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Mitteilungsblatt, Dezember 2010 30. Jahrgang, Heft 2 LAGERGEMEINSCHAFT AUSCHWITZ - FREUNDESKREIS DER AUSCHWITZER

LAGERGEMEINSCHAFT AUSCHWITZ - FREUNDESKREIS DER AUSCHWITZER

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Mitteilungsblatt, Dezember 201030. Jahrgang, Heft 2

LAGERGEMEINSCHAFT AUSCHWITZ -

FREUNDESKREIS DER AUSCHWITZER

Inhaltsverzeichnis Seite

Der Vernichtung entgangen 1

Es ist noch nicht zu Ende 5Peter Weiss: Meine Ortschaft

Er war der Auschwitz-Häftling Nr. 62944 8Zum Tod von Kazimierz Orlowski

20 Jahre Auschwitz-Projekt in Mühlheim am Main 10

Aufruf gegen Abschiebung von Roma 11

Eine andere Art der Erinnerung 14Restaurierungsarbeiten in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau

In der Asservatenkammer der Gedenkstätte 16Plastiken von Anna Raynoch-Brzozowska

IAK-Präsidium tagte in Jerusalem 18

BuchbesprechungenRachel Kochawi: Das Brot der Armut 18Bogdan Bartnikowski: Eine Kindheit hinter Stacheldraht 21Frankfurt am Main - FrauenKZ Ravensbrück 23

Impressum:Herausgeber: Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer

Freiherr-vom-Stein-Straße 27, 35516 Münzenberg Internet: www.lagergemeinschaft-auschwitz.de

Redaktion: Hans Hirschmann, Tel. (06101) 32010

Bankverbindung: Sparkasse Wetterau (BLZ 518 500 79) Konto-Nr.: 20 000 503

Bei Spenden bitte Adresse deutlich schreiben, damit die Bescheinigung für die Steuererklärung zugeschickt werden kann.

Titelfoto: Skulptur „Muselmann“ von Anna Raynoch-Brzozowska (siehe S. 16 f)

1944 und 1945 haben in Budapestungarische Faschisten, sogenannte Pfeil-kreuzler, Juden an die Donau getriebenund dort erschossen. An diese Massen-morde erinnert das Denkmal „Schuheam Donau-Ufer“. Wie in der Ausgabe1/2010 des Mitteilungsblattes berichtet,haben wir auf Hinweis des ungarischenAuschwitz-Komitees in einem Brief mo-niert, dass auf der Hinweistafel nichtkonkretisiert ist, dass die Opfer Juden

waren. Darauf sicherte die ungarischeBotschaft in Berlin zu, dass unser Schrei-ben an den Oberbürgermeister und „diezuständigen Regierungsbehörden“ wei-tergeleitet werde. Da bisher noch keineRückmeldung erfolgte, hat die Lagerge-meinschaft nun mit Schreiben vom 30.Oktober 2010 bei dem Gesandten derBotschaft nachgefragt, ob es aus Ungarnschon Antworten gab.Neuigkeiten im nächsten Mitteilungsblatt.

NachgefragtMahnmal in Budapest: Schuhe am Donau-Ufer

Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer 1

Das nebenstehende Niemöller-Zitatstellte Imre Lebovits immer an den An-fang seiner Vorträge über die Verfol-gung der jüdischen Ungarn, die knap-pen Informationen seines eigenenÜberlebens während des Zweiten Welt-krieges sowie sein heutiges Engage-ment, die wenigen „Judenretter“ nichtin Vergessenheit geraten zu lassen.

Väterlicherseits hatte Imre Lebovits,der 1929 in der Kleinstadt Tiszafüredgeboren wurde, zwölf Verwandte undvon Seiten seiner Mutter 25. Davon er-lebten nur vier das Ende des Krieges

und die Befreiung - Imres Bruder unddie Eltern gehörten nicht dazu.

Kurz nach der Be-setzung Ungarns durchdie deutsche Wehr-macht im März 1944wurden die Juden sei-ner Heimatstadt in ei-ner Ziegelfabrik gettoi-siert. Sein Überlebenverdankt Imre LebovitsKapitän Kálmán Hor-vath, einem ungari-schen Offizier, der imImre Lebovits (links) mit Schülern und Lehrern in Nidda.

Zehn Tage waren Imre Lebovits und seine Frau Eva geborene Kálmán ausBudapest auf Einladung der Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis derAuschwitzer (LGA) Anfang November zu Gast in Hessen. Unter anderem be-suchten sie die Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der Universität Gießen und inLich das Bezalel-Begegnungszentrum in der ehemaligen Synagoge. Die beidenungarischen Überlebenden des Holocausts erläuterten aber hauptsächlich sowohlbei der Mitgliederversammlung der LGA in Frankfurt als auch bei Besuchen inverschiedenen Schulen, wie die Juden in ihrem Heimatland verfolgt wurden undmehr als 600.000 dem deutschen Rassen- und Vernichtungswahn zum Opfer fie-len. Beim letzten „Termin“ dieser Informationstour war Imre Lebovits am 9. No-vember 2010 im Museum der Stadt Butzbach Hauptredner bei der Gedenkveran-staltung zum Jahrestag der Reichspogromnacht vor 72 Jahren in Deutschland.

Als die Nazis die Kommunisten holten,

habe ich geschwiegen; ich war ja kein

Kommunist.

Als sie die Sozialdemokraten einsperr-

ten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein

Sozialdemokrat.

Als sie die Gewerkschafter holten, habe

ich nicht protestiert; ich war ja kein Ge-

werkschafter.

Als sie mich holten,gab es keinen mehr,

der protestieren konnte.

Martin Niemöller

Der Vernichtung entgangenImre Lebovits hat überlebt und

will ungarische „Judenretter“ nicht in Vergessenheit geraten lassen

2 Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer

Getto erschien und in einer illegalenAktion kräftige Jugendliche und er-wachsene Männer als Zwangsarbeiterrekrutierte. Die Gemusterten, darun-ter auch der damals 15-jährige Imre,Lehrling eines Pelzmeisters, wurdenan die Ostfront an den Fluss Don ge-bracht und mussten für die mit denDeutschen verbündete ungarischeArmee Schützengräben ausheben undandere Arbeiten verrichten. EineWoche nachdem Imre so Tiszafüredverlassen hatte wurden die im Gettozurückgebliebenen Juden, darunterseine Eltern, nach Auschwitz-Birke-nau deportiert und ermordet.

Im Getto BudapestEva Lebovits wurde 1937 in Buda-

pest geboren. Ihr Vater musste ab 1940Zwangsarbeit bei der ungarischenWehrmacht leisten. Er überlebte kurzvor Kriegsende den Fussmarsch überdie Grenze nach Bayern ins Konzen-trationslager Dachau und das Neben-lager Türkheim, wo er seine Befreiungund die Kapitulation Deutschlands er-lebte. Eva und ihre Mutter waren inBudapest in einem „Gelben-Stern-Haus“ mit anderen Familien auf en-gem Raum zusammengepfercht. ImNovember 1944 verschlimmerte sichdie Situation mit der Einweisung insGetto. „Dort waren die Verhältnisseschrecklich: wenig Lebensmittel undWasser, viele Krankheiten und keineMedikamente. Meine Familie wurdeam 18. Januar 1945 befreit. Dazu einschlimmes Beispiel: meine Mutter war47 Jahre alt und ihre Gewicht betrug

nur 36 Kilogramm“, berichtet sie.

Zum Schanzen am „Südostwall“Imre Lebovits Weg führte von der

Front am Don zurück durch Ungarnund bis nach Österreich ins burgenlän-dische Donnerskirchen. Dort befandsich eines von mehreren Auffanglagernfür Schanzarbeiter. Sie wurden ab Mit-te Oktober 1944 entlang der Grenzenach Ungarn eingerichtet.Die Häftlin-ge sollten den so genannten „Südost-wall“ errichten, ein System von Stel-lungs- und Befestigungsanlagen, dasden Vormarsch der sowjetischen Trup-pen stoppen sollte.Ab November 1944mussten auch zehntausende ungari-sche Jüdinnen und Juden unter un-menschlichen Bedingungen hierSchanzarbeiten leisten. Ende März1945, unmittelbar vor dem Einmarschder Roten Armee, wurden diese Häft-linge per Bahn, Schiff und häufig inmörderischen Fußmärschen nachMauthausen und Gunskirchen ver-bracht.Trotz Erfrierungen an den Bei-nen und überstandenem Flecktyphusüberlebte Imre Lebovits die Märscheund wurde in Mauthausen am 5. Mai1945 von der US Army befreit.

Das Auschwitz-AlbumSeine Ausführungen unterstützte

Imre Lebovits mit einigen an die Wandprojizierten Bildern, darunter eins vonseinem Vater sowie der Familie seinerFrau. Mit dabei auch ein Foto aus dem„Auschwitz-Album“*, das die ungari-sche Jüdin Lili Jacob durch Zufall fandund retten konnte. In diesen seltenen

* Das Auschwitz-Album. Die Geschichte eines Transports. Herausgegeben vonIsrael Gutman und Bella Gutterman. Wallstein Verlag, Yad Vashem. 2002

Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer 3

Foto-Dokumenten ist die Ankunft ei-nes Deportationszuges in Auschwitz-Birkenau festgehalten. Imre Lebovitszeigt das Foto mit zwei Jungen, dietypisch ungarische Mäntel und Kopf-bedeckungen tragen. Es handelt sichum Lili Jacobs Brüder Sril und Selig.„Wenige Stunden später starben diesebeiden Jungen und die meisten anderendes Tranzports in einer Gaskammer vonBirkenau“, kommentiert er knapp.

