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Warten auf die Starterlaubnis W >enn es nach Philipp Bou- teiller geht, wird der nächste Elon Musk aus Berlin kom- men. Ge- nauer gesagt: aus Tegel. Wohnen sollder angehende Visionär zu Füßen des ehema- ligen Towers, in einer der vielen Studen- tenbuden, die hier entstehen werden. Vorlesungen besuchen wird er an der Beuth-Hochschule im sanierten Flugha- fengebäude, sein Start-up vielleicht entwickelt er schwebende Skateboards? – in einem ehemaligen Hangar aufbauen. Wenn das Produkt des jungen Gründers reif für den Markt ist, kann er es an das multinationale Mobilitätsunternehmen verkaufen, das ein Bürohaus auf einer ehemaligen Rollbahn errichtet hat. Seit acht Jahren wartet Philipp Bou- teiller darauf, dass er diese Vision in die Tat umsetzen kann. Darauf, dass Berlins bekannteste Pannenbaustelle BER fertig wird, damit der Flugbetrieb in Tegel en- det. Drei Koalitionen, fünf Staatssekre- täre, drei Senatoren für Stadtentwicklung und zwei für Finanzen hat er erlebt. Er war 44, als er den Job als Geschäfts- führer der „Tegel Projekt GmbH“ über- nahm, die aus dem Flughafen das For- schungs- und Entwicklungsgebiet „Berlin TXL“ machen soll. Heute ist Bouteiller 52, angefangen hat er immer noch nicht mit dem Umbau. Zuletzt sah es so aus, als werde sich das bald ändern, am 15. Juni sollte der Flug- betrieb in Tegel eingestellt werden. Bou- teiller hätte mit Architekten, Ingenieuren und Bauleuten, mit Abrissbirne und Tief- ladern einfahren und seine Pläne für Euro- pas größten Stadt- und Airport-Umbau ausrollen können. Eine Kleinstadt mit Wohnungen und Arbeitsplätzen für rund 30 000 Menschen will er schaffen.Bou- teiller spricht von der „Berliner Antwort auf das Silicon Valley“, einem „Laborato- rium der Zukunft“ für Menschen aller Na- tionalitäten. Doch Tegel bleibt geöffnet, bis Novem- ber, mindestens. Philipp Bouteiller muss sich weiter gedulden. Ob er überhaupt noch weiß, wie oft er bis heute in den Startblöcken stand? „Ende 2012, 2013, 2015, 2018 und 2020“, sagt Bouteiller bei einem Rund- gang durch das Flughafengebäude, in dem zurzeit kaum Passagiere unterwegs sind. Schon Ende 2012 hatte er eine Liste mit 100 Firmen aus Industrie und Hightech, die in Tegel mieten oder bauen wollten. Doch nach der dritten Verschie- bung erzählte man sich BER-Witze, statt sich über Pläne zu beugen. Acht Milliarden Euro sollen Bauherren in das rund 500 Hektar große Gebiet in- vestieren. Bouteiller und seine 50 Mit- arbeiter wollen einen Autobahnzubrin- ger stilllegen, Wohnhäuser bauen, sie werden Hallen und Bürohäuser errichten und das Baudenkmal des Architekturbü- ros Gerkan, Marg und Partner sanieren. Bis zu 30 Jahre werden vergehen, bis die zahlreichen Baufelder beackert sind. Eine Generationen-Aufgabe für einen Mann, der deren Vollendung vielleicht nicht einmal mehr erleben wird. Auf den Bildschirmen im Gespenster- flughafen sind ein Dutzend Flüge für die kommenden Tage gelistet. Die Gates sind nicht besetzt, ein Teil von Terminal A ist ganz mit rot-weißem Kunststoffband ab- gesperrt. Nur eines erinnert an den pul- sierenden Flugbetrieb, der hier noch vor zwei Monaten herrschte, die Durchsage in den menschenleeren Hallen: „Achtung Sicherheitshinweis, bitte lassen Sie Ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt.“ Beschwingt geht der TXL-Chef voraus, weist auf leere Gates, Anzeigetafeln und Details der Konstruktion. Mit einer Be- geisterung, als sei der Airport gerade erst gebaut. Bouteiller hat eine blaue Dau- nen-Weste über ein weißes Baumwoll- hemd gezogen und trägt einen roten Schal. „Business Casual“ würde man den Dresscode in seiner langjährigen Wahl- heimat London wohl nennen. Von dort, wo er studierte und an der London School of Economics über das „Management in the Age of Globalisa- tion“ promovierte, zog er im Jahr 2000 nach Deutschland, die Heimat seiner El- tern. Er fing bei McKinsey ein, aber weil unter den Unternehmensberatern da- mals „nicht einmal in Jahren das Wort In- ternet fiel“, wie er sagt, stieg er aus und in die Start-up-Branche ein. Im Jahr 2011 setzte er sich unter 100 Bewerbern für den TXL-Job durch – ein Traum. Bouteiller ist Realist, er hat auf die Schließung im Juni gehofft, aber auch nicht ausgeschlossen, dass doch wieder etwas dazwischenkommt. „Flughafen- chef Lütke Daldrup hatte mich schon in einem unserer Gespräche vorgewarnt, dass die Entscheidung zurückgenommen wird, falls sich die Fluggastzahlen wieder ändern“, sagt er. Der Umbau darf ohne- hin erst Monate nach einem erfolgrei- chen Start des BER beginnen, und zwar sobald die Luftfahrtbehörde den Alt-Flug- hafen aus der Planfeststellung entlässt. Ein halbes Jahr muss der Flughafen be- triebsbereit bleiben, so verlangt es das Gesetz. Drei weitere Monate hat die Flug- hafengesellschaft Zeit, um „sicherheitsre- levante Anlagen zurückzubauen“. Bou- teiller schätzt, dass er „frühestens nächs- tes Jahr zwischen Mai und August“ losle- gen kann. Warten, immer wieder warten – wie motiviert sich einer, der immer nur vorbe- reiten und nie zur Tat schreiten kann? Überzeugung, Widerständigkeit und eine Herzensangelegenheit das er- klärt, warum „sich mir die Frage nie stellte, ob ich hinschmeiße“, wie Bou- teiller sagt, Routine langweile ihn ohne- hin. Und – ja, auch „Verantwortung“ spiele da hinein. Das liege in der Fami- lie: Sein Onkel, Andreas Graf Berns- torff, Gutsherr mit Ländereien in Gorle- ben, weigerte sich, Grundstücke für den Bau des dort geplanten Atommüllla- gers zu verkaufen. Bouteillers Vater, Bürgermeister in Lübeck, brachte Asyl- suchende nach dem Brandanschlag auf ein Heim 1996 außerhalb