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Lutz Musner Kultur als Textur des Sozialen Essays zum Stand der Kulturwissenschaften . /' Läcker .t ' ..,

Kultur als Textur des Sozialen

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Konzept von Lutz Musner, das die heuristische Metapher der "Kultur als Textur des Sozialen" erklärt.

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  • Lutz Musner

    Kultur als Textur des Sozialen

    Essays zum Stand der Kulturwissenschaften

    . /'

    Lcker

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  • Gedruckt mit freundlicher Untersttzung des BKA, Sektion frKunstangelegenheiten, des Bundesministeriums fr Bildung,Wissenschaft und Kultur, sowie des Magistrats der Stadt Wien,MA 7, Wissenschafts- und Forschungsfrderung.

    Erhard Lcker GesmbH, Wien 2004Herstellung: Novographic, WienPrinted in AustriaISBN 3-85409-402-7

    Fr Maria

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  • n tiefer Zuneigung meiner Lebensgefhrtin Maria Oppitz, dienieh - was mir immer wieder als Wunder erscheint - so akzep-iert, wie ich bin. Inhaltsverzeichnis

    Vorwort von Rolf Lindner 11 .

    Kulturwissenschaften: work in progress 15

    Kulturwissenschaften transatlantisch gesehen 37

    Kulturwissenschaften und Cultural Studies 61

    Kultur als Textur des Sozialen 77 .

    Wien - Texturen der Moderne 113

    Zur Ideologie der neuen Zeiten 135

    Die neue Aristokratie des Geistes .................... 151

    Geist und Massen(kultur) 165 ..........................

    Literaturverzeichnis 179

    Drucknachweise ................................. 185

  • Bezug zwischen den Ungleichheit produzierenden Machtverhlt-nissen, wie sie in der Produktion, Distribution und Konsumptionvon Gtern eingeschrieben sind, und dem kulturellen Gebrauchdieser Gter. Aber dieser Bezug ist, wie es unsere Alltagserfah-rung nahe legt, vorhanden. Denn wir wissen, dass es nach wie vorbestimmte soziale Gruppen bzw. Allianzen von Interessens-trgern gibt, die klar defLnierte konomische und/oder politischeZiele verfolgen und festzulegen versuchen, welche Bedeutungenzirkulieren und welche nicht, welche Geschichten erzhlt werdenund worber wie in der ffentlichkeit Konsens bzw. Dissensherrschen soll und welche kulturellen und materiellen Ressourcenwem fr welche Zwecke verfgbar gemacht werden.

    Die ungleichen Geschwister Cultural Studies und Kulturwissen-schaften bedrfen - um das anfnglich gebrauchte Bild abzurun-den - einer therapeutischen Intervention, um eine Familien-zusammenfhrung und damit die Integration des verlorenen drit-ten Geschwisterteils politische konomie zu ermglichen. Dennso wie die Kulturwissenschaften vor der Herausforderung einesum die konomie erweiterten Begriffs von Kultur stehen unddamit wieder auf Zusammenhnge zurckverwiesen werden, wiesie bereits an ihrem Anfang um 1900 von Max Weber und GeorgSirnmel thematisiert wurden, so werden auch die Cultural Studiesmit Fragen der Dialektik von Kultur und konomischer Ungleich-heit konfrontiert, wie sie Raymond WilIiams und RichardHoggart sehr woW noch im Blick hatten.

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    Kultur als Textur des Sozialen

    Ausgangspunkt dieser berlegungen ist ein mehrfaches Unbe-hagen am aktuellen Stand kulturwissenschaftlicher Debatten. Zumeinen ist es ein Unbehagen an eng gefhrten Themenstellungen,die Kulturstudien entweder auf Probleme kultureller Identittenfestlegen und sie primr als Gender Studies und Race Studieskonzeptualisieren und zum anderen ist es ein Unbehagen an derweitgehenden Entkoppelung von kultur- und gesellschaftsanalyti-schen Fragestellungen, die die Sphre von Konsum, Freizeit undMedien privilegiert und die harten Signaturen aktueller gesell-schaftlicher Entwicklungen - Wirtschaft, Arbeitswelt undTechnologiewandel - weitgehend ausklammert. Ein zustzlichesUnbehagen rhrt von einem do pelten Effekt einer Textua-lisierung und Exotisierung kultureller Gegenwartsphnomene her,der einerseits Kultur exklusiv als Text- und Zeichenzusammen-hang definiert und ~dererseits im Wege einer berzogenenEthnologisierung sozial~ Erscheinun~n vor allem unter demGesichtspunkt des Anderen interpretiert und dabei den Blick frdas Eigene, d. h. den Normalzustand und die Logiken des nicht-exotischen Alltags verliert. Und letztlich ist es ein Unbehagen dar-ber, dass den Meta-ErzWungen von ehedem nach all den auf-wendigen De- und Rekonstruktionen der Postmoderne offensicht-lich nichts anderes gefolgt ist als eine berhitzte Konjunktur undein (selbst)kritikloser Wandel von Theoriemoden. Es gibt guteGrnde anzunehmen, dass Theodor W. Adornos Prophezeiungeiner permanenten Repetition designierter Wrter mittlerweile dieRealitt des Wissenschaftsbetriebs prgt. Nicht mehr sosehr dieumsichtige Przisierung von Forschungsproblemen befrdertForscherkarrieren, sondern immer fters das nonchalante Lan-cieren von travelling theories und travelling concepts.

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  • Obwohl postmoderne Formen der Kulturanalyse und Kultur-theorie alles und jedes zu ihrem Gegenstand machen und damit -entgegen ihrer Propagandarhetorik der Differenz - eigentlicheinem Kult der Indifferenz huldigen, thematisieren sie einesnicht, nmlich die Entstehungsgeschichte ihrer eigenen hegemo-nialen Positionierung im akademischen Diskurs. Die Postmoder-ne, so knnte man pointiert sagen, hat ein gebrochenes Verhltnisnicht nur zu Geschichte und Gedchtnis im weiteren Sinne, son-dern auch zur eigenen Wissenssoziologie. Aber die Negation derGeschichte der Gegenwart, also der konsum- und kapitalismus-kritischen 1960er und 70er Jahre, macht ideologisch Sinn, dennsie ermglicht es, eine kritische Begrifflichkeit von Politik undkonomie als blo historisch und damit obsolet zu erklren undeiner Obsession des Symbolischen zu huldigen, die Kultur vonAkteuren und Semantik von Gesellschaft abtrennt.Gesellschaft - so knnte man das hier formulierte Unbehagenkurz resmieren - ist aus dem Diskurs heraus gefallen und an ihreStelle ist Kultur als kleinster Nenner fr all das getreten, wasfrher ausdifferenzierter Gegenstand einer vielfach vom Neo-marxismus inspirierten Sozialwissenschaft bzw. Forschungs-thema der politischen konomie war. Und Kultur ist nichtzuletzt durch die sogenannten linguistic, cultural & visual tumsihrer materiellen Voraussetzungen entkleidet worden: weder istvon Klassen bzw. ihren aktuellen sozialen quivalenten dieRede, noch gibt es so etwas wie konomische Interessen, die mitPolitik, Macht, Ohnmacht und Unterwerfung urschlichzusammenhngen. Die gesellschaftskritisch Perspektive wurdevielfach durch eine Betrachtungsweise ersetzt, die, auf dasSymbolische und Visuelle reduziert, nur noch danach fragt, wieReprsentationen miteinander korrespondieren bzw. einanderBedeutungen zu- und einschreiben.Der Postmodernismus, den man berspitzt die Kapitulatin derIntellektuellen vor einer universalisierten Kulturindustrie nennen

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    knnte, hat nicht nur seine eigene (Ideen)Geschichte entsorgt,sondern auch die Erinnerung an die kritische Tradition der frhenCultural Studies. Die wichtige Funktion, die einzelne Grllder-figuren wie Edward P. Tbompson, Richard Hoggarth und Ray-mond Williams, aber auch Stuart Hall der Sozialgeschichte undden konomischen Transformationen des Industrialismus undKapitalismus eingerumt haben, tritt in den zeitgenssischenCultural Studies und Kulturwissenschaften in den Hintergrund.Ihr historisch informierter gesellschaftskritischer Anspruchwurde durch poststrukturalistische Theorienbildungen berlagert,die die soziokonomischen Rahmungen menschlichen Handeinsausblenden und die Politik des Subjekts, die Konstruktionen vonIdentitt, Geschlecht und Etbnizitt in den Vordergrund stellen.Anstelle von Leitmotiven, die in Kulturanalysen Fragen nachdem Oben und Unten, dem Drauen und Drinnen undvon Macht und Ohnmacht stark gemacht htten, treten nunFragen von Globalitt und Lokalitt und von Zentrum undPeripherie in den Vordergrund. Damit richtet sich der Fokus aufjene Austausch- und Aneignungsprozesse zwischen den Kulturen,die unter den Stichworten Kreolisierung, Hybridisierung undcultural flows verhandelt werden. Dieser Perspektivenwechselzeigt einen t>ergang von einem lokalen zu einem' mobilenParadigma des Kulturbegriffs an - freilich oft um den Preis, dassdie Normalbiographien und Lebensmuster der ordinary peoplein unseren Gesellschaften in den mittlerweile bevorzugtenDiskursen ber mobile, ortsentkoppelte und fragmentierte Musterder Lebensfhrung nicht mehr vorkommen (Lindner 1993, 178).Die vormals hoch im Kurs stehende, territorial ausgerichteteGehusemetapher von Kultur wird zugunsten der Metaphereiner Welt in Bewegung verworfen, die den globalenAustausch von Ideen und Ideologien, Menschen und Waren, !Bildern und Botschaften, Software und Hardware ins Zentrumder Aufmerksamkeit rckt.