Die „Judenretter“Ausführlich ging Imre Lebovits auf

seine Forschungen zur geschichtlichenAufarbeitung der Schicksale ungari-scher Juden sowie deren Retter ein.Ne-ben dem bereits erwähnten KapitänHorvath nennt er insbesondere Tibor

Almásy,der als Oberleutnant der unga-rischen Armee Juden vor der Depor-tation in die Vernichtungslager rettete,indem er ihre Unterkünfte als vonFlecktyphus verseucht kennzeichnete,so dass die deutschen Besatzer und ihreungarischen Helfershelfer aus Angstvor einer eventuellen Ansteckung sieunbeachtet ließen.Juden gerettet habenauch Sára Salkaházi, die kaholischeSchwester Margit Slachta und der evan-gelische Pfarrer Gabor Szthelo. Sieführte Imre Lebovits als Beispiele vonweiteren Helfern an,denen er in seinem2007 auf ungarisch erschienen Buch einDenkmal gesetzt hat. „Ich finde dieseArbeit notwendig“, sagt der Ingenieurund Ökonom, der sich seit seiner Pen-sionierung intensiv mit den „Judenret-

Dieses Foto aus dem Auschwitz-Album führte Imre Lebovits bei den Vorträgen seinenZuhörern vor Augen: Es zeigt die Jungen Sril und Selig Jacob und andere ungarische Judenbei ihrer Ankunft in Birkenau. Einige Stunden später starben alle qualvoll in einer der Gas-kammern des deutschen Vernichtungslagers.

4 Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer

tern“ und der Judenpolitik in den Jahr-zehnten unter der Herrschaft desStaatsoberhauptes Miklós Horthy(1920 - 1944) beschäftigt.

Im Schatten der SpringerstiefelImre und Eva Lebovits,die ebenfalls

Ingenieurin an der TU Budapest war,setzen sich in verschiedenen antifaschi-stischen Organisationen für die Belan-ge von Holocaust-Überlebenden ein.Insofern sind sie über die derzeitige po-litische und gesellschaftliche Situationin Ungarn sehr besorgt. Dort haben

Parteien und Strömungen,die offen ras-sistisch gegen Juden, Roma und andereMinderheiten hetzen, großen Zulaufund gewinnen immer mehr an Einfluss.„Seit Auschwitz weiß man, man kannnicht ein bisschen rassistisch sein“,zitierte Imre Lebovits aus einer Rededes im September 2010 verstorbeneninternational bekannten OpernsängersLaszlo Polgár.Der fürchtete sich vor ei-nem Ungarn, in dem das menschlicheLeben nur „im Schatten der Springer-stiefel“ möglich sein könnte.

Hans Hirschmann

Imre und Eva Lebovits mit Dr. Klaus Konrad-Leder von der Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftung in Lich (linkes Bild) und mit Christiane Weber, Hanna Ashour und Dr. SaschaFeuchert von der Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der Universität Gießen.

Butzbachs Bürgermeister Michael Merle (li.) bedankt sich nach der Gedenkveranstaltungam 9. November bei Imre und Eva Lebovits (rechts) und der Übersetzerin (2. v. rechts).

Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer 5

... Stimmen. Ein Omnibus ist vorge-fahren und Kinder steigen aus. DieSchulklasse besichtigt jetzt die Ruinen.Eine Weile hören die Kinder dem Leh-rer zu, dann klettern sie auf den Steinenumher, einige springen schon herab, la-chen und jagen einander, ein Mädchenläuft eine lange ausgehöhlte Spur ent-lang, die sich neben Schienenrestenüber ein Betonbruchstück erstreckt.Dies war die Schleifbahn, auf der dietoten Leiber zu den Loren rutschten.Zurückblickend auf meinem Weg zumFrauenlager sehe ich die Kinder nochzwischen den Bäumen und höre, wieder Lehrer in die Hände klatscht, umsie zu sammeln.

Im Augenblick, in dem die Sonneversinkt, steigen die Bodennebel aufund schwelen um die niedrigen Ba-racken. Die Türen stehen offen. Irgend-wo trete ich ein. Und dies ist jetzt so:hier ist das Atmen, das Flüstern undRascheln noch nicht ganz von der Stilleverdeckt, diese Pritschen, in drei Stock-werken übereinander, an den Seiten-wänden entlang und entlang des Mittel-teils, sind noch nicht ganz verlassen,hier im Stroh, in den schweren Schat-ten, sind die tausend Körper noch zuahnen, ganz unten, in Bodenhöhe, aufdem kalten Beton, oben, unter demschräg aufsteigenden Dach, auf denBrettern, in den Fächern, zwischen dengemauerten Tragwänden, dicht anein-ander, sechs in jedem Loch, hier ist dieAußenwelt noch nicht ganz eingedrun-gen, hier ist noch zu erwarten, daß essich regt da drinnen, daß ein Kopf sichhebt, eine Hand sich vorstreckt.

Doch nach einer Weile tritt auch

hier das Schweigen und die Erstar-rung ein. Ein Lebender ist gekommen,und vor diesem Lebenden verschließtsich, was hier geschah. Der Lebende,der hierherkommt, aus einer andernWelt, besitzt nichts als seine Kennt-nisse von Ziffern, von niedergeschrie-benen Berichten, von Zeugenaussa-gen, sie sind Teil seines Lebens, erträgt daran, doch fassen kann er nur,was ihm selbst widerfährt. Nur wenner selbst von seinem Tisch gestoßenund gefesselt wird, wenn er getretenund gepeitscht wird, weiß er, was dies

Es ist noch nicht zu EndeDie „Ortschaft“ Auschwitz-Birkenau

Der Schriftsteller und Maler PeterWeiss (1916 - 1982) beendete mit denhier gedruckten Passagen seinen Text„Meine Ortschaft“. Im Jahr 1965 hat-te ein Verleger mehrere Autoren auf-gefordert, den für sie wichtigsten Ortzu beschreiben. Die meisten schilder-ten die Stadt ihrer Jugend oder einenOrt, an dem sie etwas Eindruckvollesselbst erlebt hatten. Peter Weiss fuhrerst nach der Aufforderung des Ver-legers an die Ortschaft, in der er niezuvor war, aber „für die ich bestimmtwar und der ich entkam“. Er hattekeine andere Beziehung zu ihr, „alsdass mein Name auf den Listen dererstand, die dorthin für immer übersie-delt werden sollten“. Zwanzig Jahredanach hat er Auschwitz-Birkenaubesucht und diese Ortschaft als „un-veränderlich“ empfunden: „IhreBauwerke lassen sich mit keinen an-deren Bauwerken verwechseln“,schrieb er in seiner subjektiven Be-standsaufnahme.

treten. Die Schwächsten - die Musel-männer - wurden, sofern sie nicht mehrstehen konnten, bei Minus 34 Grad un-ter den Baum gelegt. Die SS befahl, siemit Wasser zu übergießen, so dass sie inEisblöcke eingefroren starben. „Undaußer diesem Weihnachten 1945, weildas eben diese Lösung von diesem un-geheueren Druck war, habe ich eigent-lich Weihnachten nie mehr als schönenFeiertag empfunden. Ich kann seitdemWeihnachten nicht mehr feiern, wie dasandere machen, das geht nicht mehr“,so Hermann in dem Interview 1985.

Er bat somit in der Adventszeit im-mer wieder die Freunde und Mitgliederder Lagergemeinschaft, für die Weih-nachten vor allem ein schönes Fest ist,um Spenden für die Unterstützung derim Dritten Reich verfolgten Menschen.Auch nach Hermanns Tod sind uns dieAnliegen der Überlebenden und ihrerAngehörigen von größter Wichtigkeit.Dank der Spenden von Mitgliedern undSympathisanten konnte die Lagerge-meinschaft - Freundeskreis der Ausch-witzer nicht nur moralische Solidaritätmit Opfern des Dritten Reiches üben,sondern in gewissem Umfang auch ma-terielle Nöte lindern. Im laufenden Jahrwaren es wieder mehr als 12.000 Euro,die wir weitergereicht haben. Es ging andie gleichen Institutionen (z.B. das Am-bulatorium in Krakau und die verschie-

6 Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer

ist. Nur wenn es neben ihm geschieht,daß man sie zusammentreibt, nieder-schlägt, in Fuhren lädt, weiß er, wiedies ist.

Jetzt steht er nur in einer unterge-gangenen Welt. Hier kann er nichtsmehr tun. Eine Weile herrscht dieäußerste Stille.

Dann weiß er, es ist noch nicht zuEnde.

Meine Ortschaft aus Peter Weiss: Rapporte

1968 Suhrkamp Verlag,hier entnommen

einem Sonderdruck,herausgegeben von der Aktion Sühnezeichen -

Friedensdienste,Berlin, 1992

Das Wissen, dass „es noch nicht zuEnde“ ist, dürfte vielen von uns - diewir nach dem Krieg geboren wurdenund nicht dazu bestimmt waren, „über-siedelt“ zu werden - bei Aufenthalten inAuschwitz-Birkenau ebenfalls bewusstgeworden sein. Die überlebenden Häft-linge der Konzentrationslager und deut-schen Gefängnisse benötigten dagegenkeine nachträgliche Versicherung, dass„es noch nicht zu Ende“ ist.

Grauenhafte Weihnachten 1942Unser Vereinsgründer Hermann

Reineck - sein Todestag jährt sich am29. Dezember zum 15. Mal - fuhr auchnach seiner Befreiung immer wieder„zurück“ nach Auschwitz, traf sich mitKameraden und begleitete Besucher-gruppen bei Studienfahrten. Weihnach-ten hat er nur noch einmal richtig feiernkönnen: Das war 1945, als „endlich freivon all dem Druck“ dieses „Gefühl derFreiheit alles andere überwog“, wie eres in einem Interview für den Westdeut-schen Rundfunk einmal formulierte.Bereits 1946 und alle darauffolgendenJahre war ihm das Fest jedoch einGräuel, denn stets war ihm die Erinne-rung an Weihnachten 1942 „lebendig“vor Augen.

