23
Lee Smolin DIE ZUKUNFT DER PHYSIK

Lee Smolin DIE ZUKUNFT DER PHYSIK · des Elektromagnetismus ausgebaut. ... Universum nicht nur Sterne und Galaxien enthält, sondern auch exotische Objekte wie Neutronensterne, Quasare,

Embed Size (px)

Citation preview

Lee SmolinDIE ZUKUNFT DER PHYSIK

Lee Smolin

DIE ZUKUNFT DER PHYSIKProbleme der Stringtheorie

und wie es weitergeht

Aus dem Englischen vonHainer Kober

Deutsche Verlags-Anstalt

Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel »Th e Trouble with Phy-sics. Th e Rise of String Th eory, the Fall of a Science and What Comes Next« im Verlag Houghton Miffl in Company, Boston / New York.

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifi zierte Papier EOS liefert Salzer, St. Pölten.

1. Aufl ageCopyright © 2006 Lee SmolinCopyright © 2009 für die deutschsprachige AusgabeDeutsche Verlags-Anstalt, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHAlle Rechte vorbehaltenRedaktion: Antje Steinhäuser, MünchenGesetzt aus der MinionDruck und Bindung: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in GermanyISBN 978-3-421-04296-5

www.dva.de

SGS-COC-1940

Inhalt

Einleitung 7

Teil I: Die unvollendete Revolution 1 Die fünf großen Probleme der theoretischen Physik 31

2 Der Schönheitsmythos 49

3 Die Welt als Geometrie 74

4 Vereinheitlichung wird Wissenschaft 94

5 Von der Vereinheitlichung zur Supervereinheitlichung 109

6 Quantumgravitation: Am Scheideweg 126

Teil II: Eine kurze Geschichte der Stringtheorie 7 Vorbereitung einer Revolution 153

8 Die erste Superstringrevolution 169

9 Revolution Nummer zwei 188

10 Eine Th eorie von irgendwas 213

11 Die anthropische Lösung 227

12 Was die Stringtheorie erklärt 248

Teil III: Jenseits der Stringtheorie 13 Überraschungen aus der wirklichen Welt 279

14 Auf Einstein aufb auen 304

15 Die Physik nach der Stringtheorie 322

Teil IV: Aus Erfahrung lernen 16 Wie kämpft man gegen die Soziologie? 351

17 Was ist Wissenschaft ? 386

18 Seher und Handwerker 410

19 Wie Wissenschaft wirklich funktioniert 440

20 Was können wir für die Wissenschaft tun? 462

Dank 471

Anmerkungen 475

Personenregister 490

Einleitung

Vielleicht gibt es einen Gott – oder Götter –, vielleicht auch nicht. Doch unsere Suche nach dem Göttlichen hat etwas Nobles. Und etwas sehr Menschliches, wie all die Wege zeigen, die uns auf immer tiefere Ebenen der Wahrheit geführt haben. Manche Menschen suchen Transzendenz in Meditation oder Gebet; andere streben nach ihr, indem sie ihren Mitmenschen helfen; wieder andere, die das Glück haben, eine entsprechende Begabung zu besitzen, suchen Transzendenz in der Kunst.

Eine weitere Möglichkeit, sich mit den tiefgründigsten Fragen auseinanderzusetzen, ist die Wissenschaft . Nicht jeder Wissen-schaft ler ist ein Wahrheitssuchender; die meisten sind es nicht. Doch in jeder wissenschaft lichen Disziplin gibt es Forscher, die von dem leidenschaft lichen Wunsch beseelt sind, die tiefere Wahrheit ihres Fachgebietes zu entdecken. Wenn sie Mathematiker sind, möch-ten sie wissen, was Zahlen sind oder welche Art von Wahrheit die Mathematik beschreibt. Sind sie Biologen, wollen sie wissen, was Leben ist und wie es begonnen hat. Falls sie Physiker sind, beschäf-tigt sie die Frage, was es mit Raum und Zeit auf sich hat und wie die Welt entstanden ist. Diese fundamentalen Fragen sind am schwers-ten zu beantworten, und Fortschritte stellen sich selten unmittelbar ein. Nur eine Handvoll Wissenschaft ler hat die Geduld für diese Arbeit – Arbeit in ihrer gewagtesten, aber auch lohnendsten Form: Wenn jemand die Antwort auf eine fundamentale Frage seines For-schungsfeldes fi ndet, kann das alles verändern, was wir wissen.

Da es die Aufgabe von Wissenschaft lern ist, zum Wachstum unseres Wissenbestandes beizutragen, verbringen Wissenschaft ler ihre Zeit damit, sich mit dem auseinanderzusetzen, was sie nicht verstehen. Die Wissenschaft ler, die sich den Grundlagen eines bestimmten Feldes widmen, wissen nur zu gut, dass die Bausteine ihrer Disziplin niemals so stabil sind, wie ihre Kollegen im All-gemeinen annehmen.

Dies ist die Geschichte des Bemühens, die Natur auf ihrer tiefs-ten Ebene zu verstehen. Ihre Protagonisten sind die Forscher, die

danach streben, unser Wissen über die Grundgesetze der Physik zu erweitern. Der Zeitraum – etwa seit 1975 –, den ich behandeln werde, deckt sich mit meiner Berufstätigkeit als theoretischer Phy-siker. Möglicherweise ist er auch die seltsamste und frustrierendste Zeitspanne der Physik, seit Kepler und Galilei vor vierhundert Jah-ren mit der praktischen Ausübung unseres Handwerks begannen.