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  • Diesem Diskurstrang folgend pldiert Arjun Appadurai (1998)dafr, dass sich die Kulturwissenschaften vermehrt mit den kultu-relIen Dynamiken der Entrumlichung, den Entkoppelungen vonEthnos, Volkswirtschaft und Territorium und den damit einherge-henden radikalen Vernderungen kultureller Identitten beschfti-gen sollen. Zentral in seinen Fragestellungen einer Kulturwissen-schaft unter globalen Vorzeichen ist, wie in den Arbeiten vonRomi Bhaba, Gayatari Spivak u. a. auch, das Phnomen univer-salisierter Imaginationen, also tendenziell transnational angeleg-ter VorstelIungsrume, die die berbrachten Zuschreibungen vonOrt, Raum und Zugehrigkeit berlagern und relativieren.Phantasie sei, so Appadurai, nun nicht mehr blo ein utopischerFluchtpunkt aus starren sozialen Verhltnissen der Enge, Trgheitund Begrenzung, sondern vor allem eine neue Produktivkraft desgesellschaftlichen Wandels.

    Innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte jedoch hat sich dasGewicht von Imagination und Phantasie merklich verndert,und zwar genau in dem Mae, in dem der Prozess derEntrumlichung der Personen, Vorstellungen und Ideenneue Kraft gewann. Auf der ganzen Welt betrachten mehrund mehr Menschen durch die Optik mglicher, von denMassenmedien in jeder nur denkbaren Weise angebotenenLebensformen ihr eigenes Leben. Das bedeutet: Phantasieist heute eine soziale Praxis geworden; sie ist in ungezhltenVarianten Motor fr die Gestaltung des gesellschaftlichenLebens vieler Menschen in vielerlei Gesellschaften.(Appadurai 1998.22)

    Gegenstndlich befasst sich die transnationale Kulturanalyse derImagination primr mit medialen Ausdrucksformen, mit multi-kulturellen Phnomenen in Film, Fernsehen und Video sowie mitfiktionalen Texten, deren Lexik, Syntax und Semantik Autoren-biographien zwischen den Kulturen anzeigen und von einemSchreiben in fremden Sprachen geprgt sind. In diesen neuen wiealten Medien werden nicht nur Austauschprozesse zwischen

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    Kulturen artikuliert, sondern auch multiple Identitten themati-siert, die in den Erfahrung der Migration und Akkulturation wur-zeln und in den subaltern und postcolonial studies unter denSchlagwrter Hybridisierung und Third Space errtet wer-den.An diesen Analysen - seien es nun ethnographische, ftlm- odertextwissenschaftliche - fllt jedoch auf, dass die Vorstellungs-und Lebenswelten gewhnlicher Menschen - der ordinary peo-pIe im Sinne von Raymond Williams (Williams 1989) - wennberhaupt, dann nur am Rande vorkommen. Entweder problema-tisiert man Mobilitts- und Akkulturationserfahrungen akademi-scher Eliten, kosmopolitische Konsumfiktionen in Bollywood-Produktionen oder konomisch privilegierte Autorenschicksalewie das von Salman Rushdie. Weit weniger verhandelt werdenjene, keineswegs randstndigen Mobilittsstrme und Transfer-prozesse, die sich in den vielfltigen Formen pauperisierterArbeitsmigration zwischen Ost und West und Sd und Nordabspielen, und jene Phnomene der organisierten, grenzber-schreitenden Kriminalitt, die sich am krassesten im Drogen-,Menschen- und Organhandel anzeigen. Und praktisch gar nichtthematisiert werden die Phnomene alltglicher Mobilitt inunseren Gesellschaften, die sich meist ber kurze Distanzen undin nach wie vor eng bemessenen Rumen abspielen.Die Betonung der imaginren Dimension der Globalisierung undkultureller Austauschprozesse sttzt die VorstelIung von Kulturals einem universellen Signiftkationsprozess, in dem Texte aufTexte, Zeichen auf Zeichen und Bilder auf Bilder verweisen.Appadurai sieht die Ebene der Reprsentation nicht blo alsArtikulation symbolischer Formen, in denen lebensweltlicheProbleme und Prozesse verarbeitet werden, sondern als Quellen,die die Erforschung des Sozialen anleiten. Er geht davon aus,dass viele Leben heute unauflslich mit Darstellungsweisen ver-knpft sind, wir also gar keine andere Chance haben, als die viel-

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  • faltigsten Darstellungsformen (Filme, Romane, Reiseberichte) inunsere Analysen einzubeziehen, und zwar nicht nur alsAnhngsel, sondern als Quellen, auf denen wir unsere eigenenDarstellungen aufzubauen und mit denen wir unsere Darstellungin Frage zu stellen haben. (Appadurai 1998, 36f.)So sehr diese Sichtweise einer text- und medienwissenschaftlichverfahrenden Kulturanalyse entgegenkommt, so einseitig kannjedoch der damit einhergehende Kulturbegriff ausfallen. ImExtremfall gelangt man zu Jacques Derridas Fundamental-dekonstruktion, wonach die Wirklichkeit nichts anderes sei alsein Spiel textueller Zeichen. Konzentrieren wir unsere Forschungjedoch zu sehr auf das Imaginre, so verlieren wir allzu leicht diemateriellen Rahmungen menschlicher Handlungen und Vorstel-lungswelten aus dem Blick und richten wir unsere Aufmerk-samkeit zu sehr auf das, was als hybrid, diasporisch, translokalund transitorisch erscheint, so bersehen wir schnell das, wasgleich, starr und trge bleibt. Und wenn man sich primr auf dieMobilitt von Ideen und Images zwischen den Gesellschaften undKulturen konzentriert, verschwindet oft jene unspektakulre sozi-ale Mobilitt aus dem Blickwinkel, die in Gesellschaften einOben und Unten und ein Drinnen und Drauen erzeugt.Gegenber einer Kulturwissenschaft des Imaginren und globalnomadisierender Vorstellungswelten mchte ich in den folgendenAusfhrungen einen durch die politische konomie informiertenKulturbegriff stark machen, der Kultur selbst als einen

    --Transfervorgang beschreibt und zwar als einen Prozess, der das- -----Soziale_ins Symbolische bersetzt und ihm dieserart eine

    Textur aufprgt: . h. dem Gewebe des Sozialen lebensweltlicheBedeutungen aufprgt. Dieser Ansatz ist einem heuristischenPrinzip verbunden, dass Max Weber in seiner Wissenschaftslehremit folgenden Worten charakterisiert hat:

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    Frei von dem veralteten Glauben, dass die Gesamtheit derKulturerscheinungen sich als Produkt oder als Funktionmaterieller Interessenskonstellationen deduzieren lasse,glauben wir unsererseits doch, dass die Analyse der sozialenErscheinungen und Kulturvorgnge unter dem speziellenGesichtspunkt ihrer konomischen Bedingtheit und Trag-weite ein wissenschaftliches Prinzip von schpferischerFruchtbarkeit war und, bei umsichtiger Anwendung undFreiheit von dogmatischer Befangenheit, auch in allerabsehbarer Zeit noch bleiben wird. (Weber 1988, 166)

