten allgemeinen Kategorialbe-stimmungen des Psychischen auf menschlichem Niveau zurückgewiesen,indem gezeigt werden konnte, daß solche Konzepte sich tatsächlich aufAspekte der durch die bürgerlichen Formen unterdrückten, isolierten undmystifizierten Subjektivität beziehen). Aufgrund einer solchen Reinterpre-tation ist mithin herausgearbeitet, welchen wirklichen Realitätsgehalt dievorfindlichen bürgerlichen Konzepte haben, und es können so z.B. die Er-scheinungsweisen individueller Subjektivität in der bürgerlichen Gesell-schaft, wie sie in den psychoanalytischen Konzepten der »Angst«, der»Abwehr«, des »Unbewußten« abgebildet sind, in ihrer Genese und

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Funktion im Zusammenhang individueller Handlungsfähigkeit neudurchanalysiert werden (womit gleichzeitig der Erkenntnisgehalt der»reinterpretierten« Konzepte aufgehoben ist). – Ich kann auch dies hiernicht näher ausführen (vgl. GdP, etwa 118f.).

7. Systematische Berücksichtigung phänomenanalytischer Strukturbe-stimmungen innerhalb der subjektwissenschaftlich entfalteten kri-tisch-psychologischen Kategorialanalyse

Soweit beim Nachvollzug meiner Darlegungen über die Vermittlungsebe-nen zwischen gesamtgesellschaftlichem Prozeß und individueller Subjekti-vität die Hauptfragestellung dieses Beitrags gegenwärtig gehalten wurde,wird bereits deutlich geworden sein: Mit der nun erreichten Stufe der kate-gorialen Bestimmung des Psychischen in seiner menschlich-gesellschaftli-chen Spezifik ist die (in Teil 4 entfaltete) phänomenologisch begründeteKritik/Selbstkritik überholt. Nicht nur, daß die subjektive Erfahrungnunmehr innerhalb der Vermittlungsebene der Möglichkeitsbeziehung/Handlungsgründe ihren systematischen Ort hat, also nicht mehr im Na-men des Zusammenhangs zwischen gesellschaftlicher und individuellerReproduktion mit gesellschaftlichen Notwendigkeitsbestimmungen kon-taminiert ist: Darüber hinaus sind die in die kategoriale Explikation der sub-jektiven Gegebenheitsweise gesamtgesellschaftlicher Vermitteltheit indivi-dueller Existenz – etwa bei der Charakterisierung des individuellenHandlungsbezuges zu gesellschaftlichen Anforderungen als Raum vonHandlungsmöglichkeiten, zu denen sich das Subjekt als zu ihm gegebenenHandlungsalternativen bewußt »verhalten« kann – bereits phänomenal-analytische Strukturbestimmungen eingeflossen. Wenn man dem nun ge-nauer nachgeht, so wird man feststellen, daß darüber hinaus – ohne daßdies bisher methodologisch reflektiert ist (und ohne daß ich mir selbst beider Erarbeitung des Textes darüber voll Rechenschaft gab) – die wesentli-chen phänomenanalytischen Bestimmungen der Struktur unserer Erfah-rung, wie ich sie in Teil 2 im Anschluß Graumanns Kongreßreferat dar-gestellt habe, sich an strategisch entscheidenden Stellen in GdP wiederfin-den.

So wird im Kapitel 6.3 die Spezifik subjektiver Befindlichkeit bei ge-samtgesellschaftlicher Vermitteltheit individueller Existenz als Möglich-keitsbeziehung folgendermaßen näher umschrieben: »Mit der neuen Qua-lität des 'bewußten' Verhaltens zu gesellschaftlichen Handlungsmöglich-keiten ... kommt es auch zu einer qualitativen Veränderung der Beziehun-gen der Menschen untereinander: Bewußtes 'Verhalten-Zu' ist als solches'je mein' Verhalten. 'Bewußtsein' steht immer in der 'ersten Person'«(237). Dies schließt ein, auch den anderen »generell als 'Ursprung' des Er-kennens, des 'bewußten Verhaltens und Handelns gleich mir«, also als