Die Geschichte, die ich zu erzählen habe, mag sich für man-chen wie eine Tragödie lesen. Um es ganz off en zu sagen – und um die Pointe vorwegzunehmen – wir sind gescheitert. Wir haben eine naturwissenschaft liche Disziplin, die Physik, geerbt, die so lange so rasante Fortschritte erzielt hat, dass sie häufi g als Vorbild für die Methoden in anderen wissenschaft lichen Disziplinen galt. Zweihundert Jahre lang, bis in die Gegenwart, hat unser Verständ-nis der Naturgesetze rapide zugenommen. Doch heute sind wir, trotz größter Anstrengungen, in Hinblick auf das, was wir über diese Gesetze mit Sicherheit wissen, keinen Schritt weiter als in den Siebzigerjahren.

Wie ungewöhnlich ist es, dass in drei Jahrzehnten kein größe-rer Fortschritt in der physikalischen Grundlagenforschung erzielt wurde? Selbst wenn wir mehr als zweihundert Jahre zurückbli-cken, in eine Zeit, als die naturwissenschaft liche Forschung über-wiegend von wohlhabenden Amateuren betrieben wurde, hat es so etwas nicht gegeben. Zumindest seit Ende des 18. Jahrhunderts sind in wichtigen Fragen alle 25 Jahre bedeutende Fortschritte erzielt worden.

Als Antoine Lavoisier um 1780 in seinen quantitativen chemi-schen Experimenten nachwies, dass Materie erhalten bleibt, waren Isaac Newtons Bewegungs- und Gravitationsgesetze bereits fast hundert Jahre bekannt. Zwar gab Newton uns damit einen theore-tischen Rahmen zum Verständnis der gesamten Natur, doch blie-ben die Grenzen weit off en. Die Forscher begannen gerade erst die grundlegenden Fakten über Materie, Licht und Wärme in Erfah-rung zu bringen und so rätselhaft e Phänomene wie Elektrizität und Magnetismus zu erhellen.

Im Laufe der nächsten 25 Jahre wurden auf allen diesen Gebie-ten wichtige Entdeckungen gemacht. Wir begannen zu verstehen,

Einleitung8

dass Licht eine Welle ist. Wir entdeckten das Gesetz, das die Kraft zwischen elektrisch geladenen Teilchen bestimmt. Und wir mach-ten dank John Daltons Atomtheorie Riesenfortschritte in unserem Verständnis der Materie. Der Energiebegriff wurde eingeführt; Inter-ferenz und Beugung wurden im Rahmen der Wellentheorie des Lichts erklärt; und man kam dem elektrischen Widerstand und der Beziehung zwischen Elektrizität und Magnetismus auf die Schliche.

Mehrere der modernen Physik zugrunde liegende Konzepte wurden in den 25 Jahren zwischen 1830 und 1855 entwickelt. Michael Faraday stellte die Hypothese auf, dass Kräft e von Feldern übertragen werden, eine Idee, mit der er unser Verständis der Elek-trizität und des Magnetismus erheblich erweiterte. Im gleichen Zeitraum wurde die Energieerhaltung im Zweiten Hauptsatz der Th ermodynamik postuliert.

In den folgenden 25 Jahren wurde Faradays bahnbrechende Feld-Hypothese von James Clerk Maxwell zur modernen Th eorie des Elektromagnetismus ausgebaut. Maxwell vereinheitlichte nicht nur Elektrizität und Magnetismus, sondern konnte Licht auch als elektromagnetische Welle erklären. 1867 beschrieb er das Verhalten von Gasen im Rahmen der Atomtheorie. Im gleichen Zeitraum führte Rudolf Clausius den Entropie-Begriff ein.

In die Zeitspanne von 1880 bis 1905 fi el die Entdeckung der Elektronen und der Röntgenstrahlung. Die Erforschung der Wärme-strahlung vollzog sich in mehreren Schritten und führte im Jahre 1900 zu Max Plancks Entdeckung jener Formel, die die thermischen Eigenschaft en der Strahlung beschrieb – eine Formel, die die Quan-tenrevolution auslösen sollte.

Im Jahr 1905 war Albert Einstein sechsundzwanzig. Es gelang ihm nicht, eine akademische Anstellung zu fi nden, obwohl schon seine frühen Arbeiten über die Physik der Wärmestrahlung heute als bahnbrechende wissenschaft liche Beiträge gelten. Doch das war nur eine Fingerübung. Schon bald konzentrierte er sich auf die funda-mentalen Fragen der Physik: Erstens, wie ließ sich die Relativität der Bewegung mit Maxwells Gesetzen des Elektro magnetismus in Ein-klang bringen? Das zeigte er uns in seiner speziellen Relativitätstheo-rie. Sollten wir uns die chemischen Elemente als Newton’sche Atome

Einleitung 9

vorstellen? Einstein bewies es uns. Wie können wir die Lichttheorien mit der Existenz von Atomen vereinbaren? Einstein erklärte es und zeigte in diesem Zusammenhang, dass das Licht Welle und Teilchen zugleich ist. All das geschah im Jahr 1905, und die Zeit dafür zweigte er bei seiner Arbeit im Schweizer Patentamt ab.

Die Ausarbeitung der Einstein’schen Erkenntnisse nahm die nächsten 25 Jahre in Anspruch. 1930 lag seine allgemeine Relati-vitätstheorie vor, die die revolutionäre Behauptung aufstellt, dass die Geometrie des Raumes nicht festliegt, sondern sich im Laufe der Zeit entwickelt. Der Welle-Teilchen-Dualismus, den Einstein 1905 entdeckte, ging in eine detaillierte Quantentheorie ein, die uns das umfassende Verständnis von Atomen, Chemie, Materie und Strahlung erschloss. 1930 wussten wir ferner, dass das Universum eine ungeheure Zahl von Galaxien wie der unseren enthält, und wir wussten, dass sie sich voneinander entfernen. Die Bedeutung war noch nicht ganz klar, fest stand aber, dass wir in einem expan-dierenden Universum leben.

