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Lebensweltanalyse und Handlungstheorie Schütz, Alfred & Gurwitsch, Aron (1985): Briefwechsel 1939-1959, hrsg. v. Richard Grathoff, München: W1lhelm Fink. Schütz, Alfred & Luckmann, Thomas (1975, 1984): Strukturen der Le- benswelt, Bd. 1: Neuwied und Darmstadt Luchterhand, Bd. 2: Frankfurt am Main: Suhrkamp. Schütz, Alfred & Parsons, Talcott (1977): Zur Theorie sozialen Han- delns. Ein Briefwechsel, hrsg. u. eingeleitet von Watter Sprondel, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Soeffner, Hans-Georg (1989): Auslegung des Alltags - Der Alltag der Auslegung. Zur wissens soziologischen Konzeption einer sozialwis- senschaftlichen Hermeneutik, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Srubar, llja (1985): Abkehr von der transzendentalen Phänomenologie. Die philosophische Position des späten Schütz, in: Sozialität und Intersubjektivität, hrsg. v. Richard Grathoff und Bernhard Walden- fels, München: \V:tlhelm Fink, S.68-84. ders. (1988): Kosmion. Die Genese der pragmatischen Lebenswelttheo- rie von Alfred Schütz und ihr anthropologischer Hintergrund, Frankfurt am Main: Sulttkamp. Stein, Edith (1925): Untersuchung über den Staat, in: Jalu:buch für Phi- losophie und phänomenologische Forschung, 7: S. 1-125. Wagner, Helmut R. (1983): Alfred Schutz. An Intellectual Biography, University of Cllicago Press. \Valther, Gerda (1923): Zur Ontologie der sozialen Gemeinschaften, in: J alttbuch für Philosopllie und phänomenologische Forschung, 6: S. 1-159. \Veber, Ma..'i: (1972): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der Verste- henden Soziologie, Tübingen: Mohr (paul Siebeck). Widmer, Jean (1991): Goffman und die Ethnomethodologie. In: Hettla- ge/Lenz 1991: S.211-242. Wittgenstein, Ludwig (1977): Philosophische Untersuchungen, Frank- furt am Main: Suhrkamp. 126 IV Lebensweltanalyse und Rational Choice Die phänomenologische Lebensweltanalyse von Alfred Schütz hat die Soziologie nachhaltig verändert. Mindestens drei soziologische Ansätze beziehen sich direkt auf Schütz: 1) Berger/Luckmann (1970), die auf der Basis der Lebensweltanalyse eine Neukonzeption der ,Wissenssoziolo- gie' vorlegten; 2) die ,Ethnomethodologie' Garfinkels (1967), der die phänomenologische Lebensweltanalyse als soziologisches Forschungs- programm nochmals neu ansetzte; und 3) die ,phänomenologische So- ziologie', die mit phänomenologischen Methoden Soziologie treiben will (Grathoff 1989) und die gleichzeitig als Etikett für untersclliedlichste sog. ,interpretative' Strömungen herhält. All diese Ansätze sind der ,Ver- stehenden Soziologie' zuzurechnen, und Schütz gilt aufgrund seiner grundlagentheoretischen und methodologischen Arbeiten mithin als ,Vater der Verstehenden Soziologie'. In der Tat gibt es keinen interpre- tativen soziologischen Ansatz, der es sich leisten könnte, Schütz nicht zur Kenntnis zu nehmen. Es mag vor diesem Hintergrund erstaunen, dass neuerdings auch von Seiten eines prominenten Vertreters der ,Rational Choice-Theorie', Hartmut Esser, systematisch Anknüpfungspunkte zur Lebensweltanaly- se gesucht werden. Die Proponenten dieses Ansatzes haben sich bisher dezidiert von interpretativen Ansätzen abgegrenzt und sich beharrlich geweigert, mit ihnen überhaupt nur in einen Dialog zu treten. Esser da- gegen hat sich ernsthaft mit der Verstehenden Soziologie auseinander- gesetzt und anerkennt, dass im Rahmen des ,interpretativen Paradigmas' Konzepte entwickelt worden sind, die eine wesentliche Differenzierung der Rational Choice-Theorie ennöglichen. In einer eigenen Monogra- phie (Esser 1991) 1 hat er sich systematisch mit Schütz beschäftigt und die Gemeinsamkeiten herausgearbeitet, die beide Ansätze seiner Ein- schätzung nach verbinden. Dabei hat er den Eindruck gewonnen, dass ,verstehende' und ,erklärende' Ansätze keineswegs in Widerspruch zu- einander stehen, sondern einander sinnvoll ergänzen. Esser kann daher die paradigmatischen Streitigkeiten - etwa zwischen Interaktionisten und Rational Choice-Theoretikern - nicht verstehen; seines Erachtens beruhen sie auf bloßen terminologischen Missverständnissen (ibid.: VI, 4). In verschiedenen Diskussionen - z.B. der sogenannten Bamberger Für eine Kurzfassung vgl. Esser (1991a). 127

Lebensweltanalyse und - - Alexandria · 2016-02-27 · Lebensweltanalyse und Handlungstheorie Disputation mit Hans-Georg Soeffner im Juni 1990 - musste er aller dings erleben, dass

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Lebensweltanalyse und Handlungstheorie

Schütz, Alfred & Gurwitsch, Aron (1985): Briefwechsel 1939-1959, hrsg. v. Richard Grathoff, München: W1lhelm Fink.

Schütz, Alfred & Luckmann, Thomas (1975, 1984): Strukturen der Le­benswelt, Bd. 1: Neuwied und Darmstadt Luchterhand, Bd. 2: Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Schütz, Alfred & Parsons, Talcott (1977): Zur Theorie sozialen Han­delns. Ein Briefwechsel, hrsg. u. eingeleitet von Watter Sprondel, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Soeffner, Hans-Georg (1989): Auslegung des Alltags - Der Alltag der Auslegung. Zur wissens soziologischen Konzeption einer sozialwis­senschaftlichen Hermeneutik, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Srubar, llja (1985): Abkehr von der transzendentalen Phänomenologie. Die philosophische Position des späten Schütz, in: Sozialität und Intersubjektivität, hrsg. v. Richard Grathoff und Bernhard Walden­fels, München: \V:tlhelm Fink, S.68-84.

ders. (1988): Kosmion. Die Genese der pragmatischen Lebenswelttheo­rie von Alfred Schütz und ihr anthropologischer Hintergrund, Frankfurt am Main: Sulttkamp.

Stein, Edith (1925): Untersuchung über den Staat, in: Jalu:buch für Phi­losophie und phänomenologische Forschung, 7: S. 1-125.

Wagner, Helmut R. (1983): Alfred Schutz. An Intellectual Biography, University of Cllicago Press.

\Valther, Gerda (1923): Zur Ontologie der sozialen Gemeinschaften, in: J alttbuch für Philosopllie und phänomenologische Forschung, 6: S. 1-159.

\Veber, Ma..'i: (1972): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der Verste­henden Soziologie, Tübingen: Mohr (paul Siebeck).

Widmer, Jean (1991): Goffman und die Ethnomethodologie. In: Hettla­ge/Lenz 1991: S.211-242.

Wittgenstein, Ludwig (1977): Philosophische Untersuchungen, Frank­furt am Main: Suhrkamp.

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IV Lebensweltanalyse und Rational Choice

Die phänomenologische Lebensweltanalyse von Alfred Schütz hat die Soziologie nachhaltig verändert. Mindestens drei soziologische Ansätze beziehen sich direkt auf Schütz: 1) Berger/Luckmann (1970), die auf der Basis der Lebensweltanalyse eine Neukonzeption der ,Wissenssoziolo­gie' vorlegten; 2) die ,Ethnomethodologie' Garfinkels (1967), der die phänomenologische Lebensweltanalyse als soziologisches Forschungs­programm nochmals neu ansetzte; und 3) die ,phänomenologische So­ziologie', die mit phänomenologischen Methoden Soziologie treiben will (Grathoff 1989) und die gleichzeitig als Etikett für untersclliedlichste sog. ,interpretative' Strömungen herhält. All diese Ansätze sind der ,Ver­stehenden Soziologie' zuzurechnen, und Schütz gilt aufgrund seiner grundlagentheoretischen und methodologischen Arbeiten mithin als ,Vater der Verstehenden Soziologie'. In der Tat gibt es keinen interpre­tativen soziologischen Ansatz, der es sich leisten könnte, Schütz nicht zur Kenntnis zu nehmen.

Es mag vor diesem Hintergrund erstaunen, dass neuerdings auch von Seiten eines prominenten Vertreters der ,Rational Choice-Theorie', Hartmut Esser, systematisch Anknüpfungspunkte zur Lebensweltanaly­se gesucht werden. Die Proponenten dieses Ansatzes haben sich bisher dezidiert von interpretativen Ansätzen abgegrenzt und sich beharrlich geweigert, mit ihnen überhaupt nur in einen Dialog zu treten. Esser da­gegen hat sich ernsthaft mit der Verstehenden Soziologie auseinander­gesetzt und anerkennt, dass im Rahmen des ,interpretativen Paradigmas' Konzepte entwickelt worden sind, die eine wesentliche Differenzierung der Rational Choice-Theorie ennöglichen. In einer eigenen Monogra­phie (Esser 1991) 1 hat er sich systematisch mit Schütz beschäftigt und die Gemeinsamkeiten herausgearbeitet, die beide Ansätze seiner Ein­schätzung nach verbinden. Dabei hat er den Eindruck gewonnen, dass ,verstehende' und ,erklärende' Ansätze keineswegs in Widerspruch zu­einander stehen, sondern einander sinnvoll ergänzen. Esser kann daher die paradigmatischen Streitigkeiten - etwa zwischen Interaktionisten und Rational Choice-Theoretikern - nicht verstehen; seines Erachtens beruhen sie auf bloßen terminologischen Missverständnissen (ibid.: VI, 4). In verschiedenen Diskussionen - z.B. der sogenannten Bamberger

Für eine Kurzfassung vgl. Esser (1991a).

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Lebensweltanalyse und Handlungstheorie

Disputation mit Hans-Georg Soeffner im Juni 1990 - musste er aller­dings erleben, dass hermeneutisch orientierte Soziologen die Unter­schiede als wesentlich gravierender einstufen: Diese liegen nicht bloß an der Oberfläche verschiedener Termini, sondern in einer fundamental unterschiedlichen methodologischen Orientierung.

Essers Auseinandersetzung mit Schütz erfolgt in Form einer !Jste­matischen Rekonstrttktion einiger Schriften von Schütz in den Termini einer bestimmten Variante des modernen Rational Choice-Ansatzes, der SEU-Theorie (suijective expeded utilitJl theoTJ~. Bei dieser Rekonstrukti­on geht allerdings die erkenntnistheoretist·he Dimension der LebensweIt­analYse verloren. Essers ,systematische' Rekonstruktion deutet die Schützsehen Konzepte, insbesondere aber seine methodologischen Po­stulate ,systematisch' um. Dabei gehen aber gerade die Hauptanliegen seines Werks verloren. Bisher haben erst Srubar (1992, 1993) und Pren­dergast (1993) auf Essers Ansinnen reagiert, dies allerdings in sehr ge­raffter Form. Im folgenden soll die Auseinandersetzung mit Esser nun in einer ähnlichen Ausführlichkeit aufgenommen werden, wie er seine Auseinandersetzung mit Schütz geführt hat. Dabei wird eine dogmenge­schü-htliche Perspektive gewählt, in welcher die auf der Lebensweltanalyse basierenden methodologischen Überlegungen sorgfältig auf jene Dis­kussionskontexte bezogen werden, in denen sie entstanden sind. 2 ~.chütz hat sich nämlich jahrelang mit dem ,Rational Choice-Ansatz' der Oster­reichischen Schule der Nationalökonomie auseinandergesetzt und sich dabei ganz bewusst für die ,Verstehende' Soziologie Max \Vebers ent­schieden. Durch seine phänomenologischen Analysen des Wahlhan­delns und der alltäglichen Handlungsrationalität wollte er denn gerade die Distanz' zwischen den Als-ob-Modellen der Rational Choice-Theo­rie ~nd der lebensweltlichen Handlungsorientierung aufweisen, um den Sozialwissenschaftlern zu einem adäquaten methodologischen Selbstver­ständnis zu verhelfen. Diese Problemlage wird im folgenden von der pra.. ... eologischen Version (Mises) über die idealtypische Version (IYlach­lup) bis zur ,modernen', kritisch-rationalistischen Version des ,homo oeconomicus' weiterverfolgt, von welcher die SEU-Theorie eine beson­dere Variante darstellt. Dabei wird geprüft, ob sich die Relevanz der methodologischen Überlegungen von Schütz durch die Ausdifferenzie­rung des Rational Choice-Ansatzes verändert, insbesondere ob sie sich relativiert hat und ob seine Hauptanliegen in der modernen SEU­Theorie erhalten bleiben, wie Esser versichert

2 Vgl. dazu Eberle (1984, 1988), Helling (1984,1988) sowie Prendergast (1986).

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Lebensweltanalyse und Rational Choice

1 Rational Choice' bei Mises und Weber , .

Schütz' Ziel war bereits in seinen Frühschriften (Schütz 1981) eine phi­losophische Fundierung der Verstehenden Soziologie .. D.~s Wien der 20er und 30er Jahre bot für ein solches Unterfangen em außerst anre­gendes intellektuelles und künstlerisches Klima, in dem so bedeutende Schulen wie etwa der ,Wiener Kreis', der ,Austromarxismus', der ,Rechtspositivismus', die ,Österreichische Gr~nznu?=ens~ule' oder die ,psychoanalytische Bewegung' entstanden. D1e me1st~ dieser Sch~en und Bewegungen waren in Form von Zirk~. orgarus1ert Im Bere~ch der Sozialwissenschaften bildete die österretclllSche Schule der Natio­nalökonomie die bedeutendste Gruppierung und damit den wichtigsten intellektuellen Bezugspunkt für Schütz. Schon während seines Studiums der Rechts- und Staatswissenschaften hatte er dem ,Hayek-Kreis' ange­hört (l'vfachlup 1980: 275), dessen :Mitgli~der spät~ fast alle.in den ,Mi­ses-Kreis' aufgenommen wurden. Lud"\Vlg von Mises w:u: emer ~er ~­lehrtesten Köpfe der Nationalökonomie; trotzdem ~ekletdete ~ rue ~e ordentliche Professur und blieb sein Leben lang etn Außensetter. Sem (außeruniversitäres) Privatseminar war aber in den 2?er und .frühe? 30~r Jahren der wichtigste Ort wirtschaftswiss~schaft1icher D1Skuss10~ 10

Wien. :Mises suchte die Teilnehmer sorgfältig aus; alle waren promOViert, und die meisten waren - wie er selbst - in Verwaltung oder Privatwirt­schaft tätig. Die :Mitglieder des :Mises-Kreis.es bildeten auch. den Kern der Nationalökonomischen Gesellschaft', die ebenfalls vO:rw1egend un-, ter dem Einfluss von :Mises stand.

Diese beiden Zirkel bildeten das Forum, in dem Schütz seine me­tllOdologischen Ideen entwickelte und ~ dem si~ sein . .v erstä~dnis von Nationalökonomie forrnierte. 3 Dem Mises-Krets gehorten etne ganze Reihe von Leuten an, die später berühmt wurden, wie - neben Schütz -z.B. Gottfried von Haberler, Friedrich A. von Hayek, Felix Kaufmann, Fritz Machlup, Oskar Morgenstern, Richard von Strigl oder E~c Voe­gelin.4 In intellektueller Hinsicht wurde Schütz vor all~ von Mises und Kaufmanns beeinflusst; er wiederum hatte unter den Okonomen v.a. auf Machlup großen Einfluss. 6

3

4

5 6

Die Nationalökonomie an der Universität Wien war damals in die r~chtswissen­schaftliche Fakultät integriert. Sch.ütz hatte daher bereit~ während semes Rechts-studiums wirtschaftswissenschaftliche Vorlesungen gehort. . Eine vollständige Liste findet sich in Mis~s (1978: 66). Intere~sante.Sc~ilderll:n­gen des Mises-Seminars durch ehemalige Teilnehmer präsentiert Mises Gattln, Margit von Mises (1981: 257-271). . Zum Verhältnis von Schütz und Kaufmann vgl. ~elling (1984). . Machlup verweist in seinen methodologischen Uberlegungen an VIelen Stellen auf Schütz.

