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KompetenzZentrum Für Essstörungen KLINIK lüneburger heide Stationäre Therapie bei ADHS und komorbiden Störungen im Jugend- und Erwachsenenalter ADHS-Schwerpunkt für Erwachsene Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Defizitstörung (ADHS)

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Kompetenz Zentrum Für Essstörungen

KLINIKlüneburgerheide

Stationäre Therapie bei ADHS und komorbiden Störungen im Jugend- und Erwachsenenalter

ADHS-Schwerpunktfür Erwachsene

Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Defizitstörung (ADHS)

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Inhalt

Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Defizitstörung (ADHS)Stationäre Therapie bei ADHS und komorbiden Störungen im Jugend- und Erwachsenenalter

■ Einleitung (seite 4)

■ Ursachen und psychosomatisches Störungsmodell (seite 6)

■ Komorbiditäten bei ADHS (seite 11)

■ Diagnostik von ADHS (seite 13)Diagnosekriterien im Erwachsenenalter (seite 16)Testpsychologische Untersuchungsverfahren (seite 17)Neuropsychologische Testverfahren (seite 18)Verhaltensbeobachtung / Fremdbeurteilung (seite 18)

■ Behandlung von ADHS (seite 19)Ziele der stationären Behandlung (seite 19)Psychotherapie bei ADHS (seite 21)Fertigkeitstraining (seite 23)Pharmakotherapie (seite 24)sonstige Hilfen (seite 25)

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Seiten 4+5

einleitung

Einleitung

Während bisher in Deutschland die Aufmerksamkeitsdefizit / Hyperaktivitätsstörung

(ADHS) primär als eine auf das Kindes- und Jugendalter beschränkte Erkrankung

angesehen wurde, zeigen wissenschaftliche Erkenntnisse eine lebenslange Beein-

trächtigung durch die syndromtypischen Auswirkungen in verschiedenen Lebensbereichen.

Dabei findet sich, dass bei Kenntnis der typischen Symptome bei zahlreichen ambulant wie

stationär behandlungsbedürftigen Patienten zumindest zusätzlich die Diagnose einer bis ins

Erwachsenenalter persistierenden ADHS gestellt werden kann. Die Berücksichtigung dieser

Diagnose ist deshalb so entscheidend, weil sich hieraus sowohl medikamentöse wie psycho-

therapeutische Behandlungsalternativen ergeben, die für die Betroffenen die Aussicht auf

eine bessere Lebensqualität und in etlichen Fällen eine wirkungsvolle Mitbehandlung von

häufig bestehenden Begleiterkrankungen wie Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen,

Persönlichkeitsstörungen, etc. überhaupt erst ermöglichen. Ausgehend von den aktuellen

Behandlungsleitlinien der Fachgesellschaften (DGPPN) zur ADHS im Erwachsenenalter bie-

ten wir daher ein hieraus abgeleitetes Behandlungskonzept an.

Der Schwerpunkt liegt in der Schaffung eines therapeutischen Settings, das die

syndromtypischen Besonderheiten von ADHS »versteht« und gemeinsam in der Gruppe von

Gleichbetroffenen neue Bewältigungskompetenzen vermittelt und hierzu einen multimodalen

Behandlungsansatz wählt.

Das Behandlungsangebot der Klinik Lüneburger Heide für Patienten mit ADHS richtet sich

an folgende Zielgruppen:

1) Patienten, bei denen neben der Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung im Sinne

einer Komorbidität (Begleiterkrankung) eine weitere stationär behandlungsbedürftige

seelische Erkrankung besteht, wie z.B. Depressionen, ggf auch Erschöpfungssyndrome,

Angst- und Zwangsstörungen, Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen oder Schmerz-

syndrome etc., die für sich allein bereits eine stationäre Behandlungsbedürftigkeit recht-

fertigen.

2) Patienten mit einer so schweren Ausprägung des ADHS, dass ambulante Maßnahmen

nicht mehr ausreichen.

ein

leit

un

g

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Eine stationäre Behandlung bei ADHS-Patienten ist weiterhin gerade dann angezeigt, wenn

Probleme im sozialen Umfeld der Familie und erschöpfte oder fehlende Therapieressourcen

zu einer drohenden oder bereits eingetretenen krisenhaften Zuspitzung im familiären oder

beruflichen Kontext führen. Gerade bei lang anhaltenden schweren Störungen, allein erzie-

henden Elternteilen mit ADHS-Kindern oder anderen belastenden Familienverhältnissen

sind häufig die Möglichkeiten im ambulanten Bereich begrenzt und eine räumliche Distan-

zierung u.a. zur Einleitung einer Autonomieentwicklung oder Entspannung von chronischen