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gleichartiges und gleichrangiges »Intentionalitätszentrum« zu erfassen,womit die »Subjektivität« genuin mit »Intersubjektivität« gleichzusetzenist. Dies wiederum bedeutet die Gegebenheitsweise von Sozialbeziehungenals »Perspektiven-Verschränkung«, in welcher ich auf »reflexive« Weise»vom Standpunkt meiner Welt- und Selbstsicht den anderen gleichzeitig inseiner Welt- und Selbstsicht in Rechnung stelle« (238). Aus solchen phä-nomenologischen Umschreibungen der individuellen Existenzweise ge-samtgesellschaftlicher Vermitteltheit wird sodann die weittragende Konse-quenz gezogen, »daß der 'Gegenstand' der Individualwissenschaft sichnach dem Dominanzumschlag und der Stufe der gesamtgesellschaftlichenVermitteltheit individueller Existenz in einer zentralen Hinsicht qualifi-ziert: Während wir es, noch in der Phase der Herausbildung der 'gesell-schaftlichen Natur', mit Lebewesen zu tun hatten, die zwar unser Er-kenntnisgegenstand sind, aber selbst keine 'erkennende' Beziehung zur'Welt' und zu anderen haben, also auch zu mir als Erkennendem nichtprinzipiell in einer intersubjektiven Beziehung stehen können, handelt essich nunmehr bei den Lebewesen, mit denen wir es individualwissen-schaftlich zu tun haben, um andere Subjekte, also grundsätzlich um »Un-sereinen«. Der Forschende ist hier, indem er 'subjektive' Gegebenheiten inverallgemeinerter Form wissenschaftlich erhellen will, notwendigerweiseals 'auch ein' Subjekt von seinen eigenen Verfahren und Resultaten prinzi-piell mitbetroffen. Die marxistische Individualwissenschaft ist so in einemdezidierten Sinne 'Subjektwissenschaft'« (239ff.).

Die phänomenalanalytischen Strukturbestimmungen im Zusammen-hang der Fassung der Psychologie als »Subjektwissenschaft« sind nicht et-wa lediglich ortsgebundene Einlassungen bez. bloße Programmatik: Mitsolchen Konzepten wird in GdP (von Kap. 6.3 an) in allen wesentlichenDarstellungs- und Argumentationszusammenhängen gearbeitet.7 – Nichtnur, daß die Auseinanderlegung der Vermittlungsebenen der »subjektivenHandlungsgründe« als kategoriale Aufschlüsselung des Verhältnisses vongesellschaftlicher Bedingtheit und 'Freiheit' der gesamtgesellschaftlichenMöglichkeitsbeziehung von Individuen (Kap. 7.4) ohne den Bezug auf diegenannten phänomenalanalytischen Strukturbestimmungen undenkbarwäre: Auch in der historischen Konkretisierung dieser Vermittlungsbe-stimmungen auf die Verhältnisse in der bürgerlichen Gesellschaft (Kap.7.5) wird an strategisch zentraler Stelle die phänomenanalytisch begründe-te Unterscheidung zwischen der unmittelbaren Lebenslage der Individuenund deren objektiver gesamtgesellschaftlicher Verflochtenheit herausge-hoben und kann sodann durch die damit geleistete Überwindung der Vor-stellung der direkten Konfrontation der Menschen mit »der« Gesellschaftdie Alternative »verallgemeinerte/restriktive Handlungsfähigkeit« aus der»doppelten Möglichkeit« der Verfügungserweiterung innerhalb der oderüber die gesellschaftlichen Lebensbedingungen als historische Form der

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Struktur »subjektiver Möglichkeitsräume« gefaßt werden. – Weiterhinist auch bei der Herausarbeitung kategorialer Bestimmungen menschlicherIndividualgeschichte (in Kap. 8) der wesentliche Stellenwert phänomen-analytischer Aspekte der Charakterisierung der verschiedenen »Entwick-lungszüge« unverkennbar, so der Fassung der entwicklungsnotwendigenÜberwindung eines Weltbezuges bloßen »Signallernens« durch »Sozialin-tentionalität« und insbesondere der Kennzeichnung des Entwicklungszugsder »Unmittelbarkeitsüberschreitung«, mit welchem die objektive gesamt-gesellschaftliche Vermitteltheit der individuellen Existenz von den Kin-dern/Jugendlichen in Gewinnung der Distanz des bewußten »Verhaltens-Zu« und der intersubjektiven Möglichkeitsbeziehung etc. allererst inner-halb der Ontogenese »subjektiv« eingeholt wird. Mit der Wendung vonder realen Ontogenese zur eigenen Kindheit/Individualentwicklung alsphänomenalbiographische Erfahrungsdimension des Erwachsenen, alsodie »eigene Kindheit als Vergangenheit und Gegenwart des Erwachsenen«(Kap. 8.4) wird sodann die phänomenanalytische Strukturbestimmungder »Geschichtlichkeit« unmittelbarer Erfahrung aktualisiert – dies mitRückbezug auf einen langen Abschnitt in Kap. 7.3, in welchem die phäno-menologische Strukturanalyse geradezu das Darstellungsprinzip bildet:»Subjektive Geschichtlichkeit, 'Gedächtnis', Lebensperspektive« (332ff.).Im 9., methodologischen Kapitel vollends werden die phänomenalenStrukturdimensionen der Standpunktgebundenheit/Perspektivik, inter-personalen Perspektivenverschränkung von »Intentionalitätszentren«, al-so Intersubjektivität, als die Prämissen herausgestellt, hinter die eine ge-genstandsadäquate psychologische Methodik nicht zurückfallen darf, undwerden auf dieser Grundlage Leitlinien einer psychologischen Forschungs-weise »vom Standpunkt des Subjekts« mit Begriffen/Methoden/Resulta-ten »für«, nicht »über« die Betroffenen erarbeitet, dabei die gängigen Ob-jektivitätskriterien vom Zentralkonzept der »typischen Möglichkeitsräu-me« und der »Möglichkeitsverallgemeinerung« her neu gefaßt: Ein »sub-jektwissenschaftlicher« Methodenansatz, in welchem die Unhintergehbar-keit der phänomenalen Struktur unserer Erfahrung in der psychologi-schen Forschung so ernst (oder ernster) genommen wird als von den phä-nomenologischen bzw. phänomenologisch-psychologischen Positionenselbst.