von Sammel- unterkünften unter eine Umgehung des bestehenden Asylrechts. Eine „Hal- tung haben“, sagt Bouteiller, das zeichne auch ihn aus, er bleibe auf Kurs. Bouteiller sitzt in der Sky Lounge. Auf der Rollbahn, die sich wie eine Bühne vor dem leer geräumten VIP-Bereich des Flughafens ausbreitet, landet eine Privat- maschine. Rechts ragt der Tower mit den verspiegelten Fenstern in die Höhe. „Club- und Barbetreiber, Start-ups – den Tower wollen viele haben, aber den behal- ten wir bis zuletzt“, sagt Bouteiller. Und er erzählt eine Tegel-Anekdote aus der Zeit, als Berlin noch geteilt war: Wie der diensthabende französische General der verspätet in Tegel eintreffenden „Air Force One“ mit dem damaligen US-Präsi- denten Ronald Reagan an Bord eine Ab- kürzung über die Rollbahn Nord verwei- gert habe: „Nein, das ist der französische Sektor!“, habe der General gesagt. Bouteiller ist das Gegenmodell zum ruppigen, Konfrontationen nicht scheu- enden französischen General: verbind- lich, mit jugendlichem Charme, zum Du- zen neigend, geschmeidig. Trotzdem muss er sich gegen Angriffe wehren, seit er das Großprojekt leitet. Weil der Flughafen Tegel immer schon viele Unterstützer hatte. Und wegen der Machtspiele in Spitzenpositionen. „Sie wollten mich doch damals loswerden“, warf Bouteiller auf einem Empfang vor ei- nem Jahr dem früheren Finanzsenator Ul- rich Nussbaum zu, der als Gesellschafter von TXL gewirkt hatte – „Ja!“, habe dieser ebenso unumwunden entgegnet. 2013 war das. Warumderheutige Wirtschaftsstaatsse- kretär des Bundes „eine Fatwa“ gegen den TXL-Chef aussprach? Gab es Ärger, weil Nussbaum das TXL-Budget drastisch kürzte? „Ja, wir warendeshalb aneinander- geraten und das gefiel ihm nicht“. Schwamm drüber. Nussbaum lud ihn nach der Aussprache zu einem Treffen ins Mi- nisterium ein. „Das Leben ist zu kurz, et- was nachzutragen“. Freundlich ist Bouteillers „Nein“ auf die Bitte nach Zahlen zu dem, was er, sein Team und das ganze Vorhaben Berlin denn so kosten zurzeit. Verweigert er sich, weil sich das Land Berlin Jahr für Jahr Anzahlungen leistet auf eine Vision? Ob ehemaliger Hafen, Industrieareal oder Flughafen: Wenn Städte Brachen in Siedlungen umgestalten, gehen sie eine Wette auf die Zukunft ein: Beseitigung von Altlasten, Bau von Straßen und Plät- zen – all das kostet Geld, das die landes- eigene Entwicklungsgesellschaft aus dem Verkauf der Bauflächen oder deren Ver- pachtung wieder hereinholen muss. Fast 56 Millionen Euro stehen im „Wirtschafts- plan der Tegel Projekt GmbH“ des Senats für das kommende Jahr – und fast die kom- plette Summe (51 Millionen) davon sind „Zuschüsse des Landes Berlin“, ein klei- ner Restbetrag sind Fördermittel. Gegner des Projekts könnten diese Zahlen leicht gegen die ehrgeizigen Pläne wenden. „Da fliegt Angie gerade nach Brüssel“ – Bouteiller zeigt in den Himmel über Ber- lin, wo ein weißer Eurocopter AS 532 „Cougar“ die City ansteuert. Die Kanzle- rin, wirklich? „Ja, habe ich an der Frisur und dem Profil erkannt“, sagt er und zwinkert. Eine Spur von Hohn glaubt da herauszuhören, wer weiß, dass der Bund an seinem „Regierungsterminal“ in Tegel so hartnäckig festhält wie die West-Berli- ner Parteifunktionäre der FDP am Flug- betrieb in Tegel insgesamt. Weil es so schön bequem ist in der autogerechten Stadt, über die A100 ist die Innenstadt keine Viertelstunde entfernt. Tegel-Nord, wo die Politiker starten und landen, ist der letzte Bauabschnitt in Bouteillers Planung. Der finale Ab- flug der 220 Einsatzkräfte am Regie- rungsterminal, die rund 60-mal pro Jahr im Einsatz sind, ist im Jahr 2032 ge- plant. Das Regierungsterminal liegt am äußersten Rand des Airports, weit ent- fernt von Hauptgebäude, wo die ersten zehn Jahre gebaut wird – deshalb stört der Betrieb nicht. Zeiträume wie diese können Unbeha- gen auslösen, sogar gemessen an einem Menschenleben: In der Ausschreibung „zur Planung und Realisierung des Um- baus des zentralen Eingangsgebäudes Ter- minal B, Hochstraße Loop und Tower K“ steht „Laufzeit in Monaten: 128“ – mehr als zehn Jahre. In 15 Jahren steht der Chef des Projektes kurz vor der Rente. Bis zu 30 Jahre könnte die Entwicklung von TXL dauern. Einmal vollendet, soll das Gebiet Teil einer neuen Nordberliner Gründerregion sein. Bouteiller führt Gespräche mit Teams zwei benachbarter Entwicklungs- gebiete: der „Siemensstadt 2.0“, die der deutsche Industrie-Konzern westlich von Tegel mit Milliarden-Investitionen entwickelt. Kontakte gibt es auch mit den Entwicklern des früheren Industriegelän- des „Neues Gartenfeld“. Bei der Verknüp- fung der drei Gebiete könnten wiederum Gründer zum Zuge kommen: „Wir brau- chen ein modernes Mobilitätskonzept, da- mit die Leute nicht mit der Bimmelbahn zu den Konferenzen fahren müssen.“ Eine Art Magnetschwebebahn des 21. Jahrhunderts oder – weil diese Tech- nologiefantasie der späten 1970er Jahre floppte – vielleicht ein „Hyperloop“ wie Elon Musk es zur Vernetzung des Silicon Valleys erprobt? „Wir schaffen nur die Vo- raussetzungen, über das Transportmittel entscheiden andere“, weicht Bouteiller aus – die verkehrspolitische Debatte ist vermint. Kurze Wege von Tegel in die City gibt es bisher nur im Auto. Die Straßenbahn ist das Verkehrsmittel der Wahl des Se- nats. Noch ist aber unklar, wie eine Trasse verlaufen würde. Zur Diskussion steht eine Verlängerung der U-Bahn-Li- nie 6 über Tegel bis zum Festplatz in Rei- nickendorf. Nur knapp zwei Kilometer fehlen bis zum Terminal, der Senat gab im März eine Prüfung in Auftrag. Bou- teiller plant „eine freie Spur für einen neuen Verkehrsträger“, hütet sich aber davor, sich festzulegen: „Da können auch Zwischennutzungen erprobt werden, aus- gelegt ist er für die Straßenbahn.