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Leibniz’ binäres Zahlensystem als Grundlage der Computertechnologie Herbert Breger Seit Konrad Zuse (1936/1941) und John von Neumann (1945) sind elek- tronische Rechenmaschinen eng mit dem binären Zahlensystem verbun- den. Dieses System, in dem zunächst alle Zahlen und dann überhaupt jede Information lediglich mit den Zei- chen 0 und 1 geschrieben werden (so daß sieben beispielsweise durch 111 bezeichnet wird), hat den Vor- teil der logischen Übersichtlichkeit: Den Zeichen 0 und 1 entsprechen wahr und falsch. Es hat aber auch den Vorteil leichterer technischer Reali- sierung. Viele elektronische Bauele- mente haben zwei stabile Zustände; sie lassen sich leicht durch einen elek- trischen Impuls in den jeweils ande- Herbert Breger, apl. Professor für Philo- sophie und Geschichte der Naturwissen- schaften an der Gottfried-Wilhelm-Leib- niz-Bibliothek Hannover, Arbeitsstellen- leiter des Leibniz-Archivs Hannover ren Zustand überführen. Aber auch Multiplikationen und Divisionen sind im Binärsystem besonders einfach zu realisieren. Statt die zehn Ziffern des Dezimalsystems durch Spannungen von 0, 1, 2, ... 9 Volt zu unterscheiden, ist es technisch einfacher und zuverlässiger, nur zwischen den Zuständen „Spannung“ und „keine Spannung“ zu unterscheiden. Die Erfindung des binären Zahlensystems hat Gottfried Wilhelm Leib- niz (1646–1716) für sich beansprucht. Freilich gibt es einige Mathematiker des 17. Jahrhunderts, die schon vor Leibniz mit binären Zahlen experimen- tierten. Die Aufzeichnungen vonThomas Harriot (1560–1621) blieben un- veröffentlicht. Die erste Publikation zum binären System stammt 1670 von Caramuel y Lobkowitz. Aber Leibniz hat auch diese Schrift wahrscheinlich nicht gekannt. Pascal und Caramuel y Lobkowitz haben ein Zwölfersystem untersucht, und Erhard Weigel hat 1673 ein Vierersystem propagiert. Für das Zwölfersystem sprach, daß die Zwölf viele Teiler hat (ein Vorteil bei

Leibnitz Zahlensystem

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Leibnitz Zahlensystem:Wilhelm Gottfired Leibnitz war ein Vorreiter des Digitalen Zahlensystems

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Leibniz’ binäres Zahlensystem als Grundlageder Computertechnologie

Herbert Breger

Seit Konrad Zuse (1936/1941) undJohn von Neumann (1945) sind elek-tronische Rechenmaschinen eng mitdem binären Zahlensystem verbun-den. Dieses System, in dem zunächstalle Zahlen und dann überhaupt jedeInformation lediglich mit den Zei-chen 0 und 1 geschrieben werden(so daß sieben beispielsweise durch111 bezeichnet wird), hat den Vor-teil der logischen Übersichtlichkeit:Den Zeichen 0 und 1 entsprechenwahr und falsch. Es hat aber auch denVorteil leichterer technischer Reali-sierung. Viele elektronische Bauele-mente haben zwei stabile Zustände;sie lassen sich leicht durch einen elek-trischen Impuls in den jeweils ande-

Herbert Breger, apl. Professor für Philo-sophie und Geschichte der Naturwissen-schaften an der Gottfried-Wilhelm-Leib-niz-Bibliothek Hannover, Arbeitsstellen-leiter des Leibniz-Archivs Hannover

ren Zustand überführen. Aber auch Multiplikationen und Divisionen sindim Binärsystem besonders einfach zu realisieren. Statt die zehn Ziffern desDezimalsystems durch Spannungen von 0, 1, 2, . . .9 Volt zu unterscheiden,ist es technisch einfacher und zuverlässiger, nur zwischen den Zuständen„Spannung“ und „keine Spannung“ zu unterscheiden.