8. Widersprüchliches Verhältnis zwischen Unhintergehbarkeit und han-delnder Überschreitung der unmittelbaren Erfahrung bei gesamtge-sellschaftlicher Vermitteltheit individueller Existenz

Nachdem in dieser Weise die (für mich selbst überraschende) Breite undBedeutung der phänomenanalytischen Bezüge der GdP hervorgehoben ist,können wir nun die Hauptfragestellung dieser Abhandlung nach dem Ver-

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hältnis von Kritischer und phänomenologischer Psychologie und den dar-aus sich ergebenden Konsequenzen/Implikationen für beide theoretisch/methodologische Grundansätze zu klären versuchen. – Dazu müssen wirauf der einen Seite die früher (in Teil 4) vollzogene Abgrenzung der »real-wissenschaftlichen« Herangehensweise der genetisch-rekonstruktivenAnalyse von der lediglich auf die unmittelbare Erfahrung bezogenen phä-nomenologischen Strukturanalyse in ihrer »Äußerlichkeit« zu überwindensuchen, indem wir herausarbeiten, welche Funktion phänomenanalytischeAussagen innerhalb genetisch-rekonstruktiver Analysen haben, unter wel-chen Bedingungen, mit welchem Stellenwert und mit welcher methodolo-gischen Grundlage also die Heraushebung phänomenaler Strukturen un-serer Erfahrung im Rahmen unseres marxistischen Theorie- und Metho-denverständnisses der Individualwissenschaft nicht nur möglich ist, son-dern als notwendig betrachtet werden muß.

Daraus ergibt sich aber auf der anderen Seite auch die Frage, was dennim Hinblick auf die Eigenart und Funktion der phänomenologischen Psy-chologie daraus folgt, daß deren Ansatz und Resultate innerhalb der lo-gisch-historischen Kategorienanalyse Stellenwert gewinnen können bzw.müssen und wie es mit dem Verständnis/Selbstverständnis der Phänome-nologie (und der Phänomenologen) vereinbar sein kann, sich unversehensmit so wesentlichen Kernaussagen innerhalb marxistisch fundierter Analy-sen wiederzufinden.

Die vorgängige geballte Zusammenstellung der wesentlichen phänomeno-logischen Bezüge im GdP sollte keinen falschen Eindruck hervorrufen:Die geschilderten phänomenanalytischen Aussagen kommen nirgendsbloß für sich vor, in ihnen sind vielmehr stets phänomenale Aspekte ganzanders gearteter, nicht mit phänomenologischen Strukturanalysen gewon-nener und gewinnbarer Zusammenhangsaussagen expliziert. Dies hat, wieman sich überzeugen mag, stets die Funktion, den Rückbezug der erarbei-teten Kategorialbestimmungen auf unsere Grundbefindlichkeit als Sub-jekte-in-der-Welt zu verdeutlichen. Genauer: Es sollte jeweils gezeigt wer-den, daß die kategorialen Aussagen mit der Struktur unserer subjektivenBefindlichkeit vereinbar sind und von da aus (der Möglichkeit nach) zuderen Erhellung beitragen können. Dies impliziert zugleich eine Kritik anall solchen kategorialen Aussagen über menschliche Subjektivität, in de-nen wesentliche Momente unserer Erfahrungsstruktur »untergehen«, diealso bei ihren analytischen Bemühungen nicht wieder da ankommen, vonwo sie ausgegangen sind: Bei uns, wie wir uns unhintergehbar und unre-duzierbar in dieser Welt als Subjekte miteinander vorfinden.

