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176 Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 15 (1992): Rezensionen ren Material fur die spatere Verfolgung jiidischer Fach- vertreter verschiedenster Ausrichtungen zusammen- getragen worden war (S. 327-334). Engelbrecht Boise gibt einen Uberblick uber ,,Das offentliche Bibliothekswesen im Dritten Reich" (S. 91-111). Die offentlichen Bibliotheken seien uber 200 Jahre bis hin zum Dritten Reich in Deutschland unterentwickelt gewesen. Rein rhetorisch seien sie im Rahmen der nationalsozialistischen Propaganda aufgewertet worden. Es sei nicht verwunderlich, dai3 die Bibliothekare hier eine Chance gesehen hatten. Eine wichtige Roile hatten die ,,Preunische Landes- stelle fur volkstumliches Biichereiwesen" und das ,,Reichsministerium fur Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung" gespielt. Die Wirklichkeit sei aber ein ganzes Stuck von dem zu Beginn des Dritten Reiches gezeichneten Idealbild einer nationalsoziali- stischen Kampfbucherei entfernt geblieben. Radikale Elemente, wie etwa die Ordnung von Bibliotheken nach nationalsozialistischen Leitvokabeln, seien fehl- geschlagen. Letztendlich sei in der Buchereipolitik des NS-Staates die Tendenz zur Selbstzerstorung be- reits angelegt gewesen. Eine bleibende Wirkung der Buchereipolitik im Dritten Reich sei es gewesen, dai3 sich die offentliche Biicherei von einer Bildungsbii- cherei zu einer Dienstleistungsinstitution entwickelt habe. Dies sei aber kein Verdienst des Nationalsozia- lismus, sondern eine der Folgen seines verhingnis- vollen Wirkens. Konrad Heyde erlautert dann detail- liert die Funktion, die Gestaltung, das Vorgehen der staatlichen Volksbuchereistellen am Beispiel von Freiburg im Breisgau (S. 113-161). Die Hinweise auf einige wenige BeitLige diirften deutlich gemacht haben, wieviel richtungweisende Anregungen fur die weitere Erforschung dieser Epo- che in diesem Band zusammengestellt wurden. Es ist sehr zu begriiflen, dai3 diese Ansatze in einem zwei- ten Band vertieft werden sollen. Anne Baumer-Schleinkofer, Mainz Leibniz korrespondiert rnit China. Der Briefwechsel mit den Jesuitenmissionaren (1689- 1714). Herausgegeben von Rita Widmaier. 332 Seiten, 1 separate Karte ,,C Asie" von G. Delisle. Franfurt am Main: Vittorio Klostermann 1990. 120,- DM. Urn 1700, als ganz Europa zum Kriegsschauplatz wurde (Spanischer Erbfolgekrieg, Nordischer Krieg, Grofler Tiirkenkrieg), hatte am anderen Ende der eu- rasischen Landmasse die Manju-Dynastie ihre Kon- solidierungsphase abgeschlossen und die Groi3e des Reiches der Mitte erneuert. \Vahrend Ludwig XIV. das Edikt von Nantes aufhob, erliefl Kaiser K'ang-hsi 1692 ein Toleranzedikt, mit dem er das Christentum als gleichberechtigte Religion anerkannte. Diese und andere Nachrichten erweckten das Interesse von In- tellektuellen in Europa und fuhrten zu einer intensi- ven geistigen Beschaftigung rnit China. Insbesondere gilt dies fur Gottfried Wilhelm Leibniz, der in China ein gleichwertiges Pendant zum Abendland erblickte und von einem regen Austausch zwischen beiden Kulturen eine gegenseitige Befruchtung, einen uni- versalen Fortschritt erwartete. Als Informanten dienten Leibniz Missionare des Je- suitenordens, der seit 1550 kontinuierlich in China gewirkt hatte und auch am Kaiserhof eine geachtete Position einnahm. Die 70 Briefe, die Leibniz rnit Je- suiten der Chinamission, insbesondere mir C. F. Gri- maldi (1639-1712), A. Verjus (1632-1706), J. Bouvet (1656-1730) und C. Le Gobien (1653-1708), gewech- selt hat, hat die Herausgeberin in diesem Band zu- sammengestellt und rnit kritischen Anrnerkungen versehen. Die Wii3begier des Universalgenies Leibniz er- streckte sich iiber die verschiedensten Themen, um- fahe typisch chinesische Handelsprodukte ebenso 0 VCH Verlagsgesellschaft mbH, D-6940 Weinheim 1992 wie die chinesische Philosophie. Zum Beispiel er- hoffte er sich aufgrund der langen chinesischen Ge- schichte Aufschlusse uber das Alter der Welt und der Menschheit sowie uber die Verwandtschaft der Vo1- ker und ihrer Sprachen. Auch technologische Fragen sprach er immer wieder an, weil er meinte, dafl China auf diesem Gebiet dem Abendland voraus sei. Von einer genauen Kenntnis der chinesischen Erfin- dungen versprach er sich daher einen enormen Ent- wicklungsschub. Dafl Leibniz die chinesischen Wissenschaften so hoch schatzte, hatte nicht zuletzt auch ein personli- ches Motiv, erblickte er doch in den Hexagrammen des I-ching eine Entsprechung zu dem von ihm er- fundenen binaren Zahlensystem. Zusammenfassend lai3t sich sagen, dai3 der Brief- wechsel ausschliefllich Themen behandelt, die seiner- zeit hochst aktuell waren. Naturgernafl betrifft das damalige Tagesgeschehen auch Personen und Ereig- nisse, die von der spateren Geschichtsschreibung ignoriert wurden. Insofern stellt jede Edition eines Briefwechsels eine besondere Herausforderung an die Bearbeiter dar. Obwohl man hier in der Sekundar- literatur manchen Titel wie den Katalog China illu- strata von Hartmut Walravens (Wolfenbiittel 1987) oder auch die Publikationen von Eva S. Kraft iiber Andreas Cleyer vermiflt, mug man der Herausgebe- rin hohen Respekt vor der erbrachten Leistung zollen. Wolfgang Caesar, Stuttgart 0170-6233/92/0311-0176 $03.50+.25/0