Die Erfindung des binären Zahlensystems hat Gottfried Wilhelm Leib-niz (1646–1716) für sich beansprucht. Freilich gibt es einige Mathematikerdes 17. Jahrhunderts, die schon vor Leibniz mit binären Zahlen experimen-tierten. Die Aufzeichnungen vonThomas Harriot (1560–1621) blieben un-veröffentlicht. Die erste Publikation zum binären System stammt 1670 vonCaramuel y Lobkowitz. Aber Leibniz hat auch diese Schrift wahrscheinlichnicht gekannt. Pascal und Caramuel y Lobkowitz haben ein Zwölfersystemuntersucht, und Erhard Weigel hat 1673 ein Vierersystem propagiert. Fürdas Zwölfersystem sprach, daß die Zwölf viele Teiler hat (ein Vorteil bei

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Abbildung 1: Gottfried Wilhelm Leibniz (mit freundlicher Genehmigung der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Bibliothek, Hannover)

der Anwendung auf Münzen und Gewichte), während das Vierersystemmit der Heiligkeit der Zahl Vier bei den Pythagoräern begründet wurde.Zumindest vom Zwölfersystem hat der junge Leibniz aus zweiter Handgehört. Trotz solcher Vorläufer ist Leibniz’ Stellung in der Geschichte desBinärsystems sowohl wegen des Umfangs und der Tiefe als auch wegen deröffentlichen Wirkung seiner Untersuchungen so überragend, daß beispiels-weise in einem englischsprachigen Standardwerk die ersten drei Kapitel„Before Leibniz“, „Leibniz“ und „The Rest of the 1700s“ betitelt sind.

Ob Leibniz aus Erwägungen über das Zwölfersystem und andere Zahl-systeme zum Binärsystem gelangt ist und wann genau das geschehen ist,ist schwer zu sagen. Aus Leibniz’ Nachlaß, der mit ca. 200.000 Blatt einender größten Gelehrtennachlässe überhaupt darstellt, ist bisher nur ein Teilder Aufzeichnungen zu anderen Zahlensystemen veröffentlicht worden;insbesondere sind die mathematischen Aufzeichnungen aus der Frühzeitvon Leibniz erst zum Teil in der Akademieausgabe von Leibniz’ Sämtli-chen Schriften und Briefen gedruckt. Die Bearbeitung dieser Texte ist fürdie Reihe VII (= Mathematische Schriften) der Leibniz-Ausgabe vorgese-hen; diese Reihe wird ebenso wie vier andere Reihen von der GöttingerAkademie der Wissenschaften herausgegeben, während zwei weitere Rei-hen von der Berlin-Brandenburgischen Akademie betreutwerden. Kürzlichsind die Aufzeichnungen von Leibniz zur Entstehung seiner Infinitesimal-rechnung im Druck erschienen. Die Aufzeichnungen sind in der Regelnur durch Wasserzeichen (soweit vollständig oder teilweise vorhanden)

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oder/und durch Besonderheiten der mathematischen Notation zu datieren;Bezüge zur gleichzeitigen Korrespondenz von Leibniz gibt es kaum; Mit-teilungen aus der späteren Korrespondenz („vor mehr als zwei Jahrzehntenhabe ich [. . .]“) sind eher Anhaltspunkte im allgemeinen als präzise Datie-rungsgründe im Einzelfall.

Falls Leibniz zunächst vom Zwölfersystem ausgegangen war, so hat erdoch den Schritt zum binären System recht rasch vollzogen. Der Gedankeder Zerlegung in einfache Bestandteile und das Bemühen, mit kleinstembegrifflichen Aufwand eine gewünschte Wirkung zu erzielen, spielten in sei-nem Denken immer wieder eine wichtige Rolle. Es ging ihm von vornhereinnicht um die praktische Anwendung im Alltagsleben, sondern um die theo-retischen Aufschlüsse, die die Analyse des Komplizierten liefert, und da lagdas Binärsystem eben besonders nahe. Bereits 1677 befaßte sich Leibniz mitBrüchen im Binärsystem. Durch nähere Untersuchungen der Perioden vonDezimalbrüchen und Binärbrüchen gelangte er 1680 zum „kleinen Satzvon Fermat“, der von grundlegender Bedeutung in der Zahlentheorie ist.Auch wenn Leibniz später feststellen mußte, daß Fermat diesen Satz bereitsformuliert hatte, bleibt sein Beweis doch der erste bekannte Beweis diesesSatzes. Ohne Erfolg blieben jedoch seine darauf aufbauenden Überlegun-gen, weitere mathematische Sätze zu beweisen (allgemeines Kriterium fürPrimzahlen, Beweis der Irrationalität der Kreiszahl π).