    Einen derartigen speziellen Gesichtspunkt, soziale Phnomeneund kulturelle Prozesse in Hinblick auf ihre konomischeBedingtheit und Tragweite zu untersuchen, bietet die sogenannteRegulationstheorie, die in den 1980er Jahren in Frankreich ent-wickelt wurde, um die Transformation industrieller in postindu-strielle Gesellschaften zu analysieren. Vereinfacht gesprochengehen die Regulationisten (Michel Aglietta 1979, Alain Lipietz1998) davon aus, dass nicht die idealtypische Konstruktion einesfreien Marktes das Wirtschafts- und Sozialleben regiert, sonderndass jedes hjstorisch wirksame Regime der Kapitalakkumulationvon spezifischen Formen der sozialen Regulation wirtschaftlicherBeziehungen begleitet wird. Nicht ein den Marktgesetzen inne-wohnendes, abstraktes Prinzip sorgt fr ein relatives Gleich-gewicht der Marktkrfte, sondern ein sozialer Regulationsmodusin Gestalt von Institutionen, Gesetzen, Formen der Arbeits- undAlltagsorganisation sowie Formen des kollektivem und indivi-duellen Handeins reguliert die drohende Anarchie reinerProfitlogik so, sodass eine Phase relativ stabiler Kapitalverwer-tung und ungefahrdeter gesellschaftlicher Reproduktion ermg-I!cht wird.Das Kapital ist zwar eine gigantische Produktivkraft, enthlt insich aber weder ein Prinzip der Selbstbeschrnkung noch eineLogik, die die Fiktion der neoklassischen Theorie - nmlich diesich selbst regulierende Vermehrung des Profits - zur empiri-

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  • schen Wirklichkeit machen wrde. Der Kapitalismus kann zwaralle sozialen Energien so umformen, dass sie in Wachstum ver-wandelt werden, er ist jedoch auerstande, konkurrenzierendeEinzelinteressen zu einem gesellschaftlichen Gesamtzusammen-hang zu vereinen. Vielmehr kann die Lenkung der Produktionunter der ausschlielichen Prmisse, Kapital zu akkumulieren, zueiner Zerstrung der Produzenten fhren, wie die historischenBeispiele von Proletarisierung und Massenarbeitslosigkeit zei-gen. Um die Produktivkrfte vor der Aufzehrung ihrer eigenenVoraussetzungen zu bewahren, bedarf es der Einbettung derLogik reinen Profits in vermittelnde Strukturen, die die Arbeits-kraft schtzen und Gesellschaften vor dem Auseinanderbrechenbewahren.Diese Strukturen sind weder das Ergebnis einer durch den Marktrealisierten hheren Vernunft, noch unmittelbare Konsequenz desWettbewerbs, I diese_ Strukturen gehen vielmehr aus derEinrichtung ge~cllschaftlicher Institutionen hervor, die wiederumdurch kollektive Werte legitimiert werden, die den yesellschaftenihren Zusammenhang verleihen. (Aglietta 2000, 20). Zwischenden Marktkrften und den Institutionen vollziehen sich so eineVielzahl von Vermittlungen, die ihren Ausdruck fmden inArbeitskonflikten um Lohn und Einkommen, in Debatten umArbeitspltze und sozialen Absicherungen, in gewerkschaftlichenOrganisationsformen, die die Interessen der Lohnabhngigen ver-treten, in Einrichtungen der Gesetzgebung, die soziale Rechteeinfhren und durchsetzen usw. Geschichtlich gesehen ist es dieSumme solcher Vermittlungen, die die industrielle Arbeits-gesellschaft erst hervorgebracht, die Lebens- und Konsum-bedingungen der Arbeitenden verbessert und den technischenFortschritt in einen wohlfahrtsstaatlich abgesicherten, auch sozialdefinierten Fortschritt verwandelt hat.Die Schlsselbegriffe der Regulationstheorie sind Akkumu-lationsregime, Regulationsmodus und institutionelle Formen. Ein

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    Akkumulationsregime ist ein zumeist ber einen lngerenZeitraum hin angelegtes stabiles Ordnungsgefge, also eine so-ziale und konomische Konstellation, die eine vergleichsweiseungestrte Vermehrung eingesetzten Kapitals erlaubt und histo-risch gesehen meist zwischen zwei Strukturkrisen eingebettet ist.Unter einem ~egulationsmodus versteht man jene Summe sozia-ler Regeln und Verhaltensweisen, die die soziale Ordnung einesAkkumulationsregimes aufrechterhalten und ein zumindest labi-les Gleichgewicht zwischen Profitstreben und den Erfordernissendes Gemeinwesens herstellen. Ein Regulationsmodus ist dieFolge von institutionellen Formen, verkrpert durch die Lohn-verhltnisse, die Geldverhltnisse, die Wettbewerbsverhltnisse,das Staatsverhltnis und das Verhltnis eines nationalenAkkumulationsregimes zu den weltwirtschaftlichen Gegeben-heiten. Verkrpert werden die institutionellen Formen in gesell-

    s~haftlichen Einrichtungen wie z. B. Interessensverbnden,Gewerkscllaften, staatlichen Institutionen, Religionsgemein-schaften usw.

    Armed with these basic concepts, regulation theory propo-ses to analyse modes of development, in other words, theway in which an accumulation regime and a type of regula-tion stabilise themselves over the long term and how theyenter into aperiod of crisis and then renew themselves.(Boyer, Saillard 2002,41)

    In der graphischen bersicht lsst sich die Regulationstheoriedem Beispiel der Wiener Wirtschaftsentwicklung im 20. Jahr-hundert modellhaft folgend skizzieren:

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    2 Ebenen, die "Ordnung" schaffen bzw. eine bestimmte Textur darstellen, die sich dann auch in der Architektur und Stadtplanung niederschlgt - ihre Homologie findet.

    Definition

    Def. Regulationsmodus

    Untere Ebene

  • Phasen Akkumulationsregime Regulationsmodus1867 - 1914 Extensiv: Industrialisierung, Markt + KommuneBoom Town Modernisierung, Spezialisierung, munizipaler

    Finanzkapital, Proletariat SozialismusMarktliberalismus

    1920 - 1934 Stagnation, Marktverlust, Stabili- Kommune + MarktRotes Wien sierung, Weltwirtschaftskrise, Reichensteuer

    MassenarbeitslosigkeitParadoxer Fordismus

    1938 - 1945 Kriegswirtschaft: staatlich regu- totalitrer StaatFhrersladi lierter Arbeits- und Gtermarkt Plan

    1945 - 1986 Intensiv: Wachstum, SozialpartnerschaftWieder Weltstadt Produktivitt, Massenkonsum, horizontale Umvertei-(Ziak 1965) Vollbeschftigung lung

    Fordismus

    1986 - Krise und Neufonnierung: Markt vs. KorporatismWien is.l anders ... Stagnation, Deindustrialisierung, vertikale Umvertei-

    Arbeitslosigkeit, Flexibilisierung, lungDienstleistungen AusterittspolitikPostfordismus

    Dieses stark vereinfachte Schema illustriert die Kernthese derRegulationstheorie, nmlich die soziokonomische Logik desbergangs von einem extensiven zu einem intensiven Akku-mulationsregime, d. h. einer frhen Phase des Kapitalismus, dieauf der Verallgemeinerung der Lohnarbeit, d. h. der Schaffungdes Proletariats beruhte, zu einer, in der die intensive Nutzungvon Arbeitskraft, d. h. die Erhhung der Produktivitt vermittelsTechnologie und organisatorischer Effizienz im Mittelpunkt steht.Das liberale Akkumulationsregime der Grnderzeit forcierte inWien den Markt und sein Regulationsmodus beschrnkte dieRolle des Gemeinwesens auf die Schaffung kommunalerInfrastruktur sowie die Erlassung von Gesetzen, die eine mg-lichst billige und ungehemmte Nutzung von Arbeitskraft erlaubensollten. Die Krise des liberalen Regimes, verstrkt durch die

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    Folgen des ersten Weltkrieg und prolongiert durch den wirtschaft-lichen Kollaps von 1929 sowie die erneute Destruktionswucht deszweiten Weltkriegs, fhrte nach 1945 zu einem intensiven Akku-mulationsregime, das durch die Steigerung von Produktivitteinen Wachstumsverbund von Massenproduktion, Massenkon-surn und Wohlfahrtsstaat hervorbrachte, wie er in dieser Phase frdie meisten westeuropischen Industriestaaten typisch war.

    Dieser fordistische Regulationsmodus, der hierzulande im RotenWien - allerdings in der paradoxen Konstellation eines kommu-nalen Sozialstaats, dem bald keine funktionierende Markt-wirtschaft mehr gegenberstand (Mattl 2000b) - erprobt wurdeund in Gestalt der Sozialpartnerschaft in der 2. Republik hegemo-nial wurde, fute auf einer historisch neuartigen Verschaltung derFaktoren Kapital und Arbeit. Der Begriff Fordismus erinnert anden Automobilhersteller Henry Ford, der zum ersten Mal dieMassenproduktion standardisierter Industriegtern zu erschwing-lichen Preisen einfhrte und so deren Konsum durch breiteBevlkerungsschichten mglich machte.

