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Die Leibniz-Dauerausstellung der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität im Sockelgeschoss des Hauptgebäudes, Welfengarten 1 G.W. Leibniz. Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek Hannover, Kopie aus dem Jahre 1787 (Format 81cm x 64cm), nach einem Portrait, das Leibniz wohl im Jahre 1711 für den Mathematiker Johann Bernoulli anfertigen ließ. Maler und Kopist unbekannt. Inhalt K Kurzdarstellung der Leibniz-Ausstellung A Konzepte und Entstehung der Leibniz-Ausstellung T Erläuterung der Bild- und Texttafeln sowie der Exponate T1 Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover T2 Vita T3 Die Vernetzung von Leibniz Forschung T4 Philosophie T5 Mathematik T6 Physik – Optimierung T7 Die Leibnizschen Rechenmaschinen T8 Technische Verbesserungen im Oberharzer Bergbau T9 Leibniz’ Plan für eine große Fontäne in den Herrenhäuser Gärten Copyright: Das Copyright der Präsentation zur Leibniz-Dauerausstellung liegt bei Professor Erwin Stein, Leibniz Universität Hannover. Eine Verwendung in Publikationen, auch in Auszügen, ist nur mit Genehmigung des Autors möglich. Alle Rechte vorbehalten. Bildrechte: Die Leibniz Universität Hannover dankt der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek (GWLB) für die Erteilung der entsprechenden Bildrechte. Seite 1 von 58

Leibniz-Dauerausstellung der Leibniz Universität Hannover · Neu zur Ausstellung seit 2006 gehören unter anderem vier wichtige Nachbauten der Leibnizschen Rechenmaschinen aufgrund

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Page 1: Leibniz-Dauerausstellung der Leibniz Universität Hannover · Neu zur Ausstellung seit 2006 gehören unter anderem vier wichtige Nachbauten der Leibnizschen Rechenmaschinen aufgrund

Die Leibniz-Dauerausstellung der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität im Sockelgeschoss des Hauptgebäudes, Welfengarten 1

G.W. Leibniz. Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek Hannover, Kopie aus dem Jahre 1787 (Format 81cm x 64cm), nach einem Portrait, das Leibniz wohl im Jahre 1711 für den Mathematiker Johann Bernoulli anfertigen ließ. Maler und Kopist unbekannt.

Inhalt

K Kurzdarstellung der Leibniz-Ausstellung

A Konzepte und Entstehung der Leibniz-Ausstellung

T Erläuterung der Bild- und Texttafeln sowie der Exponate

T1 Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover T2 Vita T3 Die Vernetzung von Leibniz Forschung T4 Philosophie T5 Mathematik T6 Physik – Optimierung T7 Die Leibnizschen Rechenmaschinen T8 Technische Verbesserungen im Oberharzer Bergbau T9 Leibniz’ Plan für eine große Fontäne in den Herrenhäuser Gärten

Copyright: Das Copyright der Präsentation zur Leibniz-Dauerausstellung liegt bei Professor Erwin Stein, Leibniz Universität Hannover. Eine Verwendung in Publikationen, auch in Auszügen, ist nur mit Genehmigung des Autors möglich. Alle Rechte vorbehalten. Bildrechte: Die Leibniz Universität Hannover dankt der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek (GWLB) für die Erteilung der entsprechenden Bildrechte.

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Verfasser: Prof. Erwin Stein

K Kurzdarstellung der Leibniz-Ausstellung Aus der Überzeugung heraus, dass die Erforschung und Vermittlung von Leibniz’ bedeutenden Erkenntnissen und Erfindungen wichtig für die Leibniz Universität Hannover ist, entstand 1989/1990 die erste Leibniz-Ausstellung mit anschaulichen Funktionsmodellen. Bis 2008 wurden mit wesentlichen Erweiterungen und Überarbeitungen insgesamt 11 Ausstellungen gezeigt.

Ziel der Ausstellung ist es unter anderem, die vielfältigen Leibnizschen Entdeckungen und Erfindungen mit dem Postulat „theoria cum praxi“ anschaulich zu vermitteln. Insbesondere unter dem neuen Namen „Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover“ wird das Universitätsmotto „Mit Wissen Zukunft gestalten“ auch im Rückblick auf die grundlegenden wissenschaftlichen Innovationen des 17. Jahrhunderts reflektiert.

Die Idee für die Ausstellung „Gottfried Wilhelm Leibniz – Mathematiker, Physiker, Techniker“ mit dem Motto „Leibniz zum Begreifen“ hatte Professor Erwin Stein anlässlich der Jahrestagung der Gesellschaft für Angewandte Mathematik und Mechanik (GAMM) im Frühjahr 1990 an der Universität Hannover in Verbindung mit einem Leibniz-Symposium. Als engagierter Mitgestalter konnte Professor Albert Heinekamp, der damalige Leiter des Leibniz-Archivs der Niedersächsischen Landesbibliothek, gewonnen werden.

Die künstlerische Gestaltung der Ausstellung oblag von Beginn an Professor Herbert Lindinger, ehemals Leiter des Instituts für Industrial Design der Universität Hannover.

Im Verlauf der Entwicklung der bisherigen Ausstellungen – ab 2000 mit dem erweiterten Titel „Gottfried Wilhelm Leibniz – seiner Zeit weit voraus als Philosoph, Mathematiker, Physiker, Techniker …“ unter Mitwirkung von Professor Karl Popp† – wurden 25 aussagekräftige Funktionsmodelle mit Elektro- oder Handantrieb zu Leibniz’ naturwissenschaftlich-technischen Erfindungen soweit wie möglich authentisch entworfen, berechnet, konstruiert und gebaut, ergänzt durch 42 Bild- und Texttafeln mit grafischen Darstellungen und Erläuterungen sowie einen Tonfilm zu den Funktionsabläufen der Modelle.

Neu zur Ausstellung seit 2006 gehören unter anderem vier wichtige Nachbauten der Leibnizschen Rechenmaschinen aufgrund neuer Forschungsergebnisse aus dem DFG-Projekt von K. Popp† und E. Stein unter Mitwirkung von F.O. Kopp, K. Wiechmann, G. Weber und J. Anton sowie das Modell der Neuen Treibkunst (1693-95), konstruiert und gebaut von K. Ludewig. Im Jahre 2008 kam eine neue binäre Getriebemaschine hinzu, die die genialen Leibnizschen Konstruktionsprinzipien der dezimalen Vier-Spezies-Maschine und der binären „Kugel-Maschine“ vereint.

Ein Begleitbuch (derzeit in der 3. erweiterten Auflage 2007), getrennt in deutscher und englischer Sprache, bietet eine reich bebilderte Übersicht.

Die folgenden 5 Bilder zeigen die zweite Leibniz-Ausstellung im Lichthof des Hauptgebäudes aus dem Jahre 2000 mit Holzkuben und eingehängten Platten für die Exponate sowie mit Halbkuben für die Bild- und Texttafeln, weiterhin die neue Leibniz-Dauerausstellung (eines Teiles der Gesamtausstellung) im östlichen Glaskubus des Sockelgeschosses im Hauptgebäude sowie zwei der wichtigsten Exponate.

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Leibniz-Ausstellung im Lichthof der Universität Hannover im Jahre 2000 mit dem Titel:

„Gottfried Wilhelm Leibniz – seiner Zeit weit voraus als Philosoph, Mathematiker, Physiker, Techniker …“

Leibniz-Dauerausstellung im östlichen Glaskubus im Sockelgeschoss des Welfenschlosses

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Leibniz-Dauerausstellung im östlichen Glaskubus im Sockelgeschoss des Welfenschlosses

6/12/1-stelligen Hannoversches Funktionsmodell 2004/2005 der Leibnizschen Vier-Spezies-Rechenmaschine mit

Korrekturen im Maßstab 2:1. DFG-Forschungsvorhaben Popp†/Stein 2003-2005. Entwurf: Stein/Kopp, Konstruktion: F.O. Kopp, Bau: Institut für Mechanik, J. Anton.

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7/12/6-stelliges Hannoversches Funktionsmodell der Leibnizschen „Machina Arithmeticae Dyadicae“ nach dem

Entwurf von Erwin Stein und Gerhard Weber. Gebaut von Gerhard Weber, 2004.

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A Konzepte und Entstehung der Leibniz-Ausstellung Aus der Überzeugung heraus, dass die Erforschung und Vermittlung von Leibniz’ bedeutenden Erkenntnissen und Erfindungen wichtig für die Leibniz Universität Hannover ist, entstand 1989/1990 die erste Leibniz-Ausstellung mit anschaulichen Funktionsmodellen. Bis 2007 wurden mit wesentlichen Erweiterungen und Überarbeitungen insgesamt 10 Ausstellungen gezeigt. Die Idee für eine Ausstellung „Gottfried Wilhelm Leibniz – Mathematiker, Physiker, Techniker“ unter dem Motto „Leibniz zum Begreifen“ hatte Professor Erwin Stein im Jahre 1988 anlässlich der beginnenden Vorbereitungen für die von ihm organisierte Jahrestagung der Gesellschaft für Angewandte Mathematik und Mechanik (GAMM) im Frühjahr 1990 an der Universität Hannover in Verbindung mit einem Leibniz-Symposium. Als engagierter Mitgestalter konnte Professor Albert Heinekamp, der damalige Leiter des Leibniz-Archivs (Leibniz-Editionsstelle der Göttinger Akademie der Wissenschaften) der Niedersächsischen Landesbibliothek, gewonnen werden. Ziel war es, einer breiten Öffentlichkeit ein tieferes Verständnis des Wirkens von Gottfried Wilhelm Leibniz zu ermöglichen. Die künstlerische Gestaltung der Ausstellung oblag von Beginn an Professor Herbert Lindinger, ehemals Leiter des Instituts für Industrial Design an der Universität Hannover. Er entwarf das Konzept einer Landschaft geometrischer Figuren aus Würfeln und Würfel-Eckelementen, die als Träger der Exponate sowie als Bild- und Texttafeln dienen. Diese einfachen Strukturen bestehen aus Kanthölzern von drei Metern Länge und sollen ein logisch-mathematisches Ordnungsprinzip vermitteln. Zusammen mit der alles durchziehenden blauen Farbstimmung vermögen die geometrischen Formen das Anliegen Leibniz’ zu versinnbildlichen, selbst seine Philosophie – innerhalb der Characteristica Universalis – potenziell mathematisch zu beschreiben. Im Verlauf der Entwicklung der bisherigen 10 Ausstellungen – ab 2000 unter tatkräftiger Mitwirkung von Professor Karl Popp – wurden 25 aussagekräftige Funktionsmodelle mit Elektro- oder Handantrieb zu Leibniz’ naturwissenschaftlich-technischen Erfindungen soweit wie möglich authentisch entworfen, berechnet, konstruiert und gebaut, ergänzt durch 42 Bild- und Texttafeln mit grafischen Darstellungen und Erläuterungen. Seit 2006 gehören zur Ausstellung unter anderem vier wichtige Nachbauten der Leibnizschen Rechenmaschinen aufgrund neuer Forschungsergebnisse aus dem DFG-Projekt von Karl Popp und E. Stein unter Mitwirkung von F.O. Kopp, K. Wiechmann, G. Weber und J. Anton sowie das Modell der Neuen Treibkunst (1693-95), konstruiert und gebaut von K. Ludewig. Ein Begleitbuch (derzeit in der 3. erweiterten Auflage 2007), getrennt in deutscher und englischer Sprache, bietet eine reich bebilderte Übersicht, [1], [2], [3].

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Leibniz-Ausstellung im Lichthof der Universität Hannover im Jahre 2000 mit dem Titel:

„Gottfried Wilhelm Leibniz – seiner Zeit weit voraus als Philosoph, Mathematiker, Physiker, Techniker …“ Schwerpunkte der Gesamtausstellung Im Mittelpunkt stehen Leibniz’ Erfindungen und Entdeckungen, insbesondere die berühmten Leibnizschen Rechenmaschinen, seine mathematischen Entdeckungen der Infinitesimalrechnung (wenig später als, aber unabhängig von Newton - mit anderen sowie weiter und tiefer gehenden Herleitungen) und der Determinanten sowie in der Mechanik energetische Erhaltungssaussagen und Extremalprinzipien bewegter Körper. Zum Bereich mechanisch-mathematischer Entdeckungen gehören auch die Funktionsmodelle zum Brachistochrone-Problem und zum Mariotte-Leibniz-Pendel. Einen hohen Stellenwert innerhalb der Ausstellung haben Leibniz’ technische Erfindungen für die Entwässerung von Erzflözen mit Hilfe von Wind- und Wasserkünsten, für die Kräfte und Energie sparende Erzförderung sowie das Projekt üppigerer Wasserspiele mit einer neuen großen Fontäne in den Herrenhäuser Gärten zu Hannover. Darüber hinaus werden die Verflechtungen von Leibniz’ mathematisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und technischen Erfindungen mit seiner Philosophie, insbesondere der Monadologie, erörtert. Bei der Würdigung einzelner Leibnizscher Erfindungen gilt es stets, den weiteren Kontext zu beachten. Deshalb wurde die Philosophie verstärkt in die Ausstellungen seit 2000 einbezogen. Sie trägt seitdem den Titel: „Gottfried Wilhelm Leibniz, seiner Zeit weit voraus als Philosoph, Mathematiker, Physiker, Techniker …“ Zur Ausstellung gehören weiterhin: Die Kopie der Leibniz-Büste von Johann Gottfried Schmidt aus dem Jahre 1788, zwei Vitrinen mit Original-Ausgaben Leibnizscher Schriften sowie hochwertiger Kopien von Handschriften, ein Papierstapel zur Symbolisierung der ca. 200.000 hinterlassenen Blätter und ein Tonfilm zu den Funktionsabläufen aller Exponate. Seit 2007 ist Professor Peter Wriggers verantwortlich für die Leibniz-Ausstellung. Professor Erwin Stein ist nun Beauftragter.