Mit der Entwicklung der Quantentheorie und der allgemeinen Relativitätstheorie als Grundpfeiler unseres Weltbildes war die erste Phase der physikalischen Revolution des 20. Jahrhunderts been-det. Viele Physikprofessoren, die sich mit Revolutionen auf ihrem Fachgebiet nicht recht anfreunden konnten, waren erleichtert, nun wieder zu ihrer normalen wissenschaft lichen Tätigkeit zurückkeh-ren zu können, ohne die grundlegenden Annahmen unserer Wis-senschaft immer wieder aufs Neue in Frage stellen zu müssen. Doch ihre Erleichterung war voreilig.

Einstein starb 1955; weitere 25 Jahre waren vergangen. Inzwi-schen hatten wir in Erfahrung gebracht, wie sich Quantentheorie und spezielle Relativitätstheorie widerspruchsfrei miteinander ver-einbaren ließen; das war die große Leistung der Generation von Freeman Dyson und Richard Feynman. Wir hatten das Neutron, das Neutrino und viele Hundert andere Teilen entdeckt, bei denen es sich anscheinend um Elementarteilchen handelte. Ferner hatten wir erkannt, dass die unzähligen Naturerscheinungen von ledig-liche vier Kräft en bestimmt werden: Elektromagnetismus, Gravi-tation, der starken Kernkraft (die den Atomkern zusammenhält)

Einleitung10

und der schwachen Kernkraft (die für den radioaktiven Zerfall verantwortlich ist).

Weitere 25 Jahre bringen uns ins Jahr 1980. Zu diesem Zeit-punkt verfügten wir über eine Th eorie, die alle Ergebnisse unserer bis dahin durchgeführten Experimente mit Elementarteilchen und Kräft en erklärte – das sogenannte Standardmodell der Teilchen-physik. Beispielsweise gab uns das Standardmodell genau darüber Auskunft , wie Protonen und Neutronen von Quarks aufgebaut wer-den, die ihrerseits von Gluonen, den Trägern der starken Kernkraft , zusammengehalten werden. Damit hatte die Th eorie zum ersten Mal in der Geschichte der Grundlagenphysik das Experiment eingeholt. Seither hat niemand ein Experiment durchgeführt, das nicht mit diesem Modell oder der allgemeinen Relativitätstheorie in Einklang steht.

Als sich unsere Blickrichtung nun vom sehr Kleinen zum sehr Großen wandte, kam zum gültigen physikalischen Wissen die neue Disziplin der Kosmologie hinzu, in der die Urknalltheorie zur herr-schenden Lehrmeinung geworden war. Wir entdeckten, dass unser Universum nicht nur Sterne und Galaxien enthält, sondern auch exotische Objekte wie Neutronensterne, Quasare, Supernovae und Schwarze Löcher. Bereits 1980 hatte Stephen Hawking die fantas-tisch klingende Vorhersage gemacht, dass Schwarze Löcher strahlen. Außerdem hatten die Astronomen Belege dafür gefunden, dass das Universum eine große Menge dunkler Materie enthält – das heißt, Materie in einer Form, die Licht weder emittiert noch refl ektiert.

1981 schlug der Kosmologe Alan Guth die Infl ationstheorie vor, ein Szenario für die sehr frühe Geschichte des Universums. In gro-ben Zügen besagt diese Th eorie, dass das Universum zu einem sehr frühen Zeitpunkt seines Lebens einen enormen Wachstumsschub erfahren habe, und erklärt, warum das Universum in jeder Rich-tung weitgehend gleich aussieht. Die Infl ationstheorie machte Vor-hersagen, die zweifelhaft erschienen, bis die empirischen Befunde vor etwa zehn Jahren einen Umschwung zu ihren Gunsten brachten. Zum Zeitpunkt dieser Niederschrift sind noch einige Fragen off en, doch die weit überwiegende Zahl der Forschungsergebnisse bestä-tigt die Vorhersagen der Infl ationstheorie.

Einleitung 11

1981 blickte die Physik also auf zweihundert Jahre rasanter Ent-wicklung zurück. Eine Entdeckung nach der anderen vertieft e unser Verständnis der Natur, und Th eorie und Experiment gingen dabei Hand in Hand. Neue Ideen wurden getestet und bestätigt, und experimentelle Entdeckungen wurden anhand der Th eorie erklärt. Anfang der Achtzigerjahre kam diese Entwicklung zum Stillstand.

Ich gehöre zur ersten Generation der Physiker, die ihre Ausbil-dung nach Entwicklung des Standardmodells der Teilchenphysik erhielten. Wenn ich alte Freunde aus College- oder Unizeiten treff e, fragen wir uns gelegentlich: »Was haben wir entdeckt, worauf unsere Generation stolz sein könnte?« In Hinblick auf neue grund-legende Entdeckungen, durch Experimente bestätigt und durch Th eorien erklärt – also Entdeckungen von der oben beschriebenen Bedeutung –, muss unsere Antwort lauten: »Nichts.«

Mark Wise ist ein führender Th eoretiker auf dem Gebiet der Teil-chenphysik jenseits des Standardmodells. Kürzlich hat er in einem Vortrag am Perimeter Institute of Th eoretical Physics in Waterloo, Ontario, wo ich arbeitete, über die Frage gesprochen, woher die Massen der Elementarteilchen kommen. »Bei der Lösung dieses Problems sind wir bemerkenswert erfolglos«, sagte er. »Wenn ich jetzt ein Referat über das Problem der Fermionmasse halten müsste, würde ich von Dingen berichten, die ich schon in den Achtziger-jahren hätte schildern können.«1 Dann berichtete er, wie John Pres-kill, auch ein führender Th eoretiker, und er selbst 1983 als junge Physiker an das California Institute of Technology kamen. »John Preskill und ich saßen in seinem Büro und unterhielten uns … Sie wissen schon, die Götter der Physik waren am Caltech, und nun waren auch wir dort! John sagte: ›Ich will nicht vergessen, worüber ich unbedingt arbeiten will.‹ Also fasste er zusammen, was über Quark- und Leptonmassen bekannt war, schrieb es auf einen gelben Merkzettel und klebte ihn an sein schwarzes Brett …, um es nicht zu vergessen. Fünfzehn Jahre später kam ich wieder in sein Büro … wir sprachen über irgendetwas anderes, und mein Blick fi el auf sein schwarzes Brett: Das Stück Papier klebte noch immer dort, aber die Sonne hatte ausgebleicht, was dort einmal geschrieben stand. So hatte sich das Problem erledigt!«