Damals ließ die SS in Auschwitz dieHäftlinge unter einem großen beleuch-teten Weihnachtsbaum zum Appell an-

Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer 7

wie es unser Vereinsgründer HermannReineck - stets die Schicksale der Mit-häftlinge in Auschwitz vor Augen - biszu seinem Tod Jahr für Jahr getan hat.Wie wichtig den Opfern neben den di-rekten materiellen Unterstützungslei-stungen die damit verbundene Aner-kennung ihrer Verfolgungsschicksaleist, das weiß jeder, der einmal mit ihnenzusammengetroffen ist.

Ihre Weihnachtsspende (ein Über-weisungsformular liegt bei, oder sieheBankverbindung im Impressum) hilftmit, die Arbeit der Lagergemeinschaftund des Freundeskreises fortzusetzen.Dafür danken die ehemaligen Häftlin-ge.

Wir wünschen Ihnen frohe Weih-nachten, erholsame Feiertage und einenguten Start ins Jahr 2011.

Hans Hirschmannfür den Vorstand der LGA

denen Häftlingsvereinigungen in Po-len), über die wir in den vergangenenMitteilungsblättern immer wieder be-richtet haben. Wir wissen, dass wir alsgemeinnütziger und rein ehrenamtlichgeführter Verein nur bedingt die vonden Opfern des Dritten Reiches an unsherangetragenen Bitten so unterstützenkönnen, wie es gewünscht wird und esauch wünschenswert wäre. Es fälltschwer, Hoffnungen von Menschen ent-täuschen zu müssen, von denen manweiß, dass ihre Verfolgung, ihre seeli-schen wie körperlichen Demütigungenund erlittenen Torturen, der Verlust vonFamilienmitgliedern und Freunden imDritten Reich bis heute nicht oder nursehr unzureichend anerkannt wurden.

Bitte um WeihnachtsspendeDamit wir auch künftig selten in die-

se hilflose Lage geraten, bitten wir nunwieder um eine Weihnachtsspende, so

Bis zum 27. Januar 1945 blickten deutsche Wachsoldaten durch dieses Fenster vom Ober-geschosses des Eingangsgebäude in Birkenau auf die zur Selektionsrampe führendenGleise. Heute wird auch Besuchern dieser Blick gewährt. Foto: Wolfgang Gehrke

8 Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer

Am 14.Januar dieses Jahres starb inStettin im Alter von 88 JahrenKazimierz Orlowski. Herr Orlowskihatte im August 2004 im Diakonie-krankenhaus Rotenburg ein neuesHüftgelenk erhalten. Seit dieser Zeitwar er unserem Krankenhaus sehr ver-bunden, es bestand ein regelmäßigerBriefkontakt mit den behandelndenÄrzten und mehrfach war KazimierzOrlowski noch in Deutschland zu Be-such, intensive Begegnungen mit ihmgab es in Bergen-Belsen und in Stettin.

Kazimierz Orlowski war Überle-bender von mehreren deutschen Kon-zentrationslagern. Befreit wurde er imApril 1945 in Bergen-Belsen. Dortfand er seine ebenfalls nach Bergen-Belsen deportierte spätere Frau wie-der. Als „Displaced Persons“ (DP)kehrten sie erst 1947 in ihr Heimatlandzurück. Antonia Orlowski starb 2007,ihren Tod hat Kazimierz kaum ver-winden können. „Wie weiterleben?“schrieb er damals in einem Brief.

Für Kazimierz Orlowski war es zeit-lebens ein elementares Anliegen, dassdie Geschehnisse während der Nazi-

diktatur nicht in Vergessenheit geraten,gleichzeitig trat er konsequent für dieVölkerverständigung ein. Unermüd-lich nahm er bis zuletzt aktiv an denGedenkveranstaltungen anlässlich derJahrestage der Befreiung von Bergen-Belsen und Auschwitz teil, berichteteüber seine Erfahrungen vor Schulklas-sen in Deutschland und stellte Infor-mationsmaterial zur Verfügung.

Der Tod von Kazimierz Orlowskihat diejenigen, die ihn kannten, tiefbetroffen gemacht. Wir haben einenguten Freund verloren, dessen Wesendurch Bescheidenheit, Humor undMenschlichkeit geprägt war. Uns istaber auch einmal mehr bewusst ge-worden, dass der Nachwelt immer we-niger Menschen verbleiben, die überdie in der NS-Zeit von Deutschen ver-übten Verbrechen Zeugnis ablegenkönnen.* Es ist an uns, das Anliegenvon Kazimierz Orlowski in seinemSinne weiter zu vertreten.

Er war der Auschwitz-Häftling Nr. 62944Kazimierz Orlowski ist tot • Ein Nachruf von Michael Schulte

Das bundesweite Projekt „Aktive Solidarität - Orthopädische Operationen für NS-Opfer aus Osteuropa“, das 2002 ins Leben gerufen wurde, um ehemaligen Zwangsar-beitern sowie Überlebenden von Konzentrationslagern unentgeltliche medizinischeBehandlungen zu gewährleisten, wurde in unserem Mitteilungsblatt Heft 1, August2008, vorgestellt. In rund 80 beteiligten Kliniken in Deutschland und Österreich wur-de seitdem mehrere hundert Frauen und Männer - größtenteils aus Polen, aber auchaus der Ukraine und Weißrussland -, die unter Verschleißerkrankungen leiden,kostenlos operiert. Informationen im Internet unter „www.aktive-solidaritaet.de“.Nachdem uns Dr. Michael Schulte, Chefarzt der Orthopädischen Abteilung desDiakoniekrankenhauses Rotenburg (Wümme), damals über das Schicksal seinerPatientin Elzbieta Chylinska berichtet hat, gedenkt er in dem folgenden BeitragKazimierz Orlowski, Überlebender mehrerer deutscher Konzentrationslager.

* Aus diesem Grund ist auf den folgendenSeiten ein Nachdruck aus den Peiner Nach-richten aus dem Jahr 2008 zu lesen.

Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer 9

Krakau im Jahr 1939. Die Schule istaus. Der 18-jährige Kazimierz Orlowskimacht sich auf den Heimweg. Doch Zu-hause kommt er nicht an.

Es ist jener Tag im Jahr 1939,mit demder 87-Jährige seinen Bericht vor rund80 Jugendlichen derAueschule in Wende-burg (Landkreis Pei-ne in Niedersachsen:Red.) beginnt. AlsSchuljunge hatte erdas Gymnasium inKrakau besucht. „17SS-Männer wartetenvor der Schule aufuns.Sie hatten das ge-samte Gebäude um-kreist. Sie brachtenuns nach Linz. Damussten wir alsZwangsarbeiter in ei-nem Stromwerk ar-beiten.“

Was nur hatte die-ser Schuljunge getan,dass er von den Nazis festgenommenwurde? „Nichts“, sagt Kazimierz Orlo-wski. „Es gab keine politischen Gründe.Die Deutschen brauchten dringend Ar-beitskräfte. Also haben sie uns einfachgenommen.“ Bis 1942 hielt der jungeMann durch.Dann floh er.Zurück in dieHeimat, zu seinen Eltern und den zweiBrüdern in Krakau.

Zwei Wochen später kamen die deut-schen Besatzer. Mitten in der Nacht ver-hafteten sie den Jungen erneut - und die-ses Mal auch seinen Bruder. DieGeschwister wurden nach Auschwitz ge-

bracht. „Vor den Toren von Auschwitzverlor ich meinen Namen“, sagt Kazi-mierz Orlowski. Er hält seinen linkenArm in die Höhe. Eine Tätowierung istzu sehen. „Von nun an war ich nur nochdie Nummer 62944.“ Er musste täglich

arbeiten. Seine Auf-gabe: schwere Steineschleppen. Zu essengab es am Tag vierPellkartoffeln undetwas wässrige Sup-pe.

Orlowski erin-nert sich, wie immerwieder Juden nachAuschwitz kamen:„Die Züge warenvoll beladen mit Ju-den. Ein SS-Mannsortierte aus. Män-ner nach links, Frau-en und Kinder nachrechts. Die auf derrechten Seite kamenins Krematorium.“

Nun ist es still im Klassenraum. EinSchüler fragt: Gab es keine Fluchtmög-lichkeit? Orlowski antwortet: „Es gabviele. Eine meiner Aufgaben war es,Kohlen zu transportieren. Ich war täg-lich in der Stadt. Aber ich wäre niegeflohen, mein Bruder war doch auchim KZ.“ Im Lager selbst gab es keineFluchtchancen. Orlowski erzählt von500-Volt-Stromzäunen, mit denen dasGelände eingekreist war.

Dann erinnert sich Orlowski an einFußballspiel. „Wir mussten gegen diedeutschen Häftlinge spielen. Sie waren

Kazimierz Orlowski (1921 - 2010) imMai 2009 in Stettin. Foto: M. Schulte

„Und das ist meine Geschichte“Kazimierz Orlowski vor Schülern in Wendeburg im Jahr 2008

Von Sandra Sliepen

10 Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer

unsere Vorarbeiter und die schlimm-sten. Wir spielten bestimmt vier oderfünf Mal. Wir hatten Angst zu gewin-nen, weil wir nicht wussten, was pas-siert. Wir verloren immer.“

Orlowski erinnert sich auchan eine Gruppe Juden, die ge-flüchtet ist. „Sie wurden gefun-den, mussten einen Tag lang miteinem Zettel im Lager stehen.‘Ich bin wieder da’ stand darauf.Abends wurden sie erschossen.“

In Auschwitz lernte Orlows-ki seine spätere Frau kennen.„Sie war im Frauenlager. Ich habe im-mer die Kohlen für die Küche dorthingebracht.“

Doch Kazimierz Orlowski bliebnicht in Auschwitz. Im September 1942brachte man ihn ins KZ Groß-Rosen,

ins Außenlager Langensalza, dann insKZ Mittelbau-Dora und im April 1945nach Bergen-Belsen.„Wo meine Freun-din war,wusste ich nicht.“ Erst nach der

Befreiung im April 1945 fand ersie wieder. Sie heirateten undgingen zurück nach Polen. Orlo-wskis Frau ist mittlerweile ge-storben. Als der fast 90-Jährigevom Tod seiner Frau erzählt,weint er. Er weint vor all denSchülern. Und alles ist still.„Heute lebe ich in einem kleinenHaus in Stettin und habe zwei

Söhne“,sagt Kazimierz Orlowski.„Unddas ist meine Geschichte.“

Dieser hier leicht gekürzte Text er-schien erstmals am 29. Oktober 2008 inden Peiner Nachrichten..