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Die Dauerausstellung im Sockelgeschoss des Welfenschlosses Eine Dauerausstellung von etwa einem Drittel der Gesamtausstellung in einem der beiden Glaskuben im Sockelgeschoss des Welfenschlosses wurde am 11. Januar 2008 anlässlich des Neujahrsempfangs eröffnet. Hier finden sich insbesondere die neuen hannoverschen Funktionsmodelle zu den Leibnizschen Rechenmaschinen, Funktionsmodelle zu physikalisch-technischen Problemen sowie insgesamt 19 Bild- und Texttafeln. An Führungen Interessierte können sich unter Tel. 0511 762-3220 (Sekretariat) erkundigen.

Leibniz-Dauerausstellung im östlichen Glaskubus im Sockelgeschoss des Welfenschlosses

Literatur Anmerkung: Es werden nur Veröffentlichungen angegeben, die in der Regel im Buchhandel und in Bibliotheken verfügbar sind. [1] E. Stein, P. Wriggers (Hrsg.): Gottfried Wilhelm Leibniz. Philosoph, Mathematiker, Physiker, Techniker. Begleitbuch zur Leibniz-Ausstellung der Universität Hannover. 2. Aufl. Selbstverlag Universität Hannover. Hannover, 2006. [2] E. Stein: „Gottfried Wilhelm Leibniz. Seiner Zeit weit voraus als Philosoph, Mathematiker, Physiker, Techniker …. Ein Extrakt der gleichnamigen Ausstellung“, in: Abhandlungen der BWG, 54 (2005), S. 131-171. J. Cramer Verlag. Braunschweig, 2005. [3] E. Stein et al.: „Leibniz’ Forschung erlebbar machen. Die Leibniz-Ausstellung der Leibniz Universität Hannover“, in: Unimagazin Hannover, Heft 3,4 (2006), S.18-12.

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T1 Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover

Das neue Logo der Leibniz Universität Hannover: ein „Zitat“ aus Leibniz’ Neujahrsbrief (siehe unten).

Vorschlag: H. Lindinger. Am 1. Juli 2006 wurde die Universität Hannover in Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover umbenannt. Das Leitmotto der Leibniz Universität „Mit Wissen Zukunft gestalten“ erfordert Herausragendes in Lehre, Forschung und Weiterbildung sowie Spitzenleistungen im internationalen Vergleich. Dazu ist die Interaktion und Bündelung individueller Exzellenz einerseits und die Konzentration auf Schwerpunkte andererseits unverzichtbar.

Skizze aus Leibniz’ Neujahrsbrief vom Januar 1697 an Herzog Rudolf August von Wolfenbüttel über das binäre

Zahlensystem. Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek, LBr II, 15, Bl. 19. Für das Ziel, verantwortungsbewusst interdisziplinär vernetzte wissenschaftliche Leistungen in Lehre und Forschung zu erbringen, soll uns Leibniz als genialer Forscher, Akademie-Gründer und Wissenschaftsorganisator Inspiration sein, auch in seinen Bemühungen als „Pacidius“ um politischen und religiösen Frieden. Natürlich lassen sich – heute wie damals – Antithesen zu vielen Leibnizschen Ideen aufstellen. Entscheidend für die Umbenennung war, dass der geniale und moralisch dem Ganzen verpflichtete Mensch und Forscher Gottfried Wilhelm Leibniz mit Blick auf die Zukunft Vorbild, Leitbild und Ansporn ist – unterstützt durch den glücklichen Umstand, dass er ein Wahl-Hannoveraner war (wenn auch bisweilen mit der Erwägung, Hannover zu verlassen), der – mit Unterbrechungen durch viele Reisen – 40 Jahre in Hannover wirkte.

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Leibniz’ Arbeitszimmer (mit Einrichtung aus dem 19. Jahrhundert) im 1. Obergeschoss der Schmiedestraße 10 in

Hannover, wo Leibniz von 1698 an bis zu seinem Tode wohnte. Historisches Museum Hannover. Die am 11. Januar 2008 eröffnete Dauerausstellung im Sockelgeschoss des Welfenschlosses enthält etwa ein Drittel der Exponate, Bild- und Texttafeln sowie weitere Inhalte der gesamten Leibniz-Ausstellung und soll insbesondere durch die ausgestellten Funktionsmodelle, die aus der Forschung in Ingenieur-Instituten der Universität Hannover seit 1990 hervorgegangen sind, den Leitgedanken „Leibniz zum Begreifen“ vermitteln. Das Bestreben, den Leibnizschen Erfindungen und Entdeckungen auf den Grund zu gehen – auch Mängel und Fehler aufzudecken – und sie anschaulich zu vermitteln, soll beispielhaft auch für die zukünftige Leibniz-Forschung an der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover sein.

Leibniz-Dauerausstellung im östlichen Glaskubus im Sockelgeschoss des Welfenschlosses

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T2 Vita [1], [2] 1646 1. Juli (21. Juni alten Stils), Gottfried Wilhelm Leibniz in Leipzig geboren 1661-66 Jurastudium in Leipzig, Mathematik u. Philosophie in Jena 1667 Promotion zum Doktor beider Rechte an der Universität Altdorf bei Nürnberg

Auditorium Maximum der Universität Altdorf. Stadtarchiv Altdorf.

Deckseite der Arbeit Nova Methodus Discendae Docendaeque …, Frankfurt 1667, von Leibniz dem Kurfürsten und

Reichskanzler Johann Philipp von Schönborn gewidmet. Hannover Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek.

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1667-71 Aufenthalte in Frankfurt/Main und Mainz, Arbeiten am Corpus Juris zus. mit dem Mainzer Hofrat Lasser Reformschrift: „Nova Methodus discendae docendaeque jurisprudentiae“ 1670 Revisionsrat unter Kurfürst Johann Philipp von Schönborn, Mainz 1671/72 Consilium Aegyptiacum zur Beeinflussung von Ludwig XIV 1672-76 Aufenthalt in Paris in Diensten von Schönborns - Infinitesimalrechnung - Bau der ersten Vier-Spezies-Rechenmaschine - Aufnahme in die Royal Society, London 1676 Reise Paris – London – Den Haag (Treffen mit Spinoza) – Hannover 1677 Bibliothekar in Diensten von Herzog Johann Friedrich von Braunschweig-

Lüneburg in Hannover 1678 Herzoglicher Hofrat in Hannover

Herzog Johann Friedrich von Braunschweig-Lüneburg-Hannover, regierte von 1665-1679

Er beauftragte Leibniz 1678 mit der Verbesserung der Erzförderung im Oberharzer Bergbau

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Herzog (ab 1692 Kurfürst) Ernst August von Hannover, Johann Friedrichs Bruder, regierte von 1679-1698.

Wolfenbüttel, Portr. I 1654. Er bestätigte den Auftrag an Leibniz, dessen Pläne zur Verbesserung des Bergbaus im Harz zu erproben, und erteilte

ihm den Auftrag zur Abfassung der Geschichte des Welfenhauses.

Kurfürstin Sophie von Hannover, lebte von 1630-1714. Sie schätzte philosophische Diskussionen mit Leibniz und

gab ihm 1696 den Auftrag für die Verbesserung der Wasserspiele in den Herrenhäuser Gärten, zu deren Weitergestaltung sie wesentlich beitrug.

1679-85 Technische Verbesserungen im Harzer Bergbau 1684 “Nova Methodus pro maximis et minimis...” in Acta Eruditorum 1685 Auftrag zur Abfassung der Geschichte des Welfenhauses

“Brevis demonstratio erroris memorabilis Cartesii” in Acta Eruditorum

1686/87 “Discours de métaphysique” aus der Korrespondenz mit Antoine Arnauld 1687-90 Reise nach Österreich und Italien -Nachweis der Verwandtschaft des Welfenhauses mit dem Fürstenhaus der Este in Italien

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1691 Leiter der Wolfenbütteler Herzog August – Bibliothek 1693-95 Zweite Periode von Verbesserungen im Harzer Bergbau ab 1693 Bau von zwei weiteren Vier-Spezies-Rechenmaschinen mit Staffelwalzen statt

Sprossenrädern 1696 Braunschweig-Lüneburgischer Geheimer Justizrat 1700 Auswärtiges Mitglied der Académie des Sciences in Paris

Gründung der Brandenburgischen Sozietät der Wissenschaften mit Leibniz als deren Präsident

Brandenburgischer Geheimer Justizrat Reise nach Wien 1705 Manuskript: “Nouveaux essais sur l’entendement humain” als Erwiderung auf

John Lockes “Essay on human understanding” (1690) 1710 Machina Arithmetica in Miscellanea Berolinensia 1710 Buch: “Essais de Théodicée sur la Bonté de Dieu, la Liberté de L‘Homme et L‘Origine du Mal“ 1711 Zwei Begegnungen mit Zar Peter von Russland Russischer Geheimer Justizrat 1712-14 Aufenthalt in Wien, häufige Treffen mit dem Prinzen Eugen, Bemühungen um die Gründung einer Sozietät der Wissenschaften in Wien Reichshofrat in Wien Manuskript: „Monadologie“ 1716 14. November: Leibniz stirbt nach kurzem Krankenlager in Hannover;

1 Monat später beigesetzt in der ev.-luth. Neustädter Hof- und Stadtkirche St. Johannis in Hannover

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Leibnizhaus in der Schmiedestraße in Hannover. 1942 völlig zerstört, Fassade in den 1980ern rekonstruiert und am

Holzmarkt errichtet an der Begegnungsstätte der wissenschaftlichen Hochschulen in Hannover. In diesem Haus lebte Leibniz von 1698 bis zu seinem Tod 1716. Stich von W. Kretschmer. Hannover, Historisches Museum,

Nr. 73/1969. - Leibniz reiste mit der Kutsche etwa 20.000 km - Es sind ca. 15.000 Briefe mit etwa 1.100 Briefpartnern überliefert - Der Nachlass enthält ca. 60.000 Stücke mit etwa 200.000 Seiten

Literatur Anmerkung: Es werden nur Veröffentlichungen angegeben, die in der Regel im Buchhandel und in Bibliotheken verfügbar sind. [1] R. Finster, G. van den Heuvel: Gottfried Wilhelm Leibniz. Monografie. 5. Aufl. Rowohlt. Hamburg, 2005. [2] E.Ch. Hirsch: Der berühmte Herr Leibniz. C. H. Beck. München, 2000.

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T3 Die Vernetzung von Leibniz’ Forschung

Neue Entwicklungen in Philosophie, Mathematik, Physik und Technik im 17. Jahrhundert

Leibniz’ Denkmaximen „…alles was durch den verstand erfunden, ist durch die guthen regeln der logick erfunden…“ Satz vom Grund – Kausalitätsprinzip „Nihil sine ratione“ „Nihil fit sine cause sufficiente“ Dieses Prinzip gilt generell für alle Wissenschaften, einschließlich Philosophie und Theologie. Satz von der Identität oder vom Widerspruch „Alles was ist, ist, und es kann unmöglich zugleich sein und nicht sein.“ Kontinuitätsprinzip – natura non facit saltus „Wenn der Unterschied zweier Fälle im Gegebenen oder Vorausgesetzten kleiner als jede Größe wird, dann muss gleichzeitig auch im Gesuchten oder in den Folgerungen aus den Voraussetzungen der Unterschied kleiner als jede Größe werden.“ Dieses Prinzip wendet Leibniz u.a. auf den Stetigkeitsbegriff in der Infinitesimalrechnung an und nimmt damit Entwicklungen des späten 19. Jahrhunderts vorweg, siehe auch T5. Weiterhin zeigt er hiermit einen wesentlichen Fehler in Descartes’ Stoßtheorie fester Körper, siehe T6. Allgemeineres Ordnungsprinzip: „Wenn es im Gegebenen eine Ordnung gibt, dann auch im (davon abhängigen) Gesuchten.“

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Leibniz’ Programm einer Universalwissenschaft 1685-1690 [1], [2] als Aufgabe für neue Akademien Holistischer Denkansatz mit den Maximen: theoria cum praxi commune bonum 1. Scientia Generalis

Allgemeine Wissenschaftslogik auf der Grundlage von Vernunft- und Tatsachenwahrheiten

• zur enzyklopädischen Erfassung des gesamten Wissens • zur systematischen Gewinnung neuer Erkenntnisse und neuen Wissens sowie dessen Vernetzung und umfassende Nutzanwendung 2. Characteristica Universalis und Ars Characteristica Combinatoria (1679) • Plan für die Entwicklung einer formalisierten, logisch widerspruchsfreien

universellen Wissenschaftssprache aus Zeichen, Symbolen und hiermit zu bildenden Formeln und Sätzen in Verbindung mit natürlichen Sprachen (mit verbindenden und unterscheidenden Merkmalen)

• Leibniz’ Konzepte sind grundlegend für die heutige mathematische Kombinatorik und Zähltheorie