    The logic of this type of organization, as Ford noted, wasthat customers could have an automobile in any colour theydesired - as long as it was black; and this is a useful meta-phor for the relations between producers and consumersembodied in the early form, operating to rigid, standarclizedmies of production, which restricted the development of dif-ferentiated consumer culture. ( O'Sul\ivan et al. (eds.)2001, 117)

    Fr sterreich und Wien implizierte der fordistische Regula-tionsmodus die industrielle Massenproduktion von Rohstoffenund Halbftnalprodukten durch die Verstaatlichte Industrie frkleinere und mittlere Unternehmen, den Massenkonsum dieserGter, eine umfassende Mobilisierung der Gesellschaft (Autosund Autobahnen), die Industrialisierung der Lebensmittel-

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  • produktion, eine keynesianische Fiskalpolitik zur Erhaltung derVollbeschftigung und Finanzierung des Sozialstaates sowie eineAusbalancierung der Interessen von Kapital und Arbeit durcheinen sozialpartnerschaftlichen Korporatismus. Eine vergleichs-weise breite Streuung der Einkommen frderte eine umfassendeModernisierung der Lebensweisen und bewirkte damit einen tief-greifenden Wo de der, Alltagskult~. Wie ist nun aus Sicht desvorher Gesagten der Zusammenhang von Akkumulationsregimes,Regulationsweisen und kulturellen Phnomenen zu verstehen?AJain Lipietz (1998, 89ft.) hat die Metapher des Webstuhls vor-geschlagen, um die Dynamik von Akkumulationsregimes undsozialer Regulationsmodi zu versinnbildlichen. Dieser Metapherfolgend kann auch die Funktion des Kulturellen veranschaulichtwerden. Wenn man die Schussfden in einem Webstuhl als dasAkkumulationsregime und die Kettfden als den Regulations-modus begreift, so wre das entstehende Gewebe die Gesellschaftund dessen Textur die Kultur der jeweiligen historischen Akku-mulationsphase. Die Kettfden vermitteln zwischen dem Marktsowie der Logik der Profitrnaximierung einerseits und den jehistorischen Kontexten und Artikulationen des Sozialen (Familie.Verbnde, Institutionen, Staat etc.) andererseits. Die Schussflidenwiederum reprsentieren die je nach Zeit und Ort unterschiedlichentwickelten EntwickJungsstadien des Kapitalismus.Kultur als Textur des Sozialen ist dieser Metapher zufolgeweder als ein direktes berbauphnomen von historisch spezifi-schen Produktionsverhltnissen und Produktivkrften zu verste-hen noch als eine blo ber Identittskonstruktionen vermittelteEbene von Reprsentationen zu konzipieren. Kultur im Weber-schen Sinne verstanden als bedeutungsgenerierende Dimensionder sozialkonomischen Struktur des menschlichen Gemein-schaftslebens entsteht vielmehr aus den vielen, wechselseitigenVerschaltungen und Vermittlungen von Kapitalakkumulation undsozialer Regulation. Die institutionellen, alltagspraktischen und

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    mikropolitischen Regelungen einer auf Marktbeziehungen abge-stellten Gesellschaft bewirken spezifische, kontextbezogeneMusterungen des sozialen Gewebes, die man als Kultur im weite-sten Sinne deuten kann - nmlich als Wertzuschreibun~undWerteinschreibungen, die dem sozialen KTer usammenhalt --=

    u~orientierung verleihen.Kultur kommt in dieser heuristischen Metapher wesentlich dieFunktion zu, einen sozialen RegulatioJ!.modus fr den Einzelne.nwie auch fr Kollek .ve leb- und erfahrbar zu machen. Kultur

    - -

    wre dann als ein Trans~or ang zu interpretieren, durch den'te (Texte, Diskurse, Medien), Gegenstnde und Vorrich-

    tungen der alltglichen bzw. mate~llen Kultur soWie1cu1ttifellePraktiken (Kommunikations- und Konsumpraxen) mit Wertigkeiund Bedeutung a~fgeladen werden-:Die Textur des Sozial~n, d.h.die lebensw ltlic_he Dimension der vielen Vermittlungen zwi-schen Ka ital und Gesellschaft, die uns so selbstverstndlichumgibt wie die Atmosphre, manifestiert sich in vielerleiZusammenhngen: in Geschlechterrollen ebenso wie in derOrganisation des Arbeit, in den Objekten und Ritualen des tg-lichen Lebens, in den Architekturstilen, in den Reprsentations-formen des Politischen und in gruppenspezifischen Subkulturenwie denen der Angestellten, der Arbeiter, der Unternehmer undder Brokratie. Diese Textur des Sozialen reprsentiert, wier _David Harvey in seinem Buch The Condition ofPostrnodernityausfhrt, eine umfassende Lebensweise.

    ......---

    Postwar Fordismus has to be seen, therefore less as a meresystem of mass production aod more as a total way of Iife.Mass production meant staodardization of product as weil asmass consumption; and that meant a whole new aestheticand commodification of culture ... (Harvey 2000, 135)

    Harvey interpretiert damit einen sozialen Regulationsmodus, d. h.einen Modus, der die Reproduktion der gesellschaftlichen

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    kontextbezogene Musterungen des sozialen Gewebes, die man als Kultur im weite- sten Sinne deuten kann - nmlich als Wertzuschreibun~und Werteinschreibungen, die dem sozialen KTer usammenhalt--= u~orientierung verleihen.

    Beide Ordnungsebenen bringen dann auch einen Wandel in der Alltagskultur mit sich.

    Das versucht er dann zu erklren

    Wenn man die Schussfden in einem Webstuhl als das Akkumulationsregime und die Kettfden als den Regulations- modus begreift, so wre das entstehende Gewebe die Gesellschaft und dessen Textur die Kultur der jeweiligen historischen Akku- mulationsphase.

    heuristische Metapher!!!

    Und eben auch in der spezifischen Medienkultur!

  • Verhltnisse sicherstellen soll, nicht nur als einen institutionellenund einen politischen Zusammenhang, sondern zugleich auch alseine kulturelle Formation. Die analytische Figur, soziale Regula-tiS'weisen synchron als eine umfassende Lebensweise zu den-ken, erinnert an den von Raymond Williams und E. P. Thompsonunternommenen Versuch, klassenspezifische structures of fee-ling und kollektive Mentalitten in eine enge Korrelation mitden soziokonomischen Verhltnissen zu bringen. Deshalb heituns analytisch der kulturellen Seite eines Regulationsmodus - seies der Liberalismus, Fordismus oder Postfordismus - zuzuwen-den, darum nichts anderes, als uns der kulturellen Verarbeitungjeweils spezifischer historischer Verschaltungen von konomieund Gesellschaft zuzuwenden.Geht man von einem solcherart vermittelten Begriff von Kulturaus, der symbolische Formen in einen Strukturzusammenhangvon Produktivkrften und Produktionsverhltnissen, d. h. vonhegemonialen Ordnungen der Kapitalvermehrung und ihrerRegulation stellt, so ergeben sich zum Teil neue und berraschen-de Lesearten fr die Stadtkultur und Architektur Wiens im 20.Jahrhundert. Ich will dies an fnf markanten Architektur-beispielen erlutern: der Stadtbahnarchitektur von Otto Wagner,dem Karl-Marx-Hof von Karl Ehn, dem Ringturm von ErichBoltenstern, der Opernpassage von Adolf Hoch und der jngstfertig gestellten Revitalisierungsarchitektur der SimmeringerGasometer durch die Architektengruppe Coop Himmelblau,Wilhelm Holzbauer, Jean Nouvel und Manfred Wehdom. DieErbauungsdaten 1900, 1930, 1955 und 2001 verweisen zudem aufvier, fr Wien entscheidende Regulationsphasen der stdtischenkonomie - die liberale, die frh- bzw. paradoxfordistische, diefordistische und die postfordistische.

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    Stadtbahnstation Nudorfer Strae

    5 Beispiele

    Deshalb heit uns analytisch der kulturellen Seite eines Regulationsmodus zuzuwenden, darum nichts anderes, als uns der kulturellen Verarbeitung jeweils spezifischer historischer Verschaltungen von konomie und Gesellschaft zuzuwenden.