So gesehen, ist die phänomenologische Psychologie im Kontext unseresAnsatzes eine Art von »Minimalwissenschaft«, in der Bedeutung, daß diephänomenanalytischen Strukturaussagen (soweit in deren eigenem metho-

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dologischen Kontext hinreichend begründet) als conditio sine qua non inallen weitergehenden nicht phänomenologischen Bestimmungen auf kei-nen Fall »unterschritten« werden dürfen, weil dann von menschlicherSubjektivität, um die es ja hier gehen soll, nicht mehr, oder nicht mehr imVollsinne, die Rede sein kann, der Gegenstand der Analysen also mehroder weniger verfehlt ist. Eine so verstandene phänomenologische Mini-malwissenschaft wäre also quasi ein allgemeiner Filter, durch den all sol-che kategorialen, theoretischen und methodischen Ansätze/Aussagen zu-rückgehalten werden, die, da den Gegenstand verfehlend, für die weitereAuseinandersetzung nicht einschlägig sind (in der Funktion vergleichbaretwa dem noch allgemeineren logischen Filter, durch den Konzeptionenmit logischen Widersprüchen aus der Konkurrenz genommen sind). NachErfüllung der phänomenanalytischen Strukturkriterien ist die Auseinan-dersetzung zwischen verschiedenen subjektbezogenen Theorien/Verfahren(i.e.S.) mithin nicht etwa schon beendet, sondern kann recht eigentlicherst auf sinnvolle Weise – das heißt ohne Aneinandervorbeireden überdas, worum es eigentlich gehen soll – beginnen.

Wie aber sind dabei die phänomenanalytischen Aussagen mit den ja zu-nächst nur negativ charakterisierten »weitergehenden« subjektbezogenenAussagen ins Verhältnis zu setzen, insbesondere, was kann hier »weiterge-hend« heißen, da die phänomenologischen Analysen doch auf »unhinter-gehbare« Strukturmomente unserer Erfahrung bezogen sein sollen? –Die Klärung dieser Frage im Kontext unserer Grundkonzeption ergibt sichaus dem Aufweis, daß die Strukturen unserer Erfahrung von uns zwarnicht »hintergangen« werden können, aber »überschritten« werden müs-sen, weil der Mensch ja nicht nur »erfährt«, sondern handelnd die Bedin-gungen schaffen oder kontrollieren muß, unter denen er überhaupt ersteinmal leben und sodann erst als Lebender auch Erfahrungen (mit der undder Struktur) machen kann. Das gnoseologische Fundierungsverhältnis,daß objektive Realität nur »Realität für uns« werden kann, soweit und inder Weise, wie sie von »je mir« erfahren wird, ist also aufgehoben in demumfassenderen materiellen Fundierungsverhältnis, daß, wer »erfahren«will, sein Leben reproduzieren können muß, und dies nicht lediglich in sei-ner Erfahrung, sondern in der materiellen Welt, deren Teil er ist und vonder sein Leben abhängt.

In ihrer alltäglichen Praxis müssen die Menschen also, indem sie, um le-ben zu können, die Unmittelbarkeit ihrer Erfahrung im Handeln über-schreiten, die objektiven Züge der Realität, von denen ihr Dasein abhängt,»praktisch« hinreichend in ihrem Denken reproduzieren. Schon auf dieserEbene kommt dem Denken mithin die zentrale Funktion der permanentengedanklichen Unmittelbarkeitsüberschreitung zu – unter Rückbezug undim widersprüchlichen Verhältnis zur durch deren Überschreitung ja nichteliminierten unmittelbaren Erfahrung.

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9. Der Stellenwert phänomenologischer Analyse innerhalb marxistischerMethodologie in ihrer subjektwissenschaftlichen Spezifizierung

Dieser Weg der menschlichen Lebenstätigkeit von der Unmittelbarkeither die denkende Abbildung des realen Zusammenhangs, in dem siesteht, zurück zur Unmittelbarkeit ist in der marxistischen Methodologiereflektiert und verallgemeinert als Weg vom »Vorstellungskonkretum«über die »Abstraktion« zum »Gedankenkonkretum«, also der »begriffe-nen Unmittelbarkeit«. Ich habe diese Vorgehensweise, spezifiziert auf un-seren subjektwissenschaftlichen Gegenstand, charakterisiert als Ansatz ander psychologischen »Vorbegrifflichkeit«, deren kategorialanalytischeDurchdringung in logisch-historischer Rekonstruktion des umfassendenGegenstandsbezuges, und von da aus als Möglichkeit »rückwirkender«Begriffskritik ihres jeweils eingeschränkten, einseitigen, reduzierten Ge-genstandsverständnisses (vgl. GdP, etwa 50f.). Damit sollten gleichzeitigdie Grundlagen geschaffen werden für die kategoriale Aufschlüsselungder »alltäglichen« menschlichen Lebenspraxis in ihrem widersprüchlichenGang zwischen Unmittelbarkeitsverhaftetheit und Unmittelbarkeitsüber-schreitung (wie ja dann im Konzept der restriktiven/verallgemeinertenHandlungsfähigkeit ausgeführt).