• Suche nach Kategorien, die Sätze und komplexe Begriffe in ihrer natürlichen

Ordnung enthalten • Entwurf eines Alphabets der menschlichen Gedanken (zugleich Konstruktionsprinzip

der Leibnizschen Metaphysik) Ars Combinatoria als eine Logik der Entdeckungen

• Das Zeichenalphabet wäre eine Art allgemeine Algebra des Denkens

Denken hieße Rechnen Dies ist die Grundlage einer modernen universellen Algebra. im Hinblick auf Leibniz‘ Metaphysik hieße dies:

Wenn Gott rechnet und den Gedanken ausführt, entsteht die Welt 3. Ars Inveniendi unter Verwendung der Ars Characteristica Combinatoria bestehend aus: • Analyse komplexer Zusammenhänge mit Reduktion auf möglichst einfache Bestandteile (z.B. Infinitesimalrechnung, Determinanten) • Synthese einfacher Elemente und Bausteine mit Hilfe der Kombinatorik Konstruktion neuer Komplexität

(z.B. Erfindung und Bau von Rechenmaschinen, Pumpwerken, Förderanlagen)

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Problem: Die gedanklichen und materiellen Bausteine in einer vieldimensionalen Matrix lassen sich größtenteils nicht sinnvoll verknüpfen

Ars Inveniendi als zentrales Anliegen von Leibniz: „Ich machte nicht viel Aufhebens von einzelnen Entdeckungen; was ich am nachdrücklichsten erstrebe, ist die Vervollkommnung der Erfindungskunst im Allgemeinen. Wichtiger als Lösungen von Problemen sind mir Methoden, denn eine einzelne Methode umfasst eine unendliche Zahl von Lösungen.“ (Brief an Herzog Ernst August von Hannover) 4. Calculus Logicus – Fundamenta Calculi Logici • Unvollständiges Regelsystem der Mengenlehre Grundlagen der mathematischen Logik

mit Axiomen, Propositionen und Theoremen (Mengensprache, Begriffslogik)

Vorwegnahme eines teils der Mengenlehre (Boolesche Algebra) von George Boole (1815-1864) im 19. Jahrhundert

• Verallgemeinerung der vier Aristotelischen Formen der Syllogistik (universell affirmativ, universell negativ | partikulär affirmativ, partikulär negativ) Leibniz‘ Akademieprojekte zur Verwirklichung des Programms einer Universalwissenschaft • Gründung der Brandenburgischen Sozietät der Wissenschaften

am 1. Juli 1700 in Berlin mit Leibniz als Präsident unter dem Leitmotto: „theoria cum praxi“

• Große Anstrengungen zur Gründung weiterer Akademien,

insbesondere in Wien sowie in Dresden und St. Petersburg Literatur Anmerkung: Es werden nur Veröffentlichungen angegeben, die in der Regel im Buchhandel und in Bibliotheken verfügbar sind. [1] J. Mittelstraß: Konstruktion und Deutung. Über Wissenschaft in einer Leonardo- und Leibniz-Welt. Berlin, 2001. [2] E. Stein: „Gottfried Wilhelm Leibniz. Seiner Zeit weit voraus als Philosoph, Mathematiker, Physiker, Techniker …. Ein Extrakt der gleichnamigen Ausstellung“, in: Abhandlungen der BWG, 54 (2005), S. 131-171. J. Cramer Verlag. Braunschweig, 2005.

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Verfasser: Prof. Erwin Stein

T4 Philosophie „Nihil fit sine causa sufficiente“ – „Nichts geschieht ohne ausreichenden Grund.“ Philosophie ist im 17. Jahrhundert die übergeordnete Wissenschaft, die alle Einzelwissenschaften umfasst und begründet. Leibniz ist der erste große Philosoph der Neuzeit in Deutschland; sein Wirken fällt in die Zeit des Übergangs vom Barock zur Aufklärung. Mit der entscheidenden Einbeziehung der Praxis – „theoria cum praxi“ ist sein Wahlspruch – nimmt Leibniz zentrale Motive der Aufklärung vorweg. [1] Leibniz ist Denker des Ausgleichs und der Zusammenschau mit dem Postulat „ratio et religio“, der sowohl universelle als auch individuelle Harmonie anstrebt. Er vertritt eine Synthese zwischen der traditionellen Metaphysik von Aristoteles und der Spätscholastik mit der neuen mechanistischen Philosophie in Verbindung mit den entstehenden Naturwissenschaften. Dabei nimmt er vielfach Bezug auf zeitgenössische Philosophen, insbesondere auf John Locke und René Descartes, dessen „cogito ergo sum“ den Beginn der Aufklärung kennzeichnet. [2]

René Descartes (1596-1650). Leibniz übernahm von Descartes die scharfe Unterscheidung zwischen dem

Ausgedehnten und dem Geistigen, allerdings gab er ihr einen neuen Sinn. Wolfenbüttel, Portr. I 3040.

In der Gegenwart findet Leibniz’ Philosophie besonders deshalb Interesse, weil seine Überlegungen in engster Verbindung mit seinen Arbeiten zur Logik stehen. Seine Theorie der möglichen Welten wird heute mit den Mitteln der Modallogik diskutiert. Characteristica universalis Leibniz strebt eine „Characteristica universalis“ an, das heißt eine allgemeine Zeichenschrift, mit der alle Gegenstände des menschlichen Wissens und Denkens erfasst und einem Kalkül unterworfen werden können; man kann vom Projekt einer Mathematisierung unseres gesamten Denkens sprechen.

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Verfasser: Prof. Erwin Stein

Zwei Philosophen, die sich über ein philosophisches Problem – etwa das Verhältnis von Körper und Seele – nicht einigen können, würden dann einfach sagen „Rechnen wir!“ und würden so ihre Streitfrage entscheiden können. Theodizee Wie ist das Übel – Krankheit, Schmerz, Bosheit, Ungerechtigkeit – in der Welt zu erklären? Leibniz behandelt diese Frage ausführlich in der Theodizee, einem der meistgelesenen Bücher im 18. Jahrhundert in Deutschland. Weil Gott allmächtig und allgütig ist, so folgert Leibniz, kann er nur die beste aller möglichen Welten geschaffen haben. Wenn es in der Welt Menschen, die sich frei entscheiden können, geben soll, dann kann dies nur um den Preis geschehen, dass es auch Bosheit und Ungerechtigkeit gibt. Mit Welt meint Leibniz nicht etwa den jetzigen Zustand, sondern die gesamte Weltgeschichte. Nach Leibniz braucht der jetzige Zustand keineswegs der beste zu sein; er muss aber ein so großes Verbesserungspotential in sich enthalten, dass die gesamte Weltgeschichte (einschließlich der Zukunft) optimal wird.

Essais de théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal, Amsterdam 1710.

Die Theodizee ist das einzige umfangreiche philosophische Werk, das Leibniz selbst veröffentlich hat. Es geht zurück auf Gespräche, die er mit der Preußischen Königin Sophie Charlotte über Pierre Bayles Dictionnaire historique et critique (1697) geführt hatte. Leibniz sucht zu zeigen, dass die Existenz des Bösen in der Welt der Allmacht und Allgüte Gottes nicht widerspricht. Seine Argumente erläutert er mit Überlegungen aus sehr unterschiedlichen

Wissensgebieten. Hannover Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek.

„le meilleur des mondes possibles“ – „die beste aller möglichen Welten“ In der wirklichen Welt wird nach Leibniz größtmögliche Vielfalt (der Erscheinungen, der biologischen Arten usw.) mit größtmöglicher Einfachheit der Naturgesetze vereint. Die Natur kann kausal erforscht werden; sie kann aber auch durch teleologische (zielgerichtete) Prinzipien – Extremwertprinzipien – beschrieben werden. Für Leibniz stehen auch die Wissenschaften in einem ethischen Begründungszusammenhang.

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So kommt der von Leibniz erfundenen Rechenmaschine auch eine philosophische Bedeutung zu. „Meine gesamte Metaphysik ist mathematisch oder würde es sein können.“ Leibniz erklärt es auch für möglich, ein Schiff zu bauen, das selbsttätig den Hafen ansteuert, oder einen Automaten herzustellen, der durch eine Stadt spaziert und an bestimmten Straßenecken abbiegt. Als Vorarbeiten zur Characteristica universalis entwarf Leibniz zahlreiche Pläne zur Ordnung und Organisation des Wissens sowie auch zur Gründung von Akademien. Monadenlehre Das Wesentliche in Leibniz’ Metaphysik sind die „Monaden“ (oder einfachen Substanzen). Eine Monade ist nichts anderes als das Immaterielle eines Lebewesens, also die Psyche eines Menschen, das Empfindungsvermögen eines Tieres oder sogar einer Pflanze. Während Intelligenzleistungen nach Leibniz maschinell imitiert werden können, kann eine Monade, d.h. das Spezifische der Subjektivität eines Lebewesens, nicht maschinell nachgebaut werden.

Erster Entwurf der heute bekanntesten philosophischen Schrift Leibnizens, der Monadologie. Das französische

Original wurde erst 1840 veröffentlicht, eine deutsche Übersetzung erschien allerdings schon 1720, eine lateinische folgte im Jahre 1721.

Hannover Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek, LH IV, 1 1a, Bl. 1. Jede Monade spiegelt dasselbe Universum von ihrem eigenen Blickpunkt, so wie ein und dieselbe Stadt von verschiedenen Punkten aus gesehen ein unterschiedliches Bild bietet. Wahrheit kann durch zunehmende Integration verschiedener Perspektiven erreicht werden. Jede Monade entwickelt sich, strebt nach immer deutlicherer Erfassung der Wirklichkeit und entwickelt die

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Vorstellungen, die für sie eigentümlich sind, aus ihrem eigenen Inneren. „Die Monaden haben keine Fenster.“ Damit diese völlige Unabhängigkeit der Monaden nicht zu einer Welt des Chaos führt, entwickelt Leibniz den Gedanken der „prästabilierten Harmonie“: Unter den verschiedenen möglichen Monaden hat Gott bei der Erschaffung der Welt diejenigen ausgewählt, die zueinander passen. Die Harmonie wird von Leibniz auch als Einheit in der Vielheit definiert, wie wenn die Schwingungen von zwei Pendeln jedes fünfte Mal übereinstimmen. Die Metapher der zwei Pendel zeigt, dass Leibniz’ Harmonie desto größer ist, je mehr voneinander unabhängige Wesen miteinander in Beziehung stehen. Jede Monade ist einmalig, mehr noch: keine zwei Wassertropfen – beispielsweise – sind nach Leibniz völlig gleich.

Als Leibniz seine Gedanken der Kurfürstin Sophie in den Herrenhäuser Gärten

darlegte, versuchte ein Höfling zwei völlig gleiche Blätter zu finden – jedoch vergeblich. Literatur Anmerkung: Es werden nur Veröffentlichungen angegeben, die in der Regel im Buchhandel und in Bibliotheken verfügbar sind. [1] H.H. Holz: Gottfried Wilhelm Leibniz. Campus Verlag. Frankfurt/New York, 1992. [2] H. Poser: Gottfried Wilhelm Leibniz zur Einführung. Junius. Hamburg, 2005.

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T5 Mathematik „utile erit scribi ∫ pro omnia“ – „es wird nützlich sein, ∫ anstatt omnia (Gesamtheit) zu schreiben“

Die Erfindung der Infinitesimalrechnung durch Newton und Leibniz [1], [2] Vorläufer der Integralrechnung Die griechische Mathematik der Antike war vorrangig Geometrie, vor allem geprägt durch Pythagoras (507 bis 509 v. Chr.), Euklid (365 bis 300 v. Chr.) und Archimedes (287 bis 212 v. Chr.). Drei bedeutende mathematische Probleme des Altertums, die Verdoppelung des Würfels, die Dreiteilung des Winkels und die Quadratur des Kreises, konnten daher nur näherungsweise gelöst werden. Erst durch die Erfindung der Analysis im 17. Jahrhundert n. Chr. unter Einbeziehung der Algebra wurden diese Probleme einer vollständigen mathematischen Behandlung zugänglich. Vielfältige Versuche zur Bestimmung gekrümmter Linien und Flächen sowie von Rauminhalten bestimmter Körper gehen auf Griechen in der Antike zurück. In Archimedes’ Exhaustionsmethode wird eine krummlinig berandete Fläche durch regelmäßige polygonale Flächen ein- und umbeschrieben („ausgeschöpft“). Die Approximation geschieht von unten (zu klein) und von oben (zu groß). Diese geniale Methode wird von Leibniz mehrfach erwähnt. Cavalieris geometrische Methode verwendet unendlich viele parallele Linien (die „indivisibilia“) zur Integration der Fläche unter einer Funktion. Hinzu kommt der Vergleich der gesuchten mit bekannten Flächen. Fermats algebraische Methode zur Quadratur beliebiger Parabeln geht von der Zerlegung der gesuchten Fläche in Rechtecke aus, deren Flächeninhalte eine geometrische Folge bilden.