“ Sollte aber das Kreativpotenzial der 30 000 in TXL wirklich Funken sprühen, wer weiß welcher neuartige Verkehrsträger hier seinen Durchbruch erlebt? Im Geisterflughafen verirren sich ein- zelne Passagiere in den leeren Korrido- ren. Fast alle Läden sind geschlossen. Auf Corona-Streife laufen drei Polizisten plau- dernd vorbei und quetschen sich zu dritt in den eineinhalb Quadratmeter engen Aufzug – ohne Mundschutz. Bald wird es hier wieder voller sein, das Auswärtige Amt hat seine globale Reisewarnung aufgehoben, im Sommer wird Tegel wieder Ferienflieger und Ber- lin-Touristen abfertigen. Für Bouteiller ist das sogar ein kleiner Grund zur Freude: „Ich kann mich durch einen letzten privaten Flug noch einmal verab- schieden von Tegel.“ Wohin es geht, ist noch unklar. Bouteiller zeigt auf die lichte Decke der Halle: „Dreiecke, hier und überall“. Sie bilden Quadrate, Rechtecke und eben das berühmte Sechseck. Als die Architek- ten Meinhard von Gerkan und Volkwin Marg im Jahr 1974 den Schlüssel an den Regierenden Bürgermeister Klaus Schütz übergaben, hatten sie Brillen auf der Nase mit sechseckigen Rahmen und über- reichten einen sechseckigen Schlüssel. Die geometrischen Grundformen fin- det der Beobachter an Betonpfeilern wie- der, in den Kassettendecken – und natür- lich beim Abheben aus der Luft: am Grundriss des Gebäudes. Gerkans Büro GMP ist bei der Sanierung mit im Boot. „Bei Ihnen ist der Umbau in guten Hän- den“, habe der Altmeister der Architek- tur ihm gesagt, erzählt Bouteiller. Ein zweites Sechseck, der zweite Teil des Brillengestells gleichsam, war ne- benan geplant. Stattdessen entstand Ter- minal C als schnöder Funktionsbau mit bierzeltartigem Anbau. Das passte ins präcoronare Zeitalter der Billigairlines, Easyjet startet hier, wo das Fliegen, allen Glamours früher Jahre beraubt, zum Ver- kehrsmittel für die Massen wurde. „Kommt alles weg“, sagt Bouteiller. Es braucht Platz für die Wohnungen der Studenten, die zu den Vorlesungen der Beuth-Hochschule in Terminal A des Hexagons strömen sollen. Auf dem Weg werden sie den öffentlichen Platz am Fuße des Towers queren, einen der Treff- punkte von TXL. Ihre neuen Projekte, so ist der Plan, verhandeln die Unterneh- mer auch auf der umlaufenden Terrassen- galerie, wo bisher Autos zum Hauptge- bäude vorfahren: mit Blick aufs Wasser. Wo heute Autos parken, sammelt sich nach dem Umbau Regenwasser, das kühlt die Betonfestung im Sommer und entlas- tet die Umwelt. Kein Tropfen geht verlo- ren, der Regen versickert in den Gärten, die rund um die Neubauten aus Holz ent- stehen. Und wenn in den Wohnungen abends Licht angeht, dann mit Strom, den die Solarzellen auf den Dächern er- zeugt haben, die auch die Elektroautos in den Carports mit Energie versorgen. Wohnen in Tegel soll energieneutral sein, mindestens, möglicherweise erzeugen die Häuser sogar mehr Strom, als deren Bewohner verbrauchen. „Berlin TXL“ war Ergebnis eines offe- nen Ideenwettbewerbs, dreier ab2008 ge- starteter „Standortkonferenzen“ und ei- nes „Masterplans“, der 2013 mit sicherer Mehrheit vom Berliner Abgeordneten- haus auf den Weg gebracht wurde. Trotz- dem hätte die FDP mit ihrem Ende 2015 gestartetenVolksentscheid zumWeiterbe- trieb des Flughafens Tegel das alles fast noch umgeworfen. Bouteiller, der smarte Verkäufer einer Vision, musste erfahren, wie schnell eine Stimmung kippen kann – egal, wie groß die Mehrheit ist, die ein Pro- jekt getragen hatte. „Natürlich habe ich Verständnis für die Tegel-Freunde“, sagt Bouteiller, einen „so klug konzipierten Flughafen“ und dazu kurze Wege – „das wird es nicht mehr geben“. Aber ganz plötzlich nicht mehr er- wünscht zu sein, gegen eine fast schon feindselige Stimmung ankämpfen zu müs- sen – mehr noch als die ständigen Auf- schübe und Verzögerungen des Zeitplans sei dies die schwerste Probe in nahezu einer Dekade TXL gewesen. Im November soll all das ein Ende haben – oder hat er etwa Zweifel daran, dass er dann tatsächlich loslegen kann? „Nein, die hatte ich eigentlich nie.“ Der Senat habe immer hinter dem Projekt ge- standen, Stadtentwicklungssenatorin Ka- trin Lompscher sei eine große Hilfe. Und das lange, fast ewige Warten habe eine gute Seite: Seine Mannschaft werde mit ausgereiften Plänen auf das Flugfeld einrücken – und nicht mit Entwürfen und Ideen wie kurz nach seinem Dienst- antritt. Platz ist genug. In das rund 500 Hektar große Flughafengelände sollen Bauherren acht Milliarden Euro investieren. Wo heute Hangars leer stehen, sollen neben Bürogebäuden und einer Hochschule im Terminal auch Wohnhäuser entstehen. Dank Solaranlagen soll das Wohnen in Tegel energieneutral sein. Im besten Fall erzeugen die Häuser sogar mehr Strom, als deren Bewohner verbrauchen. Bunte Mischung. Philipp Bouteiller spricht vom Projekt TXL gern als „Laboratorium der Zukunft“ für Menschen aller Nationalitäten, die hier lernen, forschen, arbeiten und leben sollen. Laut der Planungen wird ein See entstehen, wo jahrzehntelang Autos parkten. Zunächst wird Tegel Berlin aber in seiner alten Funktion erhalten bleiben: als Flughafen, bis November, mindestens. Von Ralf Schönball Geduldig. Philipp Bouteiller hat Übung im Überarbeiten. Foto: Kitty Kleist-Heinrich Hörsäle, Büros, Wohnungen. Für 30 000 Menschen Die schwerste Prüfung? Eine Kampagne der FDP Seit fast zehn Jahren plant Philipp Bouteiller „Berlins Antwort auf das Silicon Valley“. Immer wieder wurde der Baustart für sein Hightech-Quartier auf dem Flughafen Tegel verschoben. Das Vertrauen in seine Vision aber hat er nie verloren MB 2 DER TAGESSPIEGEL MEHR BERLIN