Mit den Darlegungen des vorliegenden Beitrages verdeutlicht sich, daßwir innerhalb dieses methodologischen Ansatzes die phänomenanalyti-schen Strukturbestimmungen als eine der vorgefundenen wissenschaftli-chen oder alltäglichen Vorbegrifflichkeit noch vorgeordnete, selbst in spe-zifischer Weise methodologisch reflektierte Begrifflichkeit in Rechnungstellen müssen, aus welcher der Kategorialanalyse über die bisher entfalte-ten hinaus weitere Kriterien erwachsen: Die phänomenalen Ausgangsbe-stimmungen der Struktur des psychischen in seinem »Endzustand« als Be-wußtsein/unmittelbare Erfahrung müssen im Zuge der kategorialanalyti-schen Rekonstruktion dergestalt wieder »eingeholt« werden, daß die (ge-schilderte) kritische Funktion der phänomenologischen Analyse in unsererkategorialanalytischen Begrifflichkeit und von da aus zu leistender katego-rialen Durchdringung der Spezifik subjektiver Lebenspraxis aufgehobenist, in den erarbeiteten Kategorialbestimmungen also mit der Analyse/Kri-tik des Gegenstandsbezuges immer auch dessen phänomenale Strukturmitanalysiert/kritisiert werden kann.

Aus dem Stellenwert, dem so der phänomenologischen Analyse inner-halb des Gesamtzusammenhangs unseres methodologischen Ansatzes zu-gewiesen wurde, ergibt sich, daß – wie die Vorbegrifflichkeit, so auch de-ren phänomenanalytische Strukturbestimmungen – durch den Gang derlogisch-historischen Rekonstruktion nicht unberührt bleiben, sondernselbst in den Prozeß der Überführung des »Vorstellungskonkretums« inein »Gedankenkonkretum« als »begriffene Unmittelbarkeit« mit einbezo-

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gen sind. Dies heißt zwar nicht, daß die phänomenalen Bestimmungen(sofern adäquat herausanalysiert) als solche sich in diesem Erkenntnispro-zeß ändern, es wird aber der übergreifende objektive Zusammenhang, indem sie stehen, damit die inhaltliche Eigenart der Erfahrung, deren»struktureller« Aspekt sie sind, so auf eine Weise durchdringbar, durchwelche auch die phänomenalen Bestimmungen erst ihre Bedeutung gewin-nen: »'Ich' finde mich durch die wissenschaftliche Rekonstruktion desrealen Zusammenhangs nunmehr bewußt an einer Stelle wieder, in der ichreal schon immer gestanden hatte. An der Stelle eines Individuums, dasauch in seiner 'Subjektivität' sich als Moment des gesellschaftlichen Pro-duktions- und Reproduktionszusammenhangs selbst reproduziert. 'Mei-ne' subjektive Möglichkeit des bewußten 'Verhaltens' zum gesamtgesell-schaftlichen Prozeß steht also nicht im Gegensatz zu dessen objektiverCharakteristik, sondern wird erkennbar als Qualifizierung der in diesemProzeß involvierten Individuen gemäß den Notwendigkeiten der gesell-schaftlich-individuellen Reproduktion auf diesem Niveau«: So wird er-kennbar, daß »die Qualifizierung von gesellschaftlichen Bedeutungen alsbloßen Handlungsmöglichkeiten, damit die 'Möglichkeitsbeziehung','Freiheit', Subjekthaftigkeit der Individuen, also auch der 'subjektwissen-schaftliche' Standort, selbst aus den materiellen Lebensverhältnissen der'gesamtgesellschaftlichen Synthese' als verselbständigtem, das Individuumpotentiell vor der unmittelbaren Notdurft seiner Beteiligung an der eige-nen Existenzsicherung entlastenden 'Erhaltungssystem'« sich ergeben(GdP, 347).