Seit nunmehr zwanzig Jahren fährtjährlich eine Schülergruppe des Frie-drich-Ebert-Gymnasiums in Mühlheim(Kreis Offenbach) zu einem Studienauf-enthalt nach Auschwitz-Birkenau. Dieshat der Geschichtsverein der Stadt nunzum Anlass genommen, das Projekt beieinem Erzähl-Café zu würdigen.

Zwischen zehn und 14 Tagen haltensich die Jugendlichen aus Mühlheim im-mer in Polen auf dem Gelände des ehe-maligen deutschen Konzentrationsla-gers auf, um sich in Projektgruppen mitdem Thema auseinanderzusetzen. Wirberichteten im Mitteilungsblatt mehr-fach zu diesem Projekt, das gemeinsammit der Bergschule Apolda und der Ju-gendpflege Mühlheim durchgeführtwurde (siehe auch unsere Internetseiteunter der Rubrik „Schulprojekte“).

Beim Erzählcafé waren neben Jür-

20 Jahre Auschwitz-Projekt in Mühlheimgen Bartholemé, inzwischen pensionier-ter Lehrer und Initiator des Projekts,dem Kollegen Michael Schmidt undSchulleiter Jürgen Hegener auch zweiTeilnehmer aus der Schülerschaft ver-treten. Während Pierre Maxime Lothererst im Vorjahr mit in Auschwitz war, lagdie Teilnahme von Andreas Volk bereitseinige Jahre zurück. Beide stimmtenüberein,dass die emotionalen Erfahrun-gen im Lager und insbesondere auch dieGespräche mit Zeitzeugen mehr prä-gende Spuren hinterlassen haben als das„nur“ aus Büchern erlernte Wissen. Da-her wurde dafür plädiert, trotz des stei-genden Drucks im Schulalltag und derverkürzten Gymnasialzeit den Schüle-rinnen und Schülern weiterhin die Mög-lichkeit zu bieten,sich in solch intensiverArt und Weise mit Auschwitz auseinan-derzusetzen. Martina Hörber

Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer 11

Die Situation der Roma und Sinti inEuropa war im September dieses Jah-res auch ein Thema bei der Päsidiums-sitzung des Internationalen Auschwitz-Komitees (IAK) in Jerusalem. IAK-Präsident Noach Flug erklärte dazu:„Ein besonders schmerzliches Themawährend unserer Sitzung war für unsdie Lage der Roma in Europa. Wirbeobachten ihre Situation mit großerSorge und Mitgefühl. Die Roma wer-den diskriminiert, verfolgt, ausgestoßenund sogar ghettoisiert. Gerade wir alsÜberlebende von Auschwitz haben diePflicht daran zu erinnern, daß Sinti undRoma unsere Leidensgenossen inAuschwitz und in Birkenau waren. DieNazis hatten ihnen dasselbe Schicksalzugedacht wie den Juden. Sie solltenvon der Erde ausgelöscht werden.Eben deshalb hat Europa den Romagegenüber die Pflicht und die Schuldig-keit, sie zu schützen und ihnen in allenLändern, in denen sie leben, gleicheChancen an Bildung und menschen-würdiger Zukunft zu ermöglichen. Wirkönnen nicht zulassen, dass dieses The-ma in wenigen Wochen wieder imSchweigen Europas versunken ist.“

Abschiebung ins nackte ElendGroßes internationales Aufsehen er-

regte vor allem das Vorgehen der fran-zösischen Regierung, Roma- und Sinti-Flüchtlinge in den Kosovo und andere„Heimatländer“ in Osteuropa abzu-schieben, obwohl sie dort vielfacherDiskriminierung und Verfolgung ausge-setzt sind. Aber auch hier in Deutsch-land werden Roma-Flüchtlinge sowie

Angehörige der Sinti und Aschkali un-ter massivem Druck zur Ausreisegenötigt beziehungsweise „systematischvertrieben und ausgewiesen“, wie derFörderverein Roma in Frankfurt amMain im August in einer Stellungnahmeprotestiert. „Insbesondere die vor 15Jahren aus dem Kosovo geflohenenRoma werden seit letztem Jahr massiv,ungeachtet ihrer gesundheitlichen,schulischen und beruflichen Situationins nackte Elend abgeschoben. Diescheinheilige Diskussion über die Wah-rung von Menschenrechten wird amUmgang mit Roma, der größten eu-ropäischen Minderheit, exemplarischvorgeführt“, wird dort ausgeführt.

Etwa 23.000 der geflüchteten Romaleben heute in Deutschland - viele nurmit einer Duldung - wird in einem„Aufruf gegen die Abschiebung vonRoma“ informiert, mit dem bereits am8. Dezember vorigen Jahres der Flücht-lingsrat Niedersachsen und die Vereini-gung der Verefolgten des Naziregimes -Bund der Antifaschistinnen und Antifa-schisten (VVN) an die Öffentlichkeitgetreten ist. Der 8. Dezember ist derJahrestag, an dem 1938 SS-Chef Hein-rich Himmler seinen Runderlass „zurRegelung der Zigeunerfrage aus demWesen der Rasse heraus“ erlassen hat.

In dem Aufruf von Flüchtlingsratund VVN wird die Situation inDeutschland wie folgt skizziert: „BisNovember 2008 hat die UN-Verwal-tung im Kosovo (UNMIK) Abschie-bungen von Roma und Serben in denKosovo verhindert. Nun hat sich dieneue kosovarische Regierung unter

Aufruf gegen Abschiebung von RomaStellungnahme des Internationalen Auschwitz-Komitees

und Appell der Lagergemeinschaft Auschwitz

12 Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer

politischem Druck aus Deutschlandund anderen europäischen Staaten ineinem ,Rücknahme-Abkommen’ be-reit erklärt, auch Roma-Flüchtlingewieder aufzunehmen.

(...) Das Abschiebungsabkommenbetrifft auch Menschen, die mehr alszehn Jahre in Deutschland leben, da-runter Kinder, die hier geboren sind,und die außer Romanes nur Deutschsprechen. Wir fordern mit Nachdruckvon staatlichen Vertretern auf allenEbenen (Abgeordneten aller Parla-mente, Innenministern, Bundesregie-rung usw.) einen sensibleren Umgangmit den Angehörigen von Gruppen, diewährend des Faschismus verfolgt wur-den. Es wirkt unglaubwürdig, wenn wirheute den faschistischen Völkermordan Jüdinnen und Juden und an Sinti undRoma als Verbrechen brandmarkenund verurteilen, aber den Angehörigendieser beiden Verfolgtengruppen einenvorbehaltlosen Schutz verweigern. Weilein Leben in Sicherheit und Würde imKosovo für Minderheitenangehörigenicht gewährleistet ist, müssen dieRoma-Flüchtlinge einen sicheren Auf-enthalt in Deutschland erhalten.“

Aufruf jetzt unterschreibenVertreten durch unseren Vorsitzen-

den Uwe Hartwig haben wir als Lager-gemeinschaft Auschwitz - Freundeskreisder Auschwitzer diesen Aufruf unter-schrieben. Wir fordern auch alle ande-ren Mitglieder sowie Sympathisantendazu auf, ihn ebenfalls zu unterschrei-ben. Er ist im Internet auf der Home-page des Flüchtlingsrates Niedersachsenunter „www.nds-fluerat.org/keine-ab-schiebung-von-roma-fluechtlingen/“ zufinden. Er kann auch schriftlich ange-fordert werden beim Flüchtlingsrat Nie-dersachsen, Langer Garten 23 B in

31137 Hildesheim,Tel. (05121) 15605.

„Hier geblieben“Der Zentralrat Deutscher Sinti und

Roma hat im November an die Innen-minister der deutschen Länder appel-liert, die Abschiebung von Roma inden Kosovo zu stoppen. Die Men-schenrechtsorganisation Pro Asyl for-dert generell mit der Kampagne „Hiergeblieben“ das „Recht auf Bleibe-recht“ der in Deutschland lebendenlangjährig Geduldeten, die immermehr ins gesellschaftliche Abseits ge-drängt werden. 86.000 Menschen le-ben derzeit hier in ständiger Angst vorder Abschiebung, zwei Drittel von ih-nen länger als sechs Jahre.

Gefordert wird eine bundesgesetz-liche Bleiberechtsregelung, „die sichan den Realitäten der in Deutschlandlebenden Menschen orientiert undauch in Zukunft den langjährig hierLebenden eine wirkliche Perspektiveeröffnet“. Pro Asyl fordert eine un-bürokratische und großzügige Bleibe-rechtsregelung und eine gleichberech-tigte gesellschaftliche Teilhabe

- für Alleinstehende, die seit fünf Jahren in Deutschland leben

- für Familien mit Kindern, die seit drei Jahren in Deutschland leben

- für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die seit zwei Jahren in Deutschland leben

- für Traumatisierte- für Opfer rassistischer Angriffe.

Gewichtige humanitäre BedenkenBei ihrer Konferenz am 18. und 19.

November 2010 haben sich die deut-schen Innenminister „immerhin zueiner Minimallösung für ‘integrierteJugendliche’ durchgerungen“, kom-mentiert Pro Asyl das Ergebnis. Sie ist

Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer 13

offenbar eine etwas entschärfte Varian-te des Vorschlags eines Bleiberechtsnach Schulerfolg. Das Aufenthaltsrechtfür Kinder soll unabhängig von dem derEltern sein. Diese sollen nur dann blei-ben können, wenn sie ihren Lebensun-terhalt aus eigener Kraft sichern kön-nen, wenn die Kinder volljährig sind.Das bedeutet: Einige Jahre die Chance,die Voraussetzungen zu erfüllen - aller-dings auch einige weitere Jahre Unge-wissheit samt der damit verbundenenBelastung für die Familie.