Lasstalle Hoffnung fliegen€¦ · Schal. „BusinessCasual“würde man den Dresscode in seiner langjährigen Wahl-heimatLondonwohl nennen. Vondort,woerstudierteund an der London

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Page 1: Lasstalle Hoffnung fliegen€¦ · Schal. „BusinessCasual“würde man den Dresscode in seiner langjährigen Wahl-heimatLondonwohl nennen. Vondort,woerstudierteund an der London

Warten auf

die StarterlaubnisW

>enn es nachPhilipp Bou-teiller geht,wird dernächste ElonMusk ausBerlin kom-men. Ge-

nauer gesagt: aus Tegel. Wohnen soll derangehende Visionär zu Füßen des ehema-ligen Towers, in einer der vielen Studen-tenbuden, die hier entstehen werden.Vorlesungen besuchen wird er an derBeuth-Hochschule im sanierten Flugha-fengebäude, sein Start-up – vielleichtentwickelt er schwebende Skateboards? –in einem ehemaligen Hangar aufbauen.Wenn das Produkt des jungen Gründersreif für den Markt ist, kann er es an dasmultinationale Mobilitätsunternehmenverkaufen, das ein Bürohaus auf einerehemaligen Rollbahn errichtet hat.

Seit acht Jahren wartet Philipp Bou-teiller darauf, dass er diese Vision in dieTat umsetzen kann. Darauf, dass Berlinsbekannteste Pannenbaustelle BER fertigwird, damit der Flugbetrieb in Tegel en-det. Drei Koalitionen, fünf Staatssekre-täre, drei Senatoren für Stadtentwicklungund zwei für Finanzen hat er erlebt.

Er war 44, als er den Job als Geschäfts-führer der „Tegel Projekt GmbH“ über-nahm, die aus dem Flughafen das For-schungs- und Entwicklungsgebiet „BerlinTXL“ machen soll. Heute ist Bouteiller52, angefangen hat er immer noch nichtmit dem Umbau.

Zuletzt sah es so aus, als werde sich dasbald ändern, am 15. Juni sollte der Flug-betrieb in Tegel eingestellt werden. Bou-teiller hätte mit Architekten, Ingenieurenund Bauleuten, mit Abrissbirne und Tief-ladern einfahren und seine Pläne für Euro-pas größten Stadt- und Airport-Umbauausrollen können. Eine Kleinstadt mitWohnungen und Arbeitsplätzen für rund30000 Menschen will er schaffen.Bou-teiller spricht von der „Berliner Antwortauf das Silicon Valley“, einem „Laborato-rium der Zukunft“ für Menschen aller Na-tionalitäten.

Doch Tegel bleibt geöffnet, bis Novem-ber, mindestens. Philipp Bouteiller musssich weiter gedulden.

Ob er überhaupt noch weiß, wie oft erbis heute in den Startblöcken stand?

„Ende 2012, 2013, 2015, 2018 und2020“, sagt Bouteiller bei einem Rund-gang durch das Flughafengebäude, indem zurzeit kaum Passagiere unterwegssind. Schon Ende 2012 hatte er eine Listemit 100 Firmen aus Industrie undHightech, die in Tegel mieten oder bauenwollten. Doch nach der dritten Verschie-bung erzählte man sich BER-Witze, stattsich über Pläne zu beugen.

Acht Milliarden Euro sollen Bauherrenin das rund 500 Hektar große Gebiet in-vestieren. Bouteiller und seine 50 Mit-arbeiter wollen einen Autobahnzubrin-ger stilllegen, Wohnhäuser bauen, siewerden Hallen und Bürohäuser errichtenund das Baudenkmal des Architekturbü-ros Gerkan, Marg und Partner sanieren.

Bis zu 30 Jahre werden vergehen, bisdie zahlreichen Baufelder beackert sind.Eine Generationen-Aufgabe für einenMann, der deren Vollendung vielleichtnicht einmal mehr erleben wird.

Auf den Bildschirmen im Gespenster-flughafen sind ein Dutzend Flüge für diekommenden Tage gelistet. Die Gates sindnicht besetzt, ein Teil von Terminal A istganz mit rot-weißem Kunststoffband ab-gesperrt. Nur eines erinnert an den pul-sierenden Flugbetrieb, der hier noch vorzwei Monaten herrschte, die Durchsagein den menschenleeren Hallen: „AchtungSicherheitshinweis, bitte lassen Sie IhrGepäck nicht unbeaufsichtigt.“

Beschwingt geht der TXL-Chef voraus,weist auf leere Gates, Anzeigetafeln undDetails der Konstruktion. Mit einer Be-geisterung, als sei der Airport gerade erstgebaut. Bouteiller hat eine blaue Dau-nen-Weste über ein weißes Baumwoll-hemd gezogen und trägt einen rotenSchal. „Business Casual“ würde man denDresscode in seiner langjährigen Wahl-heimat London wohl nennen.

Von dort, wo er studierte und an derLondon School of Economics über das„Management in the Age of Globalisa-tion“ promovierte, zog er im Jahr 2000nach Deutschland, die Heimat seiner El-tern. Er fing bei McKinsey ein, aber weilunter den Unternehmensberatern da-mals „nicht einmal in Jahren das Wort In-ternet fiel“, wie er sagt, stieg er aus undin die Start-up-Branche ein. Im Jahr 2011setzte er sich unter 100 Bewerbern fürden TXL-Job durch – ein Traum.

Bouteiller ist Realist, er hat auf dieSchließung im Juni gehofft, aber auchnicht ausgeschlossen, dass doch wiederetwas dazwischenkommt. „Flughafen-chef Lütke Daldrup hatte mich schon ineinem unserer Gespräche vorgewarnt,dass die Entscheidung zurückgenommenwird, falls sich die Fluggastzahlen wiederändern“, sagt er. Der Umbau darf ohne-hin erst Monate nach einem erfolgrei-chen Start des BER beginnen, und zwarsobald die Luftfahrtbehörde den Alt-Flug-hafen aus der Planfeststellung entlässt.

Ein halbes Jahr muss der Flughafen be-triebsbereit bleiben, so verlangt es dasGesetz. Drei weitere Monate hat die Flug-hafengesellschaft Zeit, um „sicherheitsre-levante Anlagen zurückzubauen“. Bou-teiller schätzt, dass er „frühestens nächs-tes Jahr zwischen Mai und August“ losle-gen kann.

Warten, immer wieder warten – wiemotiviert sich einer, der immer nur vorbe-reiten und nie zur Tat schreiten kann?

Überzeugung, Widerständigkeit undeine Herzensangelegenheit – das er-klärt, warum „sich mir die Frage niestellte, ob ich hinschmeiße“, wie Bou-teiller sagt, Routine langweile ihn ohne-hin. Und – ja, auch „Verantwortung“spiele da hinein. Das liege in der Fami-lie: Sein Onkel, Andreas Graf Berns-torff, Gutsherr mit Ländereien in Gorle-ben, weigerte sich, Grundstücke fürden Bau des dort geplanten Atommüllla-gers zu verkaufen. Bouteillers Vater,Bürgermeister in Lübeck, brachte Asyl-suchende nach dem Brandanschlag aufein Heim 1996 außerhalb von Sammel-unterkünften unter – eine Umgehungdes bestehenden Asylrechts. Eine „Hal-

tung haben“, sagt Bouteiller, das zeichneauch ihn aus, er bleibe auf Kurs.