    "Kultur als Textur" als "heuristische Metapher" erffnet analytische Mglichkeiten: es "ergeben sich zum Teil neue und berraschende Lesearten fr die Stadtkultur und Architektur Wiens im 20. Jahrhundert"

    eine kulturelle Formation

  • Die Wiener Stadtbahn, die in den Jahren 1894 - 1900 realisiertwurde, reprsentiert nicht nur eine der wesentlichen Infra-strukturleistungen des Munzipalsozialismus der Regierungs-periode von Brgermeister Karl Lueger, sondern bewirkte aucheine tiefgreifende nderung des Stadtkrpers. Thr radiales Systemder Linienfhrung verband erstmals die Wiener Vorstdte mitein-ander und ermglichte so eine flchendeckende Mobilitt imStadtraum. Es durchbrach und vernderte die traditionelle zentri-fugale, sternfrmig angelegte Verkehrsgeographie, die die Ver-kehrswege ausgehend vom Zentrum in die Vorstdte und Vorortegefhrt hatte. Die Stadtbahn umschloss die Stadt durch eine weitgeschwungene Linie von Htteldorf nach Heiligenstadt und ver-band ber die Grteltrasse von der Donaukanallinie hin nachMeidling die groen Vorstdte von Hernals, Ottakring, Fnfbausund Rudolfsheim miteinander.!Diese Linienfhrung erlaubte'nicht nur eine strkere konomisCtle Integration der Vorstdte undihrer zumeist proletarischen Bewohner, sondern verfestigtezugleich eine tradierte ~uItu[elle Grenzziehung zwischenZentrum und Peripherie, die schon vorher durch den Linienwallsym 5ilisch und lebensweltlich "oneinander getrennt waren.Neben konomischen und stdteplanerischen Motiven waren aberauch militrische und sicherheitspolitische Erwgungen in dieLogistik der Architektur und Gleisfhrung eingeflossen, dennmittels der Stadtbahn sollten schnell Truppen- und Polizeiein-heiten an vorstdtische Orte potentieller Unruhen und Revoltenverbracht werden knnen, was sich schlielich bei der blutigenNiederschlagung der Arbeiteraufstnde im Februar 1934 alsuerst funktional erweisen sollte.Was Otto Wagner mit der Architektur der Stadtbahn schuf, warnicht nur ein neuer rationaler und bewusst schlicht gehaltener Stilvon Nutzbauten, der den ornamentalen Historismus andererZweckbauten konterkarierte, sondern zugleich eine gegenstndli-che, sinnlich wirkende und zugleich zeichenhafte Kultur der

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    Urbanitt, die den Phnomenen von Gre, Weite, Dichte undHeterogenitt der Grostadt gestalthaften Ausdruck verlieh. Wag-ner ging es um eine extensive Aneignung des Stadtraums, d. h.eine mglichst umfassende und effIziente Integration der Men-schen in den urbanen Zirkulationskreislauf. Fr ein Akkumu-lationsregime, das wesentlich von der raschen und kostengnsti-gen Verfgbarkeit von menschlicher Arbeitskraft bestimmtwurde, schuf er die logistische Grundlage, welche nicht nur dieflchendeckende Bewegung und damit umfassende Verwertungdes Faktors Arbeit revolutionierte, sondern auch den Austauschzwischen den vielen, lokalen Subzentren der industriellen undgewerblichen Produktion und des Handels befrderte, die frWien um 1900 typisch waren.hnlich den Gerne' .d~Qauten der Zwischenkriegszeit, reprsen-tiert Wagners Stadtbahn eine ber Gleisstrnge und Stations-knoten materialisierte Intervention im Stadtraum, die qualitativneue Dimensionen der Stadtkultur schafft. Die klassizistische

    -Fassadengestaltung der Stationen und die Viaduktlogik derSchienen- und Trassenfhrung verankern die Stadtbahn in denumgebenden, groderzeitlichen Gebudeensembles, lsen sieaber gleichzeitig u ..diesem Kontext heraus und verweisen aufeinen bergeordneten Gesamtzusammenhang. Dieser Gesamt-zusammenhang, der sich am deutlichsten in Wagners Gro-stadtstudie (Wagner 1911) zeigt, interpretiert die Stadt mit Hilfeeines zonal gegliederten Rasters, der beliebig erweiterbar ist undeine rasche urbane Expansion erlaubt ohne das Zentrum berpro-portional zu belasten. Ihm geht es somit um ein raumpolitis~hesOrdnungssystem, das im Wege einer Geometrie von Knoten undNetzen eine Verwebung von neuer Infrastruktur und historischerStadtsubstanz erlaubt. Jede Station und jeder Viadukt stehen inar

  • Stadtbahnbgen Whringer Strae

    Gesamtstruktur entsteht, die der Stadt eine Rahrnung gibt und denStadtkrper makroskopisch - gleichsam aus einer aerodynami-schen Perspektive heraus - ordnet (Blau 2003, 30f.).Der durch diese Bausystematik gesetzte Doppeleffekt vonembedding und disembedding bewirkt sowohl eine lebens-weltliche Verankerung und damit eine unmittelbare Interaktionvon Mensch und Technik wie auch eine bergeordnete, abstrakteLogik und sthetik eines vor allem ber Bewegungsvektorendefinierten Groraums, die dessen Wahrnehmung gleichermaenerweitern wie versachlichen. Die Textur des Sozialen, die inWagners Verkehrsinfrastruktur zum Ausdruck kommt, favorisiertZirkulation gegenber Lokalitt, Vernderung gegenber Sta-bilitt und die schnellen Bewegungslogiken des Kapital gegen-ber den langsamen Reproduktionslogiken menschlicher Arbeits-kraft. Die Stadtbahn ist somit nicht nur eine gigantische Bau-leistung, sondern vor allem auch eine Interpretationsleistung, d. h.ein mental mapping der Stadt, die die Topographie visuell,habituell und letztlich raumpolitisch neu auslegt, indem sieGeschichte und Gegenwart, Nhe und Distanz zu einer Architek-tur ~ystemischer Mobilitt verschmilzt.Die 400 Gemeindebauten des Roten Wien, die in Qualitt undQuantitt Wagners logistischer Intervention vergleichbar sind,reprsentieren einen anderen Zusammenhang von Akkumulationund Regulation. Sie versinnbildlichen nicht die Liquiditt undMobilisierung urbanen Kapitals, sondern seine kompensatorischePufferung durch die Bereitstellung erschwinglichen Wohnraumsfr die Masse proletarisierter Arbeiter, die das liberale Regimehervorgebracht hatte und deren leibliche Existenz durch dieExzesse privater Bauspekulation in der Grnderzeitphase bedrohtwar. Whrend Wagners Stadtbahn einen Regulationsmodus sym-bolisiert, der die Kapitalakkumulation auf der Basis von massen-hafter Arbeitsmigration und Proletarisierung unter Absehungsozialer Reproduktionserfordernisse regelte, symbolisieren die

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    Die Textur des Sozialen, die in Wagners Verkehrsinfrastruktur zum Ausdruck kommt, favorisiert Zirkulation gegenber Lokalitt, Vernderung gegenber Sta- bilitt und die schnellen Bewegungslogiken des Kapital gegen- ber den langsamen Reproduktionslogiken menschlicherArbeits- kraft. Die Stadtbahn ist somit nicht nur eine gigantische Bau- leistung, sondern vor allem auch eine Interpretationsleistung, d. h. ein mental mapping der Stadt, die die Topographie visuell, habituell und letztlich raumpolitisch neu auslegt, indem sie Geschichte und Gegenwart, Nhe und Distanz zu einer Architek- tur ~ystemischer Mobilitt verschmilzt.

    Das ist die Essenz: Die kulturelle Textur = hier: Architektur "reprsentiert einen [bestimmten] Zusammenhang von Akkumulation und Regulation". In meinem Fall reprsentieren Medien ebenfalls einen bestimmten Zusammenhang des Sozialen bzw. des Politischen. Mir geht es hier nicht darum den Zusammenhang zu beschreiben (er ist fr jedes Feld verschieden), sondern den Fokus auf Eben diese Textur aus Medien und Technologie zu richten, um die jeweiligen Kmpfe berhaupt verstehen zu knnen.