„Hoffnung für Jugendliche - keineLösung für Andere“, lautet das Resü-mee. Nun wird der Bundesgesetzgeberaufgefordert „das Stückwerk“ zu ver-bessern. Der Beschluss der Innenmini-ster ändert nämlich nichts daran, dassAlten, Kranken und Behinderten trotzBleiberechtsregelung weiterhin die Ab-schiebung droht. Weiter heißt es beiPro Asyl: „Selbst für den Bereich, zudem die IMK jetzt ihren Beschluss ge-

fasst hat, stellen sich gewichtige huma-nitäre Bedenken: Was geschieht mitschulisch weniger erfolgreichen Jugend-lichen, oft ein Ergebnis unzureichenderFörderung oder von Lebensumständenihrer Familien in Lagern, die Lernenschwierig machen? Human ist eine Ab-schiebung bei mangelndem Schulerfolgwohl kaum zu nennen. Die nach wie vorstückwerkhafte und viele Betroffeneausschließende Bleiberechtsregelungist Ausdruck einer Haltung, die geradeNiedersachsens Innenminister zumProgramm der Union erhoben hat: Esgeht nicht wirklich um eine humanitäreRegelung, sondern um Deutschlandsnationale Interessen, die Gewinnungqualifizierter Kräfte für den deutschenArbeitsmarkt. In diesem an der demo-graphischen Entwicklung in Deutsch-land orientierten Weltbild ist die Fami-lie höchstens das hinzunehmende An-hängsel derer, die hierzulande als nütz-lich angesehen werden.“

RRoommaannii RRoossee,, VVoorrssiittzzeennddeerr ddeess ZZeennttrraallrraattss DDeeuuttsscchheerr SSiinnttii uunndd RRoommaa,, ffaanndd bbeeii ddeerr DDeellee--ggiieerrtteennkkoonnffeerreennzz ddeerr MMiittgglliieeddeerr ddeess IInntteerrnnaattiioonnaalleenn AAuusscchhwwiittzz--KKoommiitteeeess EEnnddee OOkkttoobbeerr22001100 iinn BBeerrlliinn UUnntteerrssttüüttzzuunngg ffüürr ddiiee FFoorrddeerruunngg nnaacchh eeiinneemm AAbbsscchhiieebbeessttoopppp vvoonn RRoommaa--FFllüücchhttlliinnggeenn iinn ddeenn KKoossoovvoo.. RReecchhttss nneebbeenn ddeemm RReeddnneerrppuulltt IIAAKK--PPrräässiiddeenntt NNooaacchh FFlluugg uunnddddeerr ggeesscchhääffttssffüühhrreennddee VViizzeepprräässiiddeenntt CChhrriissttoopphh HHeeuubbnneerr.. FFoottoo:: HHaannss HHiirrsscchhmmaannnn

14 Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer

Die Lagergemeinschaft Ausch-witz (LGA) unterstützt solcheRestaurierungsarbeiten und Besu-chergruppen können z.B. die inBronze gegossenen Abdrucke vonvormals aus Holz oder Gips ange-fertigten Kunstwerken besichti-gen. Um diese hatte sich schon vorrund zwei Jahrzehnten derAuschwitzhäftling, Gründer undlangjährige Präsident unsererLGA, Hermann Reineck, geküm-mert. Dank seiner Initiative entstand soüber Jahre hinweg die heute umfangrei-che Sammlung dieser Kunst- bzw.Doku-mentationswerke.

Erst kürzlich hat die LGA wiederGeld an das Museum überwiesen, damit

ein Bild des Häftlings S.Mirecki vor demZerfall bewahrt wird.Das Vorstandsmit-glied Diethardt Stamm spendete seinPreisgeld für die Auszeichnung alslangjährig ehrenamtlich Tätiger und dieLGA legte denselben Betrag dazu. So

kam die Summe von 1000Euro zustande, die aus-reicht, dieses alte Gemäl-de wieder originalgetreuder Öffentlichkeit zu-gänglich zu machen.

An dem zu restaurie-renden Bild sieht man ak-tuell breite Risse in derPappe im mittleren Bild-bereich sowie Defekte anden Seiten mit zahlrei-chen Fehlstellen des

Eine andere Art der Erinnerung Restaurierungsarbeiten in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau

Erinnern bedeutet auch, dem Museum Auschwitz zu helfen und zu ermöglichen,historische Gebäude oder Gegenstände zu erhalten und zu renovieren bzw. zurestaurieren.Dabei sind die Ansprüche sehr hoch,es geht zum Beispiel bei der Nach-bildung oder Ausbesserung eines Betonstücks nicht nur um eine wiederhergestellteOptik, sondern auch um eine möglichst originalgetreue Materialverwendung. Hier-zu müssen alte Materialien analysiert und dann aufwändig nachgebildet werden.Ausdiesem Grund gibt es im Museum Auschwitz „hinter den Kulissen“ moderne Laborsund hochqualifizierte Menschen, die dort arbeiten. Dort kann man angewandte undzugleich forschende Chemie,Biologie und Physik erleben.Wegen der speziellen Auf-gaben wird vielfach Neuland betreten.

DDii SSaannddaallee eeiinneess eerrmmoorrddeetteenn HHääffttlliinnggss wwiirrdd vvoorrddeemm ZZeerrffaallll bbeewwaahhrrtt.. FFoottooss:: SSttaammmm

DDiieetthhaarrddtt SSttaammmm üübbeerrggiibbtt eeiinneenn 11000000--EEuurroo--GGuuttsscchheeiinn aannJJaann KKaapplloonn,, ddiiee DDiippll..-- RReessttaauurraattoorriinn ((FFHH)) MMaarrggrriitt BBoorrmmaannnnuunndd ddeenn RReessttaauurraattoorr ffüürr SStteeiinnee uunndd MMeettaallll MMaaggiisstteerr AAnnddrrzzeejjJJaassttrrzzeebbiioowwsskkii ((vvoonn lliinnkkss nnaacchh rreecchhttss))

Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer 15

Materials. Es ist auch die aufgemalteFarbschicht geplatzt; sie hat Risse undzudem ist das Bild stark verschmutzt.

Dieses Bild, wie jedes andere vonHäftlingen angefertigte Kunstwerk, hatseine eigene Geschichte die es zu be-wahren gilt. Der Häftling S. Mirecki fer-tigte das Gemälde zwangsweise für ei-nen SS-Mann an, der gelegentlich vonKatowice nach Auschwitz kam,wo er alsDolmetscher zu tun hatte. Dieser SS-Mann ist während des Krieges gefallen.Das Bild überstand die Kriegswirren,ge-langte in Privatbesitz und wurde nun vonEdward Jaworski aus Katowice demMuseum Auschwitz geschenkt; erhieltdas Eingangsdatum 07.05.2009 und istim Block 19 aufbewahrt.

Die Restauratorin Magister EwaCyrulik spricht beim Ablauf einer Bild-konservierung und -restaurierung vonzehn durchzuführenden Schritten:

1. fotografische Dokumentation desZustandes vor der Restaurierung

2. Beschreibung der Herstellungstech-nik und Dokumentation der Schäden

3. mechanische Reinigung der Vorder-seite mit einem Radiergummi

4. mechanische Reinigung der Rück-seite mit einem Radiergummi und che-misch mittels Lösungsmitteln

5. feuchte Reinigung des Bildes imWasserbad (siehe letztes Bild)

6. Entsäuerungsbad, um den pH-Wert

des Bildes (der Pappe) wieder zu neu-tralisieren

7. Verstärkung der dünnen Schwach-stellen und Ergänzung von Fehlstellenim Bildträger (der Pappe) mit selbst ge-schöpfter Papiermasse und Mehlkleister

8. Ergänzung der Fehlstellen in derMalschicht (Retusche)

9. fotografische Dokumentation desEndzustandes nach der Restaurierung

10. Herstellen einer Dokumentationder Restaurierung

Der aktuelle Zustand der von derLagergemeinschaft Auschwitz unter-stützten Bildrestaurierung befindet sicham Ende des Punktes 7.

Diethardt Stamm

NNeebbeenn eeiinneerr vvoonn ddeerr LLGGAA ffiinnaannzziieerrtteennBBrroonnzzeefifigguurr eerrzzäähhlltt JJaann KKaapplloonn,, MMiittaarrbbeeii--tteerr ddeerr SSaammmmlluunnggssaabbtteeiilluunngg,, ddiiee GGee--sscchhiicchhttee ddeerr KKuunnssttwweerrkkee..

DDaass GGeemmäällddee vvoorr ddeerr RReessttaauurriieerruunngg mmiitt mmeehhrreerreenn DDeeffeekktteenn ((BBiilldd lliinnkkss)) wwiirrdd iinn eeiinneemmWWaasssseerrbbaadd vvoonn ddeenn ggrröößßtteenn SScchhmmuuttzzppaarrttiikkeellnn ggeerreeiinniiggtt.. ((FFoottoo:: mmggrr EEwwaa CCyyrruulliikk))

16 Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer

Anna Raynoch-Brzozowska hatteum das Jahr 1949 in Erinnerung an ih-re Gefangenschaft in Auschwitz acht

Plastiken aus Gips geschaffen und siedem Museum überlassen. 1949 standihr in Polen kein wertvolleres Materi-

In der Asservatenkammer der GedenkstättePlastiken von Anna Raynoch-Brzozowska

Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer 17

al zur Verfügung. Bereits in den 90erndrohten diese Plastiken zu zerbröseln.Noch zu Lebzeiten unseres Vereins-gründers Hermann Reineck beschlossdie Lagergemeinschaft Auschwitz -

Freundeskreis

der Auschwit-

zer, diese aus-drucksvollenPlastiken zuretten. DerKunstsamm-lung im Lagerstellte manseinerzeit denfür Bronzeab-güsse notwen-digen Betragzur Verfügung.