Bouteiller sitzt in der Sky Lounge. Aufder Rollbahn, die sich wie eine Bühne vordem leer geräumten VIP-Bereich desFlughafens ausbreitet, landet eine Privat-maschine. Rechts ragt der Tower mit denverspiegelten Fenstern in die Höhe.„Club- und Barbetreiber, Start-ups – denTower wollen viele haben, aber den behal-ten wir bis zuletzt“, sagt Bouteiller. Under erzählt eine Tegel-Anekdote aus derZeit, als Berlin noch geteilt war: Wie derdiensthabende französische General derverspätet in Tegel eintreffenden „AirForce One“ mit dem damaligen US-Präsi-denten Ronald Reagan an Bord eine Ab-kürzung über die Rollbahn Nord verwei-gert habe: „Nein, das ist der französischeSektor!“, habe der General gesagt.

Bouteiller ist das Gegenmodell zumruppigen, Konfrontationen nicht scheu-enden französischen General: verbind-lich, mit jugendlichem Charme, zum Du-zen neigend, geschmeidig.

Trotzdem muss er sich gegen Angriffewehren, seit er das Großprojekt leitet.Weil der Flughafen Tegel immer schonviele Unterstützer hatte. Und wegen derMachtspiele in Spitzenpositionen. „Siewollten mich doch damals loswerden“,warf Bouteiller auf einem Empfang vor ei-nem Jahr dem früheren Finanzsenator Ul-rich Nussbaum zu, der als Gesellschaftervon TXL gewirkt hatte – „Ja!“, habe dieserebenso unumwunden entgegnet. 2013war das.

WarumderheutigeWirtschaftsstaatsse-kretär des Bundes „eine Fatwa“ gegen denTXL-Chef aussprach? Gab es Ärger, weilNussbaum das TXL-Budget drastischkürzte?„Ja,wirwarendeshalbaneinander-geraten und das gefiel ihm nicht“.Schwammdrüber.Nussbaumludihnnachder Aussprache zu einem Treffen ins Mi-nisterium ein. „Das Leben ist zu kurz, et-was nachzutragen“.

Freundlich ist Bouteillers „Nein“ aufdie Bitte nach Zahlen zu dem, was er, seinTeam und das ganze Vorhaben Berlindenn so kosten zurzeit. Verweigert ersich, weil sich das Land Berlin Jahr fürJahr Anzahlungen leistet auf eine Vision?

Ob ehemaliger Hafen, Industriearealoder Flughafen: Wenn Städte Brachen inSiedlungen umgestalten, gehen sie eine

Wette auf die Zukunft ein: Beseitigungvon Altlasten, Bau von Straßen und Plät-zen – all das kostet Geld, das die landes-eigene Entwicklungsgesellschaft aus demVerkauf der Bauflächen oder deren Ver-pachtung wieder hereinholen muss. Fast56MillionenEurostehenim„Wirtschafts-plan der Tegel Projekt GmbH“ des Senatsfürdas kommendeJahr–undfastdiekom-plette Summe (51 Millionen) davon sind„Zuschüsse des Landes Berlin“, ein klei-ner Restbetrag sind Fördermittel. Gegnerdes Projekts könnten diese Zahlen leichtgegen die ehrgeizigen Pläne wenden.

„Da fliegt Angie gerade nach Brüssel“ –Bouteiller zeigt in den Himmel über Ber-lin, wo ein weißer Eurocopter AS 532„Cougar“ die City ansteuert. Die Kanzle-rin, wirklich? „Ja, habe ich an der Frisurund dem Profil erkannt“, sagt er undzwinkert. Eine Spur von Hohn glaubt daherauszuhören, wer weiß, dass der Bundan seinem „Regierungsterminal“ in Tegelso hartnäckig festhält wie die West-Berli-ner Parteifunktionäre der FDP am Flug-betrieb in Tegel insgesamt. Weil es soschön bequem ist in der autogerechtenStadt, über die A100 ist die Innenstadtkeine Viertelstunde entfernt.

Tegel-Nord, wo die Politiker startenund landen, ist der letzte Bauabschnittin Bouteillers Planung. Der finale Ab-flug der 220 Einsatzkräfte am Regie-rungsterminal, die rund 60-mal pro Jahrim Einsatz sind, ist im Jahr 2032 ge-plant. Das Regierungsterminal liegt amäußersten Rand des Airports, weit ent-fernt von Hauptgebäude, wo die erstenzehn Jahre gebaut wird – deshalb störtder Betrieb nicht.

Zeiträume wie diese können Unbeha-gen auslösen, sogar gemessen an einemMenschenleben: In der Ausschreibung„zur Planung und Realisierung des Um-baus des zentralen Eingangsgebäudes Ter-minal B, Hochstraße Loop und Tower K“steht „Laufzeit in Monaten: 128“ – mehrals zehn Jahre. In 15 Jahren steht derChef des Projektes kurz vor der Rente.Bis zu 30 Jahre könnte die Entwicklungvon TXL dauern.

Einmal vollendet, soll das Gebiet Teileiner neuen Nordberliner Gründerregionsein. Bouteiller führt Gespräche mitTeams zwei benachbarter Entwicklungs-gebiete: der „Siemensstadt 2.0“, die der

deutsche Industrie-Konzern westlichvon Tegel mit Milliarden-Investitionenentwickelt. Kontakte gibt es auch mit denEntwicklern des früheren Industriegelän-des „Neues Gartenfeld“. Bei der Verknüp-fung der drei Gebiete könnten wiederumGründer zum Zuge kommen: „Wir brau-cheneinmodernesMobilitätskonzept,da-mit die Leute nicht mit der Bimmelbahnzu den Konferenzen fahren müssen.“

Eine Art Magnetschwebebahn des21. Jahrhunderts oder – weil diese Tech-nologiefantasie der späten 1970er Jahrefloppte – vielleicht ein „Hyperloop“ wieElon Musk es zur Vernetzung des SiliconValleys erprobt? „Wir schaffen nur die Vo-raussetzungen, über das Transportmittelentscheiden andere“, weicht Bouteilleraus – die verkehrspolitische Debatte istvermint.

Kurze Wege von Tegel in die City gibtes bisher nur im Auto. Die Straßenbahnist das Verkehrsmittel der Wahl des Se-nats. Noch ist aber unklar, wie eineTrasse verlaufen würde. Zur Diskussionsteht eine Verlängerung der U-Bahn-Li-nie 6 über Tegel bis zum Festplatz in Rei-nickendorf. Nur knapp zwei Kilometerfehlen bis zum Terminal, der Senat gabim März eine Prüfung in Auftrag. Bou-teiller plant „eine freie Spur für einenneuen Verkehrsträger“, hütet sich aberdavor, sich festzulegen: „Da können auchZwischennutzungen erprobt werden, aus-gelegt ist er für die Straßenbahn.“ Sollteaber das Kreativpotenzial der 30000 inTXL wirklich Funken sprühen, wer weißwelcher neuartige Verkehrsträger hierseinen Durchbruch erlebt?