Einleitung12

Der Gerechtigkeit halber sei erwähnt, dass uns in diesen letz-ten Jahrzehnten zwei experimentelle Entdeckungen gelungen sind: Dass Neutrinos Masse besitzen und dass das Universum dem Ein-fl uss einer geheimnisvollen dunklen Energie unterworfen ist, die seine Expansion zu beschleunigen scheint. Doch wir haben keine Ahnung, warum Neutrinos (oder irgendwelche anderen Teilchen) Masse haben oder wie sich ihr Massenwert erklärt. Was die dunkle Energie angeht, so lässt sie sich durch keine der existierenden Th eorien erklären. Daher kann man ihre Entdeckung auch nicht als Erfolg werten, denn sie legt den Schluss nahe, dass wir alle irgendeine entscheidende Tatsache übersehen. Abgesehen von der dunklen Energie ist kein neues Teilchen entdeckt, keine neue Kraft gefunden, kein neues Phänomen beobachtet worden, das nicht schon vor zwanzig Jahren bekannt und verstanden war.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Wir sind in den letzten fünf-undzwanzig Jahren durchaus sehr fl eißig gewesen. Es hat enorme Fortschritte bei der Anwendung bewährter Th eorien auf verschie-dene Bereiche gegeben: auf die Eigenschaft en von Stoff en, auf die der Biologie zugrunde liegende Physik, auf die Dynamik rie-siger Sternhaufen. Doch wenn es darum geht, unsere Einsichten in die Naturgesetze zu vertiefen, gelingen uns keine wirklichen Fortschritte. Es sind viele schöne Ideen untersucht, bemerkens-werte Beschleunigerexperimente durchgeführt und spektakuläre kosmologische Beobachtungen vorgenommen worden, doch sie haben überwiegend dazu gedient, bestehende Th eorien zu bestäti-gen. Weiterentwicklungen hat es kaum gegeben, und keine war so endgültig oder bedeutend wie die der vorangehenden zweihundert Jahre. In Sport oder Wirtschaft spricht man in solchen Fällen von einer Durststrecke.

Warum ist die Physik plötzlich in Schwierigkeiten? Und was können wir dagegen tun? Das sind die zentralen Fragen meines Buches.

Von Natur aus bin ich ein Optimist, daher habe ich mich lange Zeit gegen den Schluss gewehrt, dass diese Periode der Physik – die Periode meiner eigenen Berufstätigkeit – ein ungewöhnlich uner-giebiger Zeitraum war. Für mich und viele meiner Freunde, die

Einleitung 13

sich für die Physik entschieden, weil sie hofft en, wichtige Beiträge in einer Disziplin beisteuern zu können, die damals ein äußerst dynamisches Forschungsfeld war, ergibt sich ein bestürzender Sachverhalt, mit dem wir uns abfi nden müssen: Im Gegensatz zu früheren Physikergenerationen haben wir nichts erreicht, von dem wir mit Gewissheit annehmen können, dass es uns überleben wird. Das hat viele persönliche Krisen ausgelöst. Doch wichtiger noch, es hat eine Krise in der Physik hervorgerufen.

In den letzten drei Jahrzehnten war die größte Aufgabe für die theoretische Teilchenphysik die detaillierte Erklärung des Stan-dardmodells. Auf diesem Feld herrschte rege Tätigkeit. Neue Th eo-rien wurden aufgestellt und weiterentwickelt, einige sehr eingehend, aber keine konnte experimentell bestätigt werden. Und das ist die Krux des Problems: In den Naturwissenschaft en wird eine Th eorie nur dann akzeptiert, wenn sie eine neue – sich von den bisheri-gen Vorhersagen unterscheidende – Vorhersage für ein noch nicht durchgeführtes Experiment macht. Sinnvoll ist das Experiment nur, wenn wir in der Lage sind, eine Antwort zu bekommen, die zu dieser Vorhersage im Widerspruch steht. Wenn das der Fall ist, sagen wir, eine Th eorie ist falsifi zierbar – widerlegbar. Die Th eorie muss aber auch bestätigbar sein, das heißt, es muss möglich sein, eine neue Vorhersage zu erhärten, die nur diese Th eorie macht. Nur wenn eine Th eorie überprüft worden ist und die Ergebnisse mit der Th eorie übereinstimmen, erheben wir sie in den Rang der gültigen Th eorien.

Die gegenwärtige Krise in der Teilchenphysik erwächst daraus, dass die Th eorien, die in den letzten dreißig Jahren über das Stan-dardmodell hinausgegangen sind, in zwei Kategorien fallen. Die einen waren falsifi zierbar und sind falsifi ziert worden. Die anderen sind nicht überprüft worden – entweder weil sie keine sauberen Vorhersagen machen oder weil die Vorhersagen beim heutigen Stand der Technik nicht überprüfb ar sind.

Im Laufe der letzten dreißig Jahre haben die Th eoretiker min-destens ein Dutzend neue Ansätze vorgeschlagen. Jeder Ansatz geht aus einer überzeugenden Hypothese hervor, doch bislang hat noch keiner Erfolg gehabt. Auf dem Gebiet der Teilchenphysik gehören

Einleitung14

dazu: Technicolor, Preonen-Modelle und Supersymmetrie. Auf dem Gebiet der Raumzeit: Twistortheorie, Kausalmengen, Super-gravitation, dynamische Triangulationen und Schleifenquantent-gravitation. Einige dieser Ideen sind so exotisch, wie sie klingen.