Vor unse-rer Studien-fahrt im Früh-jahr (27. Feb-

ruar bis 3. März 2010) hatten wir ge-genüber der Museumsleitung denWunsch geäußert, die Bronzestatuensehen zu dürfen. Die Kunstsammlungbefindet sich im Stammlager hinterdem Küchengebäude und umfasst in-zwischen tausende von Exponaten,die leider aus Platzmangel und zumTeil auch aus urheberrechtlichenGründen der Öffentlichkeit nicht zu-gänglich sind.

Uns wurde dankenswerter WeiseEinlass gewährt. Ein repräsentativerQuerschnitt der Bilder aus der Kunst-sammlung wurde übrigens in einemAlbum „Cierpienie i Nadz Ieja“, über-setzt: „Leiden und Hoffung“, noch1989 veröffentlicht.

Die Plastiken von Anna Raynoch-Brzozowska begegneten uns nun in

der Asservaten-Kammer des Mu-zeums und wir durften sie sogar foto-grafieren.Auch dies war gewiss nebenden noch lebenden Zeitzeugen einebewegende Begegnung.

Wolfgang Gehrke

DDuurrcchh SSppeennddeenn ddeerr LLaaggeerrggeemmeeiinnsscchhaaffttwwaarr eess ddeemm MMuusseeuumm mmöögglliicchh,, ddiieessee BBrroonn--zzeeaabbggüüssssee aannzzuuffeerrttiiggeenn.. FFoottooss:: WW.. GGeehhrrkkee

18 Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer

In dem Roman „Das Brot derArmut“ wird die Geschichte von KerenKowalski erzählt,Tochter einer jüdisch-polnischen Familie, die 1942 in derNähe von Warschau geboren wird. Dieuntergetauchten Eltern vertrauen ihreTochter dem Dienstmädchen Ella an,die Keren bis Ende des Krieges ver-stecken und sobald wie möglich Ver-wandten übergeben soll. Ella gibt dasMädchen als ihre Tochter Kriemhildaus, die aus einer Ehe mit dem deut-schen Soldaten Siegfried Stach ent-stamme, und taucht zunächst bei Sieg-frieds Eltern und später bei dessen

Bruder in Norddeutschland unter. Ent-gegen der Abmachung mit denKowalskis sucht Ella nach Kriegsendenicht nach Überlebenden der Familie,sondern behält Keren bei sich. Sowächst sie als „Krimhild Stach“ ineinem Flüchtlingslager in größterArmut auf. Von ihrer wahren Herkunfterfährt sie jahrelang nichts. Erst kurznach ihrem Abitur, an dem Abendbevor sie ein Au-Pair-Jahr in derSchweiz antritt, erzählt ihr Ella vonihren Eltern und den Umständen ihrerGeburt. Schrittweise setzt sich Keren inden folgenden Jahren mit ihrer Her-

Bei einer Sitzung desPräsidiums des Interna-tionalen Auschwitz Komi-tees (IAK) im Septemberin Jerusalem fanden auchGespräche mit IsraelsStaatspräsident ShimonPeres und dem Präsi-denten des Parlamentes,der „Knesset“, ReuvenRivlin, statt. Noach Flug,Felix Kolmer, KazimierzAlbin und Roman Kent berichtetenüber die politische und die pädagogi-sche Arbeit des Komitees.

Felix Kolmer betonte in seiner Redebeim Empfang durch den Knesset-Prä-sidenten: „Unsere wichtigsten Aktivitä-ten bündeln sich in der Auseinanderset-zung mit Rechtsextremismus,Antisemi-tismus und Fremdenhass. Wir gehen indie Schulen, wir suchen das Gesprächmit jungen Menschen und wir organi-

sieren Ausstellungen. Unsere Arbeit istnicht von Hass geprägt, auch nicht vonHass gegen die deutsche Nation. Wirwissen, daß Hass den Menschen lähmtund besetzt, er wird unfähig zu kon-struktivem Engagement. Dies ist unserePhilosophie, sie bestimmt unsere Arbeitso lange wir leben werden: Wir sind altund dennoch arbeiten wir für die Zu-kunft, auch wenn es nicht unsere Zu-kunft sein wird.“

IAK-Präsidium tagte in Jerusalem

Der Präsident der Knesset, Reuven Rivlin (Mitte), mit denIAK-Präsidiumsmitgliedern Felix Kolmer (links), NoachFlug (2. v. rechts) und Kazimierz Albin (rechts). Foto: IAK

Keren / Kriemhild und EllaGeschichte eines versteckten jüdischen Kindes

Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer 19

kunft auseinander und emigriertschließlich nach Israel.

Neben den eindrucksvollen unddetailreichen Schilderungen einerKindheit, die von Armut, Misshandlungund Entbehrung gekennzeichnet ist,stellt der Roman die Frage, aus wel-chem Grund die Adoptivmutter ihremVersprechen nicht nachkommt, KerensFamilie zu suchen, hättedoch auf diese Weise daserfahrene Leid vermie-den werden können.

Der Roman ist in vier„Bücher“ unterteilt. Diehebräischen Untertitelspielen dabei auf den Se-gensspruch (Kiddusch),die Lesung über den Aus-zug aus Ägypten amSeder-Abend (Awadimhaíinu), die Wanderungder Israeliten durch dieWüste (Be-Midbar), so-wie das „hallel“ an. DieHandlung wird nichtstreng chronologisch erzählt, sondernist mit zahlreichen Rückblenden verse-hen, die nach und nach die Hintergrün-de von Kerens Herkunft preisgeben.

Das den größten Teil des Romansumfassende zweite Buch wird aus derPerspektive der Protagonistin geschil-dert. Aus vielen einzelnen Episodensetzt sich das Bild von Kerens Kindheitund Jugend zusammen, die vor allemvon ökonomischer, aber auch sozialerund kultureller Armut geprägt sind.Dazu gehören nicht nur die Entbeh-rungen, die Nahrung, Kleidung, Privat-sphäre usw. betreffen, sondern auchPrügelstrafen, die unzähligen Schika-nen durch Verwandte, Mitschüler oderNachbarskinder sowie der Ausschlussvon Schulaktivitäten und kulturellen

Veranstaltungen. Zudem wird Kriem-hild von ihrem Stiefvater über Jahrehinweg sexuell misshandelt. Damit be-kommt die Frage nach dem Grund fürdie Tatenlosigkeit der Adoptivmutter,die um die Misshandlungen weiß, nocheinmal besondere Brisanz.

Zunehmend verfestigt sich Kriem-hilds Eindruck, nicht dazu zu gehören;

stets hat sie eine Außen-seiterposition inne. Die-se Position wird begrün-det durch ihr andersarti-ges Aussehen, ihre Ar-mut, aber auch durch ihrInteresse an Kunst, Lite-ratur und Kultur undihren Spaß am Lernen,was zu Unverständnis inihrer Familie führt. Be-stätigt wird ihr Ein-druck schließlich durchdie Aufklärung überihre wirkliche Herkunftin der Nacht vor ihrerAbreise. Aufgrund des

unerwarteten und plötzlichen Ge-ständnisses kann Keren jedoch keinegenaueren Fragen mehr stellen, vor al-lem nicht die entscheidende nach dem„Warum“.

Im späteren Verlauf des Romanswird die allmähliche Auseinanderset-zung Kerens mit ihrer Vergangenheitund der jüdischen Religion sowie dieBewusstwerdung des ihr widerfahre-nen Unrechts geschildert. Allmählichentwickelt sie Wut auf die Adoptiv-mutter. Durch Ellas plötzlichen Tod isteine Konfrontation jedoch nicht mehrmöglich. Keren bleibt alleine mit ihrenFragen und Vorwürfen. Zurück bleibteine verbitterte junge Frau, die ver-sucht, einen Schlussstrich unter ihreKindheit und Jugend zu ziehen und in

20 Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer

Israel neu zu beginnen. Von diesemVersuch berichtet das knapp gehalte-ne vierte Buch.

Im ersten und der ersten Hälfte desdritten Buchs erfährt der Leser, auf-grund welcher Umstände Ella Schmie-lek die einzige Tochter der Familie Ko-walski aus Warschau anvertraut wirdund wie Ella mit dem Kind zunächstnach Ost- und später nach Nord-deutschland flieht. Erzählt werden diesebeiden Abschnitte aus der Perspektivevon Ella. Der Technik des Perspektiv-wechsels bedient sich die Autorin, umEreignisse zu schildern, die vor KerensErinnerung liegen. Zugleich könnendurch diesen Perspektivwechsel mögli-che Gedanken Ellas durchgespielt wer-den, die ihr Handeln bzw. Nicht-Han-deln erklären. Ergänzt werden die Er-eignisse und die Gedanken Ellas durchzahlreiche Erzählerkommentare, dieweitere Entwicklungsstränge offenba-ren oder das Geschehen bewerten.

Schon nach kurzer Zeit auf derFlucht wird deutlich, dass Ella die Ver-antwortung für Keren zwar als Belas-tung empfindet, sie aber durchaus auchVorteile für sie bietet, verdankt sie ihrdoch beispielsweise eine bessere Be-handlung durch die Amtsstellen. DieVorzüge, die sie sich durch Keren ver-spricht, veranlassen Ella auch, dasMädchen als ihre eigene Tochter auszu-geben. Dennoch endet der erste Teil mitihrem festen Vorsatz, die Familie desKindes zu suchen und ihnen dasMädchen zu übergeben. Eine Er-klärung, warum sie diesen Vorsatz nichtin die Tat umsetzt, enthält der Text demLeser vor. Ellas Gedanken zu dieserFrage werden nicht mehr geschildertund bevor Keren ihre Adoptivmutterfragen kann, stirbt diese.Vereinzelt wirdlediglich Ellas schlechtes Gewissen er-

wähnt, jedoch veranlasst dieses sie we-der dazu, Kerens Familie zu suchen,noch hält es sie davon ab, sich Kerensnicht geringes Erbe anzueignen.

