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E Juli 2011 LEBENSZEICHEN Liebe Freunde des Schwarzen Kreuzes! Mehrere Ehrenamtliche, Inhaftierte und ich waren zu einer Veranstaltung des Projekts LEBENS(T)RÄUME im Kirchen- raum einer Justizvollzugsanstalt zusammengekommen. Wir hatten eine wirklich gute Zeit miteinander verbracht, hatten gegessen, gelacht und uns ernsthaft unterhalten. Nach zwei Stunden mussten wir uns wieder voneinander verabschieden. in Bediensteter holte die Gruppe Inhaftierter ab, um sie zurück zu ihren Hafträumen zu bringen. Bevor er ging, sagte er zu uns: „Ja, bei Ihnen, da sind das alles liebe, nette, freundliche Männer, die keiner Fliege etwas zuleide tun. Aber Sie sollten sie gleich einmal se- hen, wenn sie wieder alleine sind, da gönnt der eine dem anderen nicht das Schwarze unterm Fingernagel, da wird gestritten und mit Schimpfwörtern nur so um sich ge- schmissen, manchmal sogar bis die Fäuste fliegen. Wenn Sie gleich weg sind, dann sind die Gefangenen so, wie sie wirklich sind, boshaft, gemein und primitiv...“ Draußen vor der Pforte müssen wir unseren Herzen Luft machen. Die Ehrenamtlichen sind sich einig: „Ist doch klar, dass der Bedienstete die Inhaftierten so negativ sieht. Wie es in den Wald hineinruft, so schallt es eben zurück. Wenn man freundlich und hilfsbereit zu ihnen ist und wenn man sie ernst nimmt, dann sind Inhaftierte sehr freundlich, aufmerksam und zuvor- kommend. Genau so war es doch gerade mit uns…“ Die Situation bringt mich zum Nachdenken. Einerseits habe ich die Inhaftierten ja gerade auch so erlebt wie die Ehrenamtlichen; andererseits kann ich mir aber auch gut vorstellen, dass der Be- dienstete nicht Unrecht hat. Die „Lebenswelt Gefängnis“ fordert Anpassung und fördert Macht- kämpfe. Mir fallen andere Begegnungen ein. Ich besuche einen Mann im Gefängnis, der mich um Rat gefragt hat. Mein erster Eindruck ist positiv, ein sehr angenehmes Gegenüber. Ich kann seine Sorgen und Probleme gut verstehen. Im Laufe des Gespräches erfahre ich von ihm, dass er seine minderjährige Stieftochter jahrelang sexuell missbraucht hat und darin eine Liebesbezie- hung auf beiden Seiten sieht… - Wer ist dieser Mann wirklich? Ein anderer Inhaftierter bittet mich um die Vermitt- lung eines Briefkontaktes und schildert mir seine augenblickliche Situation so überzeugend, dass ich im wahrsten Sinne des Wortes alle Hebel in Bewe- gung setze, um möglichst schnell eine/n geeignete/n Briefpartner/in für ihn zu finden. Froh schreibe ich ihm später, dass da schon jemand ist, der ihm schreiben möchte. Später höre ich von der ehrenamtlichen Mitar- beiterin: „Er wollte nur Geld…“ – Wer ist dieser Mann wirklich? Wir neigen dazu, Menschen in „gut“ und „böse“ einzuteilen. Schlagen Sie die Zeitung auf, hören Sie die Nachrichten im Radio, achten Sie einmal auf Ihre eigenen Reaktionen, besonders in Konfliktsituationen. Es fällt uns sehr schwer auszuhalten, dass Menschen Wer bist du wirklich?

LEBENSZEICHEN 03/2011

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Der Newsletter des Schwarzen Kreuzes, einer freien Organisation der Straffälligenhilfe.

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Juli 2011

LEBENSZEICHENLiebe Freunde des Schwarzen Kreuzes!