1697 erläuterte Leibniz in einem Neujahrsbrief dem Herzog Anton Ul-rich von Wolfenbütteldas binäre Zahlensystem; der Brief ist im dreizehntenBand der ersten Reihe der Akademieausgabe gedruckt. Der Brief knüpftstark an traditionelles philosophisches Gedankengut an: Die 1 bezeichnetdie Einheit oder das Eine, die 0 (nullum) bezeichnet das Nichts oder denMangel an Existenz. Wenn nach pythagoräischer Lehre alles Zahl ist undwenn auch Aristoteles die These diskutiert, daß die Wesen der Dinge Zah-len sind, dann kann das binäre Zahlensystem, in dem alle Zahlen aus 0 und1 aufgebaut werden, als ein Sinnbild der göttlichen Schöpfung verstandenwerden: Gott oder die absolute Einheit erzeugt alles aus dem Nichts. Leib-niz empfahl dem Fürsten die Prägung einer Gedenkmünze, auf der dieserZusammenhang dargestellt werden sollte.

Wenige Jahre später wurde Leibniz zum Mitglied der Académie desSciences in Paris ernannt, und er wählte das binäre Zahlensystem als The-ma für seine erste Veröffentlichung im Publikationsorgan der Akademie. Erstellte klar, daß das Binärsystem nicht für den Gebrauch im Alltag, sondernfür wissenschaftliche Zwecke geeignet sei, da Strukturen leichter erkennbarseien. Als Beispiel verwies er auf die Regelmäßigkeiten, die sich in Zah-lenfolgen finden lassen. In der beigefügten Tabelle sind die Quadratzahlen

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im Zehnersystem und im Binärsystem notiert. In der letzten Spalte weisendie Quadratzahlen im Binärsystem stets die Abfolge 0 1 0 1 0 1 usw. auf.In der vorletzten Spalte findet sich stets eine 0. In der drittletzten Spalte

besteht die Periode aus 0 0 1 0. In der viertletz-ten Spalte ist 0 0 0 1 0 1 0 0 die Periode. Jeweiter nach links man geht, desto länger werdendie Perioden, aber es findet sich stets eine pe-riodische Wiederkehr der gleichen Ziffernfolge.Leibniz teilte weiter mit, daß die Folge der Ku-bikzahlen, der natürlichen Zahlen, der durch dreiteilbaren, der durch fünf teilbaren, der durch sie-ben teilbaren Zahlen ebenfalls Spaltenperiodenaufweisen (nicht jedoch die Folge der Primzah-len). Natürlich gibt es solche Perioden auch imZehnersystem; sie sind aber komplizierter unddaher schwerer zu entdecken.

Leibniz verstand seine Darlegungen nur alsAppetithappen, der zeigen sollte, daß die Verwen-dung des Binärsystems in zahlentheoretischenUntersuchungen von Nutzen sein könnte. Es istbemerkenswert, daß die Pariser Akademie keinwirkliches Interesse zeigte. So legte Leibniz zweiJahre später eine neue Fassung seines Aufsatzesvor, die dann auch von der Akademie gedruckt

wurde. Der Unterschied zwischen beiden Fassungen besteht keineswegsin der mathematischen Substanz, sondern in einem Schuß Exotik. Ein inPeking lebender jesuitischer Missionar hatte Leibniz brieflich auf das ver-mutlich aus dem 8. vorchristlichen Jahrhundert stammende chinesischeOrakel I Ging hingewiesen. Im I Ging werden 64 Hexagramme von durch-gezogenen und gebrochenen Linien mit einer Bedeutung versehen, so daßman durch Ziehen eines geeigneten Loses einen Orakelspruch für die ei-gene augenblickliche Situation erhält. Zwischen den durchgezogenen undden gebrochenen Linien einerseits und den binären Zahlen von 0 bis 63andererseits besteht offenbar eine rein formale Analogie, die Leibniz’ Kor-respondent zum Anlaß für die Behauptung nahm, das ihm von Leibnizmitgeteilte binäre System sei den alten Chinesen bekannt gewesen undsei nun in China in Vergessenheit geraten. Mit dieser Interpretation wirdLeibniz’ Aufsatz zum wissenschaftlichen Vorläufer der im 18. Jahrhundertverbreiteten Mode der Chinoiserien. Vor allem aber ist es dieser Aufsatz indem einflußreichen Jahrbuch der Pariser Akademie, der dem Binärsystem in

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Abbildung 2: Die 64 Hexagramme des I Ging mit Notizen von Leibniz’ Hand (mitfreundlicher Genehmigung der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Bibliothek, Hannover)

den nächsten ein oder zwei Jahrhunderten immer wieder Aufmerksamkeitund Beachtung verschafft.