„Zwar haben sie [Ella] anfangs im-mer Gewissensbisse gestört, [...] aberwie bei den vielen anderen Gelegen-heiten, bei denen das geschah, wischtsie alle Bedenken mit einer kurzenHandbewegung beiseite. Was kann sieschon dagegen unternehmen? Es fälltihr gar nicht ein, ihr Versprechen anden Herrn Doktor zu erfüllen und zusuchen, wo Kriemhild besser unterge-bracht wäre“ (S. 187).

Angesichts der folgenschwerenKonsequenzen von Ellas Tat bleibendie Erklärungsversuche, die vereinzeltauftauchen, fragwürdig. Die Lücke, diezwischen Ellas Versprechen, KerensFamilie zu suchen, und der Nicht-Ein-lösung entsteht, kann (und soll) nichtgefüllt werden. Eine möglicher Grunddürfte in Zusammenhang stehen mitdem autobiographischen Hintergrunddes Romans. Dadurch handelt es sichum eine Auseinandersetzung der Auto-rin, hinter deren Pseudonym sich dieSchriftstellerin Miriam Magall verbirgt,mit ihrer eigenen Geschichte. So ist siebei der Beantwortung der Frage nachdem „Warum?“ auf eigene Erklärungs-muster angewiesen und das „Warum?“muss in letzter Konsequenz unbeant-wortet bleiben.

Nassrin Sadeghi(Arbeitsstelle Holocaustliteratur,

Universität Gießen)

Rachel Kochawi: Das Brot der Armut.Die Geschichte eines versteckten jüdi-schen Kindes. Aus dem Hebräischenübersetzt v. Miriam Magall. Lich/ Hes-sen: Verlag Edition AV 2010. 333 Sei-ten. ISBN: 978-3-86841-034-1. 18 Euro.

Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer 21

„Auf dass unsere Kinder niemalsdurch den Stacheldraht eines Lagers indie Welt blicken müssen“

Bogdan Bartnikowski

Jacek, der Kleine, hindert seinengroßen Bruder am Schlafen. Jacek willein Märchen hören, wie immer abends.Andrzej hat es ihm versprochen. And-rzej will nur schlafen. Es hilft nichts, ermuss erzählen. In wenigen Sätzen fasster das Märchen zusam-men. Aber Jacek will dieGeschichte mit allen Ein-zelheiten hören:„Los,fangan, von vorne, oder ichsag’s Mama!“ Die großenJungen können sich nurwundern. Alle wissendoch, dass ihre Mütter un-erreichbar sind. Die Müt-ter sind im Frauenlager.Vielleicht lebt die Muttergar nicht mehr. Andrzejerzählt das Märchen, einAuschwitzer Märchen.Und nach und nach hören alle Jungen,auch die großen, zu. Es ist das Märchenvon der Befreiung - vom Ausschlafen,Leben ohne brutale Bewacher,Wieder-sehen mit den Eltern, von Zärtlichkeitund der Rückkehr in ihr Zuhause. Undimmer wieder: ein Leben ohne Hunger.

Der zerquetschte ZinnsoldatIm Jahresbericht 2009 des MuseumsAuschwitz sind sechs Gummifiguren ab-gebildet,die Genowefa Marczewska fürihren sechs Jahre alten Sohn, der mit ihrin Auschwitz inhaftiert war, ausge-schnitten hat: ein Hahn, eine Katze, einZwerg, ein Tannenbaum, ein Hase, einSchwein.Wie unermesslich wichtig die-

se Spielsachen für die Kinder waren,wird deutlich,wenn man die Geschichte„Der Zinnsoldat“ liest:Der kleine Krzyshat es geschafft, einen Zinn-Ulanen insein trostloses Lagerdasein zu retten.Sein größter Schatz, der letzte Rest sei-ner Kindheit.Und dann wird der Schatzdoch entdeckt. Ein SS-Mann zer-quetscht ihn mit seinen Stiefeln. „War-um ... Das musste er doch nicht tun,oder? Das musste er doch nicht ...“

Im Lager werden dieKinder und Jugendlichengenau so misshandelt undgedemütigt wie die Er-wachsenen. Ihre Kindheithört schlagartig auf. EineZeit voller Hunger undAngst, voller Gewalt undSchmerzen, Sehnsuchtnach der Mutter, den El-tern. Bartnikowski schil-dert sie in eindringlichenGeschichten und zeigt soviele Facetten des Lebensund Sterbens im Lager.

Im Januar 1945 werden die Kinderund Jugendlichen auf einen 60 Kilome-ter langen Marsch geschickt,um dann inoffenen Kohlewaggons nach Mauthau-sen transportiert zu werden. Hier wer-den die, die unterwegs nicht anSchwäche gestorben, von den SS-Leu-ten erschossen oder erfroren sind, in ei-nen Block gesteckt, in dem es nur einealte Polin gibt, die grauhaarige Janka.Ihr „Kommt, Kinder! Passt auf, Kin-der!“ klingt ungewohnt,fremdartig,ver-störend. Sie - Kinder? Sie wundern sichüber diese Anrede und Janka bleibt beiihnen und beschützt sie in den letztenTagen bis zur Befreiung.

Bartnikowski erzählt von Unge-

Jacek will ein Märchen erzählt bekommen

22 Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer

heuerlichkeiten in einer lapidaren Spra-che, die umso eindringlicher vermittelt,wie den Kindern zumute gewesen seinmuss. Eine Sprache, die vermittelt, wiedie Kinder versuchen, hart und stark zuerscheinen.Vor allem den Großen kannman nichts vormachen. Sie kennen alleGräuel,die das Leben bereithalten kann.Und dann plötzlich bricht auch bei ihnenihre Verletzlichkeit durch, ihre Sehn-sucht nach Geborgenheit, nach Schutz.

Was einen nicht in Frieden lässtSoweit sich feststellen lässt,wurden etwa232.000 Kinder und Jugendliche nachAuschwitz-Birkenau deportiert. Dieweitaus Meisten waren Juden, mindes-tens 3.000 waren Polen. Sie kamen mitihren Eltern; etwa 700 wurden dort ge-boren. Die meisten Kinder wurden so-fort vergast, weil sie als Arbeitskraftnicht zu gebrauchen waren.Ausnahmenbildeten die Kinder, die in den so ge-nannten Familienlagern untergebrachtwaren und erst einige Monate nach ihrerAnkunft mit allen anderen in diesenBlocks untergebrachten Menschen ver-gast wurden.Andere Kinder wurden fürpseudomedizinische Versuche miss-braucht.Ab Ende 1943 wurden die überzwei Jahre alten Kinder in besondereBlocks im Frauen- bzw. Männerlagergesteckt. Ab Sommer 1944 wurde einTeil der größeren Kinder und Jugend-lichen wegen des Arbeitskräftemangelsin Lager im Reichsinneren verlegt, imJanuar 1945 noch einmal eine großeGruppe.Bei der Befreiung durch die So-wjetarmee befanden sich noch minde-stens 700 Kinder und Jugendliche im KZAuschwitz, von denen etwa 500 unter 15Jahre alt waren. Alle waren extrem un-terernährt und viele waren schwerkrank. Alle waren physisch und psy-chisch für ihr Leben schwer gezeichnet.

Wie ist das Leben von Menschen,dieschon in ihren frühen Jahren die Hölledurchleben mussten? Bogdan Bartniko-wski sagte, er habe die Geschichten auf-geschrieben, um sie loszuwerden. Siesollten ihn in Frieden lassen. Es ist ihmnicht geglückt.

Er wurde am 12. August 1944 alsZwölfjähriger mit seiner Mutter nachAuschwitz-Birkenau deportiert. SeineEltern und er waren am WarschauerAufstand beteiligt, sein Vater wurde da-bei getötet. Im Januar 1945 wurde Bog-dan Bartnikowski nach Sachsenhausenverlegt und in ein Kommando in Berlin-Blankenburg eingewiesen, wo er bei derEnttrümmerung Berlins eingesetzt wur-de. Am 22. April wurde er von der So-wjetarmee befreit.Nach Beendigung sei-ner Schulausbildung studierte er undwar bis 1968 Luftwaffenpilot.Danach ar-beitete er als Journalist und Schriftstel-ler. Er hat über 20 Prosawerke veröf-fentlicht, ab 1999 auch Gedichtbände.

Bartnikowskis Erinnerungen waren1968 das erste Buch, das in Polen an dasSchicksal polnischer Kinder in den Kon-zentrationslagern erinnerte.Jetzt,40 Jah-re später,wurde das Buch,ergänzt durchGeschichten anderer ehemaliger Kin-derhäftlinge,neu aufgelegt.Dazu gehörtdie Geschichte „Der Jude“, die 1968 derZensur zum Opfer gefallen war.

Es ist gut, dass es dieses Buch jetztwieder gibt.

Angelika Berghofer-Sierra

Bogdan Bartnikowski.Eine Kindheit hinterStacheldraht. Staatli-ches Museum Ausch-witz-Birkenau. Oswie-cim 2008, ISBN978-83-60210-73-4

Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer 23

In Ravensbrück wurde 1939 dasgrößte Frauen-Konzentrationslager aufdem Reichsgebiet eröffnet. Bis zur Be-freiung am 30.April 1945 durch die Ro-te Armee waren dort ca. 132.000 Frau-en und Kinder aus mehr als 40 Natio-nen inhaftiert. Hinzu kamen etwa20.000 Männer, für die im April 1941ein Lager eingerich-tet wurde. Geschätz-te tausend weiblicheJugendliche warenim „Jugendschutzla-ger Uckermark“ in-haftiert, das im Juni1942 eingerichtetwurde. Zehntausen-de dieser Menschenwurden ermordetoder starben anHunger, Krankhei-ten und an den Fol-gen pseudomedizi-nischer Experimen-te. Im Rahmen derAktion „14 f 13“ wurden Menschen, dieals behindert oder arbeitsunfähig gal-ten, ermordet. Viele Jüdinnen und Ju-den wurden in der „Heil- und Pflegean-stalt Bernburg“ vergast. In den Mona-ten vor Kriegsende wurden schätzungs-weise fünf- bis sechstausend Häftlingein einer provisorischen Gaskammerdes KZ ermordet.