Mehrere Ehrenamtliche, Inhaftierte und ich waren zu einer Veranstaltung des Projekts LEBENS(T)RÄUME im Kirchen-raum einer Justizvollzugsanstalt zusammengekommen. Wir hatten eine wirklich gute Zeit miteinander verbracht, hatten gegessen, gelacht und uns ernsthaft unterhalten. Nach zwei Stunden mussten wir uns wieder voneinander verabschieden.

in Bediensteter holte die Gruppe Inhaftierter ab, um sie zurück zu ihren Hafträumen zu bringen. Bevor er ging, sagte er zu uns: „Ja, bei Ihnen, da sind das alles liebe, nette, freundliche Männer, die keiner Fliege etwas zuleide tun. Aber Sie sollten sie gleich einmal se-hen, wenn sie wieder alleine sind, da gönnt der eine dem anderen nicht das Schwarze unterm Fingernagel, da wird gestritten und mit Schimpfwörtern nur so um sich ge-schmissen, manchmal sogar bis die Fäuste fliegen. Wenn Sie gleich weg sind, dann sind die Gefangenen so, wie sie wirklich sind, boshaft, gemein und primitiv...“

Draußen vor der Pforte müssen wir unseren Herzen Luft machen. Die Ehrenamtlichen sind sich einig: „Ist doch klar, dass der Bedienstete die Inhaftierten so negativ sieht. Wie es in den Wald hineinruft, so schallt es eben zurück. Wennman freundlich und hilfsbereit zuihnen ist und wenn man sie ernstnimmt, dann sind Inhaftierte sehrfreundlich, aufmerksam und zuvor-kommend. Genau so war es dochgerade mit uns…“

Die Situation bringt mich zumNachdenken. Einerseits habe ichdie Inhaftierten ja gerade auch soerlebt wie die Ehrenamtlichen;andererseits kann ich mir aberauch gut vorstellen, dass der Be-dienstete nicht Unrecht hat. Die„Lebenswelt Gefängnis“ fordertAnpassung und fördert Macht-kämpfe.

Mir fallen andere Begegnungen ein. Ich besuche einen Mann im Gefängnis, der mich um Rat gefragt hat. Mein erster Eindruck ist positiv, ein sehr angenehmes Gegenüber. Ich kann seine Sorgen und Probleme gut verstehen. Im Laufe des Gespräches erfahre ich von ihm, dass er seine minderjährige Stieftochter jahrelang sexuell missbraucht hat und darin eine Liebesbezie-hung auf beiden Seiten sieht… - Wer ist dieser Mann wirklich?

Ein anderer Inhaftierter bittet mich um die Vermitt-lung eines Briefkontaktes und schildert mir seine augenblickliche Situation so überzeugend, dass ich im wahrsten Sinne des Wortes alle Hebel in Bewe-gung setze, um möglichst schnell eine/n geeignete/n Briefpartner/in für ihn zu finden. Froh schreibe ich ihm später, dass da schon jemand ist, der ihm schreiben möchte. Später höre ich von der ehrenamtlichen Mitar-beiterin: „Er wollte nur Geld…“ – Wer ist dieser Mann wirklich?

Wir neigen dazu, Menschen in „gut“ und „böse“ einzuteilen. Schlagen Sie die Zeitung auf, hören Sie die Nachrichten im Radio, achten Sie einmal auf Ihre eigenen Reaktionen, besonders in Konfliktsituationen. Es fällt uns sehr schwer auszuhalten, dass Menschen

Wer bist du wirklich?