  • Gemeindebauten des Roten Wien einen Modus, der die Akkumu-lation zugunsten sozialer Reproduktion neu zu regulieren undherzustellen suchte. Dieser Regulationsmodus war die Folgeeiner durch Weltkrieg, Imperiumsverlust und Marktschrumpfungbedingten Krise, die ein neues Akkurnulationsregime generierte,dessen Profitlogik nicht mehr vom Export von Luxusgtern undder Konzentration von Finanzkapital bestimmt wurde, sondernvom Wachstum lokaler Mrkte und lokalen Massenkonsums. Dieprogressive Besteuerung von Mittelstand und Brgertum sowiedas kommunale Angebot kostengnstiger Wohnungen verweisenauf neue Vermittlungen von Kapital und Gesellschaft, in derffentliche Institutionen die Funktion bernehmen, die Kaufkraftbreiter Bevlkerungsschichten ber wohlfahrtsstaatliche Trans-ferleistungen zu befrdern.Dieser frhe fordistische Regulationsmodus verwandelte Produ-zenten tendenziell in Konsumenten, deren Einkommen nicht nureine auf das berlebensnotwendige beschrnkte Existenz-sicherung erlaubten, sondern bescheidene Formen des Waren-konsums ermglichen sollten. Er ist die Folge von institutionellenFormen, die in der Zwischenkriegszeit ber die lokale Sozial- undArbeitsgesetzgebung, kommunale gemeinwirtschaftliche Einrich-tungen und eine politische Massenorganisation in Gestalt derSozialdemokratie hergestellt wurden. Freilich, und dies ist die bit-tere Ironie dieses viel beachteten Experiments, hielt sich dieseFrhform sozialer Marktwirtschaft nur wenige Jahre zwischender Whrungskonsolidierung Mitte der 20er Jahre und derWeltwirtschaftskrise 1929.Der Karl-Marx-Hof wie auch die anderen Growohnanlagen, diesogenannten Superblocks, sind nicht nur Wohnhuser fr vier- bisfnftausend Menschen, sondern multifunktionale architektoni-sche Ensembles, die eine Vielzahl von reproduktiven Funktionenerfllten, die weit ber den eigentlichen Wohnzweck hinausgin-gen. Die hohe Bewohnerzahl erlaubte es de facto eine Stadt in

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    Karl-Marx-Hof

  • der Stadt zu begrnden, also eine umfassende Infrastruktur mitGeschften, Wschereien, medizinischen und hygienischenEinrichtungen. So hatte der Karl-Marx-Hof neben seinen 1.382Wohneinheiten 2 Zentralwschereien, 2 Bder mit 20 Wannenund 30 Brausen, zwei Kindergrten, eine Zahnklinik, eineMutterberatungsstelle, eine Bibliothek, ein Jugendheim, einPostamt, eine Krankenkasse mit angeschlossenem Ambula-torium, eine Apotheke sowie 25 Geschftslokale. Die unmittelba-re Anbindung an die Stadtbahn stellte zudem ein leistungsfahigesMassenverkehrsmittel direkt vor der Haustr zur Verfgung.Obwohl die Wohneinheiten blo zwischen 38 und 48 Quadrat-metern gro waren, sagt dies ber die eigentliche Wohnqualittwenig aus, da die Architektur auf die Integration von Wohn- undLebensfunktionen ausgerichtet ist und so das bauliche Artefakteng mit seinem sozialen Kontext verbindet. Abgesehen davon,dass diese kleine Wohnungen durch Balkone, Loggien undVeranden eine Erweiterung erfuhren und geschtzte Hfe eine Artvon integrierten Freizeitparks darstellten, hatten die Wohnanlagenein vielfaltiges Raumangebot fr Freizeit, Kinder- und Alten-betreuung sowie Mglichkeiten des verbilligten Konsums. Dasheit, die beschrnkte Wohnflche wurde durch viele Leistungeninnerhalb der Wohnanlage kompensiert, das Leben von der priva-te~ ,S..ehre zum Teil in die kollektive, gemeinschaftliche ve!la-

    I gert. (Achleitner 1996, 78)Diese Volkswohnpalste reprsentierten nicht nur eineFrhform sozialen Wohnbaus bzw. eine Vorwegnahme sptererFunktionalisierungen von Behausung und Konsum, sondern vorallem eine soziale und kulturelle Einbettung der Arbeiterklasse ineine Stadtgeographie, die sich an ihren Lebensinteressen und-bedrfnissen vorbei entwickelt hatte. Der Baustil realisiert dieseVerortung, die zugleich ein Sinngebungsprozess ist, einerseitsdurch voluminse Baukrper, die oft in starkem Kontrast zu ihrerhistorisch vermittelten Umgebung stehen, und damit eine Distanz

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    zu einer vielfach als entfremdet erlebten Umwelt sxmbolisieren)sowie andererseits durch eine starke Betonung der inneren rum-lichen Gliederung, die den Anspruch auf ein selbstbestimmtesLeben ihrer Bewohner unterstreichen sollte. Dieserart entstehenRefugien, Inseln und Schutzrume einer neuen Kultur in derStadt, die ein durch Autonomie charakterisiertes Verhltnis zurGesellschaft, d. h. eine eigene Lebenswelt befrdern sollte.~Gemei debauarchitektur ist so gesehen nicht nur eine frheZweckarchitektur fr die neuen Koppelungen von Arbeit, Marktund Konsum, sondern schuf zugleich eine Textur des Sozialen, (!die der Arbeiterklasse einen slii'iiffu. die eige~e Geschichte u~dBiographie sowie fr die Eigenwertigkeit gegenber den .Ausbeutungsverhltnissen der Arbeitswelt vermittelte.Der Ringturm von Erich Boltenstern aus dem Jahr 1955 versinn-bildlicht nicht nur eine exemplarische Wiederaufbauleistung imhistorischen Gefge der Ringstrae, sondern ebenso sehr eineneue Phase der Stadtentwicklung, nmlich den Eintritt Wiens ineine stabile, ber drei Jahrzehnte whrende Phase fordistischeRegulation. Ein Jahrzehnt nach Kriegsende befand sich dieWiener und mit ihr die gesamtsterreichische Wirtschaft in einerPhase strmischen Booms. Wirtschaftsplanerische und sozialpo-litische Manahmen sowie die internationale Finanzhilfe inGestalt des European Recovery Programs (Marshallplan) zeich-neten dafr verantwortlich, dass bereits Anfang der 1950er Jahrean das Wirtschafts- und Wohlfahrtsniveau der Zeit unmittelbarvor dem Ersten Weltkrieg angeschlossen werden konnte. DieVerstaatlichung der Grundstoff- und Schwerindustrie sowie derEnergieunternehmen lieferte nicht nur den Klein- und Mittel-betrieben kostengnstige Vorprodukte und Infrastrukturleistun-gen, sondern fhrten insgesamt zur Marktstabilisierung undVerstetigung des wirtschaftlichen Wachstums. Die fnfziger Jahrewaren durch eine ber die politischen Lager hinweg konsensualangelegte, angebotsorientierte und nachfragestimulierende

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  • Ringturm am Kai

    Wirtschaftspolitik gekennzeichnet, die durch ffentliche Investi-tionen bzw. Frderungen von Kreditmanahmen und Export-wirtschaft bei gleichzeitiger Lohnzurckhaltung gekennzeichnetwar. Mehrjhrige Investitionsprogramme zur Konjunktur-beschleunigung und Stabilisierung des Vollbeschftigungs-niveaus sowie flankierende Steuerreformen hatten das Ziel, diekleinen Einkommen und damit die Konsumfhigkeit breiterArbeitnehmerschichten anzuheben sowie Kleinbetrieben durchdie Senkung der Gewerbesteuer hhere Gewinnspannen zu garan-tieren. Die Gemeinde Wien erwies sich dabei durch hoheInvestitionsleistungen als ein wesentlicher Motor der Industria-lisierung aber auch des anwachsenden Dienstleistungssektors.Die fordistische Regulation der Wiener Wirtschaft (vgl. Mader-tbaner, Musner 2004), die, anders als in der Zwischenkriegszeit,nunmehr eine bis Mitte der 1980er Jahre anhaltende wirtschaftli-che Prosperitt mit sich bringen sollte, fand ihren typischen std-tebaulichen Ausdruck nicht nur in Brogebuden wie demRingturm, sondern auch im Ausbau der Infrastruktur fr das Auto,in den Schnellstrassen, Donaubrcken und Fugngerpassagen.Die von Adolf Hoch errichtete Opernpassage (1955), der Sd-bahnhof von Heimich Hrdlicka (1961) und andere Bauten wie dasSteyr-Daimler-Brohaus von earl Appel (1965) nahmen symbo-lische Funktionen im ffentlichen Raum ein und setzten markan-te Signale fr einen neuen Abschnitt der Stadtentwicklung. Alldiese Projekte eint weniger der Gedanke von embedding, d. h.einer organischen Einfgung der Baukonstruktion in das spezifi-sche stdtebauliche und stadtgeographische Quartier als vielmehrder Gedanke einer exemplarischen, symbolhaften Einzelpositio-nierung des Architekturobjekts unabhngig vom umgebendenBauensemble. Dieserart wurden zum einen bauliche Signifi-kanten in das Produktionsgefge der Stadt eingebracht, die dieWiederkehr der durch Krieg und Totalitarismus unterbrochenenModerne anzeigten, und zum anderen Baulsungen realisiert, bei