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Newtons Fluxionsmethode (um 1670) Nach Abschluss seines Studiums in der philosophischen Fakultät der Universität Cambridge als Bakkalaureus, 1665, entwickelte Newton die binomische Reihe für (1 + x)p mit p aus R, der Menge der rationalen Zahlen, in Verallgemeinerung der Pascalschen Reihe für (1 + x)n mit n aus N, der Menge der natürlichen Zahlen. Die Binomische Reihe Newtons konvergiert für |x| < 1. Diese unendlichen Reihen können auch auf das Wurzelziehen und auf Brüche von Funktionen angewandt werden. Sie sind die algebraisch orientierte Basis für Newtons Fluxionsmethode. Die Terminologie lehnt sich an die Darstellung der Kinematik bewegter Körper an. Veröffentlicht wurde diese Fluxionsmethode erst 1687 in knapper Form ohne Beweise in Newtons „Principia“. „Fluxion“ nennt er die Ableitung einer Kurve (Tangente): die Bahngeschwindigkeit v(t) eines auf einer Kurve s = f(t) kontinuierlich bewegten Körpers. Den Weg (die Funktion) als Integral der Geschwindigkeit – d.h. die Umkehrung der Fluxion – nennt Newton „Fluente“. Das Integral der Funktion s = f(t) von tA bis tE (die Fläche zwischen dem Graphen der Funktion s(t) und der Abszisse A-E) ermittelt Newton aus eingeschriebenen und umschriebenen Dreiecken für gleichabständige Zeitinkremente AB, BC, …, DE.

Fluxionsrechnung von Newton: Die Kurve stellt den Weg einer Masse in Abhängigkeit der Zeit dar. Die zeitliche

Ableitung des Weges ist die Geschwindigkeit. Das Integral der Funktion s(t) ist der Grenzwert eingeschriebener und umschriebener Polygone bei Verwendung

gleichabständiger Abszissen-Inkremente. Mit wachsender Zahl der Stützstellen BCD… werden in diesem Grenzfall die eingeschriebenen und die umschriebenen Flächen der gesuchten Fläche für die Funktion s(t) gleich, d.h. dann

gilt: AKbLcMdD = AalbmcndoE = AabcdE Aus: Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, London, 1687.

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Leibniz’ Infinitesimal-Rechnung (1673) Unabhängig von Newton entwickelt Leibniz in Paris die zunächst geometrisch begründete Infinitesimal-Rechnung. Er entdeckt die Bedeutung und vielseitige Verwendbarkeit des charakteristischen Dreiecks einer Kurve, das von Blaise Pascal 1658 für den Kreis beschrieben wurde, wobei der Tangens des Neigungswinkels als Grenzwert des Quotienten endlicher Abstände dargestellt werden kann. Die Ableitung einer Funktion y = f(x) ist bei Leibniz der Differentialquotient dy/dx. Die Veröffentlichung dieser bedeutenden Arbeit erfolgte 1684 in Acta Eruditorum. Leibniz’ Notation und Algorithmus sind so leistungsfähig, dass sie bis heute überall benutzt werden.

Leibniz’ erste bedeutende Veröffentlichung zur Infinitesimalrechnung:

„Nova methodus pro maximis et minimis…“, Acta Eruditorum 1684. Deutsche Übersetzung: „Neue Methode der Maxima, Minima sowie Tangenten, die sich weder an gebrochenen,

noch an irrationalen Größen stößt, und eine eigentümliche darauf bezügliche Rechnungsart“ In heutiger Schreibweise werden Leibniz’ Differentialkalkül und der hierzu inverse Integralkalkül wie folgt dargestellt:

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Notation von Leibniz noch ohne das Symbol lim für „limes“

Differentiation und – als Umkehrung – Integration von Potenzfunktionen (1676) mit ganzen und gebrochenen Exponenten

Einführung des Integralzeichens in dem Manuskript Analysis Tetragonistica (1675), erstmals veröffentlicht 1899. „…utile erit scribi ∫ pro omnia…“ Hannover Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek, LH XXXV, VIII, 18, Bl. 2

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Erste Veröffentlichung der Differentialrechnung . Kalkülmäßige Darstellung der Rechenregeln. Acta Eruditorum

1684, S. 467. Die folgenden vier Themenbereiche werden in der Gesamtausstellung näher erläutert: Leibniz’ weitere Erfindungen in der Infinitesimalrechnung Hier sind besonders zu nennen:

• Kettenregel der Differentiation, Substitutionen

• Produktregel der Differentiation und partielle Integration

• Differentiation von Kurvenscharen nach den Parametern

• Leibnizsche Potenzreihe für den arctan, insbesondere π/4

Leibniz’ Lösung wichtiger Probleme in der Analysis und Algebra

• Isochronen

• Kettenlinie

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• Evolute, Evolvente, Enveloppe

• Analysis rationaler und irrationaler Funktionen

• Bestimmung von Kurven aus ihren Tangenteneigenschaften (methodus tangentium inversa)

• Integration von Differentialgleichungen 1. und 2. Ordnung, z.B. der Bernoullischen DGL

• Analysis Situs als Vorgänger der Topologie

• Begründung der Versicherungsmathematik

• Determinantentheorie (siehe unten)

Leibniz’ strenge Begründung der infinitesimalen Geometrie Leibniz’ unveröffentlichte Schrift „Über die geometrische Quadratur des Kreises, der Ellipse und der Hyperbel. Ein Korollar ist eine Trigonometrie ohne Tabellen“, 1675 der Academie des Sciences in Paris vorgelegt, ist seine bedeutendste Arbeit zur Infinitesimalrechnung mit 51 Sätzen. Zur Integrabilität von Funktionen wird von ihm bereits eine Methode entwickelt, die den „Riemannschen Summen“ aus dem 19. Jahrhundert entspricht, siehe auch T3. Diese Arbeit tauchte erst im 20. Jahrhundert wieder auf und wurde zunächst teilweise 1934 von Scholtz und dann 1994 vollständig sowie kommentiert von Eberhard Knobloch veröffentlicht. Der Prioritätenstreit über die Erfindung der Infinitesimalrechnung mit Isaac Newton [3] Die folgende Kurzfassung ist nicht Teil der Dauerausstellung: 1687 Fußnote in Newtons Erstausgabe der „Principia“: Hinweis auf Briefwechsel mit Leibniz in 1677, hierin Mitteilung von Newtons Methode als Anagramm; Leibniz antwortet, er habe eine Methode der gleichen Art gefunden, die in Bezeichnungsweise und Erklärung abweicht 1691 Plagiatsvorwurf von John Wallis (Mitglied der Royal Society), Nicolas Fatio de Duillier und D. Gregory: Der Leibnizsche Kalkül basiere alleine auf Mitteilungen Newtons Wachsende Bekanntheit und Berühmtheit der Leibnizschen Methode in Europa, Gegenströmung in England mit nationalen Emotionen 1699 Schrift „Investigatio“ von Fatio de Duillier mit direktem Plagiatsvorwurf gegen Leibniz 1704/05 1704 Veröffentlichung von zwei frühen Arbeiten Newtons zum Differentialkalkül in Acta Eruditorum und 1705 deren anonyme Rezension durch Leibniz; er bezeichnet sich als den Erfinder des Kalküls und beschreibt die Newtonsche Fluxionsmethode. Newton ist sehr verärgert. Damit beginnt der eigentliche Prioritätenstreit zwischen Leibniz und Newton. 1708 John Keill, Mitglied der Royal Society, bezichtigt Leibniz im Journal der Royal Society der groben Fälschung; erst im Jahre 1710 übermittelt an Leibniz

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1711 Leibniz reagiert naiv und bittet die Royal Society um Schutz vor Keill. Die Royal Society setzt eine Kommission mit Newton als Vorsitzenden ein, offensichtlich mit dem Bestreben Leibniz zu verurteilen. Zur Schlichtung wird später König Georg I. einbezogen 1716 Newton auf Anfrage des Königs: „Ich bestreite nicht, dass Herr Leibniz es auch alleine hätte finden können, aber seine Erfindung lag zeitlich nach meiner, und man weiß, dass Zweiterfinder kein Recht auf die Erfindung haben.“ Gegen Newtons Erwiderung ist nichts einzuwenden. Sicht seit dem 20. Jahrhundert • Leibniz’ eigenständiger Infinitesimalkalkül war tiefer und weittragender als der Newtons • Seine Notation und seine Methodik setzten sich durch • England blieb im 18. Jahrhundert hinter der Entwicklung der Analysis auf dem Kontinent zurück Determinantentheorie [4] Nach Anfängen einer Art von Matrizen- und Determinantenkalkül in den chinesischen „Neun Büchern arithmetischer Technik“ („Chiu Chang Suan Shu“) aus der frühen Han-Zeit (202 v. Chr. bis 9 n. Chr.) zur Lösung linearer Gleichungssysteme wird im 17. Jahrhundert in Japan von Takakazu Seki der Begriff der Determinante (ohne eigentlichen Kalkül) in der 1638 veröffentlichten Schrift „Kaifuku-dai no Hô“ (Methode zur Lösung von Fukudai-Problemen) eingeführt. Leibniz stellte im Jahre 1700 eine „neue Bezeichnungsweise“ (novum designationis genus) vor, deren großen Nutzen man in der Analytik und Kombinatorik finde, und wendete sie auf Potenzreihenumformungen mit Hilfe fiktiver Zahlenkoeffizienten an. Bereits 1684 hatte Leibniz die herausragende Arbeit „De sublatione literarum ex aequationibus seu reductione plurium aequationum ad unam“ zur Lösung inhomogener linearer Gleichungssysteme mit Hilfe einer zweistelligen Indexschreibweise und der Determinantensymbolik verfasst. Diese erlaubte es ihm, Determinanten nach kombinatorischen Regeln unmittelbar auszurechnen. Seine Lösungsmethode ist mit der von Gabriel Cramer 1750 gefundenen so genannten „Cramerschen Regel“ äquivalent und umfasst auch die spätere Regel von Sarrus (1850).

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De sublatione literarum ex aequationibus seu reductione plurium aequationum ad unam. 12. (22.) Januar 1684.

Hannover Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek, LH XXXV 3 A, 28 Bl. 3 Leibniz’ großes Interesse an der Determinantenschreibweise zur Reduktion von mehreren Polynomen mit gemeinsamen Unbekannten und zur Lösung linearer Gleichungssysteme entspringt der für ihn übergeordneten Bedeutung der Ars Characteristica in Verbindung mit der Ars Combinatoria, die in der Verknüpfung Grundlage der Ars Inveniendi sind. Leibniz beweist seine Sätze über Determinanten nicht. Sie lassen sich jedoch problemlos in die heutige Terminologie übersetzen. Zur Darstellung einer Determinante 4. Ordnung wählt Leibniz die Schreibweise aequ. N.. Dies beinhaltet die Summe aller 4! = 24 Permutationen von Produkten aus jeweils 4 Faktoren mit den Stellungsziffern 1, 2, 3, 4, und zwar mit der gleichen Anzahl von ungeraden (Vorzeichen -) und geraden (Vorzeichen +) Transpositionen. Es bleibt festzustellen, dass Leibniz’ Determinantenkalkül mit Hilfe vielfacher Indizes im 18. und 19. Jahrhundert zu einer umfassenden Theorie ausgebaut wurde und heutzutage in Mathematik, Naturwissenschaften und Technik eine große Bedeutung hat. Binäres Zahlensystem [5]

„Omnibus ex nihilo ducendis sufficit unum.“ – „Um alles aus dem Nichts herzuleiten genügt eins.“

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In seinem Neujahrsbrief von 1697 an Herzog Rudolf August von Wolfenbüttel beschreibt Leibniz das binäre Zahlensystem unter erstmaliger systematischer Verwendung der Zahl 0 (nach deren Erfindung in Indien) sowie die Regeln für die vier Grundrechenarten mit binären Zahlen. Die binären Zahlen allein waren aber bereits lange vor Leibniz bekannt.

Leibniz’ Neujahrsbrief vom Januar 1697 an Herzog Rudolf August von Wolfenbüttel über die Dyadik (binäres

Zahlensystem). Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek, LBr II, 15, Bl. 19 Leibniz beschreibt in einem Gespräch mit dem frommen Herzog Rudolf August dieses als ein Sinnbild für Gottes Schöpfung der Welt aus dem Nichts. In einem Medaillenentwurf erscheint der Satz „omnibus ex nihilo ducendis sufficit unum“, der eine starke Verknüpfung der mathematischen Bedeutung der Zahlen 0 und 1 mit seiner Philosophie der Monaden (monas = Einheit) ausdrückt. Im Sinne seines Leitsatzes „theoria cum praxi“ entwarf Leibniz in seinem handschriftlichen Text De Progressione Dyadica von 1679 auch eine mit den binären Zahlen 0 und 1 arbeitende mechanische Rechenmaschine für Addition und Multiplikation, die „Machina Arithmeticae Dyadicae“.

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Leibniz beschrieb außerdem einen mechanischen Zahlenwandler zur Umwandlung von dezimalen in binäre Zahlen mit Hilfe eines ausgeklügelten Getriebes. Die mathematische und technische Bedeutung des binären Zahlensystems wurde erst mit der Erfindung des Elektronenrechners und dem Beginn des Informationszeitalters im 20. Jahrhundert voll wirksam. Vom logischen Prinzip her kann die von Leibniz beschriebene Binärmaschine als Vorläufer der heutigen binär rechnenden Computer angesehen werden. Literatur Anmerkung: Es werden nur Veröffentlichungen angegeben, die in der Regel im Buchhandel und in Bibliotheken verfügbar sind. [1] H.-J. Heß: „Erfindung der Infinitesimalrechnung“, in: E. Stein, P. Wriggers (Hrsg.). Gottfried Wilhelm Leibniz. Philosoph, Mathematiker, Physiker, Techniker. Begleitbuch zur Leibniz-Ausstellung der Universität Hannover. 2. Aufl. Selbstverlag Universität Hannover. Hannover, 2006. S. 47-54. [2] M. Parmentier: G.W. Leibniz. La naissance du calcul differentielle. Librarire Philosophique. J. Vrin. Paris, 1989. [3] W. Ebeling, K. Hulek.: „Wer war zuerst? Die Entstehung der Infinitesimalrechnung und der Prioritätsstreit mit Newton“, in: Unimagazin Hannover, Heft 3,4 (2006), S. 46-49. [4] E. Knobloch: „Erste europäische Determinantentheorie“, in: E. Stein, P. Wriggers (Hrsg.). Gottfried Wilhelm Leibniz. Philosoph, Mathematiker, Physiker, Techniker. Begleitbuch zur Leibniz-Ausstellung der Universität Hannover. 2. Aufl. Selbstverlag Universität Hannover. Hannover, 2006. S. 56-64.. [5] P. Pirsch: „Seiner Zeit voraus gedacht. Die Einführung des Binärsystems durch Leibniz“, in: Unimagazin Hannover, Heft 3,4 (2006), S.36-41.