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Lebensweltanalyse und Handlungstheorie

Den zweiten sozialwissenschaftlichen Bezugspunkt bildete die Handlungsfueorie von Ma..>: \Veber. Weber hatte 1918 ein Gastsemester an der Universität Wien verbracht, währenddessen auch eine Freund­schaft mit lYIises entstanden war, und hatte bei vielen einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Aufgrund der Affinitäten, aber auch der Diffe­renzen bildete \Vebers Handlungstheorie Gegenstand intensiver Debat­ten im Mises-Kreis. Im Spannungs feld zwischen der Handlungsfueorie Ma..x Webers und der Praxeologie von l\fises entwickelte Schütz denn auch seine Lebensweltanalyse. Im folgenden sollen diese beiden Posi-tionen kurz skizziert werden. .

1.1 ,Rational Choice' in der Praxeologie von Mises

Mises gehörte zur dritten Generation der österreichischen Grenznut­zenschule, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts um Carl Menger ent­standen war. Mengers Ruhm gründete insbesondere auf zwei Leistun­gen: Erstens hat er etwa zeitgleich mit Jevons und \Valras das Grenz­nutzengesetz fonnuliert und damit die sog. ,subjektive Revolution in der Nationalökonomie' eingeläutet (1vIenger 1871). Zweitens führte er den weithin beachteten Medlodenstreit mit Gustav Schmoller, dessen ver­stehend-induktiv verfahrender ,Historischer Schule' er einen deduktiven 111eorietyp entgegensetzte, der ähnlich den Naturwissenschaften ,exakte Gesetze' bildet (J'vfenger 1883).

(1) Die klassische Ökonomie hatte sich primär mit der Produzenten­seite, nicht mit der Konsumentenseite beschäftigt. Sie analysierte die Produktionsbedingungen einer Volkswirtschaft sowie die Entwicklung der Produktionskosten. Immer mehr zeigte sich jedoch, dass die relati­ven Preise wirtschaftlicher Güter von der Kostenseite her nicht befrie­digend erklärt werden können; ein Einbezug der Nachfrageseite erwies sich als unumgänglich. Die ,suijektive Revolution itt der Nationalökono­mie'besteht nun darin, dass die Nachfrage in Abhängigkeit vom subjek­tiven Nutzen, den die Konsumenten den Gütern zumessen, gesehen wird. Mit dieser Konzeption wurde die aristotelische Unterscheidung zwischen Gebrauchs- und Tauschwert reaktualisiert und das philosophi­sche Gedankengut aus der Zeit der Scholastik auch in der Ökonomie systematisch TInlgesetzt: Der Wert eines Objekts ist nicht im Objekt selbst, sondern in der Beziehung des Menschen zu diesem Objekt zu suchen; und Wert kommt einem Objekt nur dann zu, wenn es nützlich und knapp ist.

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Lebensweltanalyse und Rational Choke

Der Nutzenbegriff hatte zwar schon eine längere Geschichte hinter sich (und zwar mit beträchtlichen Bedeutungsvariationen). 7 In seiner nonnativen Fassung wurde er vor allem von den Utilitaristen (z.B. Je­remy Bentham) geprägt, die davon ausgingen, dass Menschen nach Lust und Glück streben und Unlust und Nachteile zu venneiden suchen. Ökonomische Güter werden dementsprechend von den Individuen nach ihrem Beitrag zur Bedfufnisbefriedigung gewertet. Die entschei­dende Innovation der suijektiven Wertlehre ist die Konzeption des Grenznuizen.r8, d.h. die individuelle Wahl zwischen Gütern wird unter dem Gesichtspunkt analysiert, welchen Nutzen eine zusätzliche Einheit eines Gutes stiftet. Die beiden grundsätzlichen Theoreme lauten: 1) Ffu ein beliebig teilbares Gut nimmt der Grenznutzen mit zunehmender Menge ab (1. Gossensches Gesetz) 9; 2) um ein Nutzenmaximum zu er­reichen, muss eine gegebene Menge eines Gutes, das verschiedene Zwecke erfüllen kann, so auf die einzelnen Verwendungen aufgeteilt werden, dass die gewonnenen Grenznutzen in allen Verwendungen gleich sind (2. Gossensches Gesetz). 10 Dieses zweite Theorem impliziert die Idee der ,oppoitunity costs' (nach heutigem Sprachgebrauch), die sich ebenfalls bereits bei Menger findet und besagt, dass bei jeder Ent­scheidung Kosten entstehen in Fonn jenes Nutzens, den ein anderer Verwendungszweck, auf den verzichtet wurde, abgeworfen hätte; ein Individuum wählt darm jene Verwendungsart, deren Grenznutzen am höchsten ist Ein wichtiger Unterschied zwischen Mengers Theorie und den anderen beiden Grenznutzenschulen (W"alras/Pareto und Je­vons/Marshall) besteht darin, dass subjektive Nutzenzumessungen nur ordinal, nicht kardinal angeordnet sind und auf keinen Fall gemessen werden können.

Mengers Werk wurde in Deutschland, wo in erster Linie Vertreter der Historischen Schule der Nationalökonomie lehrten, kaum rezipiert (wohl aber in England). Er verdankt die Verbreitung seiner Ideen dem Wrrken seiner beiden Schüler, Eugen von Böhm-Bawerk und Friedrich von Wieser (der 1903 Mengers Lehrstuhl übernahm). Beide entwickel­ten Mengers Ideen weiter, betonten dabei aber unterschiedliche Aspek­te: In bezug auf die Grenznutzenlehre betrachtete Wieser das Erste Gossensche Gesetz als den ,archimedischen Punkt' in Mengers Werk (W"ieser 1923), Böhm dagegen nahm das Zweite Gossensche Gesetz ZU

7 Zur Geschichte des Nutzenbegriffs vgL Georgescu-Roegen (1968) und Neu-mann (1980). . . . .,

8 Der Begriff ,Grenznutze' stammt von Fnedrich von Wieser (1884); die mlt ihm bezeichnete Idee war aber bereits bei Menger klar formuliert (Hayek 1968: 460).

9 Diese Gesetze wurden bereits 1854 von Hennann Heinrich Gossen formuliert, doch wurde sein Werk erst viel später entdeckt.

10 VgL hierzu Schneider (1965: 185).

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Lebensweltanalyse und Handlungstheorie

seinem Ausgangspunkt. Beide kehrten jedoch von Mengers "most sali­ent idea", dass Nutzenskalen nur ordinal, nicht aber kardinal ausge­drücktwerden können, ab (Georgescu-Roegen 1968: 251).

(2) Die Grenznutzenlehre zeigte nach Menger den \Veg, wie analog zu den Naturwissenschaften auch in den Sozialwissenschaften deduktive Theorien gebildet werden können: Aus fundamentalen psychologischen Axiomen werden universale, also transkulturelle wie transhistorische Gesetzmäßigkeiten deduziert. Diese Position wurde allerdings heftig bestritten, und so kam es zum Methodenstreit in der deuts"hm National­ökonomie. Die sog. ,Historische Schule' um Gustav Schmoller, Karl Knies, Brano Hildebrand und Wllhelm Roscher vertrat dabei den Standpunkt, dass solche abstrakte, deduktive, statische und unhistori­sche Analysen unrealistisch seien. ll Wirtschaftliche Phänomene dürften nicht nur in ihrer rein wirtschaftlichen Logik, sondern müssten aus ihrer Entwicklungsgeschichte und aus dem gesellschaftlichen Gesamtzusam­menhang heraus verstanden werden. Denn die wirtschaftlichen Tätig­keiten stünden unter dem Einfluss von sozialen Institutionen (Rechts­ordnung, politische Strukturen, religiöse und ethische Glaubenssyste­me), deren Wandel auch wiederum die Wtttschaftstätigkeit verändere. Aus diesem Grund dürfe man nicht von Axiomen, sondern müsse von den konkteten empirischen Fakten ausgehen und verstehend-induktiv verfahren. Auch das Ziel der Historischen Schule war die Entdeckung von Gesetzmäßigkeiten, allerdings von historischen Gesetzmäßigkeiten, die induktiv gewonnen wurden. t2

Es ging in diesem Methodenstreit weniger um die "Verstehende Methode" der Historischen Schule im Sinne des Sinnverstellens, son­dern um die Fragen der Historizität versus Ahistorizität nationalökono­tnischer Theorien, um Induktion versus Deduktion sowie um Wertaus­sagen versus Werturteils freiheit. Die österreichische Grenznutzenschule war "wettErei" konzipiert und internationalistisch ausgerichtet, während die Historische Schule einen ausgeprägt deutsch-nationalistischen Cha­rakter hatte und eng mit sozialreformerischen politischen Zielsetzungen verbunden war. 13

11 Die Konzeptionen dieser vier Repräsentanten erweisen sich als untereinander zum Teil recht unterschiedlich; allen war hingegen die Betonung der histori­schen Perspektive und die Opposition zu abstrakt--deduktiver Theoriebildung im Bereich der Sozialwissenschaften gemeinsam. Darstellungen des Methoden­streits referieren i.d.R. die Position Schmollers, der sich dircl..i: mit Menger aus­einander setzte. Vgl. zu diesem Methodenstreit Oser (1963) und Burger (1976).

12 Vgl. dazu die Kritik von i\1ax Weber (1922a: 187). 13 Diese Wertgeladenhcit war dann Thema des nächsten Methodenstrcits, diesmal

zwischen lVlax Weber und Schmoller, über die Werturteilsfrciheit.

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Lebensweltanalyse und Rational Choice

Die süddeutsche Schule des Neukantianismus um Wtlhelm Wmdel­band und Heinrich Rickert versuchte diesen Streit zu schlichten. Nach­dem Dilthey zwischen Natur- und Geisteswissenschaften einen We­sensunterschied festgemacht hatte, der je spezifische Methoden erforde­re - "Die Natur erklären wir, die Seele verstehen wir" (Dilthey 1924: 144) -, postulierte Windelband (1894), die unterschiedliche Methode ergäbe sich nicht aus dem unterschiedlichen Gegenstand, sondern aus der unterschiedlichen Zielsetzung: Die nomothetischen Wissenschaften verfolgten das Zie~ allgemeine Gesetze zu finden und empirische Erei­gnisse aus diesen Gesetzen zu erklären; die idiographischen \Vissen­schaften verfolgten das Ziel, Individualereignisse exakt zu beschreiben. Wegen der unterschiedlichen Zielsetzung verfahren die Naturwissen­schaften nomothetisch, die Historik aber idiographisch; Dieselben wis­senschaftlichen Untersuchungsgegenstände könnten aber sowohl no­mothetisch als auch idiographisch beforscht werden. Max \Veber, der nachhaltig von Heinrich Rickert beeinflusst war l 4, versuchte mit seiner Konzeption des Idealtypus eine Synthese von Nomothetik und Idio­graphik, also von Erklären und Verstehen zu erreichen (s.u.). Die öster­reichische Grenznutzenschule wie auch die deutsche Historische Schule der Nationalökonomie blieben jedoch ihren angestanlffiten Positionen treu.

(3) Mises betrachtete sich als den legitimen Erben Mengers. Dabei orientierte er sich mehr an Böhms als an Wiesers Zweig der Österreichi­sehen Schule. Wieser warf er vor, er haben den Kern von Mengers Subjektivismus nie begriffen (Mises 1978: 21). Dies ist deshalb von grundlegender Bedeutung, weil Wiesers Nachfolger Hans Mayer eher unbedeutend geblieben und die ,Österreichische S chl/le' im weiteren Ver­lauf v.a. eine Mises-Schule geworden ist (Hayek 1978: XV). Worin be­steht denn nach Mises der Kern von Mengers ,Subjektivismus'? "Unsere Lehre ist subjektivistisch; das bedeutet: sie erblickt das Ziel des Han­delns in der Erhöhung des Wohlbefindens des Handelnden. Worin der Handelnde sein Glück sucht, was er für Glück hält und wie er selig wer­den will, das ist für unsere Betrachtung gegeben ... wir stellen einfach fest, was die Menschen als höchstes und letztes Ziel anstreben ... " (Mi­ses 1940: 73). Zentral für den ,Subjektivismus' der Österreichischen Schule ist also, keine wertenden Aussagen über die Ziele der Handeln­den zu machen und illre Handlungen, was immer sie tun, als Mittel zur Erhöhung ihres Wohlbefindens zu interpretieren. Für Mises ist Handeln daher "e..,. definitione immer rational" (Mises 1933: 33) - der Handelnde wird immer so handeln, dass sich sein Wohlbefinden erhöht.

14 Vgl. dazu insbesondere Burger (1976).

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Lebensweltanalyse und Handlungstheorie

Gemäß Mises dehnt die subjektive \Vertlehre den traditionellen Auf­gabenbereidl der Nationalökonomie erheblich aus: Die Analyse der IFahJakte, auf die jede Behandlung ökonomischer Probleme reb..-urrieren muss, führt zu einer aJlgemeinm Lehre des Handebls, die Mises ,PraxeoJo­gie' nennt (Mises 1940: 3). Für lYlises ist das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens nidlts anderes als die Umkehrung des Satzes, dass das Wichtigere dem Minderwidltigen vorgezogen wird. Die Praxeologie ist daher eine Lehre, die das \Vesen des Handelns im Vor.:::jehen lind Zu­rikk.rteJJen erblickt und alles weitere darauf aufbaut (Mises 1940: 92). Bei jeder Vorzugs handlung entstehen dabei Kosten in Form des Beiseitege­schobenen, Unwichtigeren (ibid.: 75). Die Wertschätzungen der einzel­nen \Vtttsdmftssubjekte können aber nicht gemessen und damit auch nicht miteinander verglichen werden (ibid.: 92). Die Praxeologie be­schränkt sich daher auf apriorische Aussagen, während sie empirische Aussagen der Historik überlässt.

Für die ,Österreichische Schule' - und damit für die Pra..'Ceologie -sind in Mises' Sicht folgende Grundsätze konstitutiv (rvfises 1940; 1978):

1) Der methodoJogisdJe IndividtlaJis111t1s t5: Die Eigenschaften kollektiver Gebilde müssen aus den Handlungen von Individuen erklärt wer­den.

2) Der methodologisdJe S il1gttJaris111us: Die praxeologische Analyse hat bei der einzelnen Handlung anzusetzen.

3) Der Aprioris111us: Die reine Theorie der Nationalökonomie ist apriorisch; sie beschränkt sich darauf, jene formalen Kategorien mensdilichen Handelns und Entscheidens herauszuarbeiten, die vor jeder Erfahrung gegeben sind. Ihre Meiliode ist das Begreifen bzw. ,diskursive Denken'. Apriorische \V1ssenschaft fördert nichts anderes zutage als Tautologien und analytische Urteile. Wirtschafts­geschichte, Wirtschafts statistik und Wll1:schaftsbeschreibung gehö­ren nicht der tlleoretischen Nationalökonomie, sondern der Ge­schichtswissenschaft an; ihre MetllOde ist das Verstehm.

4) Die logische Dedttktion: Einsichten in wirtschaftliche Zusammen­hänge können aus den apriorischen Erkenntnissen der Praxeologie deduziert werden.

5) Die Prozessorietltierttng: Ökonomische Phänomene werden durch zielorientierte menschliche Handlungen konstituiert, müssen also prozesshaft erklärt werden; der Begriff des ,Gleichgewichts' kann höchstens instrunlentellen Charakter haben.

15 Der Begriff ~de von Schumpeter geprägt; dieser kann jedoch nicht mehr zur ,eigentliche' üsterreichischen Schule gezählt werden.

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Lebensweltanalyse und Rational Choice

6) Der Vm:fcht auf die mathematische Methode: Die Mailiernatik ist grundsätzlich ein nützliches Werkzeug; die mailiernatische Detail­ausmalung des Zustandes eines hypoilietischen statischen Gleich­gewichts bringt aber keine neuen Erkenntnisse.

7) Das Postulat der Nicht-Messbarkeit suijektiver Werte: Das Handeln misst nicht den Nutzen, es wählt zwischen verschiedenen Nutzen; die subjektiven Werte sind daher ordinal, nicht kardinal angeord­net.16

Mit dem meiliodologischen Individualismus und Singularismus ist die Grenze zu jeder Form kollektivistischer Betrachtungsweise gezogen, und mit dem Apriorismus und der logischen Deduktion die Grenze zu jeder Form verstehender und induktiv verfahrender Forschungsstrate­gie. Die drei letzten Postulate bilden v.a. Abgrenzungen zu den beiden anderen Schulen der Grenznutzenlehre (Walras/Pareto in Lausanne und Jevons/Marshall in Cambridge), welche mit mailiernatischen Modellen operierten und darin die Nutzenskalen ordinal konzipierten. Auch die Prozessorientierung war gegen die in der Ökonomie verbreitete Vor­stellung statischer ,Gleichgewichtszustände' gerichtet, ging aber durch den Einbezug der Zeitlichkeit menschlichen Handelns auch wesentlich über versdlledene soziologische Handlungsilieorien hinaus.