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  • Opernpassage

    denen bergeordnete Funktionalitten die Formgebung und diesthetischen Lsungen bestimmten. Funktionalitt verpaart mitsthetik signalisierten zudem nicht nur eine neue Qualitt derFunktionalisierung des Stadtraums, sondern darber hinausge-hend eine umfassende Rationalisierung und Technokratisierungaller Lebensbereiche, ein Projekt also, dass die architektonischeModeme schon vor dem Kriege z. B. im Bauhausstil antizipierthatte.Die Opernpassage am Kreuzungspunkt von Opernring und Krnt-ner Strae diente der Verflssigung des Autoverkehrs wie auchder Bewltigung einer hohen Passantenfrequenz (rund 90.000Fugnger tglich), da eine Unterfahrung des Rings ausstdtebaulichen Grnden ausgeschlossen wurde. Die ellipsenfr-mige Anlage mit einer Achsenlnge von 56 x 51 Metern, konzi-piert als kunstlichtdurchflutete Hallenkonstruktion, ist einMusterbeispiel fr eine gleichermaen funktionale wie stheti-sche Lsung im Stil der 50er Jahre (Achleitner 1990, 83) Die spe-zifische Mischung von Design, Decke und Konstruktion wie auchdas seinerzeit in der Mitte liegende Espressocafe und ein Kranzvon damals 18 Geschften spiegelte gleichermaen beschleunig-te, verdichtete und in Zirkulation gehaltene Verkehrsflsse wieauch einen Zeitgeist wider, der im Passanten weniger den Flaneurals vielmehr den Konsumenten erkannte.Mit dem Ringturm und seiner Fassaden- und Raumgliederung,die Vertikalitt und Homogenitt betont, wurde der neuen Ratio-nalitt der Arbeitswelt Ausdruck verliehen, die Heere vonAngestellten in strenge Hierarchien und komplexe Formen vonArbeitsteiligkeit einfgte. Seine schroffe Akzentuierung gegen-ber der umgebenden historistischen Bausubstanz unterstreichtnicht nur den architektonischen Abstand zur Grnderzeit, sondernversinnbildlicht auch die neue Instrumentalisierung menschlicherArbeit. Nicht mehr die massenhafte und billige Ware unqualifi-zierter Arbeit steht zur Disposition, sondern die intensive

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  • Nutzung qualifizierter Ttigkeiten durch den Einsatz vonTechnologie, Kommunikation und wissenschaftlich angeleitetemManagement. Mit der sich in dieser Phase vollziehenden Konzen-tration qualifizierter Dienstleistungen im Stadtzentrum (beispiel-haft demonstriert durch die Wiener Stdtische Versicherung imRingturm) und die Auslagerung der Industriebetriebe an die Peri-pherie folgt Wien den damals gngigen europischen Parameterneiner fordistischen Stadtentwicklung. Im Osten und Sden derStadt wurden weitflchige Areale fr grodimensionierte Wohn-anJagen bzw. Satellitenstdte (per Albin-Hansson-Siedlung,Grofeldsiedlung) sowie neue Industrie- und Wirtschaftsbetriebeerschlossen und durch Autobahnen und ffentliche Verkehrs-mittel miteinander vernetzt. Die sprunghafte Zunahme des Auto-verkehrs resultierte in Konzepten zur Herstellung einer autoge-rechten Stadt und einer konomisch wie kulturell ausdifferenzier-ten Suburbanisierung. Der groderzeitliche Kern Wiens blieb so- trotz tendenzieller Abwanderung - zwar als distinkte Kultur-geographie symbolisch mchtig, die Ausdehnung und Neuglie-derung der Stadttopographie hingegen verweisen jedoch auf die

    Ifr die Bltephase des Fordismus so typische sozialrurnlicheGliederung von Arbeits-, Konsum- und Wohnfunktionen.Die symbolisch verdichtete Architektur in der Periode von 1950

    --- -bis 1970, namentlich der Ringturm, die Stadthalle, der Sdbahn-hof und die vielen Beispiele autofunktionaler Infrastrukturbautenwie z. b. die Fugngerpassagen am Sdtirolerplatz und arnSchottentor vergegenstndlichen ein Akkumulationsregirne, des-sen Regulation den Stellenwert des Humankapitals betonte undWirtschaftswachsturn ber eine hochkomplexe Verschaltung vonKapital und Arbeit, von Lohn und Konsum und von Produktionund Reproduktion regelte. Die dem Fordismus innewohnendeTextur des Sozialen bestimmte menschliche Ttigkeit als mehr-wertschaffendes Organisationshandeln, Subjektivitt als Waren-verhltnis und Urbanitt als eine strukturelle Synchronschaltung

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    Gasometer 1 Haupteingang

  • von Arbeit und Reproduktion und von Vollbeschftigung undkernfamilirer Regeneration.Die Revitalisierung des Gasometerensembles in Simmering, dieEnde der 1990er Jahre von einer sterreichisch-franzsischenArchitektengruppe vorgenommen wurde, steht im Zusammen-hang mit einer historisch neuen Phase wirtschaftlicher Akkumu-lationsregimes. Im Zentrum stehen jetzt nicht mehr sozialpartner-schaftlieh geregelte Verhltnisse von Arbeit und Kapital und vonMassenkonsum und industrieller Massenproduktion, sondern eineweitreichende Flexibilisierung und Internationalisierung jenerRegelsysteme, in denen die Akkumulation von Kapital eingebet-tet ist. Die Gasometerarchitektur, die die Bereiche Konsum,Wohnen und Dienstleistungen in den Vordergrund stellt und dieArbeitswelt in einen davon separierten, anonymen Stadtraum ver-bannt, signalisiert das allmhliche Aufkommen eines postfordisti-sehen Regimes der konomie, bei dem Technologie verbundenmit hochqualifiziertem Humankapital im Vordergrund steht. DerLifestyle-Konsum dominiert als vorgebliche Kohsionskraft desGemeinwesens, whrenddessen die industrielle Massenproduk-tion und die klassische Industriearbeit, die zunehmend inBilliglnder verlagert werden, in den Hintergrund treten.Die Hinwendung zu einer postfordistischen Wirtschaft und damiteinhergehender strikter Fiskalpolitik setzte in Wien und ster-reich Anfang der 80er Jahre ein und ging mit einer tiefen Kriseder Verstaatlichten Industrie einher. Das Wachstum der ffent-lichen Ausgaben und der sozialstaatlichen Transferleistungenstieg zwar noch bis 1983 an und milderte so den gesamtwirt-schaftlichen Effekt der Industriekrise, Mitte der 80er Jahre began-nen aber die Umstrukturierungen von Wirtschaft und industriellerProduktion voll sichtbar zu werden. Drastische Rationali-sierungsmanahmen erhhten die Arbeitslosigkeit und die Zahlschlecht bezahlter Teilzeitarbeitsverhl tnissen whrenddessen dasPotential staatlicher Konjunkturmanahmen aufgrund sinkender

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    Budgetspielrume deutlich nachlie. Verstrkte Kapitalimporteund die wachsende Exportabhngigkeit der heimischen Volks-wirtschaft schrnkten zustzlich den Spielraum kommunaler undstaatlicher Interventionen ein. Postfordismus in Wiener Kontextheit in Schlagworten: Absatzkrise fr klassische Industriegter,Hinwendung zu hochtechnologieintensiven bzw. dienstleistungs-intensiven Produkten, eine damit einhergehende Medialisierungund Konsumprgung der Stadtkultur, Rationalisierung undFlexibilisierung der Arbeitsorganisation und Rcknahme vonArbeiternehmerrechten, Umverteilung von unten nach oben(Rcknahme sozialstaatlicher Regelungen, Verschrfung derBestimmungen fr Arbeitslose), graduelle Schwchung bzw.Denunziation der Gewerkschaft und der Sozialpartnerschaft (imWege eines sich aggressiv gebrdenden Rechtspopulismus),Abkehr von der Vollbeschftigungspolitik (Sockelarbeitslosigkeitwird als unvermeidlich angesehen), Transnationalisierung derkommunalen Wirtschaft (Abverkauf sterreichischer Unterneh-men an auslndische Konzerne) und schlielich insgesamt eineverstrkte Komrnerzialisierung und soziale Segmentierung desStadtraums und seiner lebensweltlichen Angebote.Das Gasometerensemble mit seiner funktionalen Fokussierungauf Konsumwelten und kommerzialisierte Lebensstile trgt die-sen Entwicklungen exemplarisch Rechnung. Die vier Gebude-teile sind durch eine durchgehende Shopping Mall mit rund 78Geschften miteinander verbunden, Restaurants und ein Kino-zentrum stellen Rekreationsflchen und -funktionen bereit undweitere Dienstleistungsbereiche von Arztpraxen, Banken, einerApotheke, Bros und Autogaragen bis hin zu Veranstaltungs-flchen, Wohnungen und einem Studentenheim simulieren e~eStadt in der Stadt, die freilich -=--rehr im Unterschied zum Karl-MaDC-Hof - keine lebensweltliche Utopie mehr symbolisiert, son-dern vielmehr einen totalen Marktzusammenhang. Die dieserartvermittelte Botschaft ist klar: der, der es sich leisten kann oder