Im Geisterflughafen verirren sich ein-zelne Passagiere in den leeren Korrido-ren. Fast alle Läden sind geschlossen. AufCorona-StreifelaufendreiPolizistenplau-dernd vorbei und quetschen sich zu drittin den eineinhalb Quadratmeter engenAufzug – ohne Mundschutz.

Bald wird es hier wieder voller sein,das Auswärtige Amt hat seine globaleReisewarnung aufgehoben, im Sommerwird Tegel wieder Ferienflieger und Ber-lin-Touristen abfertigen. Für Bouteillerist das sogar ein kleiner Grund zurFreude: „Ich kann mich durch einenletzten privaten Flug noch einmal verab-schieden von Tegel.“ Wohin es geht, istnoch unklar.

Bouteiller zeigt auf die lichte Deckeder Halle: „Dreiecke, hier und überall“.Sie bilden Quadrate, Rechtecke und ebendas berühmte Sechseck. Als die Architek-ten Meinhard von Gerkan und VolkwinMarg im Jahr 1974 den Schlüssel an denRegierenden Bürgermeister Klaus Schützübergaben, hatten sie Brillen auf derNase mit sechseckigen Rahmen und über-reichten einen sechseckigen Schlüssel.

Die geometrischen Grundformen fin-det der Beobachter an Betonpfeilern wie-der, in den Kassettendecken – und natür-lich beim Abheben aus der Luft: amGrundriss des Gebäudes. Gerkans BüroGMP ist bei der Sanierung mit im Boot.„Bei Ihnen ist der Umbau in guten Hän-den“, habe der Altmeister der Architek-tur ihm gesagt, erzählt Bouteiller.

Ein zweites Sechseck, der zweite Teildes Brillengestells gleichsam, war ne-benan geplant. Stattdessen entstand Ter-minal C als schnöder Funktionsbau mitbierzeltartigem Anbau. Das passte inspräcoronare Zeitalter der Billigairlines,Easyjet startet hier, wo das Fliegen, allen

Glamours früher Jahre beraubt, zum Ver-kehrsmittel für die Massen wurde.

„Kommt alles weg“, sagt Bouteiller.Es braucht Platz für die Wohnungen

der Studenten, die zu den Vorlesungender Beuth-Hochschule in Terminal A desHexagons strömen sollen. Auf dem Wegwerden sie den öffentlichen Platz amFuße des Towers queren, einen der Treff-punkte von TXL. Ihre neuen Projekte, soist der Plan, verhandeln die Unterneh-mer auch auf der umlaufenden Terrassen-galerie, wo bisher Autos zum Hauptge-bäude vorfahren: mit Blick aufs Wasser.

Wo heute Autos parken, sammelt sichnach dem Umbau Regenwasser, das kühltdie Betonfestung im Sommer und entlas-tet die Umwelt. Kein Tropfen geht verlo-ren, der Regen versickert in den Gärten,die rund um die Neubauten aus Holz ent-

stehen. Und wenn in den Wohnungenabends Licht angeht, dann mit Strom,den die Solarzellen auf den Dächern er-zeugt haben, die auch die Elektroautos inden Carports mit Energie versorgen.Wohnen in Tegel soll energieneutral sein,mindestens, möglicherweise erzeugendie Häuser sogar mehr Strom, als derenBewohner verbrauchen.

„Berlin TXL“ war Ergebnis eines offe-nenIdeenwettbewerbs,dreierab2008ge-starteter „Standortkonferenzen“ und ei-nes „Masterplans“, der 2013 mit sichererMehrheit vom Berliner Abgeordneten-haus auf den Weg gebracht wurde. Trotz-dem hätte die FDP mit ihrem Ende 2015gestartetenVolksentscheidzumWeiterbe-trieb des Flughafens Tegel das alles fastnoch umgeworfen. Bouteiller, der smarteVerkäufer einer Vision, musste erfahren,wie schnell eine Stimmung kippen kann –egal,wiegroßdieMehrheitist,dieeinPro-jekt getragen hatte. „Natürlich habe ichVerständnis für die Tegel-Freunde“, sagtBouteiller, einen „so klug konzipiertenFlughafen“ und dazu kurze Wege – „daswird es nicht mehr geben“.

Aber ganz plötzlich nicht mehr er-wünscht zu sein, gegen eine fast schonfeindselige Stimmung ankämpfen zu müs-sen – mehr noch als die ständigen Auf-schübe und Verzögerungen des Zeitplanssei dies die schwerste Probe in nahezueiner Dekade TXL gewesen.

Im November soll all das ein Endehaben – oder hat er etwa Zweifel daran,dass er dann tatsächlich loslegen kann?„Nein, die hatte ich eigentlich nie.“ DerSenat habe immer hinter dem Projekt ge-standen, Stadtentwicklungssenatorin Ka-trin Lompscher sei eine große Hilfe.

Und das lange, fast ewige Warten habeeine gute Seite: Seine Mannschaft werdemit ausgereiften Plänen auf das Flugfeldeinrücken – und nicht mit Entwürfen undIdeen wie kurz nach seinem Dienst-antritt.

Lasst alleHoffnung fliegen

Kerosinruß im Garten,Lärm über den Köpfen,

Schlafstörungenund Depressionen.

Viele Anwohner leidenseit Jahren unter Tegel.

Und glauben nicht mehr,dass der Flughafen

tatsächlich eines Tagesgeschlossen wird

Von Armin Lehmann

Die Sommer ihres Lebens. Marianne Fel-ler-Gehre zog 2012 nach Hakenfelde,freute sich auf ein Gartenidyll. Klaus Die-trich kaufte die Wohnung in Reinickendorfauch wegen des Balkons. Fotos: A. Lehmann

Platz ist genug. In das rund 500 Hektar große Flughafengelände sollen Bauherren achtMilliarden Euro investieren. Wo heute Hangars leer stehen, sollen neben Bürogebäudenund einer Hochschule im Terminal auch Wohnhäuser entstehen. Dank Solaranlagen solldas Wohnen in Tegel energieneutral sein. Im besten Fall erzeugen die Häuser sogar mehrStrom, als deren Bewohner verbrauchen.

Bunte Mischung. Philipp Bouteiller spricht vom Projekt TXL gern als „Laboratoriumder Zukunft“ für Menschen aller Nationalitäten, die hier lernen, forschen, arbeitenund leben sollen. Laut der Planungen wird ein See entstehen, wo jahrzehntelang Autosparkten. Zunächst wird Tegel Berlin aber in seiner alten Funktion erhalten bleiben: alsFlughafen, bis November, mindestens.

Sein Tinnitus wird wohl bleiben, viel-leicht den Flughafen Tegel überle-ben. Das Fiepen in seinem Ohr istnicht leiser geworden, seitdem co-ronabedingt kaum noch Flugzeuge

in Tegel landen oder starten. Klaus Die-trich, 72 Jahre alt, von großer Statur undsanfter Stimme, erscheint dieses Ohrensau-sen wie „eine offene Wunde“, eine Artkörperliches Mahnmal, das er aus demKampf für die Schließung des Flughafensmitgenommen hat. Es war ein Kampf, wieDietrich sagt, in dem er sich oft „hilflosund ausgeliefert“ fühlte.