1.2 ,Rational Choice' in der Handlungstheorie MaxWebers

Obwohl Max Weber eine Verstehende Soziologie begründete, stimmte er mit Mises in wesentlichen Grundzügen überein, denn auch er war von Menger beeinflusst. Beide anerkannten den fundamentalen Unter­schied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften aufgrund der Be­sonderheit ihres Gegenstandsbereichs, beide betrachteten den meilio­dologischen Individualismus und Singularismus als den einzig adäquaten Ansatzpunkt sozial wissenschaftlicher Analysen, und beide hielten die Feststellung von Gesetzmäßigkeiten für möglich. Zwischen Mises und Weber entwickelte sich denn während dessen Wiener Gastprofessur im Sommer 1918 auch ein reger intellektueller Austausch. Bezüglich des wissenschaftsilieoretischen Status sozial wissenschaftlicher Theorie blieb eine Einigung allerdings aus. Beide orientierten sich an der Gegenüber-

16 Auch für die modemen Vertreter der ,Austrian Economic' bleibt, selbst wenn sie sich nicht wie Mises auf eine rein ,apriorisch' Ebene beschränken wollen, ei­ne grundsätzliche Skepsis gegenüber empirischen, insbesondere statistischen Meßmethoden erhalten (Kirzner 1982b; Weber & Streissler 1973).

135

Lebensweitanalyse und Handlungstheorie

stellung von nomothetischen Natur- und idiographischen Kulturwissen­schaften; :Mises blieb jedoch der Mengerschen Position treu und erklärte diesen Dualismus für ergänzungsbedfuftig durch einen dritten Zweig: die apriorische Lehre vom Handeln (praxeologie). Denn es genüge nicht, nur die Unterscheidung nach Gegenstandsbereichen vorzuneh­men und diesen (aufgrund unterschiedlicher Zielsetzungen) eine be­stimmte MedlOde zuzuordnen, sondem es müsse in1lerhalb des mensch­lichen Untersuchungsbereichs weiter unterschieden werden zwischen den Wissenschaften apriori und den bloßen Erfahrungswissenschaften aposteriori (l'.1ises 1940: 43ff.). Weber dagegen versuchte die Spannung zwischen nomothetischer und idiographischer Methode synthetisch zu überbrücken mittels der Methode des Idealtypus: Mengers Bemühen, einen einzelnen Aspekt aus der Wirklichkeit - nämlich den wirtschaftli­chen bzw. zweckrationalen - zu extrahieren und ,exakte Gesetze' zu bil­den, sei legitim; allerdings sei es ein naturalistisches Selbstrnissverständ­nis, solche Gesetze als den physikalischen analog zu betrachten (Weber 1922b).

(1) Weber sah die Aufgabe der Soziologie darin, soziales Handeln seinem subjektiv gemeinten Sinn nach zu verstehen und dadurch in sei­nem Ablauf und in seinen \Vttkungen ursächlich zu erklären. Er suchte einen Weg, für die Vielfalt konkreter, historisch und kulturell spezifi­scher Handlungen Typen zu bilden, die es ermöglichen, allgemeine Re­geln zu finden. Mit der Konzeption des Idealtypus glaubte er den me­thodischen Gegensatz zwischen Idiographik und N omothetik überwun­den und eine Synthese zwischen Verstehen und Erklären gefunden zu haben. Im Gegensatz zur Geschichtswissenschaft sollen die Begriffe der Soziologie nicht individueller, sondern genereller Natur sein, da die So- . ziologie nach allgemeinen Regeln des sozialen und historischen Gesche­hens sucht. Soziologische Begriffe müssen daher gegenüber der kon­kreten Realität des Historischen relativ inhaltsleer, sollen dafür aber we­sendich eindeutiger sein. Ein ,Idealtypus' beschreibt eine soziale Er­scheinung in ihrer absolut reinen, ,idealen' Form; damit bezieht er sich auf etwas ganz Eindeutiges, das aber andererseits in der sozialen Realität in dieser Form nicht oder nur selten auftritt. Nur von soidl reinen Ide­altypen her ist nach \Veber soziologische Kasuistik möglich: Durch An­gabe des Maßes der Annäherung einer historischen Erscheinung an ei­nen oder mehrere solche Begriffe kann diese eingeordnet werden (\Ve­ber 1972: 1-10).

Der entscheidende Unterschied zwischen Webers Handlungsdle011.e und :Mises' PrlL"{eologie ist nun, dass der zweckrationale Handlungstypus bei Weber ein Idealtypus ist, also ein Konstru1..-t in reiner Form, das in der Wttklichkeit nur annäherungsweise aufzufinden ist. Die Handlungen

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eines rational kalkulierenden Kaufmanns entsprechen diesem Typus am ehesten. Daneben gibt es aber auch Handlungstypen ganz anderer .lvt, nämlich den wertrationalen (der dem zweckrationalsten am nächsten kommt), den traditionalen und den affektnellen Typus. Auch Weber präferiert als methodisches Mittel den zweckrationalen Handlungstypus und macht ilm zum Prototyp wissenschafdicher Beschreibung. Auf der Basis dieser Interpretationsfolie werden dann irrationale, affektnell be­dingte Handlungen als ,Ablenk-ungen' von einem konstruierten, rein zweckrationalen Handlungsablauf darstellbar. Im wirtschaftlichen Be­reich macht Weber dies am Beispiel einer Börsenpanik deudich:

"Z.B. wird bei Erklärung einer ,Börsenpanik' zweckrnäßigerweise zunächst festgestellt: wie olme Beeinflussung durch irrationale Af­fekte das Handeln abgelaufen wäre und dann werden jene irratio­nalen Komponenten als ,Störungen' eingetragen ... Nur dadurch wird alsdann die kausale Zurechnung von Abweichungen davon zu den sie bedingenden Irrationalitäten möglich. Die Konstrukti­on eines streng zweckrationalen Handelns also dient ... als TYpus (,Idealtypus'), um das reale, durch Irrationalitäten aller Art (Af­fekte, Irrtümer) beeinflusste Handeln als ,Abweichung' von dem bei rein rationalem Verhalten zu gewärtigenden Verlaufe zu ver­stehen" (Weber 1972: 2f.).

Weber begreift Rationalität nicht als etwas apriorisch Gegebenes (wie :Mises), sondern als etwas historisch Gewachsenes. Seine These des ok­zidentalen Rationalismus di:ignostiziert eine zunellffiende Rationalisie­rung der Welt, und das heißt in der Perspektive des methodologischen Individualismus nichts anderes, als dass sich in den abendländischen Gesellschaften der zweckrationale Handlungstypus immer mel1! ausge­breitet hat. Während für :Mises auch der völlig in Traditionen eingebet­tete Stammesangehörige oder der im Affekt Handelnde stets rational handelt, arbeitet Weber die Wurzeln der rationalen Lebensführung in der innerweldichen Askese des calvinistischen Protestantismus und des­sen Affinität zum Geist des Kapitalismus heraus (Weber 1965). Für Mi­ses hingegen macht die These der zunehmenden Rationalisierung des Handelns schlichtweg keinen Sinn.

Webers Ansatz einer verstehend-erklärenden Soziologie konfrontiert sich mit der sinnhaften Vielschichtigkeit der sozialen Welt und versucht über allgemeine Typen doch zu allgemeinen Regeln zu gelangen. Dabei sind Idealtypen den Durchschnittstypen eindeutig überlegen, da histo­risch und soziologisch relevantes Handeln meist von qualitativ hetero­genen Motiven beeinflusst ist, zwischen denen gar keine Durchschnitte gezogen werden können. Trotz der generalisierenden Absicht bleibt eine

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Lebensweltanalyse und Handlungstheorie

große Sorgfältigkeit in bezug auf die qualitative Basis soziologischer Aussagen erhalten. Eine soziologische Erklärung muss daher nicht nur ,kausal adäquat', sondern auch ,sinnhaft adäquat' sein. Das heißt, sie muss sowohl den aktuellen wie den motivationalen Sinn einer Handlung adäquat erfassen. Sinnadäquanz ist eine Verstehensleistung, Kausaladä­quanz eine Erklärungsleistung: Eine sinnhaft noch so adäquate Deutung kann nicht beanspruchen, auch die kausal gültige zu sein; sie ist lediglich eine besonders evidente Hypothese und muss der Kontrolle durch den Erfolg unterworfen werden (Weber 1972: 4ff.). Während die Kausaladä­quanz allgemein akzeptiert wird, werden wir uns mit der Sinnadäquanz noch näher beschäftigen müssen.

(2) Das ,naturalistische S~lbstmissverständnis' der Österreichischen Grenznutzenschule kann nach \Veber also korrigiert werden, indem man ihre Aussagen über zweckrationales Handeln als idealtypische Kon­stmkte interpretiert; damit bleibt der Raum offen für die Deutung und Erklämng von Handlungen, die nicht nach d= zweckrationalen Muster verlaufen. Mises erhebt .iedoch entschieden Einspmch, und zwar sowohl gegen Webers Konzeption des Idealtypus, als auch gegen die verschie­denen Handlungstypen und überhaupt gegen sein wissenschaftstheoreti­sches Selbstverständnis:

"Es wäre ein verllängnisvoller Irrtum, die praxeologischen Sätze als Aussagen über das Verhalten eines Idealtypus, des vielbemfe­nen homo oe.'olwmicus aufzufassen. Nach dieser Auffassung hat es die Nationalökonomie nur mit einem Teile - mit einer Seite - des menschlichen Verhaltens, nämlich mit dem ökonomischen Ver­halten zu tun. Sie betrachte den Menschen so, als ob er sich nur von '\V-1rtschaftlichen Beweggründen leiten ließe, und berücksich­tige nicht, daß illO auch noch andere Beweggründe, z.B. solche moralischer Natur, leiten" (1:vfises 1940: 58). "Jedes Wort dieser Deutung der klassischen Nationalökonomie ist ein JYlißverständ­nis" (ibid.: 59).

Die klassische Nationalökonomie ging noch vom Verhalten des Kauf:. manns aus, den Weber ZU01 Prototyp eines wirtschaftlich Handelnden stilisierte; die moderne Nationalökonomie jedoch setze seit der subjekti­ven Revolution beim Handeln jedermanns an. Sie befasse sich mit d= Menschen, \vie er wirklich handelt, und nicht mit ein= fiktiven homo oeconomicus. Mises verwirft daher Webers Idee idealtypischer Kon­struktionen: Nationalökonomische Begriffe tragen keineswegs den logi­schen Charakter des Idealtypus; sie werden nicht durch die einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte gewonnen, sondern durch abstrahierende Denkakte, die das in jeder in Betracht gezogenen Einzel-

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erscheinung Enthaltene erfassen. Max Weber verkenne den Anspmch auf ausnahmslose Geltung, mit der der soziologische Satz auftritt (Mises 1933: 71ff.).

Ausnahmslos rational ist für Mises denn auch menschliches Han­deln. Dementsprechend führt er sämtliche Weberschen Handlungstypen auf die Zweckrationalität zurück (Mises 1933: 79ff.). Nach Weber ist "zweckrationales Handeln ... nur in seinen Mitteln zweckrational" (We­ber 1972: 12). Dem pflichtet auch Mises bei. ,Wertrationales' Handeln kann nach Mises nicht vom zweckrationalen geschieden werden, denn es bedeutet ja lediglich, dass der in Frage stehende Wert anderen Zwek­ken vorgezogen wird. Dasselbe gilt für das ,traditionale' Handeln: Hier stuft der Handelnde Gewohnheiten und Traditionen offenbar höher ein als andere Zwecke. Das ,affektuelle' Handeln schließlich, das der Zweckrationalität am deutlichsten entgegensteht, bedeutet nach Mises nur, dass sich im Affekt die Rangordnung der Zwecke verschiebt, dass der Handelnde sie also anders beurteilt als später bei kühler Erwägung der Dinge und schließlich einer Gefühlsaufwallung, die sofortige Befrie­digung verspricht, leichter nachgibt, Die Unterscheidungen, die Weber innerhalb des sinnhaften Handelns vornehme, könnten mithin nicht aufrechterhalten werden (Mises 1933: 79ff.).

Im Irrtum befindet sich Weber, so Mises, auch bezüglich seiner Be­mühungen, den Methodenstreit zwischen Menger und Schmoller zu überwinden. Mises würdigt Webers Verdienste, die er - in den Fußstap­fen Windelbands und Rickerts - durch seine Darlegungen erworben ha­be, dass das Aufstellen ,historischer Gesetze' nicht möglich und die na­turwissenschaftliche Begriffsbildung auf das Gebiet des Geschichtlichen nicht anwendbar sei (Mises 1933: 73f.). Indem er aber zwischen Ge­schichte und Soziologie nur einen graduellen Unterschied sehe, verkenne er den grundsätzii.'hen Unterschied, der den Gegenstand des Methoden­streits gebildet habe. Webers Definition der Soziologie sei fehlgegangen, weil "er eben unter Soziologie etwas ganz anderes verstanden hat als die Gesetzeswissenschaft vom menschlichen Handeln« (ibid.: 74). Mises deutet dies als Indiz, wie sehr Max Weber den Fängen des Historismus verhaftet blieb. Um Missverständnissen vorzubeugen, ersetzt er daher den Terminus ,Soziologie' durch ,Praxeologie' und proklamiert ein ,Be­greifen' an Stelle eines ,Verstehens' (Mises 1940: 3ff., S1ff.).

Mises geht es in dieser Diskussion - wie schon Menger gegenüber Schmoller - nachhaltig um die Abstinenz von Werturteilen. Auch We­ber vertritt bekanntlich die Werturteilsfreiheit - dies war ja gerade der Inhalt des zweiten großen Methodenstreits: Weber gegen Schmoller - , und macht daher den vom Handelnden "subjektiv gemeinten Sinn" ZU01

Untersuchungsobjekt, nicht einen objektiv ,richtigen' oder einen meta-

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physisch ergründeten ,wahren' Sinn (\Veber 1972: 1). Nach J\.fises schlei­chen sich jedoch selbst bei Weber unter der Hand Werturteile ein, und zwar über eine ungeschickte Wahl der Begrifflichkeit: Indem Webers Handlungstypen zwischen dem auf rationalen Erwägungen beruhenden Handeln und dem auf Übereilung, Affekt, Stimmung, Willens- und Cha­rakterschwäche beruhenden irrationalen Handeln unterscheiden, haben sie einen "ethisierenden Charakter" ()'.fises 1940: 72). Denn irrational können nur die Ziele und Zwecke sein, nicht aber die I\1ittel und Wege, die zu den Zielen und Zwecken führen sollen. Die Wissenschaft vom Handeln muss aber gegenüber den Wertsetzungen der Menschen völlige Neutralität bewal1!en - gerade darin liegt nach Mises der große Fort­schritt wes ,Subjektivismus' (lbid.: 15f.).

2 ,Rational Choice' im Licht der Lebensweltanalyse von Schütz

2.1 Die Lebensweltanalyse als ,Theorie des Verstehens'

(1) Schütz hat den ,Subjektivismus' der Österreichischen Grenznutzen­lehre wie auch jenen Webers beträchtlich radikalisiert. Seiner Einschät­zung gemäß haben nämlich weder J\.fises noch Weber we Untersu­chungen in jene erkenntnistheoretischen Tiefenschichten vorangetrie­ben, in denen eine angemessene Klärung der Grundbegriffe sowie der sozialwissenschaftlichen Methode erfolgen kann (Schütz 1974: 14ff.; 1934: 42). Auch der logische Empirismus des Wiener Kreises und die beiden neukantianischen Schulen verfehlten seines Erachtens das Hmtptprob/em, den Sinnset::;;tngs- 1I1zd Sinndettt.ttngsprozess sowie die Sttl­ftnhtifte Konstitution mensch/ü-hen IV"issens zu analysieren. Sämtliche Sinngebilde sind nämlich, so seine Grundthese, "weiter auflösbar in Sinnsetzungs- und Verstehensprozesse von Handelnden in der Sozial­welt .,. und zwar in Deutungsvorgänge fremden und Sinngebungen eige­nen Verhaltens, deren sich der Einzelne in Selbstauslegung bewusst wird" (1974: 19). Soziale Phänomene nach Maßgabe des methodologi­schen Individualismus aus den Handlungen der beteiligten Individuen zu erklären, muss daher heißen, auf den .rttijektiven Sinn zu rekurrieren, den diese Handlungen für die Handelnden selbst haben. Dies setzt eine Theorie des Verstehens voraus, die sowohl die Selbstauslegung, das Fremdverstehen wie auch das wissenschaftliche Verstehen umfasst -genau dies wollte Schütz mit seiner Lebensweltanalyse leisten.