Mit der kategorialanalytischen Herausarbeitung des gesamtgesellschaft-lichen Vermittlungszusammenhangs, der in Überschreitung der »Unmit-telbarkeit« logisch-historisch rekonstruierbar ist und in dessen gedankli-cher Reproduktion die unmittelbare Erfahrung erst in ihrer Unmittelbar-keit, das heißt standort- und perspektivengebundenen Beschränktheit undmöglichen »Verkehrung« faßbar wird, sollte – in subjektwissenschaftli-cher Wendung – gleichzeitig vom Standpunkt des jeweiligen Subjekts daswidersprüchliche Zu- und Gegeneinander der unmittelbaren Erfahrungund der subjektiven Notwendigkeit ihrer Überschreitung in Richtung aufVerfügung über die objektiven Bedingungen, von denen sie abhängt,durchdringbar werden. So ist (im 7. Kapitel von GdP) in mannigfachenBezügen aufgewiesen, unter welchen Voraussetzungen und auf welcheWeise die unmittelbare Daseinserfüllung und Lebensqualität durch dasVerharren in der »Unmittelbarkeit« bloß deutender Weltsicht etc. geradenicht entwickelbar ist, sondern durch Angst und Bedrohtheitszentrierungzersetzt wird, indem das Subjekt in die defensive Haltung der Realitätsab-wehr als Grundlage »freiwilliger« Unterwerfung unter die bestehendenMachtverhältnisse gedrängt ist. Dies implizierte gleichzeitig die Herausar-beitung der vielfältigen Zusammenhange zwischen der handelnden Erwei-

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terung der Verfügungsmöglichkeiten über objektive Lebensbedingungenund der Angstüberwindung in Entfaltung subjektiver Qualität der Welt-und Selbsterfahrung etc. – Damit läßt sich sowohl auf der Ebene der Ge-winnung subjektwissenschaftlicher Kategorien wie auf der Ebene ihrerFunktion in der Hand der Betroffenen die Möglichkeit und Notwendigkeitexplizieren, in gedanklicher Reproduktion der Wirklichkeit im Ansatz ander unmittelbaren Erfahrung diese selbst in der Erfassung von übergrei-fenden objektiven Strukturen zu überschreiten, die gerade, indem sie nichtdie Struktur der unmittelbaren Erfahrung bloß verdoppeln oder extrapo-lieren, die Eigenart und den Stellenwert der »Unmittelbarkeit« unsererDaseinsbezüge wissenschaftlich wie lebenspraktisch durchdringbar ma-chen. Die Voraussetzung, daß der Mensch vom Standpunkt seiner subjek-tiven Lebenswelt aus, obwohl er ihn nie verlassen kann, dennoch den wi-dersprüchlichen objektiven Vermittlungszusammenhang dieser Lebens-welt, damit seine eigene Stellung im gesellschaftlichen Gesamtprozeß, ge-danklich/praktisch zu erfassen vermag, ist die methodologische Basisvor-aussetzung materialistischer Dialektik – die vor allem anderen darin be-gründet ist, daß (spezifiziert auf die jeweilige Fragestellung) der methodi-sche Weg dahin (in der skizzierten Weise) als Weg vom Vorstellungskon-kretum über die Abstraktion zum Gedankenkonkretum aufgewiesen undbeschritten wird.

Von diesen Überlegungen aus können wir nun die Bestimmung des Ver-hältnisses zwischen phänomenologischer und logisch-historischer Analyseauf die allgemeinste Formel bringen: Wenn einerseits die phänomenologi-sche Analyse für die logisch-historische Rekonstruktion (in ihrer subjekt-wissenschaftlichen Spezifizierung) die Funktion einer Minimalwissen-schaft (d.h. in gewissem Sinn »Fundamentalwissenschaft«) hat, durchwelche die Struktur der unmittelbaren Erfahrung als Ausgangs- und End-punkt der Rekonstruktion zur Geltung gebracht werden soll, so ist ande-rerseits die phänomenologische Psychologie (vorausgesetzt, ihre Struktur-kriterien sind erfüllt), weder für die Methodologie der historischen Rekon-struktion des übergreifenden materiellen Reproduktionszusammenhangsnoch die dabei gewonnen Ergebnisse zuständig und verantwortlich. So ge-sehen, ist der Umstand, daß die Phänomenanalytik mit ihren Strukturbe-stimmungen sich im hier diskutierten Falle gerade innerhalb eines marxi-stischen Ansatzes der Subjektwissenschaft wiederfindet, dem phänome-nologischen Ansatz in gewisser Weise äußerlich: Er könnte sich genausogut innerhalb gänzlich anders gearteter human- bzw. sozialwissenschaftli-cher Ansätze über menschliche Subjektivität wiederfinden und hätte dem– immer vorausgesetzt, diese hatten ebenfalls die Filter der phänomeno-logischen Strukturkriterien passiert – genau so wenig hinzuzufügen. Hierdrängt sich für mich wieder die Parallele mit der Logik als noch funda-mentalerer »Minimalwissenschaft« auf: Auch die Logik ist nur dafür zu-