Eine Th eorie hat mehr Aufmerksamkeit erregt als alle anderen zusammen: die Stringtheorie. Der Grund für ihre Popularität ist nicht schwer einzusehen. Sie nimmt für sich in Anspruch, die Welt der großen Dinge und die Welt der kleinen Dinge zu beschrei-ben – Gravitation und Elementarteilchen; zu diesem Zweck stellt sie die kühnsten Hypothesen aller Th eorien auf: Sie behauptet, die Welt enthalte bis jetzt noch nie beobachtete Dimensionen und viel mehr Teilchen, als bislang bekannt. Gleichzeitig äußert sie die Ver-mutung, dass alle Elementarteilchen aus den Schwingungen einer einzigen Einheit – des Strings – erwüchsen, die einfachen und schö-nen Gesetzen gehorche. Sie behauptet von sich, die einzige Th eorie zu sein, die alle Teilchen und alle Kräft e der Natur vereinheitliche. In dieser Eigenschaft verspricht sie, saubere und eindeutige Vor-hersagen für jedes Experiment zu machen, das jemals durchgeführt wurde und noch durchgeführt werden wird. In den letzten zwanzig Jahren sind viel Energie und viel Zeit in die Stringtheorie investiert worden, aber wir wissen noch immer nicht, ob sie wahr ist. Selbst nach so viel Arbeit macht die Th eorie keine neuen Vorhersagen, die von heutigen – oder auch nur heute vorstellbaren – Experimenten zu überprüfen wären.

Die wenigen sauberen Vorhersagen, die sie macht, sind schon aus anderen, längst akzeptierten Th eorien hergeleitet worden. Zum Teil scheint die Stringtheorie deshalb keine neuen Vorher-sagen zu machen, weil sie eine unendliche Zahl von Spielarten aufweist. Selbst wenn wir uns auf Vorhersagen beschränken, die sich mit einigen grundlegenden Beobachtungen unseres Univer-sums decken, etwa seiner ungeheuren Größe und der Existenz dunkler Energie, sehen wir uns noch immer 10500 verschiedenen Stringtheorien gegenüber – eine 1 mit 500 Nullen, mehr als alle Atome im bekannten Universum. Angesichts einer so ungheuren Zahl von Th eorien ist die Wahrscheinlichkeit gering, irgendein Versuchsergebnis zu fi nden, das nicht von einer dieser Th eorien

Einleitung 15

vorhergesagt wird. Also, egal, was die Experimente zutage fördern, die Stringtheorie lässt sich nicht widerlegen. Daher gilt aber auch der umgekehrte Schluss: Kein Experiment wird jemals in der Lage sein, sie zu bestätigen.

Gleichzeitig verstehen wir von den meisten Stringtheorien nur sehr wenig. Und bei der kleinen Zahl der Stringtheorien, bei denen wir alle Einzelheiten verstehen, steht jede im Widerspruch zu den heutigen Experimentaldaten, gewöhnlich mindestens in zweierlei Hinsicht.

Daher sehen wir uns einem Paradox gegenüber. Die Stringtheo-rien, die wir untersuchen können, haben sich als falsch erwiesen. Diejenigen, die wir nicht untersuchen können, sind vermutlich so zahlreich, dass kein vorstellbares Experiment sie jemals alle falsi-fi zieren könnte.

Das sind nicht die einzigen Probleme. Die Stringtheorie stützt sich auf einige zentrale Vermutungen, für die es manchen Hinweis, aber keinen Beweis gibt. Schlimmer noch, trotz aller wissenschaft -licher Mühen, die in ihre Untersuchung investiert wurden, wis-sen wir noch immer nicht, ob es überhaupt eine vollständige und schlüssige Th eorie gibt, die den Namen »Stringtheorie« verdient. Was wir tatsächlich haben, ist überhaupt keine Th eorie, sondern eine große Ansammlung von Näherungsrechnungen sowie ein Netz von Annahmen, die, wenn sie wahr sind, auf die Existenz einer Th eorie hindeuten. Doch diese Th eorie ist niemals wirklich niedergeschrieben worden. Wir wissen nicht, was ihre Grundprin-zipien sind. Wir wissen nicht, in welcher mathematischen Sprache sie auszudrücken wäre – vielleicht müsste sogar eine neue erfun-den werden, um diese Th eorie zu beschreiben. Da es sowohl an den Grundprinzipien wie an der mathematischen Formulierung fehlt, können wir noch nicht einmal wissen, was die Stringtheorie eigenlich behauptet.

In seinem letzten Buch – Der Stoff aus dem der Kosmos ist – beschreibt der Stringtheoretiker Brian Greene das Dilemma wie folgt: »Selbst heute, mehr als drei Jahrzehnte nach ihrer ersten For-mulierung, sind die meisten String-Forscher der Meinung, dass wir noch immer keine umfassende Antwort auf die grundlegende

Einleitung16

Frage haben: Was ist die Stringtheorie? … [D]ie meisten Forscher [sind] der Meinung, dass unserer gegenwärtigen Formulierung der Stringtheorie noch immer jenes Kernprinzip fehlt, das wir im Zen-trum der meisten anderen großen Th eorien antreff en.«2

Gerard ’t Hooft , der einen Nobelpreis für seine Arbeit auf dem Gebiet der Teilchenphysik erhielt, hat den Zustand der Stringthe-orie wie folgt charakterisiert: »Gegenwärtig wäre ich noch nicht einmal bereit, die Stringtheorie eine ›Th eorie‹ zu nennen, eher ein ›Modell‹ oder noch nicht einmal das: lediglich eine Ahnung. Schließlich sollte eine Th eorie nicht mit Anweisungen daherkom-men, wie man sie zu handhaben hat, um die Dinge zu erkennen, die man beschreiben möchte, in unserem Falle die Elementarteilchen, und man sollte, zumindest im Prinzip, in der Lage sein, die Regeln zu formulieren, die erforderlich sind, um die Eigenschaft en dieser Teilchen zu berechnen und um neue, sie betreff ende Vorhersagen zu machen. Stellen Sie sich vor, ich gebe Ihnen einen Stuhl und erkläre Ihnen gleichzeitig, dass die Beine noch fehlen und dass der Sitz, die Rücken- und die Armlehnen vielleicht schon bald geliefert werden. Egal, was ich Ihnen da gegeben habe, darf ich es noch einen Stuhl nennen?«3