Lebensweltanalyse und Rational Choice

Die Schütz-Exegese hat die Lebensweltanalyse unterschiedlich ge­deutet: als ,Protosoziologie' (Luckmann 1975; 1979), als ,AndlIopologie' (Srubar 1988), als ,phänomenologische Soziologie' (Grathoff 1989), oder sie wurde als ,Edmomethodologie' gar nochmals völlig neu ange­setzt (Garfinkel 1967). Sie kann aber auch als ,Theone des Verstehens' (Eberle 1984) bezeichnet werden, womit w Bezug zur Methodologie der Sozialwissenschaften klarer herausgestellt wird. Denn das erklärte Ziel der Schützschen Lebensweltanalyse war die Grundlegung der Ver­stehenden Soziologie, und zwar in der Version Ma." Webers. Schütz hat dies in seinem ersten systematischen Werk, dem "Sinnhaften Aufbau der Sozialen Welt", klar deklariert (Schütz 1974: 21). Dass dies sein Ziel bis an sein Lebensende geblieben ist, widerspiegelt sich in seinem Glie­derungsentwurf für sein geplantes (und posthum von Luckmann he­rausgegebenes) Opus "Die Strukturen der Lebenswelt": Dessen Ab­schluss sollte nämlich ein Kapitel "Die Wissenschaften von der Le­benswelt" mit folgendem Inhalt bilden (Schütz/Luckmann 1984: 231ff.):

a) Lebenswelt als unbefragter Boden aller Wissenschaften

b) Zur Phänomenologie der natürlichen Einstellung

Naturwissenschaft und Sozialwissenschaft

Was ist Gegenstand der Sozialwissenschaft?

Der Sozialwissenschaftler und seine Situation

c) d) e) t) Lebensweltliche und wissenschaftliche Interpretation der

Sozialwelt g) Postulate sozialwissenschaftlicher Konstruktion

h) Die Einheit der Wissenschaft und das Problem der Konti­nuität

Die Deskription der Strukturen der Lebenswelt war also nicht nur zu Beginn, sondern bis zuletzt dem Zweck gewidmet, die Verstehende So­ziologie philosophisch zu begründen. Da Luckmann sich bei der Her­ausgabe dieses Werks dazu entschlossen hat, dieses Kapitel ersatzlos zu streichen17, ist diese Zielrichtung gerade bei weniger sachkundigen Schütz-Rezipienten manchmal etwas aus den Augen geraten.

Die Interpretation der Strukturen der Lebenswelt als einer ,Theorie des Verstehens' mag helfen, den Fokus auf den tfynamischen Aspekt der

17 Luckmann führt dafür insbesondere zwei Grunde an: Erstens schienen Schütz' Entwürfe nicht wesentlich über seinen Aufsatz ,,Alltägliche und wissenschaftli­che Interpretation menschlichen HandeIns" (Schütz 1971a) hinauszugehen. Zweitens lässt er durchblick~h, dass seine eigenen Ansichten von jenen Schütz' abwichen und er auf grund mangelnder Hinweise dieses Kapitel nicht im Sinne von Schütz hätte schreiben können (Luckmann 1975: 16).

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Lebenswelt zu richten. Die ,Struh."tul:en' wirken nämlich über weite Strecken etwas statisch, und darob geht leicht vergessen, dass die Sinn­se~ungs- und Verstehensprozesse stets in der Zeit ablaufen, also dyna­mtschen Charakters sind. Luckmanns Begriff der ,MatrL'"{' (Luckmann 1980) bringt dies trefflich auf den Punkt: Die lebensweltlichen Struh.-ru­t(~n bilden gleichsam die MatrL'"{, innerhalb derer Sinnsetzungs- und Smndeutungsprozesse ablaufen. 18 Den Kern der Lebenswelt bilden je­doch - dies kann nicht genug betont werden - die Prozesse, und zwar in subjektiver Hinsicht (Bewusstseinsstrom) wie in sozialer Hinsicht (Handlungs- und Interaktionsablliufe): "Schon eine oberflächliche Ana­lyse zeigt, daß das Sinnproblcm ein Zeitproblem ist" (Schütz 1974: 20).

(2) Das Ziel, die Verstehensproblematik zu klären, gibt die einzelnen Schritte der Lebensweltanalyse vor. Zunächst muss untersucht werden, wie der "subjektiv gemeinte Sinn" sich im Erleben des Handelnden konstituiert; erst danach kann die Sinnstruktur der Sozialwelt in schritt­weisen Analysen untersucht werden. 19

. Schütz versucht daher, unter Bezugnahme auf Husserl und Bergson etne phänomenologische AnalYse der Sitmkonstit1ttiol1 im sttijektiven Be­Wttsstsein zu leisten und damit die Sinttkategorie - die Schlüsselkategorie - zu kl.:U:en. Das Sinnproblem als Zeitproblem meint hier, dass sich für den Erlebenden der Sinn seiner Erlebnisse im ,inneren Zeitbewusstsein' bildet. Sinn wird dabei stets thetisch konstituiert, nämlich durch Refle­xion auf abgelaufene vergangene bzw. auf vorgestellte zuldinftige Erei­gnisse. Der Sinn eines Erlebnisses bestimmt sich nach der Selbstausle­gung einer Person von einem neuen Erleben her, durch Einordnung in einen Sinn- und Erfahrungszusammenhang. Wie die Deutlichkeit und Klarheit des Erlebnissinns variiert auch dessen Spannweite nach dem jeweiligen Relevanzsystem des Auslegenden: Poly thetisch gegliederte Erlebnisse können sich im monothetischen Blickstrahl zu einer Einheit, einer ,Synthesis höherer Ordnung' fügen. Schütz definiert nun ,Verhal­ten' (in Anlehnung an Husserl und in Abweichung von Weber) als ein "durch spontane Aktivität sinngebendes Bewusstseinserlebnis" (Schütz 19? 4: 73), das wie ein Erlebnis erst im reflexiven Rückblick sinn tragend sem kann, und grenzt es dadurch vom ,Handeln' (actio) ab, das seinen

18 Luckmann driickt dies allerdings wesentlich anders aus: Die "Phänomenologie der Grundstrukturen des Alltagslebens" hat innerhalb der Sozialwissenschaft "den methodologischen Zweck, eine Matrix für die innerhalb der Einzelwissen­schaften geleisteten empirischen Analysen zu schaffen, die sich mit der Erfas­sung und ,Erklärung' der konkreten historischen Strukturen des Alltagslebens beschäftigen. Die Matrix ist nicht ,Theorie' ... " (Luckmann 1980: 43f.).

19 Unter .methodologischen Gesichtspunkten ist der "Sinnhafte Aufbau" (Schütz 1974) unmer noch das bedeutendste Werk. Die folgenden Ausführungen sind v.a. daran, aber auch an den "Struk-ruren der Lebenswelt" (Schütz/Luekmann 1975, 1984) orientiert.

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Sinn aus der reflexiv vorentworfenen Handlung (actum) modo futuri exacti erhält. Aufgrund dieser spezifischen Zeitstruktur können bei Handlungen also einerseits (echte) Weil-Motive, andererseits aber auch Um-zu-Motive ausgemacht werden. Die Selbstauslegung ist von (sozial erworbenen) Typisierungen und (thematischen, interpretativen und mo­tivationalen) Relevanzen geleitet, und die "kleinen Transzendenzen" der Alltagswirklichkeit werden durch Idealisierungen überbrückt.

An die Analyse der Selbstauslegung, der Sinnkonstitution im subjek­tiven Bewusstsein, schließt sich die Analyse des Fremdverstehe11s an. Im Verstehen des anderen Menschen-muss eine "mittlere Transzendenz" bewältigt werden. Denn das Bewusstsein des alter ego ist nicht direkt, sondern nur "signitiv", also über Zeichen und Anzeichen vermittelt möglich, und der Verstehensakt ist daher stets eine Selbstauslegung des Deutenden auf der Grundlage seines eigenen, biographisch bestimmten lf7issensvorrates und ausgerichtet an einem situativen Re/evanz~stem.

Daraus folgt, dass jede Auslegung stets aus einem Hier und Jetzt und So erfolgt und daher notwendig relativ ist. ,Totales' Verstehen wäre nur bei völliger Identität zweier Personen - ihres Erfahrungsvorrates, ihrer Re­levanzen, ihrer Zeitlichkeit - möglich. Jede Sinndeutung kann daher nicht mehr als ein approximativer Näherungswert sein, dessen Qualität vom Ausmaß der Vertrautheit mit dem alter ego abhängt. Diese Ver­trautheit beruht nun aber nicht nur auf dem Wissensvorrat und dem Relevanzsystem des Deutenden, sondern auch auf der Gegebenheits­weise des anderen, d.h. auf seiner ,Erfahrbarkeit'. Dies macht Schütz mit der Beschreibung der räumlichen, zeitlichen und sozialen Aufschichtun­gen der Sozialwelt deutlich: Mit den Mitmenschen (Umwelt) steht man in direktem Kontakt, mit den Zeitgenossen (JYfitwelt), den Vorfahren (Vorwelt) und den Nachfahren (Nachwelt) nur in einem indirekten. Das Fremdverstehen in der vis-a-vis-Beziehung hat offensichtlich eine ande­re Struktur als das mit- oder vorweltliche Verstehen. Letztere beruhen auf Typen, die von der sinnlichen Fülle konkreten Kontakts endeert sind. Diese Typen können, je nach vorliegendem Relevanzsystem, auf den unterschiedlichsten Stufen der Abstraktheit bzw. Inhaltsfülle oder Anonymität bzw. Intimität konstruiert werden. Schließlich schreitet Schütz noch zur Analyse der "großen Transzendenzen", nämlich jener Sinnbezirke, die - wie die Traum-' oder die verschiedenen Phantasie­welten - jenseits der Alltagswelt liegen und in dieser nur über Symbole appräsentiert werden. Jedem Wirklichkeitsbereich ist auch eine spezifi­sche Deutungsproblematik eigen.

In jedem Teil der "Strukturen der Lebenswelte< kristallisiert sich also ein besonderer Aspekt der Sinnsetzungs- und Sinndeutungsproblematik heraus. Besonderes Augenmerk sei nun nochmals auf das, Verstehen als

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Angebots- und Nachfragekurven) sind zulässig, doch müssen sie so konzipiert sein, dass sie stets, wann immer nötig, in subjektive Handlungszusammenhänge überführt werden können.

4) Das Postulat der AdäqtlattZ: Die Konstruktionen des Sozialwissen­schaftlers müssen mit den Konstru1..-tionen der Alltagshandelnden konsistent sein, d.h. sie müssen verständlich seID und ein Handeln zutreffend erkLmn.

5) Das Posttllat der Rationalität: Modelle rationalen Handelns genie­ßen den Vorzug, weil dieses besonders evident ist und daher einen Bezugspunkt für die Beschreibung von Abweichungstypen abgibt. Dieses Postulat ist fakultativ, wird aber insbesondere in der Öko­nomie hochgehalten.

Sozialwissenschaftliche Modelle sind, in Schütz' Formulierung, objektive Sinnzusammenhänge zwischen subjektiven Sinnzusammenhängen. Sie bilden stets idealtypische Konstruktionen, denn sie schneiden erstens nur einen Aspekt der Wirklichkeit heraus und halten zweitens Motive konstant, die realiter variabel sind. Damit setzen sie sich mit der Wirk­lichkeit sozialer Handlungszusammenhänge prinzipiell auf Distanz. Dies ist nach Schütz allerdings die einzige Möglichkeit, sozialwissenschaftli­che Theorien zu bilden. Die Strukturen der Lebenswelt bilden die Ma­tri.'I:, innerhalb derer sich wissenschaftliches Verstehen abspielt und an­hand derer die Adäquanz sozialwissenschaftlicher Konstru1..-tionen be­urteilt werden kann. Dies soll nun am Beispiel des \'\lahlhandelns näher betrachtet werden.

2.2 Lebensweltanalyse und die wissenschaftliche Konstruktion des Wahlhandelns

Die Österreichische Grenznutzen1erue entspricht, so Schütz, den ange­führten methodologischen Postulaten vollauf: "So ist nach unserer Auf­fassung das Faktum der theoretischen Nationalökonomie geradezu ein Musterbeispiel für einen objektiven Sinnzusammen11ang zwischen sub­jektiven Sinnzusa111111enhängen, n,Wilich für einen objektiven Sinnzu­sammenhang z,vischen den - als typisch in unserem Sinn angesetzten -Bewusstseinserlebnissen jederrnanns, der da wirtschaftet, indem er auf Güter bezogene Vorzugshandlungen setzt" (Schütz 1974: 344ff.). Dies trifft allerdings nur unter der Bedingung zu - Schütz macht dies wenig explizit -, dass die Modelle der Ökonomie mit den Resultaten der Le­bensweltanalyse in Einklang gebracht werden. Dies bedeutet, dass die ökonomischen HomlUlculi mit jenen Kategorien konstruiert werden, die

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durch die phänomenologische Analyse als der subjektiven Sinnkonstitu­tion adäquat ausgewiesen worden sind. In bezug auf die Modelle der österreichischen Grenznutzenlerue kritisiert Schütz insbesondere fol­gende Punkte: 1) die Analyse des Wahlhandelns, 2) die Rationalität des Handelns und 3) die Adäquanz ökonomischer Modelle rationaler Wahl.

2.2.1 Die Analyse des Wahlhandelns

(1) Obwohl Schütz Max Webers methodologische Schriften zum Aus­gangspunkt seiner Analysen genommen hat - mit seinen soziologischen Schriften hat er sich kaum beschäftigt. Dies mag man sich damit erklä­ren, dass Webers methodologische Grundsätze und seine soziologischen Schriften durchaus Diskrepanzen aufweisen. Näherliegend scheint mir die Annahme, dass es mit Schütz' Beziehungsnetz zusammenhing: Im Mises-Kreises hatten sich zum Teil lebenslange Freundschaftsbeziehun­gen entwickelt, was zum einen dazu führte, dass sein Bild sozialwissen­schaftlicher Theoriekonsttukrion sich stark am Beispiel der Ökonomie orientierte, und zum anderen, dass er sich mit Kritik gegenüber diesen Modellen - d.h. gegenüber seinen Freunden - zurucklllelt. In einem persönlichen Brief an den Ökonomen Adolph Löwe 21 findet sich jedoch eine Kritik an Mises, und zwar in dreierlei Hinsicht:

1) "the decisive problem involved (in the process of choosing) is taken just for granted by Mises, that is the problem how it comes that things stand to choice at all" (Schütz 1955b: 5-6);

2) ,,He overlooks also the difference which seems to be vital for me, namely on the one hand choosing between objects equally within my reach and, on the other hand, choosing between projeets of actions which have to be carried out by me" (ibid.: 6);

3) "Mises is ttying to develop a general praxeology which he identifies - erroneously, as I think - with the theory of eco­nomic action, namely an action according to the assumed scale of preferences of the actor. .,. If this were the case

21 Löwe und Schütz kannten sich seit 1942. Die methodologischen Diskussionen fanden jedoch erst Mitte der 50er Jahre statt, anlässlich eines gemeinsamen Se­minars an der New School (Wagner 1983: 164ff.). Die Korrespondenz umfasst Schütz (1955a, b) und Löwe (1955).

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there would be no human action whatsoever which were not an economic action (ibid.: 3).

Die ersten beiden Punkte verweisen auf den Prozess des \'V'ählens, wie er sich im subjektiven Bewusstsein vollzieht, der dritte Punk-r auf das Abgrenzungskriterium des ökonomischen Gegenstandsbereichs, wel­ches Schütz bereits im "Sinnhaften Aufbau" im ,Grenznutzenprinzip' lokalisiert. Beiden Problemkreisen widmet er Mitte der 40er Jahre ein längeres },fanuskript, .in dessen erstem Teil er den Wahlakt in der alltäg­lichen Situation untersucht und .in einem zweiten Teil die Konzeption desselben im wissenschaftlichen Modell nachzeichnet und am Beispiel der theoretischen Ökonomie illustriert. Nachdem er sich <L1.lD.it zwi­schen Stühle und Bänke gesetzt hatte "'- "the philosophical part being of no interest to economists and the economic part of no interest to phi­losophers" (Schütz 1955a: 1) - veröffentlichte er den ersten Teil im Jah­re 1951 schließlich separat in einer phänomenologisch-philosophischen Zeitschrift (Schütz 1971c) und hielt den zweiten Teil bis an sein Le­bensende zurück (dieser wurde posthum von Lester Embree herausge­geben: Schütz 1972a).