Leibniz korrespondiert mit China. Der Briefwechsel mit den Jesuitenmissionaren (1689-1714). Herausgegeben von Rita Widmaier. 332 Seiten, 1 separate Karte “L' Asie” von G. Delisle

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176 Berichte z u r Wissenschaftsgeschichte 15 (1992): Rezensionen

ren Material fur die spatere Verfolgung jiidischer Fach- vertreter verschiedenster Ausrichtungen zusammen- getragen worden war (S. 327-334).

Engelbrecht Boise gibt einen Uberblick uber ,,Das offentliche Bibliothekswesen im Dritten Reich" (S. 91-111). Die offentlichen Bibliotheken seien uber 200 Jahre bis hin zum Dritten Reich in Deutschland unterentwickelt gewesen. Rein rhetorisch seien sie im Rahmen der nationalsozialistischen Propaganda aufgewertet worden. Es sei nicht verwunderlich, dai3 die Bibliothekare hier eine Chance gesehen hatten. Eine wichtige Roile hatten die ,,Preunische Landes- stelle fur volkstumliches Biichereiwesen" und das ,,Reichsministerium fur Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung" gespielt. Die Wirklichkeit sei aber ein ganzes Stuck von dem zu Beginn des Dritten Reiches gezeichneten Idealbild einer nationalsoziali- stischen Kampfbucherei entfernt geblieben. Radikale Elemente, wie etwa die Ordnung von Bibliotheken nach nationalsozialistischen Leitvokabeln, seien fehl-

geschlagen. Letztendlich sei in der Buchereipolitik des NS-Staates die Tendenz zur Selbstzerstorung be- reits angelegt gewesen. Eine bleibende Wirkung der Buchereipolitik im Dritten Reich sei es gewesen, dai3 sich die offentliche Biicherei von einer Bildungsbii- cherei zu einer Dienstleistungsinstitution entwickelt habe. Dies sei aber kein Verdienst des Nationalsozia- lismus, sondern eine der Folgen seines verhingnis- vollen Wirkens. Konrad Heyde erlautert dann detail- liert die Funktion, die Gestaltung, das Vorgehen der staatlichen Volksbuchereistellen am Beispiel von Freiburg im Breisgau (S. 113-161).