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T6 Physik – Optimierung Physik ist im 17. Jahrhundert vor allem Mechanik und auch Optik. Wie in „Die Vernetzung von Leibniz’ Forschung“ dargestellt, beginnt Physik im heutigen Sinne zu dieser Zeit, und zwar mit Galileo Galilei (1564 -1642), der das Trägheitsgesetz und die Fallgesetze entdeckt hat (Discorsi, 1638), und Isaac Newton (1647-1727), der die axiomatische Mechanik, die mechanica rationalis (Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, 1687), begründet hat. „Das wahre Maß der lebendigen Kraft“ [1] René Descartes (1596-1650) beschreibt in seinen Principia Philosophiae (1644) Gesetzmäßigkeiten für Stoßvorgänge von Körpern. Sie gehen davon aus, dass das Produkt von Masse und Absolutbetrag der Geschwindigkeit das „wahre Maß der lebendigen Kraft“ sei. Daran entzündet sich die Kritik von Leibniz und ein fast 100 Jahre langer Streit um das „wahre Kraftmaß“ beginnt. Im Übrigen sind auch weitere Annahmen Descartes’ zu Stoßvorgängen von Körpern falsch. Leibniz veröffentlicht 1686 in seinem berühmten Aufsatz „Brevis demonstratio erroris memorabilis Cartesii …“, Acta Eruditorum, im Widerspruch zu Descartes’ Thesen das Produkt von Masse · Geschwindigkeit² als „wahres Kraftmaß“ und energetische Erhaltungsgröße, wobei er die Fallgesetze von Galilei verwendet. So erreicht ein aus der vierfachen Höhe fallender Körper unter dem Einfluss der Schwerkraft die doppelte Geschwindigkeit.

Erste Veröffentlichung von m·v² als Erhaltungsgröße. „Brevis demonstratio erroris memorabilis Cartesii …“, Acta

Eruditorum 1686, S. 161. Bis auf den Faktor ½ ist dies die kinetische Energie eines mit der Geschwindigkeit v geradlinig bewegten Körpers mit der Masse m, d.h. kinetische Energie K = ½ m · v². Das Fehlen des Faktors ½ bei Leibniz lässt sich so erklären, dass man zu dieser Zeit

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physikalische Gesetzmäßigkeiten oft als Proportionalaussagen und nicht als Formeln dargestellt hat.

Erläuterungsbild aus Leibniz’ „Brevis demonstratio …“ mit zusätzlichen Eintragungen Übrigens hat Leibniz durchaus gewusst, dass beim elastischen Stoß nicht nur die „lebendige Kraft“, sondern auch die „Bewegungsgröße“ (Masse · gerichtete Geschwindigkeit) erhalten bleibt. Das von Leibniz formulierte Kontinuitätsprinzip „Principium quoddam Generale non in Mathematics tantum sed et physicis utile” spielt bei ihm in allen wissenschaftlichen Disziplinen – so besonders auch in der Mathematik und Physik – eine wichtige Rolle. Mit der Anwendung auf die von Descartes’ formulierten Stoßgesetze konnte er durch Betrachtung eines Körpers kurz vor und kurz nach einem Stoß Descartes’ Hypothesen widerlegen. Im Streit um das „wahre Maß der lebendigen Kraft“ ist auch die erste Buchveröffentlichung von Immanuel Kant „Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte und Beurteilung der Beweise …“ von 1746 zu nennen, in der er auf 187 Seiten wortreich – aber physikalisch falsch – zu beweisen versucht, dass die „Cartesianer“ recht und die „Leibnizianer“ unrecht haben.

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Extremalprinzipe der Mechanik In der Verbindung von Philosophie, Mathematik und Physik ist Leibniz in seinem teleologischen Gedankenmodell der von Gott geschaffenen besten aller denkbaren Welten davon überzeugt, dass auch die Naturgesetze diesem Optimalitätsprinzip genügen. Zusammen mit dem bereits von Evangelista Torricelli (1608-1647), Sekretär von Galileo Galilei, um 1630 formulierten Prinzip vom Minimum der potentiellen Energie eines im statischen Gleichgewicht befindlichen Körpers ergibt Leibniz’ kinetische Energie die Gesamtenergie eines bewegten starren Körpers. Deshalb war es nahe liegend, dass Leibniz ein übergreifendes Extremalprinzip der Gesamtenergie erkannte und wie folgt formulierte:

„Causae plenae et effectus integri eadem potentia est.“ - Die vollständige Ursache und die integrierte Wirkung haben die gleiche „Potenz“ (Energie, bei Leibniz: „lebendige Kraft“).

1746 veröffentlicht Maupertuis (Präsident der Berlin-Brandenburgischen Sozietät der Wissenschaften) das „Prinzip der kleinsten Wirkung“ in der Mechanik (Anmerkung: Dies ist unrichtig, da in vielen Prozessen auch ein Maximum auftreten kann). Daraufhin veröffentlicht Samuel König einen angeblich von Leibniz stammenden Brief vom 16. Oktober 1707, in dem es heißt: „Die Wirkung ist das Produkt von Masse, Weg und Geschwindigkeit oder von Zeit und lebendiger Kraft. Ich habe bemerkt, dass sie bei allen Bewegungsabläufen gewöhnlich ein Maximum oder ein Minimum wird.“ Die Echtheit dieses Briefes wird bezweifelt, und Euler, Voltaire und König Friedrich II. von Preußen werden in den entstehenden Streit verwickelt. Leibniz hat aber auch in der Optik ein Extremalprinzip formuliert, nämlich das Prinzip des leichtesten Lichtwegs (d.h. des Wegs mit dem geringsten Widerstand), aus dem er das Brechungsgesetz herleitet. Leibniz’ homogenes Raum-Zeit-Kontinuum In der kritischen Auseinandersetzung mit Newtons „Principia“ postuliert Leibniz die Äquivalenz von Hypothesen in der Physik, was der Invarianz bezüglich Galilei-Transformationen entspricht, sowie ein homogenes Raum-Zeit-Kontinuum im Unterschied zum Newtonschen Konzept eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit. Bei Newton muss der Energieverlust der Welt (in Folge von Reibungen) durch „Energiezufuhr von Gott“ ausgeglichen werden. Dies widerspricht Leibniz’ Auffassung eines allmächtigen und allweisen Gottes, der seine Schöpfung nicht nachträglich korrigieren muss, und führt ihn somit auch aus metaphysischen Gründen zu seinem Raum-Zeit-Modell. Weitere Arbeitsgebiete von Leibniz wie die Tragfähigkeit elastischer Balken, die Entstehung und Fortpflanzung von Schall auf der Basis der Elastizität, die Schwingungen des Mariotte-Leibnizschen Doppelpendels sowie seine Arbeiten zur geometrischen Optik (mit der falschen Hypothese, dass die Lichtgeschwindigkeit in verschieden dichten Medien unterschiedlich ist) sind in der Gesamtausstellung näher erläutert.

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Optimierungsprobleme der Mechanik [2] Als erster formulierte Torricelli um 1630 das Minimalprinzip der potentiellen Energie als tiefstmögliche Lage des Gesamtschwerpunktes eines mechanischen Systems im stabilen statischen Gleichgewicht. Um 1635 entdeckte Fermat – ausgehend vom Snelliusschen Brechungsgesetz für das Licht von 1621 – das Prinzip der kürzesten Zeit des Lichtweges beim Übergang zwischen Medien unterschiedlicher Dichte. Im Unterschied zu Newton und Leibniz geht Fermat übrigens davon aus, dass die Lichtgeschwindigkeit unabhängig von der Dichte des Mediums ist. Die Brachistochrone Johann Bernoulli veröffentlichte im Juni 1696 in den „Acta Eruditorum“ folgende Aufgabe, das von ihm so genannte Problem der Brachistochrone (Kurve kürzester Zeit), die innerhalb eines Jahres gelöst werden sollte: Gesucht wird die Kurve, auf der ein Körper unter Einwirkung der Schwerkraft möglichst schnell von einem Punkt zu einem tiefer und horizontal versetzt gelegenen Punkt reibungsfrei gleitet. Zuerst wurde dieses bedeutende Optimierungsproblem der Mechanik von Galileo Galilei in seinen Discorsi (Leiden, 1638) gestellt und durch die Annahme eines Viertelkreises näherungsweise gelöst. Galileis Ansatz beruhte auf seinen Erkenntnissen über die Bewegungen von Körpern auf schiefen Ebenen, wobei er feststellte, dass ein Körper schneller auf einem Polygonzug BDEFGC als auf einer Geraden BC gleitet.

Galileis Näherungslösung mit Annahme eines Viertelkreises. Discorsi, 1638.

Mit dem Infinitesimalkalkül von Newton und Leibniz konnten zwar maximale und minimale Werte einer Funktion an gewissen Stützstellen bestimmt werden, jedoch nicht das Variationsproblem der Bestimmung der gesamten Funktion unter der Bedingung, dass ein Funktional (Integral) dieser Funktion – im vorliegenden Fall der Zeit – und ihrer ersten Ableitung maximal oder minimal wird. Das Minimalproblem der Brachistochrone x = f(y) mit der Fallbeschleunigung g und der Bahngeschwindigkeit v = √(2gy) lautet:

(siehe unten, Bild: „Leibniz’ geometrische Näherungslösung der Brachistochrone“)

Diese Aufgabe kann durch die Variationsrechnung gelöst werden, die aber erst durch Leonhard Euler 1743 und später, um 1760, umfassender durch Joseph Louis Lagrange entwickelt wurde. Im 18. und 19. Jahrhundert erlangte sie große Bedeutung in Verbindung mit den

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Extremalprinzipen der klassischen Physik – welche metaphysisch in Beziehung zu Leibniz’ teleologischer Auffassung der Naturgesetze als Ausgangspunkt seiner Optimalitätsaussagen stehen. Auf die Ausschreibung des Brachistochrone-Problems hin wurden 1697 sechs Lösungen – von Jakob Bernoulli, Johann Bernoulli (zwei Lösungen), Leibniz, Newton (ohne Beweis) und L’Hospital/Tschirnhaus (unvollständig) – durch Johann Bernoulli in den Acta Eruditorum veröffentlicht. Die Lösungskurve ist die gewöhnliche Zykloide (Radkurve).

Die Zykloide (Radkurve) als Lösung des Brachistochrone-Problems. Zwei von Punkt A bzw. von Punkt C’

herabgleitende Körper benötigen die gleiche Zeit bis zum Tiefpunkt B0 („Tautochronie“).

Von besonderer Bedeutung ist die analytische Lösung von Jakob Bernoulli, welche die spätere Eulersche Variationsrechnung mit zunächst gleichabständigen diskreten Stützstellen und einem nachfolgenden Grenzübergang im Prinzip vorweg nimmt. Auch die von Leibniz gefundene geometrisch approximierte Lösung für diskrete Punkte der gesuchten Extremale ist neuartig. Diese geniale geometrische Näherungslösung kann als erster Vorläufer der Finite-Element-Methode angesehen werden.

Ableitungsfiguren der Leibnizschen diskreten geometrischen Integration der Differentialgleichung der Zykloide

(Koordinaten ergänzt)

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Im folgenden Bild wird die Leibnizsche geometrische Integration der Differentialgleichung der Brachistochrone gezeigt.

Leibniz’ geometrische Näherungslösung der Brachistochrone. Mit Hilfe der von Galilei entdeckten – nur von der Fallhöhe abhängigen – Fallgeschwindigkeit v=√(2gy) = AT und Integration über die Geschwindigkeit v(y) mit der

Fläche ABN sowie dividiert durch die Konstante AG erhält man Punkte der Lösungskurve. Literatur Anmerkung: Es werden nur Veröffentlichungen angegeben, die in der Regel im Buchhandel und in Bibliotheken verfügbar sind. [1] H. Breger: „Prinzipien der Naturforschung bei Leibniz“, in: E. Stein, P. Wriggers (Hrsg.). Gottfried Wilhelm Leibniz. Philosoph, Mathematiker, Physiker, Techniker. Begleitbuch zur Leibniz-Ausstellung der Universität Hannover. 2. Aufl. Selbstverlag Universität Hannover. Hannover, 2006. S. 42-50. [2] E. Stein, K. Wiechmann: „New insight into the beginning of optimization and variational calculus in the 17th century“, in: Engineering Computations, 20 (2003), S. 699-724.