Um eine adäquate Modellbildung des Wählens zu gewährleisten, muss erst eine Ana!Jse lebensweltlicher Wahlakte durchgeführt werden. Eine solche kann nicht durch eine Rekonstruktion vergangener Erfah­rungen erfolgen, sondern muss mitten im Bewusstseinsablauf ansetzen. Diese Voraussetzung ist bei den Untersuchungen von Husserl, Bergson und Leibniz erfüllt, deren Ergebnisse Schütz daher zusammenbaut. Von Husserl übe1:Iummt er die Konstitution problematischer Möglichkeiten als die Vorbedingung jeder möglichen Wahl, von Bergson die im Pro­zess der Wahl implizierten Zeitperspektiven und von Leibniz das Zu­sammenwirken wollender Intentionen, das zum endgültigen ,fiat' der Entscheidung führt. Auf dieser Grundlage wird sofort klar, dass das uti­litaristische Modell des Wählens und Entscheidens e.in bloßes Interpre­tationsschema zur Erklärung der Weil-Motive bereits abgelaufener Handlungen darstellt, den polythetischen Ablauf des Wählens aber ver­fehlt (Schütz 1972a: 573f.).

Se.ine Kritik am U tilitarismttS gilt auch gegenüber Mises, der mit analogen Annahmen operiert. J\1ises definiert ,Handeln' als "bewußtes Verhalten. Handeln ist Wollen, das sich in Tat und Wirken umsetzt" (Mises 1940: 11). Schon früh nennt er als ,allgemeinste Bedingung', später als ,Antrieb' des Handelns einen Zustand des Unzufriedenseins (bzw. der Unbefriedigtheit) auf der einen Seite und die Möglichkeit einer Behebung oder Milderung dieser Unzufriedenheit durch das Handeln auf der anderen Seite (Mises 1933: 23; 1940: 31). Dabei weist er empha­tisch den Begriffsfetischismus jener zurück, die von ,Bedürfnissen' und

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,Instinkten' als Handlungsantrieb sprechen (Mises 1940: 30): Die Be­dürfnislehre sei ein böses Stück Begriffsrealismus und müsse scho­nungslos aus dem praxeologischen Bestand gestrichen werden, denn sie habe einen ethisierenden, richtenden Charakter und widerspreche dem subjektivistischen Ansatz. Der Instinktbegriff schließlich sei ein Wortfe­tisch, cin Stück Sprachmetaphysik, das Unbekanntes und Rätselhaftes am Verhalten hypostasiere und damit der Klarheit des Denkens und Forschens gefährlich werde (ibid.: 28). Unter Rückgriff auf Leibniz' Konzept der ,inquietude' (,uneas.iness,) macht er den Handlungsantrieb am Unbefriedigtsein fest: "Ein zufriedenes Wesen würde nicht handeln; es würde nur einfach dahinleben" (Mises 1940: 30). Mises stellt sich da­mit global in die Tradition von Eudämonismus, Hedonismus und Utili­tarismus: Angesichts der Großartigkeit ihrer Erkenntnis, dass Unbefrie­digtsein die Triebfeder menschlichen Handelns sei und dessen Ziel die Abstellung des Unbefriedigtseins, verblasse ihr Fehler, die Begriffe ,Glückseligkeit', ,Lust/Unlust' und ,Nutzen' nicht formal gefasst, son­dern ihnen zuweilen einen grobsinnlichen Inhalt gegeben zu haben (ibid.: 68f.).

Nach Schütz widerspricht diese Konzeption aber selbst dann dem Postulat der Adäquanz, wenn diese Begriffe formal gefasst werden. Ausgehend von der Feststellung, dass die utilitaristische Theorie des Wählens und Entscheidens jenes Modell sei, das von praktisch allen modemen Sozialwissenschaftlem zUr Erklärung menschlichen Handelns benutzt werde, kritisiert er deren Annahmen als bloße Interpretations­schemata zur Erklärung der (echten) Weil-Motive bereits abgelaufener Handlungen (Schütz 1972a: 573(). Die Theorie des Unbefriedigtseins gehe mindestens zurück auf Locke und sei - wie auch die Theorie des seelischen Gleichgewichts, das durch das Unbefriedigtsein gestört und durch Handeln wieder erreicht werden soll - bereits von Leibniz über­holt worden:

,,Leibniz shows that the concepts of ,uneasiness', of a ,scale of graduated preferences', of ,tastes', ,habit', and ,passion', are un­able to serve as final explanations of what determines our activi­ties. They are just different names for the same phenomenon -namely, dIe interplay of small perceptions. It is not possible to deal with dIese motions as if they were well-defined and recur­ring states of ~d." (Schütz 1972a: 575f.)

Nach Leibniz wurzelt der Zustand des Unbefriedigtseins in kleinen An­stiftungen (solicitations), die auf undeutliche ,petites perceptions' ver­weisen.

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führung und Unterlassung wählen muss. Die entscheidende Einsicht ist hierbei, dass der Handelnde in einem kontinuierlichen Erlebnisstrom einen breiten Horizont offener Möglichkeiten für fraglos gegeben hält und stets nur einzelne Elemente daraus zu problematischen Möglich­keiten umwandelt. Kein Entscheid ist also, anders ausgechückt, isoliert vom übrigen biographischen Zusammenhang, in dem der Betreffende steht. Daraus erwächst ein gewichtiges Argument gegm dett Utilitaris­mus, der von der Annahme ausgeht, ein Handelnder entscheide in einer isolierten Situation zwischen zwei isolierten Entwürfen. In Wirklichkeit ist keine Entscheidung die erste, sondern jede ist eingebettet in den Sinnzusammenhang übergreifender Pläne und vergangener lebensge­schichtlicher Erfahrungen und gewinnt von daher ihre spezifische Be­deutung:

,,All attempts at bringing these systems under one single de­nominator must fail, whatever this denominator iso The assump­tions of utilitarianism, for instance, must not be confused with an explanation of this complicated relationship. They are at best a retrospective interpretation of perfonned acts and are mosdy based on a naiv petitio prütdpii. The following way of concluding seems to be typical: everybody seeks pleasure; there are, however, ascetics who refrain from seeking pleasure; consequently, their asceticism brings them more pleasure dlan the pleasures from which they refrain" (Schütz 1972a: 578).

2.2.2 Die Rationalität des Handelns

Die Ergebnisse der phänomenologischen Analyse des \Vahlhandelns laufen den Annahmen des Utilitarismus also zuwider. Schütz räumt zwar ein, dass diese ein Interpretationsschema bilden, das ein Beobach­ter mit Gewinn zur Erklärung der Weil-Motive abgelaufener Handlun­gen verwenden kann (Schütz 1972a: 574). Doch bildet es eben ein "blo­ßes Interpretationsschema", das keine adäquate Referenz zu den tat­sächlichen Bewusstseinsabläufen des Handelnden aufweist: Die Nut­zenorientierung ist keine monothetische Motivdeutung, die in polytheti­sche Akte aufgelöst werden kann. Schütz' Vorsclliag umfasst demge­genüber die ,petites perceptions' als Weil-Motive, die in der biogra­phisch bestimmten Situation durch den Zweifel (das Fragen) geschaffe­nen Handlungsalternativen als Um-zu-Motive sowie das Zusammenwir­ken wollender Intentionen, die schließlich zum endgültigen ,fiat' der Entscheidung führen. Das Wählen zwischen Handlungsalternativen hat also eine vielschichtige Struktur und kann in ganz unterschiedliche sub-

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jektive Sinnzusammenhänge eingebettet sein. Unter welchen Bedingun­gen kann in diesem Modell denn von einer ,rationalen Wahl' gesprochen werden?

Schütz nimmt zu dieser Frage ausführlich, wenn auch nicht in der gewüufichten Tiefe Stellung (Schütz 1971a). Zunächst legt er Wert dar­auf, zwischen "rationalen Konstruktionen von Modellen menschlichen Handelns einerseits und Konstruktionen rationalen menschlichen Han­delns andererseits" zu unterscheiden (ibid.: 50). Die Frage der Rationa­lität einer Modellkonstruktion sei das eine, die Frage der Rationalität menschlichen Handelns das andere. Die Rationalität der Modellkon­strtlktion macht er an dessen ,Richtigkeit' fest: Alle ,richtig konstruier­ten' Modelle der Wissenschaften seien rational, ob sie nun rationales oder irrationales Verhalten zum Gegenstand haben. Das Alltagsdenken dagegen konstruiere oft recht irrationale Modelle, mitunter sogar irra­tionale Modelle höchst rationalen Verhaltens, indem es z.B. ökonomi­sche, politische, militärische und selbst wissenschaftliche Entscheidun­gen auf Gefühle und Ideologien zurückführe, die angeblich das Verhal­ten der Beteiligten leiteten. Solche Modellkonstruktionen sind also nicht ,rational', weil sie nicht ,richtig' sind. Zweifellos wäre es präziser und daher angebrachter, statt von der ,Rationalität' der Modellkonstruktion von illter logischen Konsistenz und ihrer Adäquanz zu sprechen - und damit die verschiedenen Implikationen von ,Richtigkeit' auseinander zu halten.

In der Frage der Rationalität mens,-hiü'hen Handelns folgt Schütz Ma.....: Weber, indem er dessen Handlungstypen aufrechterhält. Die Unter­scheidung von zweck- und wertrationalem Handeln schiebt er zwar bei­seite, da sie auf eine Unterscheidung zweier Typen von ,Weil-Motiven' reduziert werden könne, für bedeutend hält er dagegen deren Gegen­überstellung zu den Typen des affektuellen und des traditionalen Han­delns (Schütz 1971a: 32). Er akzeptiert also Mises' Kritik dieser Typen nicht und weist damit auch dessen Setzung, dass in subjektiver Perspek­tive jedes Handeln ex definitione rational sei, zurück. Überdies hält er fest, dass die Wissenschaft sehr wohl fähig sei, rationale Modelle irratio­nalen Verhaltens zu konstruieren, wie ein Blick in jedes beliebige Lehr­buch der Psychiatrie zeige (ibid.: 50f.). Allerdings geht er mit keinem Wort darauf ein, wie denn die Sinnadäquanz eines solcllen Modells be­urteilt werden könnte. Wie Weber präferiert er Modelle rationaler Handlungstypen, da diese aufgrund klarer Ziel-Mittel-Relationen ein Höchstmaß an rationaler Evidenz ermöglichen (Schütz 1974: 337ff.; ebenso 1972b). Mit Nachdruck versucht er dabei das Missverständnis auszuräumen, dass die sozialwissenschaftlichen Modellkonstruh.'1ionen das Ziel verfolgten, irrationale Verhaltensmuster so zu interpretieren, als

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Lebensweltanalyse und Handlungstheorie

ökonomischer ,,Als-ob"-Modelle und die Adäquanz soziologischer Konstruktionen.

(1) In Anlehnung an Kaufmann (1936: 255-290) definiert Schütz das ,Grenznutzenprinzip' wie folgt

"Bilde deine Idealtypen, wie wenn alle Handelnden ilu:en Le­bensplan und deshalb alle ilu:e Tätigkeiten auf den Hauptzweck gerichtet hätten, den größten Nutzen mit dem geringsten Auf­wand zu erzielen; die menschliche Tätigkeit, die auf diese \Veise orientiert ist (und nur diese Art der menschlichen Tätigkeit), ist der Gegenstand deiner Wissenschaft" (Schütz 1972b: 49).24

Im Unterschied zu Kaufmann entkoppelt Schütz dieses ökonomische Prinzip vom wittschaftlichen Konte.n, fasst es rein formal und charakte­risiert es durch folgende konstitutive Annahmen (Schütz 1972a: 584f[; 1955b: 4): .

1)

2)

3)

Die Selektion eines obersten RelevattZ{Jstems, das sämtliche mögli­chen Handlungsentwfufe ordnet und in Form subjektiver Präfe­renzen jedem ein spezifisches Gewicht verleiht; die KOlzstruktion sämtlil:her Haltdltmgsalternativen als ,problemati­sche' Möglichkeiten, die untereinander vergleichbar sind und einan-der gegenseitig ausschließen; dies ermöglicht es, die Aktivitäten des ökonomischen Homunculus als zusammenhängende Ketten des Wählens und Vorziehens zu interpretieren;

das Prin:.:jp der Knappheit, das unterschiedliche Zugangsmöglich­keiten zum vereinheitlichten Feld problematischer Möglichkeiten postuliert und damit den Rahmen absteckt, innerhalb dessen der Handlungsentwurf eines Wtrtschaftssubjekts tatsächlich durch­führbarist;

4) die Konstanz der Motive, sowohl der Um-zu- als auch der Weil­Motive (was selten explizit gemacht wird);

5) die Rationalität wittschaftlicher Handlungen (was oft nicht deutlich gemacht und nicht so strikt befolgt wird wie die vorhergehenden Annahmen).

Auf dem Hintergrund der Lebensweltanalyse wird die Distanz zwischen solchen Modellkonstrul-tionen und der sozialen Wirklichkeit sofort deutlich: Das wissenschaftliche Relevanzsystem definiert den Bereich

24 Schütz setzt hier das ,Grenznutzenprinzip' der modernen Wirtschaftswissen­schaften mit dem ,Prinzip des größten Nutzens' der klassischen \Vu:tschaftswis­senschaften gleich, obwohl dies fiir jeden Ökonomen zwei verschiedene Sach­verhalte sind.

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Lebensweltanalyse und Rational Choice

relevanter Aspekte; die offenen Möglichkeiten des Alltagslebens werden als problematische Möglichkeiten konstruiert; es werden Motive kon­stant gehalten, die in Wirklichkeit variabel und in dauerndem Fluss sind, und es wird Knappheit im Zugang zu den problematischen Möglich­keiten sowie Rationalität in der Hancllungsorientierung unterstellt. Das Grenzwertprinzip setzt m.a.\V. ,,als wissenschaftliches Postulat das Stu­dium des Hl!l1delns der beobachteten ökonomischen Subjekte so an, als ob diese zwischen vorgegebenen problematischen Möglichkeiten zu wählen hätten" (Schütz 1971c: 97). \Vie steht es nun mit der Adäquanz solcher Modelle?

Diese Frage ist deshalb von besonderer Relevanz, weil "Als-ob"­Konstruktionen in ,Rational Choice'-Ansätzen große Bedeutung haben. Über die Berechtigung und den Status solcher Konstruktionen wurden in der Ökonomie immer wieder heftige Debatten geführt. Eine mar­kante Position hat dazu l\1:ilton Friedman eingenommen, auf die sich viele Ökonomen .immer wieder stützen:

"the relevant question to ask about the ,assumptions' oE a theory is not whether they are descriptive1y ,realistic' for they never are, but whether they are sufficiently good approximations for the purpose at hand. And this question cau be answered only by seeing whether the theory works, which means whether it yields sufficiently accurate predictions. The two supposedly independ­ent tests thus reduce to one test" (Friedman 1953: 15).

Friedman geht sogar so weit, folgendes zu postulieren:

"Troly important and significant hypotheses will be found to have ,assumptions' that are wildly inaccurate descriptive repre­sentations ofreality, and, in general, the more significant the the­ory, the more unrealistic the assumptions (in this sense)" (ibid.: 14).

Nach Friedman ist die Realitätsnähe der Modellannahmen also über­haupt kein Thema - das einzige, was zählt, ist der Erfolg der daraus ab­geleiteten Prognosen. Kann indessen ein Modell, das auE unrealistischen Annahmen basiert, dem methodologischen Postulat der Adäquanz ent­sprechen?