Erst aus dem unveröffentlichten Nachlaß wissen wir, daß auch der ers-te Entwurf einer mit dem Binärsystem arbeitenden Rechenmaschine aufLeibniz zurückgeht. Genauer gesagt, gibt es sogar zwei auf verschiedenenKonstruktionsprinzipien beruhende Entwürfe, die 1679 und vermutlich1680 entstanden sein dürften. Offenbar hatte Leibniz bereits erkannt, daßeine Reihe von Konstruktionsschwierigkeiten einer dekadischen Maschi-ne, insbesondere der komplizierte Zehnerübertrag, mit einer binären Ma-schine vermieden werden konnte. Im ersten Entwurf rollten Kugeln (vondenen jede eine 1 repräsentierte) Rinnen entlang. Wenn zwei Kugeln auf-einander trafen, fiel eine Kugel durch ein Loch nach unten und war damitaus dem Spiel, während die andere Kugel in die nächste Rinne überging(1 + 1 = 10). Die Multiplikation wurde als fortgesetzte Addition aus-geführt, während Subtraktion und Division eher umständlich waren. Imzweiten Entwurf sind Zahnräder statt Kugeln vorgesehen; außerdem gibtLeibniz einen mechanischen Zahlenwandler an, mit dessen Hilfe die sonst

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Abbildung 3: Aufzeichnung von Leibnizüber den Gebrauch des Binärsystems in der Zah-lentheorie (mit freundlicher Genehmigung der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Bibliothek,Hannover)

erforderliche Rechenarbeit beim Übergang zwischen Dezimal- und Binär-system erspart werden konnte. Beide Entwürfe blieben allerdings auf demPapier; der erste wurde 1971 von Ludolf von Mackensen und 2004 vonErwin Stein und Gerhard Weber nachgebaut.

Sowohl das binäre Zahlensystem als auch seine Rechenmaschine sowiebeide Entwürfe für Binärrechenmaschinen sind keineswegs isolierte Ge-danken von Leibniz; sie stehen vielmehr in engem Zusammenhang mitseinem großen Projekt einer characteristica universalis, einer allgemeinenZeichen- und Begriffsschrift. Sein hartnäckiges Bemühen um eine gute Be-zeichnungsweise hat Leibniz zum „master-builder of mathematical notati-ons“ (Cajori) gemacht. Bei der Entwicklung des Binärsystems war Leibnizzweifellos auch durch das Bestreben geleitet, die einfachste Bezeichnungs-weise zu wählen. Das Projekt einer characteristica universalis zielte auf ein

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Zeichensystem wie in der Mathematik für unser gesamtes Denken, jeden-falls soweit es sich nicht mit dem Individuellen, Einmaligen befaßt, wie esetwa in der Geschichtswissenschaft der Fall ist. Zwei streitende Philosophen,so führt Leibniz aus, verhalten sich wie zwei Kaufleute, die sich über diewechselseitigen Verbindlichkeiten nicht einigen können, weil jeder nur vonden Schulden des anderen spricht. Mit Hilfe einer characteristica universaliskönnten sich die Philosophen dann ebenso einigen wie die Kaufleute, diedie Verbindlichkeiten in Heller und Pfennig feststellen und dann addierenbzw. subtrahieren. Natürlich sind nicht alle Blütenträume dieses Projektsgereift, aber der Gedanke der Mathematisierung unseres Denkens hat inden Natur- und den Technikwissenschaften beträchtliche Erfolge erzielt.Auch wenn Leibniz nur die ersten Anfänge solcher Erfolge selber erlebte,hatte er schon weitergedacht: Der Mathematisierung des Denkens würdedie Mechanisierung des Denkens folgen können; Leibniz’ lebenslanges Be-mühen um eine Rechenmaschine steht in diesem philosophischen Kontext.

In der heute wieder abgeflauten philosophischen Debatte um die Künst-liche Intelligenz ist Leibniz 1985 von John Searle als Urheber der Annahmebezeichnet worden, daß jede geistige Leistung theoretische Ursachen ha-ben müsse, so daß ein entsprechendes Computerprogramm geschriebenwerden könne. Tatsächlich sah Leibniz keine prinzipiellen Schwierigkeitim Bau eines Schiffes, das von selbst den Hafen ansteuert, oder im Baueines Automaten, der durch die Stadt läuft und an bestimmten Straßen-ecken abbiegt. Aus seinem berühmten Mühlengleichnis in der Monadologiegeht jedoch hervor, daß er die „Subjektivität“ nicht nur eines Menschen,sondern überhaupt jedes Lebewesens für nicht künstlich herstellbar hielt.