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ständig, ob etwas widerspruchsfrei, aber nicht, was dabei ausgesagt ist. –Insoweit kann aber auch umgekehrt die logisch-historische Analyse – et-wa in Gestalt unserer subjektwissenschaftlich-kategorialanalytischen Be-mühungen – von ihrem Verfahrensansatz und den dabei erlangten Be-funden aus zur phänomenologischen Analyse weder kritisch noch »posi-tiv« etwas beisteuern: Sie muß sich vielmehr (wie ich dies versucht habe),sofern sie einschlägiger »minimalwissenschaftlicher« Vergewisserungen ih-res Gegenstandes bedarf, dazu im Zusammenhang der eigenen Fragestel-lung in die phänomenanalytische Sicht- und Verfahrensweise selbst einlas-sen (und kann auf dieser Ebene sich dann auch zu phänomeno1ogischenAnsätzen/Befunden »kritisch« verhalten). Es macht also in diesem Kon-text keinen Sinn, die phänomenologische Analyse (wie die formale Logik)vom Marxismus aus als »bürgerliche« Wissenschaft, »idealistisch« o.ä.zu kritisieren – sie liegen in ihrem minimalwissenschaftlichen Statusquasi noch unterhalb der Spezifikationsebene, wo diese Kritik greifenkönnte.

Grundlegend anders ist die Problemlage allerdings da, wo »phänome-nologische« Konzeptionen die methodologische Basis der Strukturanalyseunmittelbarer Erfahrung überschreiten, etwa, indem sie (wie z.B. dieEthnomethodologie, Aspekte des symbolischen Interaktionismus etc.) aufphänomenologischer Grundlage allgemeine gesellschaftstheoretischeTheoreme entwickeln wollen. Da dies notwendig impliziert, daß dabei»vermittelte« gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge nach dem Musterder »Unmittelbarkeit« betrachtet, somit die Notwendigkeit eines selb-ständigen methodologischen Ansatzes zur gedanklichen Rekonstruktionmaterieller gesellschaftlicher Reproduktionsprozesse verkannt wird, impo-nieren solche Konzeptionen vom marxistischen Standpunkt aus ohne wei-teres als »bürgerliche« Konzeptionen – dies schon deswegen, weil damitdie bürgerlich-formbestimmte Befangenheit in der Unmittelbarkeit, damitscheinhafte Unbetroffenheit des Subjekts von gesamtgesellschaftlichenKlassenantagonismen und Unterdrückungsverhältnissen, als »allgemein-menschliche« Situation mystifiziert ist, so die Widersprüchlichkeit zwi-schen individueller Lebenswelt und gesamtgesellschaftlichem Prozeß, dadieser ja nach deren Modell verstanden wird, nicht auf den Begriff ge-bracht werden kann etc. – Eine analoge Problematik kann sich ergeben,wenn phänomenologische Analysen mit erkenntnistheoretischen Bestim-mungen kontaminiert, also etwa aus den Grenzwerten des unmittelbarenZugangs zur Realität auf »idealistische« Weise entsprechende Grenzen dermenschlichen Erkenntnis überhaupt extrapoliert werden (was ich nicht nä-her ausführen will).

Mit Bezug auf die phänomenologische Psychologie ist in diesem Zu-sammenhang die Frage zu klaren, wieweit sie in ihren verschiedenen Spiel-arten tatsächlich auf den gemeinsamen Nenner einer phänomenologischen

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Strukturanalytik des psychologischen Gegenstandes zu bringen ist undwieweit nicht die phänomenologische Psychologie in bestimmten Varian-ten als eigenständiger Zugangsweg zur Erforschung inhaltlicher Fragenverstanden bzw. praktiziert wird. Damit wäre dann hier ebenfalls der Gel-tungsbereich der Phänomenanalyse überschritten, die dargelegten Krite-rien für deren wissenschaftlichen Begründetheit wären so nicht mehr an-wendbar, und die Diskussion über die methodische Tragfähigkeit derge-stalt ausgeweiteter »phänomenologisch-psychologischer« Ansätze wärequasi neu zu eröffnen.

Der Vorhalt solcher Zuständigkeitsüberschreitungen der phänomenolo-gischen Analyse reproduziert keineswegs nur bestimmte zufällige wissen-schaftliche Arbeitsteilungen, sondern gründet sich in der methodologi-schen Eigenart der Phänomenanalytik selbst, durch welche in den genann-ten Fallen deren legitimer Geltungsbereich verlassen wird, also ein Selbst-mißverständnis über Möglichkeiten und Grenzen phänomenologischerStrukturanalyse vorliegt. (Ähnliche Selbstmißverständnisse sind wiederumauch bei der formalen Logik aufzuweisen, etwa wenn aus dem Umstand,daß innerhalb des logischen Bezugsrahmens nur formale Widersprüche fi-xierbar sind, geschlossen wird, reale gesellschaftliche Widersprüche könnees nicht geben, vgl. »Sinnliche Erkenntnis«, 1973, 376 u. 384f.).