Konfliktsituationen notwendig. ■

Page 6: LeitfadenADHS Layout Digi FH

ursachen

Ursachen und psychosomatisches Störungsmodell

Das ADHS-Syndrom ist durch eine lebenslange dynamische Regulationsstörung und

hierdurch bestimmte Entwicklungsbesonderheiten gekennzeichnet. Dabei bestimmt

eine neurobiologische Prädisposition (=Veranlagung) im Zusammenwirken mit

Erziehungs- und Sozialisationsbedingungen und Lernerfahrungen die Ausprägung der Symp-

tomatik. Neurobiologische Erklärungsmodelle der ADHS beschreiben Funktionsabweichun-

gen in der Regulation und Verfügbarkeit von Botenstoffen (z.B. Dopamin und Noradrenalin)

und deren Transportern und Rezeptoren im Gehirn. Dabei sind wesentliche (höhere)

Handlungsfunktionen (Exekutivfunktionen), die für die Alltagsbewältigung und -Planung

erforderlich sind, beeinträchtigt. Hierzu gehören u.a. Reizfilterung und -verarbeitung,

Daueraufmerksamkeit, Handlungsplanung und Organisation, Arbeitsgedächtnis, Vigilanz-

steuerung sowie Regulation von Gefühlen und Impulskontrolle.

Aufgrund der hohen genetischen Bedingtheit des ADHS sind häufig (aber nicht

immer) ein oder beide Elternteile ebenfalls Merkmalsträger; nicht selten lässt sich dies über

mehrere Generationen zurückverfolgen. Dies prägt bereits frühkindliche Beziehungserfah-

rungen und Bindungsstrukturen. Dabei reagieren Kleinkinder mit ADHS-Veranlagung häufi-

ger ungewöhnlich auf Berührung und Nähe, sind schwieriger zu beruhigen (»Schreibaby«)

oder reagieren beim Stillen und Füttern auffälliger und weisen gelegentlich erhebliche

Entwicklungsverzögerungen und zusätzliche Wahrnehmungs- und Motorikprobleme auf. Diese

Auffälligkeiten der frühkindlichen Entwicklung können auftreten – sind aber weder beweisend

noch zwingend vorhanden.

Seiten 6+7

Störung derSelbstwahrnehmung

Risikofaktoren für Defiziteder Selbstregulation

WiederholteFrustrationen

Selbst-betroffene

Eltern

Entwicklungs-verzögerung

Impulsivität EmotionaleInstabilität

BiologischePrädisposition

Erhöhte affektive LabilitätNegatives

Selbstkonzept

ADHS-Beeinträchtigungen

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Ein Individuum reguliert (vereinfacht) seine Anpassung an sein soziales Lebens-

umfeld dadurch, dass es den Erfolg und die Wirkung seines Verhaltens und den Fortschritt

seiner Fähigkeiten ständig anhand der eigenen Wahrnehmung überprüft und anpasst, so dass

ein fortlaufend rückgekoppelter Entwicklungs- und Lernprozess stattfindet. ADHS-Kinder

erleben in verstärktem Maß eine Instabilität in ihrem eigenen Erleben, leiden vermehrt unter

sozialen und emotionalen Entwicklungsstörungen, gestörten Wahrnehmungsfunktionen und

wachsen häufig in einem entsprechend instabilen Umfeld mit selber betroffenen ADHS-

Elternteilen auf. Es muss ihnen so ungleich schwerer fallen eine verlässliche Bindung zu

Bezugspersonen aufzubauen oder höhere Lernprozesse (z.B. Lernen am Modell oder auch

sprachlich vermittelte Regeln und Rollenerwartungen, etc) situationsadäquat anzuwenden.

Häufig ist eine chronische Fehlanpassung die Regel, so dass eher ein Lernen über Versuch und

Irrtum oder aber eine dysfunktionale Anpassung an äußere Rollenmodelle erfolgt bzw. es zu

Fehlverhalten mit aggressivem oder oppositionellem Verhalten kommt. Es gelingt den Kindern

so nicht in einem sicheren Bezugssystem stabile Ressourcen zur Alltagsbewältigung und selbst-

bestimmten Handlungssteuerung zu erwerben.