David Gross, der einen Nobelpreis für seine Arbeit über das Standardmodell bekam, hat sich im Laufe der Zeit zu einem der engagiertesten und lautstärksten Fürsprecher der Stringtheorie entwickelt. Trotzdem sagte er unlängst am Ende einer Konferenz, in der die Fortschritte der Th eorie gefeiert werden sollten: »Wir wissen nicht, worüber wir sprechen … Die Physiker befi nden sich heute in der gleichen Situation wie damals, als die Radioaktivität ihnen Rätsel aufgab … Ihnen fehlte etwas absolut Fundamentales. Uns fehlt heute vielleicht etwas ebenso Grundsätzliches.«4

Doch obwohl die Stringtheorie so unvollständig ist, dass ihre gesamte Existenz eine unbewiesene Vermutung ist, halten viele Forscher eisern an ihrer Überzeugung fest, dass man auf diesem Feld arbeiten müsse, weil nur hier Fortschritte in der theoretischen Physik möglich seien. Joseph Polchinski, ein namhaft er Stringtheo-retiker am Kavli Institute for Th eoretical Physics der University of California in Santa Barbara, wurde unlängst gebeten, einen Vor-

Einleitung 17

trag mit dem Titel »Alternatives to String Th eory« zu halten. Wie er bekannte, war sein erster Gedanke: »Wie töricht, es gibt keine Alternativen … Alle guten Ideen sind Teil der Stringtheorie.«5 Und Lubos Motl, ein Harvard-Dozent, hat in seinem Blog behauptet: »Der wahrscheinlichste Grund dafür, dass es noch niemand gelun-gen ist, andere von [einer] Alternative zur Stringtheorie zu über-zeugen, liegt wahrscheinlich darin, dass es keine Alternative zur Stringtheorie gibt.«6

Was geht da vor? Gewöhnlich bezeichnet man in der Naturwis-senschaft etwas vollkommen Eindeutiges mit dem Begriff Th eorie. Lisa Randall, eine einfl ussreiche Teilchentheoretikerin und eine Kollegin von Motl an der Harvard University, defi niert eine Th eorie folgendermaßen: »Ein eindeutiger physikalischer Bezugsrahmen, der in einer Reihe von Grundannahmen über die Welt niederge-legt ist – und ein ökonomischer Bezugsrahmen, der eine große Vielfalt von Phänomenen umfasst. Eine Th eorie liefert eine Reihe bestimmter Gleichungen und Vorhersagen – und zwar solche, die durch Übereinstimmung mit den Versuchsergebnissen bestätigt werden.«7

Einer solche Beschreibung wird die Stringtheorie nicht gerecht – jedenfalls noch nicht. Wie können diese Fachleute sicher sein, dass es keine Alternative zur Stringtheorie gibt, wo sie doch noch nicht einmal genau wissen, was diese ist? Was macht sie sicher, keine Alternative zu haben? Das sind einige der Fragen, die mich bewo-gen, dieses Buch zu schreiben.

Die theoretische Physik ist schwierig. Sehr schwierig. Nicht weil einiges an Mathematik verlangt wird, sondern weil sie große Risiken birgt. Wie wir immer wieder sehen werden, wenn wir die Geschichte der zeitgenössischen Physik Revue passieren lassen, lässt sich wissenschaft liche Forschung dieser Art nicht ohne Risi-ken betreiben. Wenn eine große Zahl von Menschen seit vielen Jah-ren an einer Frage arbeitet und niemand die Antwort fi ndet, kann es bedeuten, dass die Antwort nicht leicht oder off enkundig ist. Es kann aber auch eine Frage sein, auf die es keine Antwort gibt.

Soweit die Stringtheorie verstanden wird, postuliert sie, dass die Welt sich fundamental von der Welt, wie wir sie kennen, unter-

Einleitung18

scheidet. Wenn die Stringtheorie recht hat, besitzt die Welt mehr Dimensionen und weit mehr Teilchen und Kräft e, als wir bislang beobachtet haben. Viele Stringtheoretiker reden und schreiben, als wäre die Existenz dieser zusätzlichen Dimensionen und Teilchen eine erwiesene Tatsache, an der kein vernünft iger Wissenschaft ler zweifeln könnte. Mehr als einmal habe ich von Stringtheoretikern Äußerungen gehört wie: »Ja, halten Sie es denn für möglich, dass es keine Extradimensionen gibt?« Tatsächlich liefern weder Th eorie noch Experiment irgendwelche Anhaltspunkte dafür, dass es alle diese zusätzlichen Dimensionen gibt. Ein Ziel dieses Buches besteht darin, die Behauptungen der Stringtheorie zu entmystifi zieren. Die Ideen sind schön und durchaus berechtigt. Aber um zu verstehen, warum sie nicht zu größeren Fortschritten geführt haben, müssen wir mit aller Deutlichkeit zeigen, welche Belege es für die Th eorie gibt und welche noch fehlen.