Schütz' Selbstverständnis als Methodologe war stets von Beschei­denheit geprägt: "Die Methodologie ist nicht der Lehnneister oder der Tutor des Wissenschaftlers. Sie ist .immer sein Schüler. .. " (Schütz 1972b: 50). Sein Verständnis von Wissenschaft war nachhaltig von der ,,Methode der Gedankenbilder" (Mises 1940: 227ff.) der Österreichi­schen Schule der Nationalökonomie geprägt. So wählte er selbst zur Il-

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Lebensweltanalyse und Handlungstheorie

lustration seiner Beschreibung der Homunculus-Bildung die TIleorie des Oligopols, wie sie sein Freund Fritz Machlup entwickelt hatte: Variatio­nen von Modellkonstruktionen, wie ein Produzent unter verschiedenen Bedingungen handeln würde (Schütz 1971a: 53; 1971b: 74f.). Das Werk Machlups ist denn auch ein wichtiger Schlüssel zu Schütz' Verständnis der Ökonomie. Kein Ökonom war derart von Schütz' Methodologie beeinflusst wie Machlup.25 Beide pflegten auch einen intensiven intel­lektuellen wie persönlichen Austausch und hatten immer vor, einmal gemeinsam ein Buch über die Methodologie der Sozialwissenschaften zu schreiben (Machlup 1978b). Machlup hatte sich immer wieder mit dem wissenschaftstheoretischen Status ökonomischer Modelle befasst, mit der Frage, ob es sich hier um apriorische Konstruktionen oder um Ide­altypen im Sinne Ma.."'l: Webers handelt, und er spielte eine wichtige Rolle in der "marginalism controversy", die in der American Economic Re­view geführt wurde.26 Von Schütz ließ er sich überzeugen, die Unter­scheidung von Idealtypen und Realtypen fallen zu lassen und nur noch von ,Idealtypen' - im Schützsehen Sinn - zu sprechen (Machlup 1978a: X). Interessanterweise schlägt sich Machlup nun aber voll auf die Seite Friedmans, indem er behauptet, Samuelson habe dort die beste Arbeit geleistet, wo er von ttnrealistisl-'hm Annahmen ausgegangen sei (Machlup 1964: 735). Machlup hält das Friedman-Theorem allerdings für ergän­zungsbedürftig: die Annahmen müssten ZWar nicht realistisch, aber sie müssten adäquat sein (Machlup 1954: 17). Indes - wenn Gedankenbil­der, die auf unrealistischen Annahmen basieren, dem Adäquanzpostulat entsprechen sollen, dann muss dieses weit gefasst sein. Machlup defi­niert es - unter Bezugnahme auf Schütz - folgendermaßen:

"The fundament,'ll assumptions of econornic theory are not sub­ject to a requirement of independent empirical verification, but instead to a requirement of understandability in the sense in which man can understand the actions of fellowmen" (Machlup 1954: 17).

Nicht alle ökonomischen Modelle sind in diesem Sinn adäquat. Modell­konstruktionen, die von der Annahme rational handelnder Personen ausgehen, entsprechen diesem Postulat allerdings vollauf. Heißt dies, dass Modelle rationalen Handelns adäquat sind, obwohl Rationalität nach Schütz ihren Ort auf der Ebene der Modellkonstru1.."ti.on hat und

25 VgI. die zahlreichen Referenzen auf und Hommagen an Schütz in Machlup (1978a).

26 Vg!. dazu die Beiträge von Lester (1946, 1947), Machlup (1946, 1947), Stigler (1947), Oliver (1947) und Gordon (1948). VgI. a. die übrigen methodologischen Beiträge in Machlup (1978a).

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Lebensweltanalyse und Rational Choice

nicht im Alltagshandeln? Wozu diente dann seine Analyse der Alltagsra­tionalitäten?

(2) Die Lebensweltanalyse hatte bei Husserl (1954) die Funktion, die Idealisierungen der (Natur-)Wissenschaftler in den natürlichen An­schauungsakten der Lebenswelt zu verankern. Ähnlich hat sie bei Schütz die Funktion, die Beziehung sozialwissenschaftlicher Konstruktionen zu den lebensweltlichen Konstruktionen zu erhellen. Stellt man die kon­stitutiven Annallmen des Grenznutzengesetzes in den Konte..n der Le­bensweltanalyse, so wird die Distanz zwischen Modell und sozialer Wirklichkeit deutlich. In bezug auf die Ökonomie ging es Schütz v.a. um den Aufweis dieser Distanz. "Wie bei den Naturwissenschaften schiebt sich bei den Sozialwissenschaften

zwischen Forscher und reale Welt das feine und doch verschlei­~mde Gespinst von Symbolen ... , die, selbst Produkte der theo­retischen Beschäftigung, nunmehr ihr eigentliches Arbeitsgebiet auszumachen scheinen. Getrost kann sich der Forscher dieser Symbole im weitesten Sinn (Termini, Axiome, Lehrsätze, For­~eln etc.) bedienen, als ob es sich um die Realitäten selbst hand­le, sofemer bei Bildung dieser Symbole richtig und zweckmäßig verfahren ist" (Schütz 1936: 7336).

Denn wie man auch im Alltag viele Werkzeuge erfolgreich einsetzen kann, ohne ihre Funktionswe1se zu verstehen (z.B. das Telefon), kann man auch ein guter Ökonom sein, ohne die "Frage nach dem Sinn und Wesen seines wissenschaftlichen Treibens zu stellen" (ibid.: 7337). Al­lerdings können eine ganze Reihe konkreter Probleme zu solcher Grundlagenreflexion zwingen, wie z.B. das Problem der Vorhersagbar­keit wirtschaftlicher Ereignisse, die Beziehung zwischen Wtrtschaftspra­xis und Wirtschaftstheorie, die Verteilung des Wissens zwischen den Wtrtschaftssubjekten, das Problem der wirtschaftlichen Daten, der Be­griff der Felilinvestition oder der Begriff der oligopolen Konkurrenz 27

(ibid. 7336f.). Für den Ökonomen genügt es nach Schütz allerdings, wenn er am Durchdenken des Marginalprinzips oder der Vorgänge beim Tausch zwischen zwei 'Wirtschaftssubjekten sich das Wesen der ihn interessierenden Vorgänge klarmacht, worauf sich für ihn fortan der Rekurs auf den Handelnden erübrigt; das Studium des Menschen in der sozialen Welt überlässt er dann "getrost anderen Disziplinen, etwa der Soziologie oder der Psychologie oder vielleicht gar der Philosophie, Disziplinen, für deren Ergebnisse er sich vielleicht als Privatmann, nicht aber als Nationalökonom interessiert" ~bid: 7336).

2:/ Dies sind alles typische Probleme der ,Österreichischen Schule'.

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,!,

Lebensweltanalyse und Handlungstheorie

Es ging Schütz also keineswegs darum, den Ökonomen Vorschriften darüber zu machen, wie sie \V1ssenschaft zu treiben haben. Seine Analy­sen dienten vielmehr dem Zweck, ihnen bewusst zu machen, was sie tun. Indem die Lebensweltanalyse z.B. zeigt, dass das Alltagshandeln nur partiell rational ist, macht sie den "Als-ob"-Charakter der Modellkon­struktionen rationalen Handelns deutlich. Wenn Schütz nun aber be­tont, dass sich die Soziologie dem "Studium des Menschen in der sozia­len \Virklichkeit" widmet, weist er ihr einen anderen Untersuchungsbe­reich zu als den des rationalen Handelns. So schreibt er an Adolph Lö­we:

"Pareto was, I think, right in so far as he made a distinction be­tween rational and non-rational actions, in stating that the former constitutes dle realm of economics and dlat part of jurisprudence which deals ,vidl contracts, whereas the latter constitutes dle domain of sociology" (Schütz 1955b: 5).

\Venn sich die Ökonomie also mit dem rationalen Handeln auf Modell­ebene beschäftigt, so hat sich die Soziologie mit den non-rationalen Handlungsformen zu beschäftigen, sei es, ",-ie wir festgestellt haben, mit den nur partiell rationalen oder auch mit den völlig irrationalen V erhal­tensweisen. Die Ökonomie mag sich für die vom zweckrationalen Ide­altypus abweichenden Handlungsformen nicht interessieren - für die Soziologie stellen sie den eigentlichen Untersuchungsbereich dar. Selbst wenn die Verstehende Soziologie in der Tradition Ma..'i: Webers zweck­rationale Handlungstypen bevorzugt, dienen diese v.a. dazu, ,,Ablen­kungen" bzw. ,,Abweichungen" (Weber 1972: 2f) sichtbar zu machen, oder, um Schütz' Formulierung zu wiederholen, "um abweichendes Verhalten in der wirklichen Sozialwelt festzustellen und es auf ,pro­blemtranszendierende Daten' zu beziehen" (Schütz 1971a: 52).

Schütz versucht den ökonomischen Gegenstandsbereich also an­hand des Kriteriums der Rationalität menschlichen Handelns zu be­grenzen. Die ökonomischen Modelle beziehen sich lediglich auf den re­lativ eng begrenzten Bereich rein rationalen Handelns, die soziologi­schen Konstruktionen dagegen auf den weiten Bereich partiell rationa­len und irrationalen Verhaltens. \Veniger ausführlich, aber aus einigen Anmerkungen klar ersichtlich, begrenzt er den ökonomischen Gegen­standsbereich auch auf die Knappheitsproble1llatik (Schütz 1955 a,b). Für Mises, der jegliches Handeln als rational definiert, ist die Knappheit be­reits im Mittelbegriff enthalten. Mises' Vorstellung einer fortwährenden Bewirtschaftung der Zeit (Mises 1940: 80ff.) lässt jede Handlung als Al­ternative zu einer bzw. mel1reren anderen erscheinen, womit sie stets als einer angenommenen Präferenz skala entsprechend interpretiert werden

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Lebensweltanalyse und Rational Choice

kann. Schütz kritisiert, dass diese Prämisse jegliche denkbare Handlung zu einer wirtschaftlichen mache: "if gendemen prefer blondes they are economic subjects" (Schütz 1955b: 3). Die Lebensweltanalyse weist Knappheiten aber als spezifische Handlungsorientie~g aus, die nicl~t in allen Situationen gegeben ist. Mises' These, dass Zelt stets knapp sei, beruht auf einer ,objektiven' Vorstellung, die aber keineswegs mit der subjektiven Perspektive übereinstin1men muss. Die Tatsache der be­grenzten Lebenszeit impliziert noch lange nicht, dass sich Handelnde in ihrem Alltagsleben auch dauernd an der Knappheit der noch zur Verfü­gung stehenden Zeit orientieren. Wenn die Ökonomie in ihren Model­len also eine Ressourcenknappheit unterstellt, so ist dies in der sozialen Wirklichkeit (wie im Falle der Rationalität) nur für bestin1mte Hand­lungsorientierungen von Bedeutung; die Soziologie jede~falls muss sich auch mit den übrigen Handlungsorientierungen beschäftigen.

2.3 Die Lebenswelt als ,Matrix' sozialwissenschaftlicher Konstruktionen

Bevor wir uns den neuesten Entwicklungen der Rational Choice­Theorie zuwenden, ist es angezeigt, die wesentlichsten Punkte der Schützschen Lebensweltanalyse zu rekapitulieren. \Vie Husserl, ging es auch Schütz um eine erkenntnistheoretische Fundierung der Wissen­schaften. Während Husserl dabei die Formal- und Naturwissenschaften im Auge hatte, ging es Schütz um die Sozialwissenschaften. Da sic~ ~e­se mit Phänomenen beschäftigen, die bereits sinnhaft vorkonsutu1ert sind, muss sich eine erkenntnisdleoretische Analyse mit der Sinnstruktur der Sozialwelt sowie mit dem Problem des Fremdverstehens befassen. Das Fremdverstehen, als Selbstauslegung des Deutenden, bestin1mt sich nach dem vorhandenen \Vissensvorrat in der biographisch bestin1mten Situation der Relevanzstrul"1:Ur und der entsprechenden Typik, der Ge­gebenhei~sweise in der räumlichen, zeitlichen und sozialen Aufschich­tung der Lebenswelt sowie der jeweils aktuellen Sinnprovinz. Das.Ver­stehen eines alter ego ist nur signitiv, also über Zeichen und Anzeichen möglich, und stellt stets nur einen approximativen Nähe~n~w~t dar. Approximiert werden subjektiv~ Sinnzusarnmenh~g~, die Sich ~ B~­wusstsein des alter ego polytheusch aufbauen und 10 etnem manrugfalug verschachtelten Verweisungszusarnmenhang stehen.

Diese polydletisch konstituierten, subjektiven Sinnzusarnm~änge bilden den Referenzpunkt jeglichen Verstehens, des alltäglichen Wie d~s wissenschaftlichen Verstehens und damit auch jeder Handlungstheorte. Aufgrund der sinnhaften V orkonstituiertheit der Sozialwelt kann sich

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Lebensweltanalyse und Handlungstheorie

eine \Vissenschaftstheorie nicht auf Logik beschränken, sondern muss sich primär mit der Sinnstruktur der Sozialwelt beschäftigen. Sinn kommt vor Logik. Zwar bildet die logische Konsistenz ein allgemein ak­zeptiertes und hoch gehaltenes methodologisches Postulat für wissen­schaftliche Modellkonstruktionen. Viel zentraler ist jedoch die Frage, wie man subjektive Sinnzusarnmenhänge verstehen kann. Daller be­schäftigt sich die Lebensweltanalyse mit dem siltlthajtelt Aufbau der so­zialen Welt und nicht, wie der Logische Empirismus des Wiener Krei­ses, mit dem logisL'hen Aufbau der Welt (Carnap 1928). Denn die Le­benswelt ist sinnhaft, nicht logisch aufgebaut Wissenschaftliche Kon­struktionen sollen sie zwar in logischen Modellen "abbilden"; grundle­gend bleibt aber das Problem, wie subjektive Sinnzusarnmenhänge von Handelnden adäquat erfasst werden können.

Lebensweltanalyse ist grundsätzlich Erkenntnistheorie. Sie beschäf­tigt sich nicht mit Fragen der Forschungspragmatik. Daher kann Schütz den Strom kontinuierlicher "petites perceptions" darstellen, ohne dass er sich mit der für jeden Sozial wissenschaftler virulenten Frage aus ein­andersetzt, mit welcher Forschungsmethode diese "petites perceptions" denn empirisch erhoben werden können. Ging es Wissenschaftlern wie l\fises oder Weber stets auch um forschungspragmatische Überlegun­gen, so geht es Schütz lediglich um die Klärung des lebensweltlichen ,Fundaments', das den Referenzpunkt sozialwissenschaftlicher For­schungsbemühungen darstellt. Die Lebensweltanalyse stellt lediglich die ,Matri.'i:' dar, innerhalb derer transparent gemacht werden kann, 1..."'1 wel­cher ,Distanz' wissenschaftliche Modellkonstruktionen zur \V1tklichkeit stehen; die ,Matri.'i:', innerhalb derer die Sinntransformationen erkennbar werden, die lebensweltliche Phänomene im Prozess der wissenschaftli­chen Typenbildung durchmachen. Dabei zeigt sich insbesondere, dass wissenschaftliche Homunculus-Kons1:l:uk-tionen Als-ab-Modelle darstel­len, d.h. die Homunculi sind so konstruiert, air ob sie rational, an Zwek­ken und Mitteln mientiert, mit Knappheit konfrontiert und mit invari­anten Motiven und feststehenden Wissensbeständen handeln würden. Solche Modellkonstruktionen sind legitim, wenn sie die Postulate der subjektiven Interpretation und der Adäquanz beachten, doch stehen sie zur Lebenswelt stets auf ,Distanz' - eine ,Distanz', die in forschungs­pragmatischer Hinsicht oft unbedeutend sein mag, für den Methodolo­gen aber zentral ist.

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Lebensweltanalyse und Rational Choice

3 ,Rational Choice' in der modemen Ökonomik

Die Konzeption des ,homo oeconomicus' hat mittlerweile eine enorme Differenzierung erfahren und entspricht in vielen Aspekten nicht mehr dem Bild, das Schütz noch vor Augen hatte. Im folgenden soll daher nachgezeichnet werden, welches die konstitutiven Annahmen des ,mo­dernen' ,homo oeconomicus' sind, was für bedeutsame Veränderungen diese Konzeption inzwischen erfahren hat und welches die zentralen Diskussionsthemen innerhalb des Rational Choice-Ansatzes sind. Auf diesem Hintergrund gilt es zu priifen, ob sich der Stellenwert der Le­bensweltanalyse durch diese konzeptionellen Neuerungen verändert hat und wenn ja, in welcher Beziehung. Besonders pikant ist hierbei die These von Hartmut Esser, die moderne ,sllijedive expetted IItility theory' (SEU-Theorie) und die Lebensweltanalyse wiesen zahlreiche Parallelen auf; die SEU-Theorie könne von Schütz viel lernen, sei aber in illrer modernen Form besser geeignet, die zentralen Themen seiner Sozial­theorie zu bearbeiten, als diese selbst. In einem ersten Schritt wenden wir uns dem modernen ,homo oeconomicus' zu, wie er von der Öko­nomie propagiert wird, in einem zweiten Schritt dann der soziologischen SEU-Theorie; in einem dritten Schritt werden die Parallelen näher un­tersucht, die Esser zwischen SEU-Theorie und Lebensweltanalyse sieht.