Schwarzes KreuzChristliche Straffälligenhilfe e.V.Jägerstraße 25a · 29221 CelleTelefon 05141 94616-0 · Fax [email protected]

Konto 60 02 02 · BLZ 52060410Evangelische Kreditgenossenschaft

IBAN:DE83 5206 0410 0000 6002 02BIC: GENODEF1EK1

gut und böse, freundlich und gefährlich, hilfsbereit und rücksichtslos, vertraut und unberechenbar sind. Am liebsten möchten wir aus dem „und“ ein „oder“ machen. Bei uns selbst und bei anderen auch. Und natürlich erst recht bei denen, die im Gefängnis sein müssen, weil sie doch eindeutig „böse“ erscheinen. Aber jeder, der aus der anonymen Masse Inhaftierter Namen, Personen, Geschichte und Hintergründe Einzelner kennt, merkt: Diese Rechnung geht nicht auf. Menschen im Gefängnis sind immer mehr als ihre Straftat.

Wenn wir nur „das Böse“, die Fehler und Schwä-chen, die Straftat und das Unvermögen bei Inhaf-tierten sehen, geben wir ihnen keine Chance, auch andere Seiten in sich zum Vorschein zu bringen. Es hilft allerdings auch nicht, nur „das Gute“ her-vorzuheben und alle Fünfe gerade sein zu lassen. Auch wir im Schwarzen Kreuz, ob ehrenamtlich oder hauptamtlich, dürfen das nicht tun. Jede Einseitigkeit berücksichtigt nicht die Vielschichtigkeit und die Be-ziehungsvielfalt des Lebens. Wer aber sind Inhaftierte dann wirklich?

Dietrich Bonhoeffer findet eine Antwort aus dem Dilemma, als er selbst im Gefängnis ist: Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen? Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß? Wer bin ich? Der oder jener? Bin ich beides zugleich? Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin, du kennst mich, dein bin ich, o Gott (Auszug, den vollständigen Text schicke ich auf Wunsch gerne zu, bitte dann frankierten Rückumschlag beilegen).

ir können immer nur einen Bruchteil von dem erkennen, wer ein Mensch ist. Voll- ständig und wirklich kennt nur Gott ei-nen Menschen. Und Gott sieht jeden Menschen mit einem liebevollen Blick an, der Gutes und Böses einschließt. Seine Absicht ist es nicht zu bestrafen, sondern zu helfen, dass sich „das Gute“ vermehrt. Glauben Sie daran? Können Sie stellvertretend für Inhaftierte daran glauben und ihnen helfen, dass sich „das Gute“ in ihnen vermehrt?

Im letzten Gottesdienst, den ich besucht habe, war von „Balkonmenschen“ zu hören. Nie gehört? Ich vorher auch nicht. „Balkonmenschen“ sind Men-schen, die anderen helfen, nach „oben“ zu kommen, dem Himmel näher, anderen Menschen näher, sich

selbst näher. Was für ein wunderschönesBild! Stellen Sie sich einfach nur vor, wiees jemandem ergehen könnte, der ausder beklemmenden Luft eines Gefäng-nisses auf einen Balkon tritt und diefrische Luft tief einatmet, den Blick indie Ferne schweifen lässt, die Weiteund Vielfalt der Landschaft in sichaufnimmt… - wollen wir gemeinsam solche„Balkonmenschen“ für Inhaftierte sein?

Viele freundliche Sommergrüße aus Celle schickt Ihnen

Irmtraud Meifert

Herzliche Einladung zu den Veranstaltungen!Weitere Informationen und Anmeldung in der

Geschäftsstelle des Schwarzen Kreuzes oderunter www.schwarzes-kreuz.de.

Sind Sie interessiert an der ehrenamt-

lichen Straffälligenhilfe und brauchen

für Ihre Entscheidung noch Informa-

tionen? Oder sind Sie erst kurz dabei

und wünschen sich eine gute Grund-

lage für Ihr ehrenamtliches Engage-

ment?

Unser nächstes Einführungsseminar

ist vom 21.10. – 23.10.2011 in Berlin.

W

Das nächste „Forum Austausch“ findet am24. September 2011 in Leipzig statt.

Hier finden vor allem Ehrenamtliche, die einen Briefkontakt zu einem Inhaftierten haben oder eingehen möchten, Raum für Gespräch, Fragen, Problemlösungen.