Die Hinweise auf einige wenige BeitLige diirften deutlich gemacht haben, wieviel richtungweisende Anregungen fur die weitere Erforschung dieser Epo- che in diesem Band zusammengestellt wurden. Es ist sehr zu begriiflen, dai3 diese Ansatze in einem zwei- ten Band vertieft werden sollen.

Anne Baumer-Schleinkofer, Mainz

Leibniz korrespondiert rnit China. Der Briefwechsel mit den Jesuitenmissionaren (1689- 1714). Herausgegeben von Rita Widmaier. 332 Seiten, 1 separate Karte ,,C Asie" von G. Delisle. Franfurt am Main: Vittorio Klostermann 1990. 120,- DM.

Urn 1700, als ganz Europa zum Kriegsschauplatz wurde (Spanischer Erbfolgekrieg, Nordischer Krieg, Grofler Tiirkenkrieg), hatte am anderen Ende der eu- rasischen Landmasse die Manju-Dynastie ihre Kon- solidierungsphase abgeschlossen und die Groi3e des Reiches der Mitte erneuert. \Vahrend Ludwig XIV. das Edikt von Nantes aufhob, erliefl Kaiser K'ang-hsi 1692 ein Toleranzedikt, mit dem er das Christentum als gleichberechtigte Religion anerkannte. Diese und andere Nachrichten erweckten das Interesse von In- tellektuellen in Europa und fuhrten zu einer intensi- ven geistigen Beschaftigung rnit China. Insbesondere gilt dies fur Gottfried Wilhelm Leibniz, der in China ein gleichwertiges Pendant zum Abendland erblickte und von einem regen Austausch zwischen beiden Kulturen eine gegenseitige Befruchtung, einen uni- versalen Fortschritt erwartete.

Als Informanten dienten Leibniz Missionare des Je- suitenordens, der seit 1550 kontinuierlich in China gewirkt hatte und auch am Kaiserhof eine geachtete Position einnahm. Die 70 Briefe, die Leibniz rnit Je- suiten der Chinamission, insbesondere mir C. F. Gri- maldi (1639-1712), A. Verjus (1632-1706), J. Bouvet (1656-1730) und C. Le Gobien (1653-1708), gewech- selt hat, hat die Herausgeberin in diesem Band zu- sammengestellt und rnit kritischen Anrnerkungen versehen.

Die Wii3begier des Universalgenies Leibniz er- streckte sich iiber die verschiedensten Themen, um- fahe typisch chinesische Handelsprodukte ebenso

0 VCH Verlagsgesellschaft mbH, D-6940 Weinheim 1992

wie die chinesische Philosophie. Zum Beispiel er- hoffte er sich aufgrund der langen chinesischen Ge- schichte Aufschlusse uber das Alter der Welt und der Menschheit sowie uber die Verwandtschaft der Vo1- ker und ihrer Sprachen. Auch technologische Fragen sprach er immer wieder an, weil er meinte, dafl China auf diesem Gebiet dem Abendland voraus sei. Von einer genauen Kenntnis der chinesischen Erfin- dungen versprach er sich daher einen enormen Ent- wicklungsschub.

Dafl Leibniz die chinesischen Wissenschaften so hoch schatzte, hatte nicht zuletzt auch ein personli- ches Motiv, erblickte er doch in den Hexagrammen des I-ching eine Entsprechung zu dem von ihm er- fundenen binaren Zahlensystem.

Zusammenfassend lai3t sich sagen, dai3 der Brief- wechsel ausschliefllich Themen behandelt, die seiner- zeit hochst aktuell waren. Naturgernafl betrifft das damalige Tagesgeschehen auch Personen und Ereig- nisse, die von der spateren Geschichtsschreibung ignoriert wurden. Insofern stellt jede Edition eines Briefwechsels eine besondere Herausforderung an die Bearbeiter dar. Obwohl man hier in der Sekundar- literatur manchen Titel wie den Katalog China illu- strata von Hartmut Walravens (Wolfenbiittel 1987) oder auch die Publikationen von Eva S . Kraft iiber Andreas Cleyer vermiflt, mug man der Herausgebe- rin hohen Respekt vor der erbrachten Leistung zollen.

Wolfgang Caesar, Stuttgart

0170-6233/92/0311-0176 $03.50+.25/0