3.1 Der ,modeme' homo oeconomicus

Der Rational Choice-Ansatz wird heute Ökonomik genannt und als so­zialwissenschaftliche ,Methode' verstanden (Kirchgässner 1991: 2f.). Ihr Grundprinzip ist, menschliches Verhalten bzw. Handeln dadurch zu er­klären, dass eine rationale Auswahl unter verschiedenen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten unterstellt wird. Die Ökonomik ist unabhängi? von illrem Gegenstandsbereich; sie ist zwar im Rahmen der (klaSSi­

schen) Nationalökonomie entwickelt worden, kann aber auch auf ni~t­wirtschaftliche Beziehungen angewendet werden, z.B. auf dem Geblet der Politik, des Rechts, der Bildung oder in anderen Bereichen. Die Ökonomik wird als eine ,positive', ,wertfreie' Wissenschaft bezeichnet. Umsichtige und differenzierte Darstellungen dieses ,modernen' ökono­mischen Verhaltensmodells, in denen insbesondere auch auf die Mög­lichkeiten und Grenzen des Ansatzes sowie auf seine Anwendung in an­deren Sozialwissenschaften eingegangen wird, finden sich bei Bruno S.

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Lebensweltanalyse und Handlungstheorie

Frey (1989) und - weit umfassender - bei Gebhard Kirchgässner (1991).28

3.1.1 Konstitutive Annahmen des ökonomischen Verhaltensmodells

Frey (1989: 69ff.) kennzeichnet das ökonomische Modell menschlichen Verhaltens durch fünf Elemente:

1)

2)

3)

4)

5)

Methodologischer Il1divid1lalismtls: Beobachtetes Geschehen auf der Ebene der Gesellschaft wird auf das Handeln eil1zelner Per.ronel1 zu­rückgeführt.

Menschliches Verhalten wird durch Anreize bestimmt. Personen handeln nicht zuf:illig, sondern sie reagieren in systematischer Wei­se auf solche Anreize. Der Mensch lernt und erfindet, bildet zu­kunftsbezogene Erwartungen und wägt zwischen den Vor- und Nachteilen der ihm zur Verfügung stehenden Handlungsmöglich­keiten ab.

Anreize werden durch Präferenzen und Ei11schränktmgm (Restrik­tionelt) gebildet. Präferenzen enthalten die Wertvorstellungen des Individuums, die sich im Laufe des Sozialisationsprozesses for­miert haben. Einschränkungen begrenzen den Handlungsspielraum des Individuums. Präferenzen und Einschränkungen werden strikte auseinandergehalten.

Eigenn1ltzaxiom: Als Annahme über die Präferenzen wird unter­stellt, dass die Menschen eigennützig handeln, d.h. iluen eigenen Vorteil wahrnehmen.

Der zum Handeln verfügbare Möglichkeitsraum wird durch Ein­schränkungen bestimmt. Dabei werden vier Artm von Restriktionen unterschieden:

a) wirtschaftliche Einschränkungen: das verfügbare Einkommen (inkl. Vermögen und Kreditmöglichkeiten); die (relativen) Gü­terpreise sowie die zum Konsum und Handeln benötigte Zeit.

b) rechtliche Einschränkungen: Verfassung, Gesetze, Verordnun­gen, Verfügungen.

c) informelle soziale Normen

28 Frühere ökonomische Lehrbücher. in denen das ökonomische Verhaltensmodell dargestellt wird, sind etwa Alchian/ Allen (1974, Kap. 3) oder Weise (1979); vgL a. Frey (1980). Für die Anwendung der Okonomik auf soziologische Sachver­halte vgI. insbesondere McKenzy & Tullock (1978), aber auch Frey/Opp (1979), Opp (1979, 1983) und Kirchgässner (1980). VgI. im übrigen die umfassende Li­teraturliste bei Kirchgässner (1991).

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Lebensweitanalyse und Rational Choice

d) Traditionen.

Aus diesen fünf Elementen wird nun als zentrales Gesetz das verallge­meinerte Nachfragegesetz abgeleitet:

,,Erhöht sich der Preis (die Kosten) eines Gutes oder einer Akti­vität im Vergleich zu anderen Gütern und Aktivitäten (d.h. er­höht sich der relative Preis), wird von dem betreffenden Gut we­niger nachgefragt (konsumiert) oder die betreffende Aktivität vermindert. Der Begriff ,Preis' ist dabei nicht auf explizite mo­netäre Preise zu bescluänken, sondern schließt auch enger wer­dende normative, traditionelle und psychische Einschränkungen ein." (Frey 1989: 73)

Durch dieses Nachfragegesetz wird "die Richtung einer erwarteten Ver­haltensänderung eindeutig bestimmt: Die relativ teurer werdende Akti­vität wird weniger ausgeführt, das teurer werdende Gut weniger gekauft und umgekelut" (ibid.).

Die entscheidenden Überlegungen zur Erklärung der sozialen Wirk­lichkeit beruhen nach Frey nicht etwa auf der Nutzenma.'rimierung, son­dern auf den angeführten fünf Elementen des ökonomischen Verhal­tensmodells (1989: 77). Diese bilden einen festen Kern, den ein Großteil der reichhaltig ausdifferenzierten Rational Choice-Ansätze teilt. Interes­santerweise fehlen bei diesen fünf Elementen sowohl das Prinzip der Knappheit wie auch die Rationalität der (wirtschaftlichen) Handlungen; heide bilden nach Schütz ja ,konstitutive Annahmen des Grenznutzen­prinzips'. Implizit sind sie aber in den obigen fünf Elementen mit ent­halten. Gegenüber den früheren Konzeptionen sind indessen einige Neuerungen hervorzuheben, die das Bild des ,homo oeconomicus' ver­ändert haben.

3.1.2 Die wesentlichen Neuerungen

Im folgenden soll insbesondere auf vier Aspekte kurz eingetreten wer­den, die die Konzeption des ,homo oeconomicus' entweder verändert oder zumindest Anlass für z.T. heftige Debatten gegeben haben: 1) Die Koppelung von Methodologischem Individualismus und Kritischem Rationalismus; 2) die eingeschränkte Rationalität menschlichen Han­delns; 3) die Egoismus-Altruismus-Kontroverse und 4) der forschungs­strategische Umgang mit Restriktionen und Präferenzen.

(1) Aus soziologischer Sicht ist bemerkenswert, dass die Vertreter des ökonomischen Verhaltensmodells kaum je den Anschluss an sozio­logische Handlungstheorien gesucht haben, die ebenfalls am methodolo­gist"hm Individ1lalismus orientiert sind. Vielmelu haben sie sich darauf

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Lebensweltanalyse und Handlungstheorie

kapriziert, gegen ,kollektivistische' Ansätze anzutreten, welche Kausal­beziehungen nicht auf der Ebene von Akteursmodellen suchen, sondern direkt zwischen sozialen Fa1..-toren. Es wäre eine eigene Studie wert, die Kolportage dieser Ansätze aufzuarbeiten. Leitfiguren solcher ,kollektivi­stischer' Ansätze, die "das Verhalten der Menschen als durch moralische Einflüsse und gesellschaftliche Strömungen bestimmt" ansehen (Frey 1989: 74), sind etwa Durkheim (1895) oder Parsons (1951). Regelmäßig wird auch Dalrrendorfs (1958) ,homo sodologictls' zitiert, der - wohl we­gen der Namensgebung - regelmäßig den prominenten Bezugspunkt für einen Vergleich mit dem ,homo oeconomicus' bildet. Dabei wird kaum je zur Kenntnis genommen, dass Dahrendorf (1989) dieses \Verk schon vor Jalrren als "Jugendsünde" bezeichnet hat und es vom gegenwärtigen Stand der Soziologie aus betrachtet auch als eher obsolet zu werten ist 29

Dass so wenig unternommen wurde, das ökonomische Verhaltens­modell an die soziologischen Handlungstheorien anzuschließen, mag seine Gründe u.a. darin haben, dass letztere größtenteils auf dem inter­pretativen Paradigma beruhen, andere Fragestellungen verfolgen und auf anderen andlropologischen Annahmen basieren. Die Ökonomik ist demgegenüber am deduktiv-nomologischen Erklärungsmodell von Hempel/Oppenheim (1948) orientiert und fühlt sich seit der Kritik Hans Alberts (1966) am ,Modellplatonismus' der Ökonomie auch zu­nehmend der Wissenschaftsdleorie des Kritischen Rationalismus ver­pflichtet: \Vissenschaftliche Erklärungen müssen empirisch testbar sein (popper 1935). Kirchgässner (1991: 140) geht sogar so weit, den mefuo­dologischen Individualismus untrennbar mit dem Kritischen Rationa­lismus zu verkoppeln.30 Damit wird der mefuodologische Individualis­mus mit einem ganz anderen wissenschaftsdleoretischen Selbstver­ständnis gekoppelt, als dies bei Mises, Weber oder Machlup der Fall war: Alle drei waren mefuodologische Individualisten, doch ging es bei Mises um apriorische Aussagen von apodiktischer Gewissheit, die ,immer' zu­treffen, bei Weber und Machlup dagegen um idealtypische Handlungs­konstrukte, die zur Realität ,Distanz' aufweisen. 31 Gemäß der Wissen-

29 In diesem Zusammenhang wird von den Yertrete:m der Ökonomik auch immer wieder betont, dass man nicht von ,vereinzelten', isoliert handelnden Individuen ausgehe (wie einige Soziologen dem Rational Choice-Ansatz vorgeworfen haben (vgl. z.B. Parsons 1937). Es wird hingegen ,Eigenständigkcit' unterstellt, d.h. es wird angenommen, dass Individuen immer auf grund der eigellCll Präferenzen e~tsch~!den, nicht auf grund der Präferenzen anderer Leute (Frey 1989: 69; I'-1rchgassner 1991: 16f.).

30 So schreibt Kirchgässner (1991: 140), der methodologische Indi;,jdualismus "be­ruhe" auf der \Xlissenschaftstheorie des kritischen Rationalismus.

31 Die Soziologen in der Tradition Ma.'{ \Vebers können die Gleichsetzung von methodologischem Individualismus und Kritischem Rationalismus natürlich auf keinen Fall goutieren (vgl. etwa Berger/Luckmann 1970; Bcrger/Kellner 1984).

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Lebensweltanalyse und Rational Choice

schaftsfueorie des Kritischen Rationalismus muss demgegenüber eine Erklärung im empirischen Test scheitern können. Das wissenschafts­theoretische Selbstverständnis des heutigen ökonomischen Verhaltens­modells ist m.a.W. fundamental von jenem verschieden, an dem sich Schütz seinerzeit orientierte.

(2) Damit muss sich nun aber auch zwangsläufig die Konzeption von ,Rationalität< verändern; Rationalität soll ja weder apriorisch gesetzt noch als idealtypisches Konstrukt verstanden, sondern muss in empiri­schen Kontexten identifiziert werden können. Was ist nach dem ,mo­dernen' ökonomischen Verhaltensmodell unter ,rationalem Handeln' zu verstehen? Nach Frey (1989: 77f.) ist Rationalität nicht mehr mit Nut­zenmaximierung gleichzusetzen. Unter Rationalität kann ein intern kon­sistentes Handeln verstanden werden (Hirshleifer 1985) oder allgemei­ner eine vernünftige Verfolgung des Eigeninteresses (Sen 1988). Nach Kirchgässner (1991: 17) heißt Rationalität lediglich, "daß das Indivi­duum prinzipiell in der Lage ist, gemäß seinem eigenen Vorteil zu han­deln, dh. seinen Handlungsraum abzuschätzen und zu bewerten, um dann entsprechend zu handeln"; dies bei unvollständiger Information, Zeitdruck und Kosten zusätzlicher Informationsbeschaffung. Im Ge­gensatz zu traditionellen Lehrbuchversionen ist der moderne ,homo oe­conomicus< nicht immer und überall ein Optimierer, sondern, wie Si­mons These der ,eingeschränkten Rationalität< besagt, oft nur ein ,Satis­ficer' (Simon 1955). Das Individuum sucht dann nicht die ,beste', son­dern eine ,hinreichend< akzeptable Alternative. Mit dem Konzept der ,bounded rationality' haben sich die Fronten in der Rationalitätsdebatte beträchdich entschärft Wert wird aber darauf gelegt, dass eingeschränkt rationales Verhalten immer noch ,rationales" nicht etwa irrationales Verhalten sei. Es ist v.a. dann bedeutsam, wenn Unkenntnis über die Handlungsmöglichkeiten und deren Konsequenzen besteht. Die einge­schränkte Rationalität hängt also unmittelbar damit zusammen, dass die Annahme der vollständigen Information fallenge1assen wird. Überdies hängt (gemäß den ökonomischen Modellüberlegungen) der Rationali­tätsgrad von den institutionellen Bedingungen ab: Je größer der Wett­bewerb und je größer die Markttransparenz, desto rationaler wird das Verhalten der Akteure sein. Je monopolistischer der Markt, und je mehr andere gesellschaftliche Entscheidungsverfahren im Spiel sind, wie z.B. bei politischen oder bürokratischen Entscheidungen, desto größer ist die Tendenz, sich mit ,hinreichenden' Lösungen zufriedenzugeben (Kirch­gässner 1991: 32f.).

Eine neue Perspektive eröffnet sich damit auch bezüglich des homo sociologims: In einer Welt beschränkter Information und beschränkter Ressourcen ist es für den homo oeconomictls rational, sich an Regel11 zu

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Lebensweltanalyse und Handlungstbeorie

orientieren. Denn Regeln sind ein l'v.fittel, Entscheidungs- und Informa­tionskosten zu sparen. Dabei werden interne von externen Regeln un­terschieden: Interne Regeln setzt sich das Individuum selbst, e,"'\:terne Regeln sind vorgegeben (z.B. in Form von Rechtsvorschriften oder an­deren sozialen Normen). Externe Regeln bilden für das Individuum Re­striktionen seines Handelns; ilu:e Verletzung kann kurzfristig geringe, längerfristig indessen erhebliche Kosten mit sich bringen (Kirchgässner 1991: 35f.). Die mit Sanktionen verbundenen normativen Rollenerwar­tungen an Dahrendorfs homo sociologictts von Seiten seiner Bezugsgtup­pe sind also als Handlungsrestri1..4:ionen ins ökonomische Verhaltens­modell integrierbar.

(3) Eines der fünf Elemente des ökonomischen Verhaltensmodells ist das ,Eigenntttzaxiom': Als Annahme über die Präferenzen wird unter­stellt, dass die Menschen eigennützig handeln, also gmndsätzlich auf ih­ren eigenen Vorteil bedacht sind. l'v.fissgunst und Neid auf der einen, Altruismus auf der anderen Seite werden ausgeschlossen. Eigennütziges Verhalten nimmt sowohl gemäß Frey (1989) wie Kirchgässner (1991) eine l'v.fittelstellung ein: Die Menschen sind weder Heilige noch Verbre­cher, sie tun weder dauernd Gutes für ilu:e Mitmenschen, noch trachten sie danach, ihnen Böses zuzufügen. Gemäß Francis Y. Edgeworth ist die Annahme des Eigennutzes sogar "das erste Prinzip der Ökonomie" (1881: 16, zit n. Kirchgässner 1991: 46). Eigennutz oder Egoismus als allgemeine Verhaltensannahme löste natürlich etwelche moralische De­batten aus, geht es den Erziehern im Sozialisationsprozess doch gerade darum, bei den Heranwachsenden andere Motive auszuformen als le­diglich Eigennutz. Das gmndsätzlichere Problem ist die Redttktion der Sinnvielfalt men.rchlicher Handlungsorientiert/ng: Man kann letztlich jegli­ches Verhalten als eigennützig interpretieren, wenn man ,Nutzen' weit genug fasst Auch ein Altruist handelt dann eigennützig, denn ein nicht­altruistisches Verhalten würde ihm ,psychische Kosten' verursachen; er handelt nur deswegen altruistisch, weil ihm das den größten Nutzen bringt. ,Egoismus' oder ,Eigennutz' bleiben dann das einzige mögliche Handlungsmotiv, urid ,Altruismus' ist ex definitione aus der Welt ge­schafft.