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T7 Die Leibnizschen Rechenmaschinen „Indignum est excellentium virorum horas servili calculandi labore perire quia Machina adhibita velissimo cuique secure transcribi possit.“ „Es ist unwürdig, die Zeit von hervorragenden Leuten mit knechtlichen Rechenarbeiten zu verschwenden, weil bei Einsatz einer Maschine auch der Einfältigste die Ergebnisse sicher hinschreiben kann.“ Vier-Spezies-Rechenmaschinen [1], [2], [3], [4] Vor Leibniz hatte Wilhelm Schickard um 1623 auf der Grundlage der Neperschen Rechenstäbchen eine Rechenmaschine für Multiplikation und Division entwickelt, die allerdings im Dreißigjährigen Krieg verloren ging. Leibniz kannte diese Maschine daher nicht und ebensowenig die Addier- und Subtrahiermaschine von Blaise Pascal von 1644. Bereits 1671 in Mainz begann Leibniz mit der Konstruktion einer neuartigen dezimalen Vier-Spezies-Rechenmaschine (für alle vier Grundrechenarten). Ab 1672 entwickelte er diese während seines an Entdeckungen und Erfindungen reichen Paris-Aufenthaltes weiter, ließ sie dort in einer Uhrmacher-Werkstatt 4/7/3-stellig bauen und stellte sie 1673 der Royal Society London – leider nicht funktionstüchtig – vor. Sie hatte Sprossenräder für die Zahleneingabe mit radial nach außen verschiebbaren Klinken, die das jeweilige Aufnahmezahnrad erfassen.

Entwurf zur Konstruktionsverbesserung der Vier-Spezies-Rechenmaschine vom 8./18. Mai 1682: Beschreibung von Staffelwalzen für die Zahleneingabe mit axial verschiebbaren Zahnrädern und abnehmenden Zahnlängen für die

Zahlen 1 bis 9. Ungedruckt. Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek, LH XLII 4, Bl. 4.

Die ab 1682 entwickelten und seit 1693 gebauten beiden neuen großen 8/16/1-stelligen Maschinen haben Staffelwalzen anstelle von Sprossenrädern, die unter dem Aufnahmezahnrad

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axial verschoben werden. Eine Staffelwalze hat für die Ziffern 1 bis 9 neun Zähne mit zunehmenden Zahnlängen auf dem halben Umfang (180°). Diese geniale bis ins 20. Jahrhundert maßgebende Erfindung ist das Produkt logisch-abstrakter Denkprozesse, die technische Komplexität trotz großer Ausführungsprobleme nicht scheute, um alle vier Grundrechenarten systematisch mit gleichartigen und einfach mechanisch auszuführenden Algorithmen zu ermöglichen. Dies gelang ihm durch die Aufteilung in zwei Hauptbaugruppen: das in einem Schlitten angeordnete und durch eine Transportkurbel axial verschiebbare 8-stellige Eingabewerk mit der Rechenkurbel (Magna-Rota-Kurbel, MRK) und das 16-stellige Resultatwerk für Addition und Subtraktion mit den erforderlichen Zehnerüberträgen; Multiplikation und Division erfolgen durch wiederholte Addition und Subtraktion in verschiedenen Schlittenstellungen. Neben den logisch verwandten Sprossenrädern und Staffelwalzen stellen die zweistufigen Zehnerüberträge mit mechanischem Verstärker den genialen Kern der Maschine dar. Da alle Zehnerüberträge infolge gleicher Öffnungswinkel (von etwa 90°) der Zweihörner (zwischen den Staffelwalzen) gleichzeitig stattfinden, werden Zehnerüberträge über die nächste Stelle hinaus allerdings leider nur bedingt durchgeführt, sodass bei einer Addition von z.B. 999.999 + 1 nur die ersten vier Nullen von rechts angezeigt werden und dann weiter nach links nur noch Neunen. Leibniz hatte dies jedoch erkannt und deshalb auf der Rückseite der Maschine Pentagone (fünfeckige Scheiben) auf den verlängerten Wellen der Muldenräder einbauen lassen, deren obere Seiten bei Rechenbeginn horizontal zu stehen haben. Leibniz’ Sekretär Johann Georg Eckhart schrieb am 1. Dezember 1699 an ihn: „Adam läßet Ihre Exc. bitten ihm zu berichten, ob die kleinen wellbäume woran die fünfeckichten räder (die Pentagone) komme, an welchen man sehen kann ob das werk recht außgeführet oder nicht, sollten länger gemacht werden“. Offensichtlich war Leibniz also bewusst, dass die Nicht-Vollendung von Zehnerüberträgen (nach vollen Umdrehungen der MRK) an Schrägstellungen der Pentagone zu erkennen ist. Die Nicht-Vollendung der Zehnerüberträge lässt sich aber durch die folgende Erweiterung des Algorithmus korrigieren, indem man die Eingabezahl auf null stellt und so viele Umdrehungen der MRK – sozusagen im Leerlauf – durchführt, bis alle oberen Kanten der Pentagonscheiben wieder horizontal stehen.

Einzig erhaltenes Original einer der „großen“ Leibnizschen 8/16/1-stelligen Vier-Spezies-Rechenmaschinen mit

Staffelwalzen, das kurz vor 1700 begonnen und bis zum Tode Leibniz’ verbessert wurde. Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek, Hannover

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Leibniz’ große – auch finanzielle – Anstrengungen von 1671 in Mainz bis zu seinem Lebensende 1716 in Hannover um den logisch-mathematischen Entwurf und den Bau der ersten Vier-Spezies-Rechenmaschinen sind nur aus dem ganzheitlichen Projekt einer grundlegend neuen Entwicklung von Wissenschaft mit vielfältigen Anwendungen zu verstehen. Obwohl im 17. und beginnenden 18. Jahrhundert mechanische Rechenmaschinen noch keine strategische Bedeutung hatten, wurden diese neuartigen leistungsfähigen vielstelligen Rechengeräte doch zu einem der Grundsteine für die spätere stürmische Entwicklung von Wissenschaft und Technik.

Perspektivische Darstellung der Leibnizschen Zahleneingabe mit Staffelwalze. Zeichnung: F.O. Kopp.

Hierzu großmaßstäbliches Acryl-Modell 8:1 in der Ausstellung.

Perspektivische Darstellung der Zehnerübertragung in zwei Schritten. Zeichnung: F.O. Kopp.

Hierzu großmaßstäbliches Acryl-Modell 8:1 in der Ausstellung.

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Die jüngere „große“ 8/16/1-stellige Leibnizsche Vier-Spezies-Rechenmaschine ab 1716

04. Aug 1716 Ph. H. Zollmann aus Zeitz in Hannover, um über den letzten Stand der Arbeiten an der Maschine zu berichten; Leibniz ist jedoch bereits zur Kur nach Bad Pyrmont abgereist.

Leibniz hat insgesamt ca. 22.000 Gulden (mehr als eine Million Euro) für die Rechenmaschinen aufgewendet.

nach dem 14. Nov 1716 Maschine im Leibniz-Nachlass in Hannover 1775 – 1780 Zur Reparatur in der Universität Göttingen, dort „vergessen und wiederaufgefunden“, defekt zurück nach Hannover 1894 – 1896 Restaurierung durch Civil-Ing. Arthur Burkhardt, Braunschweig, Begründer der

ersten Rechenmaschinen-Fabrik in Deutschland seit 1896 Aufbewahrung in der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover (heute

Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek) Zustand heute: Funktionsmängel infolge von Herstellungsungenauigkeiten und durch

unsachgemäße Handhabungen Die Dresdener Nachbauten von Nikolaus J. Lehmann [2] Nikolaus Joachim Lehmann ließ in den 1980er Jahren an der TU Dresden drei möglichst authentische Nachbauten der „großen“ Leibnizschen Rechenmaschine im Auftrag des Ministerrates der damaligen DDR fertigen. Sein Ziel war es, vollständige Zehnerüberträge durch von rechts nach links abnehmende Spreizwinkel der Zweihörner und damit nicht gleichzeitige, sondern nacheinander abfolgende Zehnerüberträge zu erreichen, ohne die Eingabezahl zu verändern. Nach verschiedenen Vorversuchen wurden in seinen Nachbauten Zweihorn-Spreizwinkel von +132° bis -135° mit ungleichen Differenzwinkeln von 30° bis 33° bei 8 Eingabestellen verwirklicht. Leider reicht nach unseren Untersuchungen diese Maßnahme jedoch nicht aus, um alle Zehnerüberträge richtig durchzuführen. Die Hannoverschen Nachbauten von Karl Popp†, Erwin Stein und Franz Otto Kopp [3], [4] Die vollständigen Zusammenhänge der Zehnerübertragung wurden im von der DFG geförderten Hannoverschen Funktionsmodell konstruktiv sowie analytisch und numerisch im Rahmen einer mathematischen Optimierung ermittelt und ausgewertet. Dieses so weit wie möglich authentische 6/12/1-stellige Funktionsmodell der Leibniz-Maschine wurde – wie bei Lehmann – mit abnehmenden, aber nunmehr optimierten Zweihornwinkeln, und zwar im vergrößerten Maßstab mit doppelten Abständen der Staffelwalzen gebaut.

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6/12/1-stelligen Hannoversches Funktionsmodell 2004/2005 der Leibnizschen Vier-Spezies-Rechenmaschine mit

Korrekturen im Maßstab 2:1. DFG-Forschungsvorhaben Popp†/Stein 2003-2005. Entwurf: Stein/Kopp, Konstruktion: F.O. Kopp, Bau: Institut für Mechanik, J. Anton.

Ein wichtiges Ergebnis unserer Forschung ist, dass ein nach 360°-Drehung der MRK nicht vollständig durchgeführter Zehnerübertrag (angezeigt durch eine schräg stehende Pentagonscheibe) durch Weiterdrehung der MRK um den Winkel 87° korrekt beendet wird, ohne dass die Eingabezahl auf null zu stellen ist. Die erforderliche Weiterdrehung zur Vollendung der Zehnerüberträge beträgt 84,7°, und die zulässige Weiterdrehung vor Beginn einer neuen Addition oder Subtraktion ist 87°, so dass ein positiver Differenzwinkel von 2,3° die Vollendung des Zehnerübertrags erlaubt. Der entsprechende Differenzwinkel in der Lehmannschen Konstruktion beträgt -2,5°, so dass dort die Korrektur theoretisch nicht möglich ist. Dies ist darin begründet, dass in den Leibnizschen und Lehmannschen Maschinen die Zähne der Staffelwalzen auf dem halben Umfang (180°, Teilungswinkel 22,5°) angeordnet sind, während im Hannoverschen Modell nach unseren analytischen Untersuchungen einschließlich einer mathematischen Optimierung eine notwendige Reduktion auf 168° (Teilungswinkel 21°) vorgenommen wurde.

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Binäre Rechenmaschine nach der Beschreibung von Leibniz [2], [4] Leibniz beschrieb 1679 handschriftlich in dem lateinischen Text De Progressione Dyadica eine mit den binären Zahlen 0 und 1 arbeitende Rechenmaschine für Addition und Multiplikation, die „Machina Arithmeticae Dyadicae“. Anstelle eines Getriebes – wie bei der dezimalen Vier-Spezies-Maschine – rollen hierin kleine Metallkugeln infolge der Schwerkraft auf einer doppeltschiefen Ebene aus dem nach vorne verschobenen Schlitten (der „Büchse“) mit dem binären Eingabewerk in das feststehende Rechen- und Ergebniswerk mit den Zweierüberträgen als wichtigsten Konstruktionselementen. Diese Maschine hat also die gleichen beiden Hauptbaugruppen wie die dezimale Getriebemaschine. Vom logischen Prinzip her kann die von Leibniz beschriebene Binärmaschine als Vorläufer der heutigen binär rechnenden Computer angesehen werden, deren erste mechanische Ausführung – die Zuse Z1 – 1936 von Konrad Zuse gebaut und patentiert wurde, welche allerdings einem völlig anderen Konstruktionsprinzip mit winkelförmigen Ausstanzungen in dünnen Metallplättchen folgt.

„Diese Art Kalkül könnte auch mit einer Maschine ausgeführt werden, auf folgende Weise sicherlich sehr leicht und ohne Aufwand: Eine Büchse soll so mit Löchern versehen sein, dass diese geöffnet und geschlossen werden können. Sie sei offen an den Stellen, die jeweils 1 entsprechen, und bleibe geschlossen an denen, die 0 entsprechen. Durch

die offenen Stellen lasse sie kleine Würfel oder Kugeln in Rinnen fallen, durch die anderen nichts. Sie werde so bewegt und von Spalte zu Spalte verschoben, wie die Multiplikation es erfordert. Die Rinnen sollen die Spalten darstellen, und kein Kügelchen soll aus einer Rinne in eine andere gelangen können, es sei denn, nachdem die

Maschine in Bewegung gesetzt ist. Dann fließen alle Kügelchen in die nächste Rinne, wobei immer eines weggenommen wird, welches im Loch bleibt, sofern es allein den Ausgang passieren will. Denn die Sache kann so

eingerichtet werden, dass notwendig immer zwei zusammen herauskommen, sonst sollen sie nicht herauskommen.” Aus: De Progressione Dyadica, 1679. Deutsche Übersetzung von Ludolf von Mackensen.