Rassenschande und WiderstandDer „Studienkreis Deutscher Wider-stand 1933 - 1945“ hat in seiner Schrif-tenreihe eine Dokumentation heraus-gebracht, die den Spuren von 276 Frau-en folgt, die in Ravensbrück inhaftiertwaren. Ihnen gemeinsam ist, dass sie inFrankfurt am Main geboren und/oder

von Frankfurt nach Ravensbrück ge-bracht wurden. Die Frauen, die ausdem Deutschen Reich eingeliefert wur-den, erlitten dieses Schicksal als Einzel-ne. Ihnen warf man unterschiedlichste„Vergehen“ vor, angefangen bei der sogenannten Rassenschande bis hin zupolitischem Widerstand. Das bedeutet,

dass viele von ihnenauf Grund von De-nunziation gezieltverfolgt wurden.

Einleitend sinderläuternde und sta-tistische Angabenzu den großenGruppen - Jüdin-nen, Frauen der Sin-ti und Roma, aus-ländische Zwangs-arbeiterinnen, Zeu-ginnen Jehovas -und zu den Themen„Individuelles wi-derständiges Ver-

halten“ und „Der Kampf um Entschä-digung“ zu lesen. Die Lebensspurender Frauen sind alphabetisch nach demNachnamen geordnet. Viele der Frau-en werden mit diesem Buch dem Ver-gessen entrissen. Anderer wird schonlänger gedacht wie z. B. Johanna Tesch,nach der ein Platz und eine U-Bahn-Station in Frankfurt benannt sind.

Zu vielen Frauen gibt es nur wenigeAngaben; das trifft vor allem auf dieüberwiegend aus Polen und der Ukrainestammenden Zwangsarbeiterinnen zu.So erfahren wir, dass Katja Djatschenkoaus der Ukraine als Zwangsarbeiterinnach Frankfurt verschleppt wurde unddort in einer Wehrmachtseinrichtung ar-beiten musste. Am 30. November 1943

Lebensspuren verfolgter Frauen

24 Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer

wurde sie, gerade mal 17 Jahr alt, desDiebstahls bezichtigt und festgenom-men; am 24. Februar 1944 wurde sie vonder Gestapo in das FrauenKZ Ravens-brück überstellt.

Diese wenigen Daten geben Raumfür viele Fragen: Wann wurde diese Ju-gendliche verschleppt? Unter welchenUmständen? Welche Schrecken hattesie davor schon erleben müssen? Waspassierte mit ihrerFamilie? Worumging es bei dem„Diebstahl“? Werhat sie denunziert?Wurde sie mit „Er-ziehungshaft“ in ei-nem „Arbeitserzie-hungslager“ be-straft? Wurde sienach Ravensbrückeingewiesen, weildie Gestapo den „Erziehungszweck“als nicht erfüllt ansah? Hat sie Ravens-brück überlebt? Welche Auswirkungenhatten die Verschleppung zur Zwangs-arbeit und die Inhaftierung in Ravens-brück auf ihr weiteres Leben?

Von Johanna Stutte, die wegen ih-rer Mitgliedschaft bei der Vereinigung„Christliche Wissenschaft“ verhaftetund am 7. August 1941 nach Ravens-brück gebracht wurde, erfahren wirebenfalls nur wenige Daten. Aber wirerfahren, dass sie am 9. Februar 1942wieder frei gelassen wurde. - Was pas-sierte danach mit ihr? Hat sie denKrieg überlebt?

Nicht „entschädigungswürdig“Manchmal führte der Weg nach Ra-vensbrück über andere Lager. So wirddie neunköpfige Familie der SintezzaWanda Adler im Februar 1941 in dasInternierungslager Dieselstraße, von

dort Ende 1941 in das Lager Krupp-straße eingewiesen. Hier kommt derneunjährige Bruder ums Leben. ImFrühjahr 1943 wird die Familie nachAuschwitz-Birkenau deportiert. DerVater stirbt an den Lagerbedingungen,die Mutter und drei Geschwister wer-den mit vielen anderen Sinti und Romains Gas geschickt. Die Brüder Herbertund Heinz müssen zur Zwangsarbeit in

die KZ Sachsen-hausen und Bu-chenwald. WandaAdler wird am 15.April 1944 zurZwangsarbeit indas FrauenKZ Ra-vensbrück über-stellt. Sie gehörtedamit offensichtlichzu einem Transportvon 473 Frauen aus

dem „Zigeunerlager“ in Auschwitz-Birkenau. Es ist anzunehmen, dass siein ein Außenlager bei den Rüstungsbe-trieben überstellt wurde. Herbert Adlerberichtet: „In Ravensbrück habe ichdas erste Mal meine Schwester gese-hen, die drüben im Frauenlager war.Zwischen uns standen die Wachen, dieSS-Leute und ein geladener Zaun vonzigtausend Volt.“ Die drei Geschwisterüberlebten die Lager und trafen sichnach der Befreiung in Frankfurt.

Die Schmach setzte sich fort:WandaAdler musste einen entwürdigendenund nahezu aussichtslosen Kampf umdie Entschädigung führen. Erst abEnde der 1950er Jahre wurde ein Teilder Haftzeit als „entschädigungswür-dig“ anerkannt.

Im Ablehnungsbescheid von Ku-nigunde Klein, einer der Frauen ausdem Buch, steht: „Ein Anspruch aufEntschädigung wegen Freiheitsentzug

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Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer 25

besteht jedoch erst ab 1. 3.1943, da erst von diesemZeitpunkt an die Verfolgungder Zigeuner aus rassischenGründen begonnen hat.“Damit blieb die Inhaftie-rung in den Internierungsla-gern Diesel- und Krupp-straße entschädigungslos.

Else Schneider, die we-gen „staatsabträglicherÄußerungen“ am 30. Sep-tember 1943 nach Ravens-brück überstellt wurde,bringt es auf den Punkt:„Seit meiner Rückkehr imJuli 1945 habe ich nur Be-scheinigungen beigebrachtund gewartet, dass mir end-lich mein Recht wird. Fort-geschleppt hat man michganz schnell, ohne lang zufragen oder einen Prozess zu machen.“

Orte der ErinnerungIn den alphabetischen Teil des Buchesintegriert sind informative Erklärun-gen zu den Stichworten: „Arbeitserzie-hungslager“, „Judenhäuser“, Zwangs-arbeit in Frankfurt am Main, Komman-do Schneiderei, „Ravensbrück - Ausch-witz, Auschwitz - Ravensbrück“, Ent-schädigungsakten, Das „Judenreferat“der Gestapo Frankfurt, Bernburg,„Mischehen“. Diese Texte sind sehrhilfreich beim tieferen Verständnis deroft knappen Lebensdaten der Frauen.

Die Dokumentation wird vervoll-ständigt durch eine Namensliste mitQuellenangaben, die Auflistung vonArchiven, Datenbanken, Gedenk-büchern und Literatur.

Es ist zu wünschen, dass diese For-schungsarbeit weiter geführt wird.Dies ist auch die Absicht der Autorin-

nen, die ihre Spurensuche „in doppel-ter Hinsicht“ als nicht abgeschlossenerklären: Zum einen soll es den ver-folgten Frauen „ihre Namen, Gesich-ter und Biografien wiedergeben“ undzum anderen „sucht es in FrankfurtOrte auf, an denen diese Frauen vorihrer Deportation wohnten und arbei-teten, und Orte, an denen ihrer heutegedacht wird.

Angelika Berghofer-Sierra

Petra Busmann, Ursula Krause-Schmitt, Cora Mohr, Birgit Moxter,Doris Seekamp. Frankfurt am Main -FrauenKZ Ravensbrück. Lebensspu-ren verfolgter Frauen. Herausgegebenvom Studienkreis Deutscher Wider-stand 1933 - 1945. VAS -Verlag fürAkademische Schriften. Bad Hom-burg, 2009. ISBN 978-3-88864-454-2,14,80 Euro.

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Studienfahrten 2011

20. März - 25. März und 12. Oktober - 17. OktoberInhalt: - Führungen durch das Stammlager Auschwitz

- Führung durch das Vernichtungslager Birkenau- Gespräche mit Überlebenden- Besuch im Archiv und der Kunstsammlung der Gedenkstätte- Besuch in Krakau

Kosten: 600 Euro (Flug, Unterkunft,Verpflegung, Eintritte, Honorare)Ermäßigung bis zu 50 Prozent auf Antrag für Studierende, Schülerund Schülerinnen sowie Menschen mit geringem Einkommen

Informationen und Anmeldung bei Uwe Hartwig,Tel. (06002) 938033,E-Mail: [email protected]

Zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus

Veranstaltung mit der Historikerin Annette Weinke (Mitautorin der Stu-die „Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im DrittenReich und in der Bundesrepublik“

Donnerstag, 27. Januar 2011Friedberg/Hessen,10 Uhr, Plenarsaal der Kreisverwaltung am Europaplatz

Legalisierter Raub -

Der Fiskus und die Ausplünderung der Juden in Hessen

Ausstellung des Hessischen Rundfunks und des Fritz-Bauer-Institus

8. November 2010 - 27. März 201134497 Korbach,Wolfgang-Bonhage-Museum, Kirchplatz 2

www.museum-korbach.de und www.legalisierter-raub.hr-online.de

Tödliche Verfolgung von Christen jüdischer Herkunft

in der Rhein-Main-RegionVortrag von Monica Kingreen (Fritz-Bauer-Institut)

Dienstag, 25. Januar 2011Gendenkstätte Bertha Papenheim, Neu-Isenburg, Zeppelinstraße 10

Veranstaltungen der Lagergemeinschaft für das 1. Halbjahr 2011 sind inPlanung, aber noch nicht terminiert. Bitte immer mal wieder im Internetnachschauen auf www.lagergemeinschaft-auschwitz.de.