In der Tat argumentieren eine ganze ReilJ.e von Ökonomen auf diese \Veise, obwohl solche Sinntransformationen nichts anderes als theoreti­sche Taschenspielertricks sind. Kirchgässner (1991: 45-65) warnt vor dem Einbezug ,psychischer Kosten', weil damit das ökonomische Ver­haltensmodell gegen Falsifizierung inJ.munisiert wird: Individuen han­deln dann immer im eigenen Interesse, und es geht nur noch darum, die jeweiligen psychischen Kosten zu eruieren, die zu den übrigen Anreizen hinzutreten. Damit hat die Theorie aber sämtliche Erklärungskraft im

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Lebensweltanalyse und Rational Choice

Sinne des Kritischen Rationalismus verloren. Einige Autoren sind daher bereit, alternative Sinnorientierttngen menschlichen Handeins anzuerken­nen. Solche lassen sich nach Kirchgässner auf verschiedenen Gebieten beobachten: Zum einen gibt es bei öffentlichen Gütem viel weniger Trittbrettfalu:er, als in der ökonomischen Theorie aufgrund des Eigen­nutzaxioms angenommen wird; zum anderen gibt es auch Bereiche, für die nicht egoistisches, sondern altruistisches Verhalten geradezu typisch ist (Liebesbeziehungen, Fanillie). Dabei wird zwischen ,reinem' und ,un­reinem' Altruismus unterschieden (Andreoni 1987): Altruismus ist dann rein, wenn es dem Individuum bei einem Verhalten tatsächlich nur um das Wohlergehen anderer geht, unrein dagegen, wenn es daraus selber auch Nutzen zieht. Von (reinem) Altruismus kann man also nur dann sprechen, wenn ausschließlich psychische Kosten vorliegen. Unreiner Altruismus kann ins ökonomische Yerhaltensmodell eingepasst werden, ebenso kooperative und altruistische Verhaltensweisen, die im längerfri­stigen Interesse der Beteiligten liegen. In begrenztem Umfang lassen sich nach Kirchgässner also auch altruistische Verhaltensweisen im Rahmen des ökonomischen Verhaltensmodells erklären. Dazu bedarf es jedoch spezieller Hypothesen, die empirisch auch überprüfbar sein müs­sen, um der Gefahr der Immunisiert/flg der Theorie ulld der empiris.-he11 Gehaltlosigkeit zu begegnen. In aller Regel bleibt man bei der Annahme des Eigennutzes und weicht nur in bestimmten Ausnahmefallen von dieser Annahme ab. Die Eigennutz-Annahme ist jedoch keine apriori­sche, sondern eine empirische Annahme, die an der sozialen Wttklichkeit scheitern kann. Da sie sich oft bewährt, eigennütziges Verhalten also verbreiteter ist als z.B. altruistisches, empfiehlt sich, grundsätzlich mit ilu: zu operieren. Entsprechend werden soziale Interaktionen im Rah­men dieses Modells als ,Tausch' aufgefasst Kirchgässner (1991: 62) un­terstreicht dabei, dass es darauf ankomme, "die wesentlichen Punkte menschlichen Verhaltens herauszustellen und in diesem Verständnis ,realistisch' zu sein und nicht das menschliche Verhalten in all seinen Facetten zu beschreiben.«

(4) Für die Konzeption der Anreizst:ruktur zentral ist die strikte Trennung von Präferenzen Imd Restriktionen. Dies ist zwar "nicht immer völlig unproblematisch«, aber prinzipiell doch ein "sinnvolles V orge­hen" (Kirchgässner 1991: 38). Dabei wird in aller Regel die anthropolo­gische Annahme zugmndegelegt, dass der Mensch nicht alle seine Be­dürfnisse befriedigen kann und sich daher stets in einer Situation der Knappheit befindet: "Gegeben die Begrenztheit der Natur und die unbe­grenzten Bedürfnisse des Menschen, ist Knappheit unvermeidlich und überall gegeben" (Alchianl Allen 1964: 12, zit. n. Kirchgässner 1991: 12). Sowohl Präferenzen wie Restri1..4:ionen werden im modemen ökonomi­schen Verhaltensmodell wesentlich weiter gefasst als in früheren Kon-

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zeptionen. Nach heutiger Auffassung bilden nicht nur wirtschaftliche Faktoren - Preise, Einkommen und die Erstausstattung mit Ressourcen - wesentliche Restriktionen, sondern auch rechtliche Einschränlumgen, informelle soziale Nonnen und Traditionen (prey 1989; s.o.). Gegen­über neoklassischen ökonomischen Modellen sind damit explizit auch Institutionen in die Betrachtung miteinbezogen. Restriktionen sind kla­rer definiert als Präferenzen. Unter ,Priiferenzm' versteht man die Wün­sche bzw. Bedürfnisse eines Individuums, oder den Nutzen, den ein In­dividuum irgendeinem Sachverhalt beimisst (Opp 1983: 32), oder die \Vertvorstellungen einer Person bzw. die Maßstäbe, anhand derer die Konsequenzen von Handlungsmöglichkeiten beurteilt werden (Kirch­gässner 1991: 13, 40). Uneinigkeit besteht u.a. darüber, 'wie eng bzw. weit der Präferenzbegriff gefasst werden soll. Kirchgässner (1991: 39f.) empfiehlt eine .?weite' Fassung und wendet sich damit gegen die ,enge' Fassung der ,Osterreichischen Schule': lVfises (1940) wie sein Schüler Kirzner (1973) verstehen unter ,Präferenzen' die konkreten Einschät­zungen der V or- und Nachteile der jeweiligen Handlungsmöglichkeiten. Infolgedessen verändern sich die Präferenzen laufend: Solange Han­delnde ihre Handlungsmöglichkeiten und deren Konsequenzen noch nicht kennen, sind sie nach Mises auch nicht in der Lage, diesbezügliche Präferenzen zu bilden; so entwickeln sich Präferenzen häufig erst im Vollzug des Handelns.

Kirchgässner (1991: 40) weist eine derart dynamische Konzeption der Präferenzen entschieden zurück: "Ein derart verengter Präferenzbe­griff ist im Rahmen des ökonomischen Vemaltensmodells weder not­wendig noch sinnvoll". Als Präferenzen sollen vielmehr die allgemeinen, relativ konstanten \Verthaltungen gelten, mittels derer die Konsequen­zen von Handlungsalternativen beurteilt werden. Begründet wird dies mit jor:rdlU1zgspragmatighen Überlegungen: Es sei keine sinnvolle For­schungsstrategie, Veränderungen im menschlichen Verhalten durch Veränderungen der Präferenzen zu erklären. Insbesondere bestehe "eine große Gefahr zur Immunisierung der theoretischen Aussagen ( ... ): Jede beliebige Änderung kann unter Hinweis auf Veränderungen in den Prä­ferenzen ,erklärt' werden" ~bid.: 39). Frey (1989: 70) wie Kirchgässner (1991: 38fE) empfehlen daher die Annahme k01utanter Priiferenzen: Für die Zwecke der Analyse sollen Präferenzen als konstant unterstellt und Veränderungen im Verhalten allein über veränderte Restriktionen erklärt werden. Als Begründung wird zum einen angeführt, dass Präferenzen nicht unabhängig von den Handlungen gemessen werden können 32, und

32 ,:oDie Präferenzen der Individuen ... sind '" in der Regel nur indirekt crfaßbar~ d.h. ~a? kann au~ dem yerhalten der Individuen und aus den für sie gültigen Restnktlonen auf 1hre Prafcrenzordnung zuruckschlicßen. [Fn:] Im Rahmen der

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zum anderen, dass sich die Präferenzen von Individuen wesentlich lang­samer verändem als die Restriktionen. Kirchgässner (1991: 4OF.) zeigt am Beispiel des gestiegenen Umweltengagements, dass dieses nicht auf eine Veränderung der Präferenzen - den vielberufenen ,Wertewandel' -zurückgeführt werden muss, sondern ausschließlich durch die Verände­rung der Restriktionen erklärt werden kann. Gewisse Ökonomen gehen nun so weit, allen Individuen gleiche Präferenzen zu unterstellen (Be­cker/Stigler 1977); andere wiederum bezeichnen Unterschiede in den Präferenzen der einzelnen Individuen als geradezu konstitutiv für die mikroökonomische Theorie (Alchian/Allen 1964).

Soziologische Vertreter des Rational Choice-Ansatzes sind mit dieser Version der Ökonomik: nicht einverstanden. Sie machen grttndsätzliche Bedenken jorschungsiogischer Art geltend: Die ausschließliche Berück­sichtigung von Restriktionen ist willkürlich; wenn sowohl Präferenzen als auch Restriktionen Bedingungen für Verhaltensänderungen sind, darf man nicht apriori die Erklärung auf eine Variablenklasse beschrän­ken. Schließlich kann eine Veränderung des Verhaltens auch allein aus der Veränderung der Präferenzen resultieren oder aus der gleichzeitigen Veränderung von Präferenzen und Restriktionen (Opp 1983: 50). Nun zeigen sich Ökonomen wie Frey oder Kirchgässner durchaus offen für soziologische und psychologische Erklärungen der Entstehung und Veränderung von Präferenzen. Ihr forschungspragmatischer Entscheid, die Restriktionen als abhängige, die Präferenzen dagegen als unabhängi­ge Variablen zu behandeln, hängt zum einen mit unterschiedlichen Fra­gestellungen, zum anderen aber auch mit einem anderen Verhältnis zur empirischen Forschung zusammen. Ökonomen sind in der Regel ledig­lich an der Erklärung von Verhalten interessiert, Soziologen aber auch an der Erkiärttng von Priiferenzen, wie z.B. an den Prozessen der Norm­bildung oder der Internalisierung von Nonnen. Ökonomen befassen sich zudem meist mit voremobenen Daten (z.B. Statistiken), während

. Soziologen ihre Daten· selbst erheben; Soziologen haben daher auCh mehr Vertrauen in die Möglichkeiten der empirischen Sozialforschung und halten die Messung von Präferenzen in vielen Fällen für möglich (ibid.). Soziologische Proponenten des Rational Choice-Ansatzes verfol­gen daher oft andere Forschungsstrategien als ihre ökonomischen Kol­legen, sie halten jedoch am selben Grundmodell fest.

mikroökonomischen Theorie geschieht dies mit Hilfe des Ansatzes der ,offen­barten Präferenzen' (,Revealed Preference Approach')" (Kirchgässner 1991: 26).

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Lebensweltanalyse unci Handlungstheorie

3.1.3 Der moderne ,homo oecononlicus' vor dem Hinter­grund von Praxeologie und Verstehender Soziologie

Im Vergleich zum modemen ökonomischen Verhaltensmodell ist die neoklassische Konzeption des ,homo oeconomicus', wie er in den mi­kroökonomischen Lehrbüchern präsentiert wird, ein Zerrbild: der voll­ständig informierte, durch und durch rationale und immer blitzschnell entscheidende Computer (Kirchgässner 1991: 27f.). Der moderne ,ho­mo oeconomicus' ist unvollständig informiert, handelt oft nur be­schränkt rational, stellt Zeitdruck und die Kosten weiterer Infonnati­onssuche in Rechnung, orientiert sich oft an Regeln und verfolgt nicht mehr nur materielle Ziele. Diese moderne Konzeption gewinnt sowohl in der Mikroökonomie als auch in der Makroökonomie immer mehr Bedeutung (ibid.: 66-97). Allerdings entstehen in der Pra.'Üs immer wie­der Zielkonllikte zwischen dem Bedürfnis nach ,realistischer' Ausge­staltung des Homunculus und den Erfordernissen mathematischer Fonnalisierung. Denn die fonnale Analyse wird durch vereinfachende Annahmen sehr erleichtert, ja in vielen Fällen erst dadurch ermöglicht (ibid.: 69). So wird z.B. nach wie vor oft von der Nutzenmaximierung ausgegangen, weil sie sich als günstig erweist, wenn mathematische Formulierungen verwendet werden (Frey 1989: 77). Daraus erklärt sich, dass viele ökonomische Modellkonstruktionen die hier vorgestellten Differenzierungen des ökonomischen Verhaltensmodells nach wie vor nicht berücksichtigen.

(1) Inwiefern unterscheidet sich nun der moderne ,homo oeconomi­cus' von der Pra. ... eologie von Mises? Zunächst ist festzustellen, dass die Österreichische Schule der neoklassischen Konzeption in vielem voraus war. \Vie wir bei der Erörterung des Präferenzbegriffs gesehen haben, ist bereits Mises (1940) vom Ilnvollständigen lf7is.rensstand de.r Rande/I/­den ausgegangen und hat dies systematisch in Rechnung gestellt. Gerade Angehörige des Mises-Kreises haben in ihren ökonomischen Analysen die Bedeutung des Informationsstandes, die Ungleichverteilung des \Vtssens wie auch die Wissensproduktion in modernen Gesellschaften konsequent zum Thema gemacht (Hayek 1937, 1945; Machlup 1978a, 1980). Schütz hat wiederholt auf diese Arbeiten Bezug genommen (so­weit sie zu seinen Lebzeiten bereits vorlagen), wenn er die Relevanz der sozialen \Vissensverteilung für die Untersuchung sozialwissenschaftli­cher Themen herausstellte (z.B. Schütz 1971a: 17). In der neoklassi­schen Ökonomie fanden diese Arbeiten allerdings wenig Resonanz; so wurde die Annahme vollständiger Information noch lange beibehalten, was Kirchgässner (1991: 69) "eigentlich erstaunlich" findet. Erst die Ar­beit Stiglers (1961) gab den Anstoß zu einer ,Informationsökonomik', die breiteren Anklang fand. - Auch in bezug auf den systematischen

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Lebensweltanalyse und Rational Choice

Einbezug der Zeitlü-hkeit mmschlichen Randelns war Mises' Praxeologie der neoklassischen Konzeption voraus. Zeit ist eine knappe Ressource und muss daher bewirtschaftet werden (Mises 1940: 80). Dies tut denn auch der moderne ,homo oeconomicus': Aufgrund der Zeitknappheit entstehen bei jeder Beschaffung zusätzlicher Informationen über die Handlungsmöglichkeiten und deren Konsequenzen auch immer Kosten; oft impliziert ein ,rationaler' Entscheid daller, ,jetzt' zu handeln, selbst bei unvollständigem Wissensstand. Darüber hinaus hat Mises aber die Zeitlichkeit auch als konstitutiv für den Handlungsablaufbetrachtet; da­her kam er ja, wie wir gesehen haben, zum Schluss, viele Präferenzen würden sich erst im Vollzug des Handelns bilden. Im Vergleich dazu ist selbst der moderne ,homo oeconomicus' ein eher statisches Konstrukt geblieben.

Der wichtigste Unterschied des modernen ökonomischen Vemal­tensmodells zur Praxeologie von Mises besteht nun aber zweifellos im wissens"haftstheoretis"hen Selbstverständnis. Die moderne Konzeption des ,homo oeconomicus' ist dem Kritischen Rationalismus verpflichtet, die Praxeologie dagegen versteht sich - wie die Grenznutzenlehre Mengers - als apriorische Wissenschaft. Die Praxeologie unterscheidet sich damit sowohl von den nomothetischen Wissenschaften wie von der Ge­schichte. Nomothetische Wissenschaften kann es nach Mises (1940: 42ff.) nur im Bereich der Naturwissenschaften geben, nicht im Bereich des Handelns. Denn menschliches Handeln unterscheidet sich funda­mental von natürlichen Prozessen; man findet in Handlungszusammen­hängen nie vergleichbare Kausalketten wie in der Natur. Es ist daher aussichtslos, eine nomothetische Lehre vom menschlichen Handeln aus der Erfahrung über menschliches Handeln selbst gewinnen zu wollen; man wird aus der Erfahrung nie Gesetze über menschliches Handeln konstruieren können. Die Erfahrung vom menschlichen Handeln zu verarbeiten ist vielmehr Aufgabe der Geschichtswissenschaft. Sie ist Er­fahrungswissenschaft aposteriori und beschäftigt sich mit dem Beson­deren und Individuellen. Demgegenüber ist die Praxeologie ,eigentliche Wissenschaft' im Kantschen Sinne; ihre apriorischen Sätze beanspru­chen unter den spezifizierten Voraussetzungen ausnahmslose Geltung. Nomothetische Wissenschaft, apriorische Praxeologie und individuali­sierende Geschichtswissenschaft sind daher streng zu unterscheiden; ihr logischer Gegensatz lässt sich nicht überbrücken. Daraus folgt nach Mi­ses (1940: 61f.) , dass es eine mit der Physik vergleichbare quantitative Nationalökonomie nie geben kann. Zahlen gehören nicht der Theorie an, sondern der Geschichte. Für die Theorie des menschlichen Han­delns ist das Comtesche Ideal einer positivistischen Wissenschaft, ,sa­voir pour prevoir', nicht im selben Sinne erreichbar wie in den no­mothetischen Naturwissenschaften. Auch die apriorische Praxeologie

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