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Leibnizsche binäre Rechenmaschine von Ludolf von Mackensen [2] Ludolf von Mackensen übersetzte 1968 den lateinischen Text und entwarf eine 7/12/5-stellige binäre Rechenmaschine, die 1971 vom Deutschen Museum München konstruiert und gebaut wurde. Im Zweierübertrag rollt eine zweite, nachrollende Kugel über ein Auslöseplättchen, wodurch die erste Kugel aus dem Rechenwerk freigegeben wird. Die zweite Kugel wird von einer Zunge mit etwas geringerer Neigung in die nächste linke Resultatstelle geleitet. Diese empfindliche Bauweise führt leider zu zufälligen Fehlern. Außerdem kann es während eines zu schnellen Ablaufs der Kugeln aus dem Einstellwerk zu Staus kommen, wenn der Eingabeschlitten zu schnell heruntergefahren wird. Jedoch können diese Fehler, da die Rechenvorgänge – aufgrund des Holzgehäuses – nicht sichtbar sind, von außen nicht lokalisiert werden.

Mechanische binäre Rechenmaschine nach Leibniz. 7/12/6-stelliges Modell nach Ludolf von Mackensens Entwurf

von 1968. Hessisches Landesmuseum, Kassel, 1985. Funktionsmodell der Leibnizschen binären Rechenmaschine von Erwin Stein und Gerhard Weber [4] Im Neubau mit Acrylgehäuse, konzipiert von Erwin Stein und von Feinmechanikermeister Gerhard Weber, Stauffenberg, sowie konstruiert und gebaut von letzterem mit Beratung von Dr.-Ing. F. O. Kopp, wurden statt der Zungen winkelförmige Fangarme mit Drehfedern und Anschlägen verwendet, welche die Kugeln sicher umleiten. Außerdem wurden die Neigungswinkel der schiefen Ebene optimiert und eine gefederte Rasterung für den Schlittenablauf eingebaut, um Kollisionen bei Zweierüberträgen zu vermeiden. Die Maschine addiert und multipliziert im gesamten verfügbaren Zahlenbereich richtig.

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7/12/6-stelliges Hannoversches Funktionsmodell der Leibnizschen „Machina Arithmeticae Dyadicae“ nach dem

Entwurf von Erwin Stein und Gerhard Weber. Gebaut von Gerhard Weber, 2004. Anmerkung: Es ist zu erwähnen, dass Konrad Zuse im Jahre 1936 ein Reichspatent für seinen mechanisch arbeitenden binären Rechenautomaten Z1 (mit Rückübertragung in das Dezimalsystem). Die Rechenoperationen mit „1“ oder „0“ werden mit Hilfe dünner Metallplättchen mit ausgestanzten Winkeln durchgeführt. Ein Bolzen wird im Winkelschlitz entweder horizontal (für die „1“) oder vertikal (für die „0“) bewegt. Entsprechend ist das Speichersystem aufgebaut. Getriebemodell der Leibnizschen binären Rechenmaschine als Vier-Spezies-Maschine von Erwin Stein und Franz Otto Kopp Bereits im Jahre 2005 erkannten E. Stein und F.O. Kopp, dass das geniale Konstruktionsprinzip der Leibnizschen dezimalen Vier-Spezies-Getriebemaschine auch in eine binäre Getriebemaschine übersetzbar ist, ja sogar auch auf solche mit einem oktalen oder quattralen Zahlensystem. Im Unterschied zu der von Leibniz beschriebenen binären „Kugel-Maschine“, die nur addieren und multiplizieren kann, lassen sich mit der im Jahre 2008 fertig gestellten binären Getriebemaschine mit 7 Eingabe-, 12 Resultat- und 6 Zählwerkstellen alle vier Grundrechenarten durchführen. Die Staffelwalzen (für die Zahleneingabe) haben nur die Ziffern 0 und 1, die Ergebnisräder jeweils fünf Folgen von 0 und 1 am Umfang. Es ist sehr bemerkenswert, dass sich die zweistufigen Leibnizschen Zehnerüberträge unmittelbar auf die Konstruktion von Zweierüberträgen übersetzen lassen, einschließlich der Zweihörner. Dieses Funktionsmodell verdeutlicht erneut, wie weittragend und allgemeingültig die Konstruktionsprinzipien der Leibnizschen Rechenmaschinen sind.

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Binäre Vier-Spezies-Getriebemaschine 2008. 7/12/6-stellige Neukonstruktion in Übertragung der binären

Rechenregeln auf das Konstruktionsprinzip der Leibnizschen dezimalen Vier-Spezies-Rechenmaschine. Entwurf: E. Stein & F.O. Kopp, 2007, Konstruktion: F.O. Kopp, Bau: F.O. Kopp & J. Anton, 2007/2008.

Foto: E. Stein.

Funktionsweise der binären Getriebemaschine. Zeichnung. F.O. Kopp.

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Perspektivische Darstellung des Zweierübertrags in der binären Getriebemaschine. Zeichnung: F.O. Kopp.

Literatur Anmerkung: Es werden nur Veröffentlichungen angegeben, die in der Regel im Buchhandel und in Bibliotheken verfügbar sind. [1] N.J. Lehmann. „Leibniz als Erfinder und Konstrukteur von Rechenmaschinen“, in: Proc. Internationales Symposium zum 350. Geburtstag von G.W. Leibniz, Leipzig 1996. G. Olms Verlag. Zürich/New York, 1996. [2] L. von Mackensen: „Die ersten dekadischen und dualen Rechenmaschinen“, in: E. Stein, P. Wriggers (Hrsg.). Gottfried Wilhelm Leibniz. Philosoph, Mathematiker, Physiker, Techniker. Begleitbuch zur Leibniz-Ausstellung der Universität Hannover. 2. Aufl. Selbstverlag Universität Hannover. Hannover, 2006. S. 84-107. [3] F.O. Kopp, E. Stein: „Es funktioniert doch – mit zwei Korrekturen: Zehnerüberträge der Leibniz-Maschine“, in: Unimagazin Hannover, Heft 3,4 (2006), S.56-59. [4] E. Stein, F. O. Kopp: „Calculemus! Neue Hannoversche Funktionsmodelle zu den Rechenmaschinen von Leibniz“, in: Unimagazin Hannover, Heft 3,4 (2006), S.60-63.

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T8 Technische Verbesserungen im Oberharzer Bergbau [1], [2] Leibniz’ Überzeugung, dass neue wissenschaftliche Erkenntnisse mit praktischen Erfindungen einhergehen sollen, fand besonders in seinen Bemühungen um technische Verbesserungen im Oberharzer Bergbau ihren Niederschlag. Windkünste für die Entwässerung der Stollen Die Lösung der großen Probleme bei der Grubenentwässerung und Erzförderung in den bis zu 400 Lachter (entspricht 400 x 1,92 = 768 m) tiefen Flözen war den Hannoverschen Herzögen ein wichtiges Anliegen, da die Einkünfte aus der Silber- und Zinngewinnung eine bedeutende Stelle im herzoglichen Haushalt einnahmen. Leibniz hatte ein starkes Interesse an neuartigen technischen Lösungen hierfür, auch als praktische Nutzanwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse im Sinne seiner Akademie-Projekte. Das Hauptproblem im Oberharzer Bergbau bestand darin, dass die Erzförderung im Sommer oft unterbrochen werden musste, weil infolge mangelnder Niederschläge die von Wasserrädern betriebenen Kolbenpumpen das Wasser nicht aus den Flözen befördern konnten. Zur Abhilfe schlug Leibniz vor, im Zusammenwirken mit den Wasserrädern zusätzlich Windkünste (Windmühlen) einzusetzen, um so die Schächte und Abbaustrecken zu allen Jahreszeiten entwässern zu können. Im Dezember 1678 verfasste Leibniz eine Denkschrift „Über die Wasserwirtschaft im Harz“ an Herzog Johann Friedrich. Im August und September 1680 hält sich Leibniz in Zellerfeld und Clausthal auf und verfasst ein Memorandum an das Bergamt. 1681/82 ist er häufig im Harz, um den Bau einer 1679 begonnenen Vertikalwindkunst (Achtkantmühle holländischer Bauart) bei der Grube St. Catharina – nach vielen Unterbrechungen und Schwierigkeiten – voranzubringen. Es wurden probeweise 14, später bis zu 19 Pumpensätze durch Gestänge an die Windkunst angeschlossen. Ein Pumpensatz sollte das Wasser bis zu 5 Lachter (9,6 m) hoch pumpen. Praktisch ist es aber wohl nie gelungen, das Wasser aus tiefer gelegenen Flözen direkt mit Windkraft zur Oberfläche zu befördern.

Vertikalwindkunst mit Flügelwelle sowie Pleuelstange und Pumpengestänge; Modellbau: P. Stromeyer, 1979,

Leihgabe des Historischen Museums Hannover

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Leibniz wollte also mit „Wasser und Wind in Conjunction“ die Windkräfte ausnutzen, um unmittelbar Wasser aus den Flözen zu pumpen, und darüber hinaus bei ausreichender Leistung der Wasserräder Regenwasser in höher gelegene Teiche pumpen, von wo es in Zeiten von Wassermangel durch Gräben und Gerinne neuer Verwendung zugeführt werden konnte. Für die zusätzliche Nutzung der Windenergie schlug Leibniz weiterhin so genannte Horizontalwindkünste mit Förderschnecken vor, wie sie bereits seit 3000 Jahren in China und Persien bekannt waren. Mit dieser einfachen Konstruktion eines sich in Folge des Winddrucks um eine vertikale Achse drehenden rechtwinkligen Flügelkreuzes innerhalb einer achteckigen Holzverkleidung mit tangentialen Einlassöffnungen konnte natürlich nur ein kleiner Wirkungsgrad erzielt werden, weil sich konstruktionsbedingt das Flügelkreuz nicht schneller bewegen kann als der Wind und die Einlassöffnungen relativ klein sind. Es wird nur etwa ein Fünftel der verfügbaren Energie des Windes, der durch die Öffnungen strömt, ausgenutzt. Über ein Kegelrad wurde eine Förderschnecke angetrieben, die Wasser in eine Höhe von 6 bis maximal 8 m pumpen konnte und damit nur für die Speicherung von Wasserenergie geeignet war.

Ausschnitt des Entwurfs der Horizontalwindkunst von Leibniz’ Hand, Hannover Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek,

LH XXXVIII, Bl. 313

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Horizontalwindkunst für den direkten Antrieb einer Wasserförderschnecke; Modellbau: P. Stromeyer, 1980. Leibniz

Universität Hannover. Es ist zu bedenken, dass bei allen Windkünsten die Reibung in den Gestängen, Übersetzungen und Lagerungen groß war, so dass die tatsächlich nutzbare Energie nicht den Erwartungen entsprach. Leibniz bemühte sich um bessere Lagerungen und stabilere, einfachere Konstruktionen und führte hierzu viele Modellversuche aus. Aufgrund vieler Misserfolge wurde der Betrieb der Vertikalwindkunst bei der Grube St. Catharina auf herzoglichen Erlass hin im Jahre 1685 eingestellt und die Windmühle im Folgejahr abgerissen. Das Scheitern dieses von Leibniz mit großem Einsatz betriebenen Projektes lässt sich auf verschiedene Ursachen zurückführen, insbesondere große technische Schwierigkeiten bei Material und Konstruktion sowie ein gewisser Mangel an Motivation der verfügbaren Fachleute, aber auch Blockadehaltungen der Bergämter und Bergleute sowie die mangelnde Bereitschaft von Leibniz, sich mit den unmittelbaren Problemen der Bergarbeiter zu befassen. So weigerte er sich, in die Gruben einzufahren, was natürlich Misstrauen hervorrief. Auch Befürchtungen um den Verlust von Arbeitsplätzen angesichts technischer Neuerungen trugen hierzu bei. In der Gesamtwürdigung dieser ersten Tätigkeitsperiode im Harz sind die systematischen Bemühungen um die jahreszeit- und witterungsunabhängige Entwässerung der Schächte und Stollen im Oberharzer Bergbau durch das ausgeklügelte Zusammenwirken von Wasser- und Windkünsten – „Wasser und Wind in Conjunction“ – in einem Wasserkreislauf hervorzuheben. Teiche in verschiedenen Höhenlagen östlich von Clausthal-Zellerfeld sollten durch bestehende natürliche Gerinne und neue künstliche Gräben verbunden werden, so dass verschiedenartige durch Wasser und Wind angetriebene Pumpen ständig in Betrieb bleiben konnten und damit eine effiziente Energiespeicherung möglich war.

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Von Leibniz erweiterter Plan für den Wasserkreislauf im Harz zur Speicherung und Wiedergewinnung von

Wasserenergie. Zeichnung von H.-J. Boyke, 1988 Von Bedeutung war für Leibniz primär das übergeordnete vernetzte Einbeziehen aller Möglichkeiten auf der Grundlage logischer Überlegungen und analytischer Untersuchungen. Die fehlenden oder unzureichenden technischen Mittel waren die mächtigen Stolpersteine, die den Erfolg verhinderten, die aber nicht seinen Drang nach weiteren und besseren Lösungen zügelten. Fördereinrichtungen mit vollkommenem Gewichts- oder Momentenausgleich Leibniz wollte durch die Anwendung von Gesetzen der Mechanik Aufwand und Kosten der Erzförderung minimieren. Die erforderlichen Kräfte von Menschen und Tieren und der Energieaufwand sollten reduziert werden, um den Bergbau effizienter zu machen. Endloskette für den Gewichtsausgleich In den Jahren 1685/86 und 1693 (während seiner zweiten Tätigkeitsperiode im Oberharzer Bergbau von 1693 bis 1696) erprobte Leibniz auf den Gruben Drey Brüderschacht und Thurm Rosenhof die Erzförderung aus 400 Lachter Tiefe mit einer Endloskette (oder einem Endlosseil), d.h. mit Ober- und Unterseil, bei etwa 80° Neigung der Erzgänge. Hierbei wird – bis auf die ggf. erheblichen Reibungsverluste beim Gleiten der Ketten über die Schachtwand – ein vollständiger Gewichtsausgleich der beiden am Seil angehängten vollen bzw. leeren zylindrischen Förderkörbe erzielt. Die im Göpel laufenden beiden Pferde üben mit in etwa konstanten Kräften ein Moment aus, das die Reibungskräfte des gleitenden Seils und der Rollen zu überwinden hat. Nachteilig waren häufiger auftretende Verschlingungen von Ober- und Unterkette in Folge unterschiedlicher Gleitwiderstände der Schachtwände und deren veränderliche Neigungen.