Er nennt den Ärger, die Wut, die er oftverspürte, „emotionale Zustände“.

Die geplatzte BER-Eröffnung am 3. Juni2012, das Missmanagement, die vielen wei-teren Verschiebungen und die explodieren-den Kosten haben Berlin bundesweit zurLachnummer gemacht. Und sie haben KlausDietrich verhöhnt. Am Tag, nach dem Flug-hafenchef Engelbert Lütke Daldrup verkün-det hat, dass Tegel nun doch nicht wie erstgeplant coronabedingt am 15. Juni geschlos-sen wird, sondern mit Eröffnung des BERam 31. Oktober, sitzt er auf einer Bank in derMittelbruchzeile in Reinickendorf.

Die Fußgängerstraße liegt nur ein paar Ki-lometer vom Flughafen entfernt mitten inder Einflugschneise. Dietrich ist einer derSprecher der Initiative „Tegel schließen – Zu-kunft öffnen“, die letzte, nochmalige Kehrt-wendung der Flughafengesellschafter hat ernur noch achselzuckend hingenommen. Ersagt: „Ich glaube erst an diese Schließung,wenn es so weit ist.“

An dieser Stelle, an der Klaus Dietrich anjenem Mittwoch sitzt, nicht weit von seinereigenen Wohnung entfernt, fliegen die Flug-zeuge beim Landeanflug 400 Meter undbeim Starten 900 Meter hoch über die Häu-ser und Menschen hinweg. Und als wolle Te-gel ihn nochmals ärgern, dröhnt gegen elfUhr am Vormittag tatsächlich eine Maschineüber ihn drüber und innerhalb der nächstenhalben Stunde drei weitere. Dietrich starrtnach oben, verzieht nur das Gesicht. Ihmfällt dazu nichts mehr ein, außer dass es sei-nen Tinnitus triggert. Diese Geräusche imOhr hatte er zwar schon, bevor er nach Reini-ckendorf zog – „aber sie sind erst dann stär-ker geworden“.

Ob hier gestartet oder gelandet wird,hängt mit der Windrichtung zusammen. ImNormalbetrieb waren in Vor-Corona-Zeitenrund 500 Starts und Landungen täglich üb-lich. Hier in der Mittelbruchzeile erreichtder durchschnittliche Lärmpegel zwischen65 und 70 Dezibel, in der Meteorstraße amKurt-Schumacher-Platz ein paar Kilometerweiter westlich wurden in den vergangenenJahren regelmäßig bis zu 90 Dezibel gemes-sen. Das entspricht dem Geräusch einesPresslufthammers.

Interessiert hat das meist nur die Betroffe-nen – rund 300000 Berlinerinnern und Berli-ner vor allem in Spandau, Reinickendorf undPankow. In der breiteren Öffentlichkeit wardie Mehrheit, selbst in Reinickendorf, im-mer für eine Offenhaltung des Flughafens.Im Rückblick erscheint Dietrich dieser Um-stand irrational, diese „emotionale Bindung“der Berliner zu Tegel hatte aber natürlich et-was zu tun mit der alten Frontstadtge-schichte, dem Eingeschlossensein in derMauerstadt. Irgendwann, lange nachdemder letzte Rosinenbomber während der sow-jetischen Blockade in Tempelhof gelandetwar, war klar, dass man einen größeren Flug-hafen brauchte. So wurde Tegel nach undnach zum zivilen Luftfahrtkreuz ausgebaut.

Tegel war eine Erfolgsgeschichte – undvielleicht eine der wenigen Berliner Erfin-dungen nach dem Mauerbau, die weltweitgeliebt wurden, gerade aufgrund der Be-scheidenheit des Baus, der kurzen Wege undder besonderen Architektur des Sechsecks.

Klaus Dietrich, mittlerweile im Ruhe-stand, ist studierter Physiker. Gearbeitet hater weltweit auf großen Industriebaustellenfür Zementwerke oder Kläranlagen. Dietrichsagt: „Ich habe große Baustellen geleitet, ichweiß, ob eine Baustelle funktioniert.“

Umso gespannter ist er, als er zu Beginndes Jahres 2012 mit einer Gruppe des Eisen-bahnbundesamtes, seinem damaligen Arbeit-geber, die BER-Baustelle besichtigt und vomProjektleiter herumgeführt wird. Dietrich er-innert sich, dass er „immer fassungsloserwurde“. Er fragt den Projektleiter schließ-lich, ob der wirklich daran glaube, dass ange-sichts des Chaos, das er sehe, in sechs Mona-ten der Flughafen eröffnet werden könne.Die Antwort: „Ja, klar!“

Schon auf dem Weg nach Hause beginntDietrich fieberhaft danach zu suchen, ob esBürgerinitiativen gibt, die sich für die Schlie-ßung Tegels einsetzen. Heute sagt er: „Mirwar klar, dass ich und meine Frau jetzt auchein Problem hatten.“ Und er sollte recht be-halten. Die Wohnung, die sich Dietrich in

Reinickendorf gekauft hatte, hat einen schö-nen Balkon. Doch schon im Jahre 2010 gabes täglich bis zu 120 Flugbewegungen, sodass es oft unmöglich war, auf dem Balkonzu sitzen. 2019 fertigte Tegel 25 MillionenPassagiere ab.

Als der BER-Eröffnungstermin platzt,schreibt Dietrich Briefe, führt Gespräche,trifft Politiker im Bundestag oder im Abge-ordnetenhaus, liest Bilanzen und Geschäfts-berichte von Fluggesellschaften, vertieftsich in die Pannen am BER und die merkwür-digen Personalentscheidungen – und wird,obwohl ihn nichts so leicht aus der Ruhebringt, immer wütender. Vielleicht machtenWut und Ohnmacht den Tinnitus stärkerund nicht der Lärm. Dietrich weiß es nicht.

Als schließlich die FDP in Berlin beginnt,die dauerhafte Offenhaltung Tegels zu for-dern und sogar einen Volksentscheid durch-setzt, bekommen Dietrich und seine Mit-streiter Panik. Anfangs, erinnert er sich, vo-tierten 75 Prozent der Berliner für die Offen-haltung – trotz einer eindeutigen Rechts-grundlage für die Schließung. Einmal habeman in der Greenwichpromenade am Tege-ler See während des Hafenfests Flugblätterverteilt: „Man hat uns Prügel angedroht.“Dietrich, längst eine Art Sachverständigen-experte, versteht die Welt nicht mehr.

Am Ende stimmen 56 Prozent für eine Of-fenhaltung – ein Votum, das keine rechtlicheBindung hat, aber hilft, die FDP zurück insBerliner Parlament zu bringen. Klaus Die-trich kann die Nostalgie derer verstehen, dieam Flughafen mitgebaut haben oder von de-nen, die die Mauerstadt noch erlebt haben.Aber die allermeisten Tegel-Fans, sagt er,seien es nur aus „Bequemlichkeit“. Die wüss-ten gar nicht, dass Lärm krank macht.