Der Umstand, daß sich auf prinzipieller Ebene der legitime Geltungsbe-reich der phänomenologischen Analyse relativ leicht bestimmen läßt undvon da aus die erwähnten Grenzüberschreitungen dingfest zu machensind, bedeutet allerdings nicht, daß solche Abgrenzungen nun auch in je-dem Einzelfall phänomenologischer oder phänomenologisch gemeinterVorgehensweisen leicht und eindeutig zu vollziehen wären: Dazu sind viel-mehr (u.U. mit den hier vorgeschlagenen Kriterien als analytischem In-strumentarium), wie stets in diesem Zusammenhang, sorgfältige Einzel-analysen am konkreten Material erforderlich (vgl. dazu vom kritisch-psy-chologischen Standort aus etwa die Analyse von Positionen des symboli-schen Interaktionismus und verwandter Ansätze in Morus MarkardsHerbst 1984 erscheinendem Buch »Einstellung – Kritik eines sozialpsy-chologischen Grundkonzeptes«).

Anmerkungen

1. Beide Veranstaltungen werden in dem Anfang 1985 (bei Campus, Frank-furt/M., erscheinenden) Kongreßbericht »Subjektivität als Problem psycho-logischer Methodik« publiziert bzw. dokumentiert werden.

2. Man könnte die Phänomenanalyse sicherlich auch als eine Spielart der Kate-gorialanalyse (i.w.S.) bestimmen, ich halte hier jedoch, indem ich nur die kri-tisch-psychologische Version der Kategorialanalyse im Auge habe, die beidenAnalyse-Formen terminologisch auseinander.

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3. Ich charakterisiere hier nur die Verfahrensweise der Kategorialanalyse: Dereninhaltliche Resultate sind in den jeweils angegebenen Original-Textstellennachzulesen.

4. In seinem Vortrag »Die Frage nach der Konstitution des Subjekts« hat W.F.Haug auf dem letzten Marburger Kongreß bei der Analyse der Genese undProblematik des Subjektbegriffs die kapitalistische Formbestimmtheit desAnsichziehens von Subjektfunktionen durch gesellschaftliche Instanzen inverschiedenen Zusammenhangen herausgearbeitet.

5. Als Vorläufer dieser Herangehensweise können in gewissem Sinne die Aus-führungen im 7. Kapitel der »Sinnlichen Erkenntnis«, besonders 7.2, »Dieindividualgeschichtliche Wahrnehmungsentwicklung in ihrer Bedingtheitdurch Bedeutungsmomente der bürgerlichen Gesellschaftsstruktur« (1973,220ff.) gelten, da dort ebenfalls die historischen Konkretisierungen durchbürgerliche Theorien (hier Wahrnehmungstheorien) hindurch versucht wor-den sind.

6. Der Übergang von der funktional-historischen Analyse der psychischenAspekte der »gesellschaftlichen Natur« des Menschen zur Vermittlungsanaly-se der allgemeinsten Bestimmungen des Psychischen unter den Bedingungender Dominanz des gesellschaftlich-historischen Prozesses sind in GdP jeweilsmarkiert durch den Obergang von Kap. 6.2 zu 6.3 bzw. 7.2 zu 7.3. Die zen-trale Bedeutung dieses Übergangs wäre vielleicht noch sinnfälliger geworden,wenn ich ihn als Gesichtspunkt für die Gliederung in Gesamtkapitel verwen-det und den inhaltlichen bzw. funktionalen Aspekt der Kategorialanalysedem untergeordnet hätte. Die schließlich gewählte vorliegende Systematik er-wies sich für mich jedoch als darstellungslogisch günstiger (so konnten dieeinzelnen Darstellungsschritte konsequenter aufeinander aufgebaut, dabeiWiederholungen eher vermieden werden etc.).

7. Darin liegt der wesentliche Unterschied zu den phänomenanalytischen Passa-gen in der »Sinnlichen Erkenntnis«: Zwar habe ich mich dabei explizit auf diePhänomenologie, etwa auf Merleau-Ponty (vgl. etwa 22ff.), aber auch schonauf Graumann (vgl. etwa 156f.) bezogen, dies hatte aber keine ausweisbarenFolgen für die Entfaltung und Begründung der Gesamtkonzeption (und istdeshalb mit gewissem Recht innerhalb der weiteren Arbeiten zur Entwicklungder Kritischen Psychologie weitgehend ignoriert worden).

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