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Konische Seiltrommeln für den Momentenausgleich Bei senkrechten Schachtwänden kamen natürlich nur einfache Seile und Ketten (ohne Unterseil) für den Förderbetrieb in Frage. Die Seilkräfte sind hierbei um das Gewicht der Erzfüllung sowie aller Reibungswiderstände verschieden. Es ist also kein vollständiger Gewichtsausgleich möglich, aber ein vollständiger Momentenausgleich der Seilkräfte. Hierfür erfand Leibniz zwei bemerkenswerte unterschiedliche Konstruktionen für die Seiltrommeln. In der einen Lösung verwendet Leibniz zwei konische Seilkörbe (Spiraltrommeln), die auf einer vertikalen Welle übereinander angeordnet sind. Das Förderseil mit einem gefüllten und einem leeren Förderkorb an den beiden Enden wird mittels zweier fester Rollen über die Seilkörbe geführt. Das im Bild ersichtliche obere Seil mit dem gefüllten Förderkorb wird auf die obere konische Trommel mit kleinem Radius aufgerollt, während das untere Seil mit dem leeren Förderkorb von der unteren konischen Trommel mit großem Radius abrollt. Die Gewichte der Seile werde im Momentengleichgewicht „Kraft x Kraftarm = Last x Lastarm“ mitberücksichtigt, so dass die im Göpel laufenden Pferde während des gesamten Fördervorganges mit näherungsweise konstanten Kräften ziehen müssen, was den kontinuierlichen Betrieb sehr erleichtert. Erfolgreich erprobt wurde diese Konstruktion im Jahre 1694 im St.-Johannes-Schacht.

Konische Seiltrommeln (Spiralkörbe) für den vollkommenen Momentenausgleich. Skizze und Entwurf des konischen

Seilkorbs aus Leibniz’ Hand, Hannover Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek, LH XXXVIII, Bl. 68.

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Konische Seiltrommeln (Spiralkörbe) für den vollkommenen Momentenausgleich. Funktionsmodell der konischen

Seiltrommeln; Konstruktion und Bau: Karl Ludewig, 1990. Leibniz Universität Hannover. Die „Bobine“ für den vollständigen Momentenausgleich Bei der (in der Dauerausstellung nicht gezeigten) so genannten „Bobine“ werden als Variante für den vollständigen Momentenausgleich – wie bei den konischen Seilkörben – zwei übereinander liegende, jedoch nun zylindrische Seiltrommeln mit unterschiedlichen Breiten verwendet. Das Seil mit dem gefüllten Förderkorb läuft auf der breiten Trommel bei relativ kleinen Radien auf, während das Seil mit dem leeren Korb auf der schmalen Trommel bei relativ großen Radien abläuft, so dass das Momentengleichgewicht unter Beachtung der Seilgewichte wieder erzielt wird. Auch diese Konstruktion bewährte sich. „Neues Treibwerck“ (Neue Treibkunst) In den Jahren 1694/95 erfand Leibniz eine geniale, aber für die damalige Zeit zu komplizierte Verknüpfung von Wasserhaltung und Erzförderung, die er „Neues Treibwerck“ nannte; sie wird durch ein oberschlägiges Wasserrad angetrieben. Von der verkröpften Welle – dem krummen Zapfen – des Wasserrades wird die Drehung in die Hin-und-Her-Bewegung eines Feldgestänges übertragen und hierdurch die Pumpensätze zur Entwässerung der Stollen angetrieben. In der Verlängerung des Gestänges wird die translativen Hin-und-her-Bewegung wieder in eine Drehbewegung (die auch umkehrbar ist) für die Erzförderung zurückgeführt. Diese Rückübertragung hat jedoch den gravierenden Nachteil, dass Sprünge der Winkelgeschwindigkeiten in den Endstellungen des Feldgestänges (bei Richtungsumkehr) auftreten. Durch diesen so genannten Ruck kam es zu Seilbrüchen. Die umfangreiche Konstruktion wurde zwischen 1693 und 1695 auf der Grube Thurm Rosenhof erprobt, aber sie kam wegen der geschilderten Probleme nicht zum Einsatz. Abschließend sei zu den beiden Tätigkeitsperioden von 1678 bis 1686 (mit teils privaten Aufenthalten) und 1693 bis 1696 bemerkt, dass Leibniz in der Verwirklichung seines lebenslangen Mottos „theoria cum praxi“ bedeutende Ingenieurleistungen hervorbrachte, und zwar sowohl in den Detailkonstruktionen unter Ausnutzung der neu entdeckten Gesetze der Mechanik als auch im Zusammenwirken aller Einrichtungen im energetisch optimierten System.

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Er war hiermit seiner Zeit weit voraus, und es war – wie auch bei anderen Projekten – nicht verwunderlich, dass vieles misslang. Literatur Anmerkung: Es werden nur Veröffentlichungen angegeben, die in der Regel im Buchhandel und in Bibliotheken verfügbar sind. [1] J. Gottschalk: „Technische Verbesserungsvorschläge im Oberharzer Bergbau“, in: E. Stein, P. Wriggers (Hrsg.). Gottfried Wilhelm Leibniz. Philosoph, Mathematiker, Physiker, Techniker. Begleitbuch zur Leibniz-Ausstellung der Universität Hannover. 2. Aufl. Selbstverlag Universität Hannover. Hannover, 2006. S. 109-132. [2] E. Stein: „Theoria cum Praxi. Leibniz als technischer Erfinder“, in: T. Reydon, P. Hoyningen-Huene (Hrsg.). Buchpublikation der Ringvorlesung 2007 an der Leibniz Universität Hannover. Franz Steiner Verlag. Stuttgart. Im Druck.

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T9 Leibniz’ Plan für eine große Fontäne in den Herrenhäuser Gärten Im Frühjahr 1696 erhielt Leibniz auf Vorschlag von Kurfürstin Sophie den Auftrag von Kurfürst Ernst August, einen Plan für die deutliche Verbesserung der Wasserversorgung bei erhöhtem Druck sowie für eine neue, große Fontäne in den Herrenhäuser Gärten zu erstellen. Seit der Anlage des quadratischen Parterres im Garten von 1674 bis 1678 durch den Hofgärtner Henri Perronet wurden die unzureichende Wasserzufuhr für die gewünschten Fontänenhöhen und die geringe Dauer der Wasserkünste bemängelt. Die vor 1696 vorgelegten Pläne der französischen Garten- und Fontänengestalter Cadart und Denis ließen sich nicht verwirklichen.

Colorierter Kupferstich der Herrenhäuser Gärten von N. Parr, 1745, (nach einem Stich von 1714). Historisches Museum Hannover

Leibniz legte seine Pläne Mitte des Jahres 1696 vor. Der erste weiter gehende Plan lautet wie folgt: 1. die Anlage eines südlich des Jägerhofs von der Leine abzweigenden, in gerader Linie zum Herrenhäuser Garten führenden und in der Nähe des Dorfes Limmer wieder in den Fluss einmündenden Stichkanals. 2. den Bau eines sogenannten Kunstgebäudes mit einer Wasserkunst (Pump- oder Schöpfwerk) am Anfang des Stichkanals und zusätzlich eines Wehres mit Schleuse zum Aufstauen der Leine. Nach Leibniz’ Plan läuft das Wasser aus dem Stichkanal in das auf gleicher Höhe liegende Becken der Wasserkunst. Ein Wasserrad mit 10 m Durchmesser treibt 4 Pumpen an, davon 2 für

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Verfasser: Prof. Erwin Stein

das Heben des Wassers in ein Becken in 12 m Höhe, von wo es auf ein Aquädukt zum großen Wasserbecken geleitet wird. 2 weitere Pumpen heben einen Teil des Wassers in einen Behälter mit angeschlossenem Windkessel im Turm in 18 m Höhe, in dem durch die Kompression der Luft der Wasserdruck so erhöht wird, dass die neu geplante Fontäne mit 3 direkten Zuleitungen eine dank Windkessel konstante Höhe von 35 Metern erreichen soll. Leibniz weist in seinem Gutachten darauf hin, dass durch die Anlage des Kanals auch Gondeln und Schiffe zum Gütertransport verkehren könnten.

Leibniz’ Plan von 1696 für verbesserte Wasserkünste und eine neue große Fontäne in den Herrenhäuser Gärten; Beschriftung von einem Schreiber. Hannover Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek, Ms XXIII, 734, Bl. 24

Modell der von Leibniz geplanten Wasserkunst (Pumpenhaus) mit Wasserrad am neuen Stichkanal der Leine. Modellbau: K. Ludewig, 2006. Leibniz Universität Hannover.

Ein zweiter, weniger umfangreicher Vorschlag sieht den Bau eines Schöpfrades an der Leine vor, womit sowohl der Betrieb der Fontänen als auch die Wasserversorgung der Neustadt (damals

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westlich der Stadt Hannover) ermöglicht werden sollte. Die einige Kilometer lange Wasserleitung hätte jedoch erhebliche Wasserverluste zur Folge gehabt. Leibniz plädierte für die erste „große“ Lösung, jedoch wurden zu seiner Lebenszeit lediglich das Wehr und ein Schöpfrad in der Leine gebaut, was aber von großer Bedeutung war für die nach seinem Tod von 1717 bis 1720 gebaute Wasserkunst und Fontänenanlage, worin wesentliche Elemente des Leibnizschen großen Plans, nämlich Stichkanal, Kunstgebäude mit Wasserkunst sowie getrennte Leitungen für das Wasserbecken der Wasserspiele und der großen Fontäne verwirklicht wurden. Anstelle nur eines Wasserrades bauten die englischen Ingenieure unter Leitung von Mr. Bendsson, Shaftsbury, letztendlich fünf mittelschlächtig beaufschlagte Wasserräder mit beidseitigen Kehrschlössern (zur Erzielung hohen Wasserdrucks) zum Antrieb von je acht Pumpen, d.h. insgesamt 40 Pumpen, in den Stichkanal. Hiermit wurde sowohl das Wasser mit einer unterirdisch verlegten Leitung in den Hochbehälter für die Wasserspiele gepumpt als auch mit einer separaten Leitung die große Fontäne betrieben, die tatsächlich im Jahre 1720 die Höhe von 35 m und damit einen technischen Glanzpunkt in Europa erreichte. Die Pläne für den Bau der Wasserkünste wurden von Johann Christian Böhme im Jahre 1728 sehr akkurat gezeichnet und werden in Göttingen aufbewahrt. Bemerkenswert ist auch das noch aus dieser Zeit existierende Holzmodell eines Wasserrades mit Kehrschlössern, das bis vor kurzem auf der Marienburg aufbewahrt und an das Historische Museum Hannover verkauft wurde, wo es derzeit restauriert wird. Im Jahre 1856 wurde ebenfalls von englischen Ingenieuren ein neues Pumpenhaus für die große Fontäne errichtet. Damit wurde eine Fontänenhöhe von 67 m erreicht. 1956 wurde die installierte Leistung mit 4 Pumpen a 140 PS (also 560 PS), die 400 m³ pro Stunde fördern, erhöht. Seitdem wird bei günstigen Witterungsbedingungen eine Höhe von maximal 82 m erreicht, wobei der ringförmige Wasserstrahl am Fuß der Fontäne nur 4 mm Dicke hat. Von den ursprünglichen Bauten aus der Zeit um 1720 stehen noch 2 mittelschlächtige Wasserräder im Kanal und versorgen die U-förmige Graft der Herrenhäuser Gärten noch heute mit Wasser.

Schlussbemerkungen Die vorgestellten Beispiele nützlicher technischer Erfindungen von Leibniz stellen nur einen kleinen Teil seines umfangreichen und vielfältigen Schaffens dar. Sie beweisen, dass ihm das Motto „theoria cum praxi“ ein ernstes Anliegen war und er nicht zuletzt durch seine kühnen, zukunftsweisenden Konstruktionen immer wieder Rückschläge und Misserfolge erdulden musste. Dies erforderte eine belastbare Persönlichkeit mit starkem Willen, übergeordneten Denkstrukturen und philosophischen Überzeugungen. Leibniz hatte immer das große Ganze im Sinn und strebte nach der Verbindung von universeller und individueller Harmonie, wie sie in den 90 Paragraphen seiner Monadologie (1712-1714; veröffentlicht in Deutsch 1720, französische Originalfassung 1840), dargelegt ist. In der so genannten Leibniz-Welt werden unter dem Leitgedanken einer „Einheit in der Vielheit“ Materie, Geist und Seele in der Einheit aller Wissenschaften, der Einheit der realen und geistigen Welt und der Einheit von Theorie und Praxis zusammengeführt. Dieses ethisch begründete Programm eines inhärenten Rationalismus kann auch für uns heute noch wegweisend sein.

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