Die Anrainer haben ihm von ihren oft dif-fusen körperlichen Beschwerden oder kon-kreten Krankheiten erzählt: Schlafstörun-gen, Nervosität, Ohrenfiepen, Herzrhyth-musstörungen, Bluthochdruck, Depressio-nen. Die bisher größte Lärmstudie in

Deutschland stammt von 2015 und hat bestä-tigt, dass es einen Zusammenhang zum Auf-treten von Herz- oder Schlaganfällen sowieHerzschwäche gibt. Und zu Depression.

IndiesemSommerwerdendankderAufhe-bungderReisewarnungennocheinmaldieFe-rienflieger über die Tegel-Anrainer hinweg-donnern. Dietrich seufzt: „Wir haben schonso oft gedacht, nur noch dieser Sommer ...“

Marianne Feller-Gehre kennt das Gefühl,man müsse nur noch ein bisschen durchhal-ten. Die 68-jährige ehemalige Studienrätinwollte raus aus der Innenstadt, raus aus Schö-neberg, um vor allem nachts Ruhe zu haben.Jetzt sitzt sie in ihrem kleinen Garten vorihrem Häuschen in Hakenfelde, nur ein paarSchritte vom Nordufer Spandau und demWasser der Havel entfernt, und guckt somisstrauisch in den Himmel wie zuvor KlausDietrich in Reinickendorf.

Früher waren hier riesige Tanklager, eineTeerpappenfabrik und anderes Industriege-werbe angesiedelt. Doch die angekündigteSchließung Tegels zog Investoren an, es ent-stand eine idyllische Einfamilienhaussied-lung in – eigentlich – bester Lage.

Als Feller-Gehre 2012 einzieht, ist sienoch sicher, dass die Tegel-Schließungkommt. Sie ist eine zierliche Frau, spieltSchlagzeug, hat es mit 50 Jahren begonnenzu lernen, vor allem deshalb, weil man ihrals Mädchen sagte, das sei nur was für Jungs.Von ihrem Garten aus fotografiert sie fürihre Enkel sogar noch viele Flieger, die hierwie an der Mittelbruchzeile in 400 MeterHöhe hinüberfliegen. Doch mit der geplatz-ten BER-Eröffnung ist auch die Gewissheitdahin, dass es schon irgendwie gehen könne.

Im Alltag fräsen sich die Flugzeuggeräu-sche, das Kreischen der Motoren, in ihrenKörper und verursachen Unsicherheit undUnruhe. Bei normalem Flugbetrieb begin-nen morgens um 6 Uhr, wie Marianne Fel-ler-Gehre es formuliert, „die ersten Flug-zeugbatterien loszuschießen“: 45 Maschi-nen in kurzen Abständen. Sie sagt: „Das Pro-blem ist, man kann einfach nicht weghören.“

Im Gegenteil, wenn die Abstände zumnächsten Flieger plötzlich größer wurden,schaltete Feller-Gehre nicht ab, sondern war-tete voller Anspannung auf das nächste Flug-zeug. In den Garten ging sie nur noch mitLärmschutzkopfhörern. Sie fühlte sich wieeine Gefangene im falschen Leben.

Heute sagt sie: „Meine Ohren haben sichgerade von den ständigen Reizungen durchOhropax erholt.“ Dann zeigt sie auf den Ter-rassenboden. Es ist aufgrund der Corona-krise schon eine Weile her, dass sie das letzteMal den Ruß von vermutlich nicht vollstän-dig verbranntem Kerosin, der sich wieschwarzer Feinstaub in den Gärten ablagert,mit Essigreiniger wegschrubben musste.

Irgendwann, als sie noch arbeitete, fingsie an, nachts lange aufzubleiben. „Ichwollte wenigstens dann die Ruhe genießen.“Ihre Kinder rieten ihr, wieder wegzuziehen,doch das Geld steckte in der Immobilie unddie Mieten anderswo waren längst gestie-gen. Sie wollte durchhalten, gleichzeitig,sagt sie, „gab es nie die Chance, einfach malvon diesem Lärm auszuruhen“.

Der BER stagnierte, Tegels Kapazitätenwuchsen und wuchsen, und Marianne Fel-ler-Gehres Blutdruck stieg dauerhaft auf ei-nen ungesunden Wert. Das Nachtflugverbotwurde aufgeweicht. Und so begann sie, sichähnlich wie Klaus Dietrich zu engagieren,schriebBriefeanjedenSpandauerBezirksver-ordneten,verteilteFlyer,besuchteVeranstal-tungen und engagierte sich auch, als KlausDietrich anregte, aus vielen kleinen Ortsteil-initiativen eine große zu formen.

Aber eines Tages steht sie am RathausSpandau an der Haltestelle, es regnet, siewill zum Treffen der nun vereinten Bürger-initiative nach Reinickendorf. Der Buskommt 30 lange Minuten nicht, es ist schondunkel und sie völlig durchnässt. Sie be-schließt, nach Hause zu fahren, im Rück-blick sagt sie: „Ich fand plötzlich alles so sinn-los, fühlte mich allein und von der Politikverraten.“ Lärm ist stärker als Optimismus.In ihrer Siedlung ziehen viele wieder weg,neue kommen mit neuer Hoffnung, der Flug-hafen bleibt offen.

Als der Flughafenchef Ende Mai ankün-digt, Tegel werde nun vorzeitig schließen,hat Marianne Feller-Gehre keine Kraft, sichgroß zu freuen, und als die Rückwärtsrollevon Lütke Daldrup öffentlich wird, „habe ichnur resigniert abgewunken“. Sie erwartetnichts mehr, sie weiß nur, dass sie wirklichwegziehen wird, wenn im November nichtendgültig Schluss ist. Sie will sich nicht dau-erhaft krank machen.

Marianne Feller-Gehre hat einen hartnä-ckigen Albtraum. Sie steht draußen im Gar-ten und sieht ein Flugzeug direkt auf sie zu-kommen. Sie denkt, das könne doch garnicht sein. Aber es rast immer bedrohlicherund näher heran. Dann wacht sie auf.

Von Ralf Schönball

Geduldig. Philipp Bouteiller hat Übung imÜberarbeiten. Foto: Kitty Kleist-Heinrich

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Die schwerstePrüfung?

Eine Kampagneder FDP

Seit fast zehn Jahrenplant Philipp Bouteiller

„Berlins Antwortauf das Silicon Valley“.Immer wieder wurdeder Baustart für sein

Hightech-Quartier aufdem Flughafen Tegel

verschoben.Das Vertrauen

in seine Vision aberhat er nie verloren

MB 2 DER TAGESSPIEGEL NR. 24 208 / SONNABEND, 13. JUNI 2020 MB 3MEHR BERLIN