Da die Stringtheorie ein so großes Wagnis ist – kaum von Expe-rimenten gestützt, wenn auch sehr großzügig von akademischen und wissenschaft lichen Gemeinschaft en gefördert –, kann die Geschichte nur auf zweierlei Arten enden. Wenn sich die String-theorie als richtig erweist, werden die Stringtheoretiker als die größten Helden aller Zeiten in die Wissenschaft sgeschichte einge-hen. Dann dürfen sie von sich behaupten, auf der Grundlage von einigen spärlichen Hinweisen – von denen sich keiner eindeutig interpretieren lässt – entdeckt zu haben, dass die Wirklichkeit sehr viel umfassender ist, als wir uns haben träumen lassen. Columbus entdeckte einen neuen Kontinent, von dem das spanische Königs-paar nichts wusste (so wenig wie die Bewohner der Neuen Welt etwas von den spanischen Monarchen wussten). Galilei entdeckte neue Sterne und Monde, und spätere Astronomen entdeckten neue Planeten. All das würde vor der Entdeckung neuer Dimensionen verblassen. Mehr noch, viele Stringtheoretiker glauben, dass die unzähligen Welten, die durch die riesige Zahl von Stringtheorien beschrieben werden, tatsächlich existieren – als andere Universen, die wir nicht direkt wahrnehmen können. Wenn sie recht haben, sehen wir weit weniger von der Realität als irgendeine Gruppe von Höhlenbewohnern jemals von der Erde sah. Niemand in der

Einleitung 19

menschlichen Geschichte hat jemals eine so enorme Expansion der bekannten Welt vorausgesagt.

Wenn die Stringtheoretiker aber unrecht haben sollten, können sie nicht nur ein bisschen unrecht haben. Falls es die neuen Dimen-sionen und Symmetrien nicht gibt, müssen wir die Stringtheoreti-ker zu den größten Versagern in der Wissenschaft sgeschichte rech-nen, wie die Naturforscher, die weiterhin mit den ptolemäischen Epizyklen arbeiteten, als Kepler und Galilei sie schon längst hinter sich gelassen hatten. Sie werden als warnendes Beispiel dienen, das zeigt, wie wissenschaft liche Forschung auf keinen Fall betrieben werden sollte; dass, wer mit seinen theoretischen Vermutungen zu weit über die Grenze des vernünft ig Begründbaren hinausgeht, Gefahr läuft , Phantasiegebilden nachzujagen.

Unter anderem hat der Aufstieg der Stringtheorie dazu geführt, dass die Gemeinschaft der Wissenschaft ler, die physikalische Grundlagenforschung betreiben, gespalten ist. Viele Wissenschaft -ler arbeiten auch weiterhin über die Stringtheorie, und Jahr für Jahr dürft en gut und gern fünfzig Doktortitel für Arbeiten auf diesem Gebiet verliehen werden. Doch es gibt einige Physiker, die dieser Entwicklung sehr skeptisch gegenüberstehen – die entweder nie überzeugt waren oder die es mittlerweile aufgegeben haben, auf einen Hinweis zu warten, dass die Th eorie widerspruchsfrei for-muliert wird oder eine reale experimentelle Vorhersage macht. Die Spaltung hat nicht durchgehend freundlichen Charakter. Auf bei-den Seiten werden die berufl ichen Fähigkeiten und ethischen Nor-men der jeweils anderen Seite in Zweifel gezogen; es ist ein hartes Stück Arbeit, Freundschaft en über den Graben hinweg zu pfl egen.

Nach dem Bild, das man uns in der Schule von naturwissen-schaft licher Tätigkeit vermittelt hat, dürft en sich solche Situatio-nen eigentlich gar nicht ergeben. Die gesamte moderne Naturwis-senschaft , so hat man uns gelehrt, beruhe entscheidend auf einer Methode, die unser Verständnis der Natur fortwährend erweitere. Meinungsverschiedenheit und Kontroversen seien natürlich not-wendig für den wissenschaft lichen Fortschritt, doch es gebe die Möglichkeit, einen solchen Disput mit Hilfe des Experiments oder der Mathematik zu lösen. Im Falle der Stringtheorie scheint dieser

Einleitung20

Mechanismus jedoch zu versagen. Viele Anhänger und Kritiker der Stringtheorie sind so von ihren Auff assungen überzeugt, dass ein gelassenes Gespräch über diese Frage selbst unter Freunden kaum möglich ist. »Wie könnt ihr die Schönheit dieser Th eorie nicht sehen? Wie kann eine Th eorie all dies leisten und nicht wahr sein?« sagen die Stringtheoretiker. Das ruft eine ebenso leidenschaft liche Erwiderung bei den Skeptikern hervor: »Habt ihr den Verstand ver-loren? Wie könnt ihr so fest an irgendeine Th eorie glauben, wenn es überhaupt keine experimentelle Überprüfung gibt? Habt ihr denn das ABC wissenschaft licher Arbeit vergessen? Wie könnt ihr so sicher sein, recht zu haben, wenn ihr noch nicht einmal wisst, was es mit der Th eorie auf sich hat?«

Ich habe dieses Buch in der Hoff nung geschrieben, dass es zu einer ehrlichen und nützlichen Diskussion unter Fachleuten und Laien beitragen wird. Trotz allem, was ich in den letzten Jahren erlebt habe, glaube ich an die Naturwissenschaft . Ich glaube an die Fähigkeit der wissenschaft lichen Gemeinschaft , alle Bitterkeit zu überwinden und die Kontroverse durch rationale Argumente zu beenden, die sich auf die allen zugänglichen Daten stützt. Mir ist klar, dass ich einige meiner Freunde und Kollegen, die über die Stringtheorie arbeiten, allein durch die Tatsache verärgern werde, dass ich diese Fragen aufwerfe. Ich kann nur noch einmal beto-nen, dass ich dieses Buch nicht schreibe, um die Stringtheorie oder jene Menschen anzugreifen, die an sie glauben, sondern weil ich sie bewundere, vor allem aber, weil mein Vertrauen in die wissen-schaft liche Gemeinschaft der Physik unerschütterlich ist.