    _.-----..-

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  • Gasometer 1 Innenansicht

    der, der es sich einmal leisten wird knnen, ist willkommen, wh-renddessen der, der ber wenig Einkommen und damit Konsum-optionen verfgt, dieser artifiziellen ~adt fernbleibenmge. Die Verortung dieses Bauensemble in e~er Infrastruk-turarchitektur des liberalen Akkumulationsregimes - die Gasome-ter wurden ursprnglich zur Versorgung Wiens mit Kokereigaszwischen 1896 und 1899 errichtet - verweist zudem auf eineninstrumentellen Historismus im zeitgenssischen Baugeschehen,durch den das grndzeitliche Raumgefge Wiens den neuenGegebenheiten angepasst werden soll. Ironischerweise sinddiese neuen Gegebenheiten in einem gewissen Sinne durchausalte, denn heute wie damals um 1900 werden durch solche archi-tektonische Interventionen im Stadtraum vor allem die Bedrf-nisse der sozial Bessergestellten befrdert. In dieses Gesamtbildfgt sich der Umstand, dass der Gasometemeubau das ersteWohnbaufrderungsprojekt der Gemeinde Wien ist, dessenAktien an der Brse gehandelt werden.Die dem Stadtkern gegenber randstndige Lage der Gasometerin einem ehemaligen suburbanen Industriegebiet, die allerdingsdurch die V-Bahn voll ins stdtische Verkehrsnetz integriert ist,zeigt an, dass die berbrachte Trennung von Zentrum undPeripherie nicht mehr zhlt und privilegierte Lebensinseln fle-xibel ber die Stadttopographie verteilt werden knnen. Nichtmehr die (soziale) Geographie bestimmt die Nutzerinteressen,sondern der Preis und eine exklusive Kombination von Wohn-,Arbeits- und Konsumoptionen, wobei holistische Inszenie-rungen, die ein distinguiertes Lebensgefhl und besonderes Flairevozieren, offenbar besonders. gefragt sind. Im Fall der Gaso-meter ist die Codierung eindeutig auf Jugend, Singles und kauf-krftige Mittelschichten abgestellt und die Mischung von alterIndustriearchitektur mit einer sich avantgardistisch und interna-tionalistisch gebenden Bausprache scheint jene Personen anzu-sprechen, die stark individualisierte Lebensstile jenseits von

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  • Familie, politischen Zugehrigkeiten und sogenannten Normal-biographien anstreben. Zwar hat der gewhlte Ort seine Vergan-genheit und bietet damit die Mglichkeit, sich selbst in einemumfassenderen stadthistorischen Zusammenhang zu positionie-

    (

    ren, zugleich aber erlaubt die postmoderne berformung desarchitektonischen Erbes und die damit verknpfte Multifunk-tionalitt des umbauten Raums eine Bhne fr ein breitesRepertoire sozialer Rollen und subjektiver Darstellungen.Geschichte kann so problemlos als neutrale Grundierung gese-hen werden, die keinerlei Auswirkungen auf das Erlebnis-spektrum der gelebten Gegenwart hat. Die durch Geschichts-verlust und ephemere Bauregie provozierte Knstlichkeit derGasometerarchitektur wird weniger als Schein erfahren, dennvielmehr als Folie, auf die undramatisch und problemlos Lebens-entwrfe immer wieder neu projiziert werden knnen.Die postmoderne Architektur Wiener Spielart, die ihren erstenHhepunkt im Neubau des Haas-Hauses am Stephansplatz durchHans Hollein (1990) erlebte, vergegenstndlicht ein Akkumula-tionsregime, dessen Regellogik den Stellenwert des Humankapi-tals mindert - sofern es sich nicht um Schlsselakteure der soge-nannten Wissensgesellschaft handelt - und entkoppelt dieserartdie dem Fordismus noch innewohnende enge Verschaltung vonsozialer Marktwirtschaft und Vollbeschftigung zugunsten einerProfitstrategie, die auf Finanzspekulation, automatisierter Produk-tion, steigender Arbeitslosigkeit und sozial hierarchisiertenKonsumstilen beruht. Die institutionellen Formen, die in der lan-gen Phase des Wirtschaftswachstums nach dem 2. Weltkrieg einevergesellschaftungsfrdemde Balance von Produktion und Repro-duktion, Gewinn und Einkommen herstellten, werden zugunstenarbeits- und sozialrechtlicher Vorkehrungen verndert, in denenRoutinettigkeiten und minderqualifizierte Ttigkeiten flexibili-siert oder gar marginalisiert werden, der Sozialstaat abgebaut undeine zunehmende Verarmung unterer sozialer Schichten im Wege

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    Haas-Haus am Stephansplatz

  • der sogenannten Zweidrittelgesellschaft bewusst in Kauf genom-men wird. Die dem Postfordismus innewohnende Textur desSozialen bestimmt also Arbeit als exklusive Wissens- und Mehr-wertproduktion, Subjektivitt als sozial stratifiziertes Konsum-verhltnis und Urbanitt als diachrones Verhltnis von exklusiverArbeit, sozial geschichteten Konsumwelten und vom Gemein-wesen abgetrennten Formen der Selbstreproduktion (Ich-AGs).Die regulationstheoretische Lesart kultureller Phnomene amBeispiel der Wiener Stadtarchitektur offeriert den vorhin zitiertenberlegungen Max Webers folgend keineswegs eine neueUniversaltheorie, sondern einen speziellen Gesichtspunkt, derein besseres Verstndnis jener symbolischen Ordnungen undFormen (materieller) Kultur ermglicht, die unmittelbar mit denharten, konomischen Signaturen der Moderne verknpft sindund zu ihrem Fundament und ihrer Legitimation beitragen.Kultur kann in dieser Lesart als ein Zeichen- und Normen-system verstanden werden, das zwischen spezifischen Akkumu-lationsregimes, also bergreifenden Ordnungen der Kapital- bzw.Profitlogik und ihren gesellschaftlichen Regulationsweisen einenSinn- und Bedeutungszusammenhang herstellt.

    Kultur als Textur des Sozialen bedeutet in diesem heuristischenModell weder eine schroffe Reduktion menschlicher Handlungenauf ein simplifizierendes Basis-berbau-Schema noch den tota-len Einschluss der Akteure in einen vorgegebenen Kfig vonSinn und Weltanschauung. Kultur wre in diesem analytischenVerfahren vielmehr als die Art und Weise zu sehen, wie objekti-ve Systemzwnge mittels eigensinniger Log~n von Tradition,Innovation und Zufall so in symbolische Formen bersct;twerden, sodass diese ZWnge durch die Menschen' subjektiv alseine umfassende Lebensweise - a whole way of life - erfahrenund im besten Fall beWltigt werden knnen.

    Wien - Texturen der Moderne

    Gemeinsam mit Wolfgang Maderthaner

    Die folgenden Ausfhrungen resmieren ein Forschungsprojektzur Wiener Moderne, das die Autoren gemeinsam mit einerGruppe l von Historikern, Politik- und Literaturwissenschaftlernsowie Soziologen seit 1995 durchgefhrt haben. Dieses Projektversucht die verschiedenen Phasen der Wiener Stadtgeschichte im20. Jahrhundert in einer transdisziplinren Forschungsperspektivezu untersuchen und einen kulturwissenschaftlichen Zugang starkzu machen der kulturelle Phnomene und Prozesse als,Artikulation soziokonomischer Konstellationen versteht.Ausgangspunkt des Projektes war das Unbehagen an einemzunehmend auf die literarische und sthetische Praxis verengtenBild Wiens im 20. Jahrhundert, das seinen Fokus auf die hochkul-turelle Bltezeit der Habsburger Metropole im Fin-de-Sieclevereinseitigt hatte und wesentliche Perioden der WienerGeschichte, vor allem aber das politische und kulturelle Krisen-szenario zwischen 1918 und 1938 sowie die Phase der materiel-len und kulturellen Rekonstruktion nach dem Zivilisations-bruch des Faschismus ausspart. In diesem zur Ikone eines inno-vativen Multikulturalismus geronnenen Stadtbild ist zwar viel dieRede von der knstlerischen und wissenschaftlichen Avantgarde(Klimt, Schiele, Kokoschka, MaWer, Freud, Mach etc.), die extre-men Unterschiede zwischen den gesellschaftlichen Klassen unddie daraus folgende rumliche wie kulturelle Segregation sowieder aufkeimende Antisemitismus und die populistischeMassenpolitik kommen darin - wenn berhaupt - nur am Rande

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    J Siehe Danksagung.

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