Daher geht es in diesem Buch nicht um den Gegensatz zwi-schen »uns« und »denen«. Im Laufe meiner Berufstätigkeit habe ich sowohl über die Stringtheorie als auch über andere Ansätze der Quantengravitation (der Vereinheitlichung von Einsteins allgemei-ner Relativitätstheorie mit der Quantentheorie) gearbeitet. Auch wenn mein Interesse hauptsächlich diesen anderen Ansätzen galt, hat es doch Zeiten gegeben, zu denen ich vorbehaltlos an die String-theorie glaubte und mich der Aufgabe verschrieb, ihre Kardinal-probleme zu lösen. Zwar habe ich sie nicht gelöst, aber immerhin achtzehn Artikel über das Th ema geschrieben; folglich sind die

Einleitung 21

Fehler, die ich hier erörtern werde, ebenso meine Fehler wie die irgendeines anderen Forschers. Ich werde von Vermutungen spre-chen, die generell als wahr gelten, obwohl sie niemals bewiesen wurden. Doch ich gehöre zur Schar der Gläubigen, und ich habe im Zuge meiner Forschungsarbeit Entscheidungen getroff en, die sich auf diese Überzeugungen gründeten. Ich werde von den Zwängen sprechen, denen junge Wissenschaft ler ausgesetzt sind und die sie veranlassen, sich mit Mainstream-Th emen zu befassen, wenn sie ihre Berufsaussichten nicht entscheidend schmälern wollen. Ich war selbst solchen Zwängen ausgesetzt, und es gab Zeiten, da habe ich mich in meinen berufl ichen und wissenschaft lichen Entschei-dungen nach ihnen gerichtet. Auch den Konfl ikt zwischen der Ver-pfl ichtung, wissenschaft liche Urteile unabhängig zu fällen, und der Notwendigkeit, dafür zu sorgen, dass solche Entscheidungen uns dem Mainstream nicht zu sehr entfremden, habe ich am eigenen Leibe gespürt. Ich schreibe dieses Buch nicht, um Wissenschaft ler zu kritisieren, die sich anders entschieden haben als ich, sondern um zu untersuchen, warum Wissenschaft ler überhaupt vor solche Entscheidungen gestellt werden.

Tatsächlich kämpft e ich lange mit dem Entschluss, dieses Buch schreiben. Mir persönlich sind Konfl ikte und Konfrontation sehr unangenehm. Schließlich stellt auf dem Gebiet, auf dem wir arbei-ten, alles, was der Mühe wert ist, ein Risiko dar, sodass eigentlich nur zählt, was unsere Studenten in 50 Jahren der Mühe für wert halten werden, den eigenen Studenten zu vermitteln. Ich hatte immer gehofft , ein maßgeblicher Stringforscher werde eines Tages eine objektive und eingehende Kritik dessen schreiben, was von der Th eorie erreicht und nicht erreicht worden ist. Das ist nicht geschehen.

Einer der Gründe, diese Probleme öff entlich zu diskutieren, geht auf die Debatte zurück, die sich vor einigen Jahren zwischen Naturwissenschaft lern und »Sozialkonstruktivisten«, einer Gruppe von Geisteswissenschaft lern und Sozialwissenschaft lern, über die Frage entspann, wie Wissenschaft zu betreiben sei. Die Sozialkon-struktivisten behaupteten, die wissenschaft liche Gemeinschaft sei nicht rationaler oder objektiver als irgendeine andere Gemeinschaft

Einleitung22

von Menschen. Das sehen die meisten Naturwissenschaft ler anders. Wir sagen unseren Studenten, der Glaube an eine wissenschaft -liche Th eorie müsse sich immer auf eine objektive Bewertung der Evidenz stützen. Unsere Gegner in dieser Debatte vertraten die Ansicht, bei unseren Behauptungen hinsichtlich der wissenschaft -lichen Methode handele es sich in erster Linie um ein Mittel, die Gesellschaft dazu zu bewegen, uns Macht zu geben; der ganze Wis-senschaft sbetrieb werde von den gleichen politischen und soziolo-gischen Kräft en in Gang gehalten, von denen die Menschen auch in anderen Lebensbereichen bewegt würden.

Eines der Hauptargumente, das wir Wissenschaft ler in dieser Debatte vorbrachten, besagte, unsere Gemeinschaft unterscheide sich dadurch von anderen, dass wir uns selbst hohen Maßstäben unterwürfen – Maßstäben, die uns daran hinderten, irgendeine Th eorie zu übernehmen, bevor sie bewiesen sei, und zwar durch veröff entlichte Berechnungen und Messdaten, die allen Zweifeln ausgewiesener Fachleute standgehalten hätten. Wie ich ausführlich darlegen werde, ist das in der Stringtheorie nicht immer der Fall. Obwohl es an empirischen Daten und exakten Formulierungen fehlt, hängen einige Fürsprecher dieser Th eorie mit einer Überzeu-gung an, die eher emotional als rational wirkt.

Die aggressive Förderung der Stringtheorie hat dazu geführt, dass sie zum bevorzugten Forschungsfeld geworden ist, das die Antworten auf die großen Fragen der Physik liefern soll. Fast jeder Teilchentheoretiker mit einer dauerhaft en Stellung am pres-tigeträchtigen Institute for Advanced Study, einschließlich seines Direktors, ist Stringtheoretiker; die einzige Ausnahme ist jemand, der vor Jahrzehnten eingestellt wurde. Gleiches gilt für viele ange-sehene Universitäten, Institute und Stipendien. Die Stringtheorie nimmt heute eine so beherrschende Stellung in der akademischen Welt ein, dass es praktisch berufl ichem Selbstmord gleichkommt, wenn sich ein junger theoretischer Physiker für ein anderes For-schungsfeld entscheidet. Selbst auf Gebieten wie der Kosmologie und Teilchenphänomenologie, zu denen die Stringtheorie keine Vorhersagen macht, gehört es zum guten Ton, dass Forscher am Anfang ihrer Referate und Aufsätze ihre Überzeugung bekunden,

Einleitung 23