NegativeVorerfahrungen

Schul- undAusbildung

VersagenBeziehungs-

Probleme

NegativeGedanken

Selbstwert-Probleme

NeuropsychatrischeKernsymptome

AufmerksamkeitImpulsivität

Selbstregulation

Mangel / Versagen

von Kompensations-

strategienOrganisation

PlanungUmgang mitAufschiebenVermeidung

Ablenkbarkeit

Stimmungs-problemeDysphorie

Scham(Versagens-)AngstFrustration / Wut

FunktionelleBeeinträchtigung

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Fehlen oder verändern sich wichtige günstige (protektive) Faktoren, wie strukturiertes

und stabiles familiäres Umfeld, stabiler Freundesreis, Förderung individueller

Interessen und Herausforderungen, günstige Lehrer-Kind-Interaktion, so kann die

Persönlichkeitsentwicklung des ADHS-Kindes damit zusätzlich nachhaltig gestört werden.

Für viele Menschen mit ADHS sind insbesondere negative Lernerfahrungen (bei häufig

gleichzeitig bestehenden Lern- und Teilleistungsstörungen) und negative Rückmeldungen

der Familie und des sozialen Umfeldes mit ständiger Ermahnung hemmend in der Ent-

wicklung einer eigenen Identität. Nicht Anerkennung und Erfolge, sondern wiederholte

Misserfolge in der Bewältigung scheinbar trivialer Alltagsanforderungen kennzeichnen häufig

ihre Entwicklung und tragen zu einer negativen Selbststeuerung und fehlender Selbst-

wirksamkeitserwartung bei.

Hohe Reizoffenheit und emotionale Empfindsamkeit führen gerade in Gruppen-

situationen zu einem Überforderungsgefühl, sozialem Rückzugsverhalten und häufig zu

sekundären sozialen Ängsten.

Häufig besteht dabei zusätzlich eine Intoleranz für Langeweile oder Situationen

ohne Anreizcharakter. Dies erleben ADHS-Patienten entweder als starke innere Unruhe,

Stimmungseinbruch oder aber als Drang durch impulsive Handlungen oder Bewegung eine

Änderung des Zustandes herbeizuführen – notfalls auch durch Provokation oder selbstschädi-

gende Verhaltensweisen. Sie werden leicht unruhig, zappelig, unkonzentriert, sind innerlich

und äußerlich ständig auf dem Sprung, suchen den »Kick«, das Interessante, das Spannungs-

geladene oder den Streit. Indem diese Menschen sich in diese für sie anregenden Situationen

begeben und sich mental (z.B. Geschwisterrivalität, Eifersucht, Streit) bzw. physisch (z.B.

exzessiver Sport, Drogen, autoaggressives Verhalten) stimulieren, bewirken sie, dass durch

diese Außenstimulation eine neuronale Aktivierung des Gehirns erfolgt und damit der für sie

stark belastende innerliche Druck- bzw. Unruhezustand zumindest kurzzeitig beendet wird.

Solch expansives (störendes) Verhalten verstärkt naturgemäß ungünstige Umfeldbedingungen

und soziale Ausgrenzung oder macht zumindest erhebliche Integrationsprobleme, so dass

z.B. bei Kindern zusätzliche soziale Lerndefizite die Regel sind.

Seiten 8+9

ursachen

ursachen

Page 9: LeitfadenADHS Layout Digi FH

Impulsives Verhalten und Wutausbrüche (mangelhafte Impulskontrolle) bei hoher Reizbar-

keit und instabiler Emotionsregulation (z.B. intermittierende Dysphorie) fallen für Außen-

stehende häufig durch kurzzeitige 1-5 Tage anhaltende depressive Verstimmungen auf, die im

Gegensatz zur klassischen Depression oder dysthymen Störungen durch rasche Stimmungs-

aufhellungen bei herausfordernden Aktivitäten gekennzeichnet sind. Die fehlende Überzeu-

gung – und auch real fehlende Kompetenzen – durch eigene Anstrengung eine positive und

stabile Änderung der Problematik herbeiführen zu können, führt zu schweren Selbstwert-

problemen und Selbstabwertungen. Die Patienten erleben sich selbst als »anders«, »faul«

oder »dumm« und fallen durch zunehmende Resignation und Rückzugsverhalten, u.a. in der

Schule oder Ausbildung auf oder nehmen eine Außenseiterrolle als Nonkonformist ein.

Typisch für Problemsituationen ist es dabei, dass einerseits eine sehr hohe Sen-

sitivität für Konflikt- und Spannungssituationen besteht, andererseits aber nur eine geringe

Stressempfindlichkeit. Die Umstellung auf neue Situationen ist für diese Patienten erschwert

und löst häufig dysfunktionale (weil extreme) Verhaltensmuster aus. So versuchen sie zwar

pseudokompetent für sich eine Lösung zu entwickeln, indem sie sich in eine Aufgabe impul-

siv hineinstürzen oder aber die erste beste Lösung als »einzig richtige« Wahl sehen. Im näch-

sten Moment werden dann aber wiederum verschiedene Sichtweisen und Wahlmöglichkeiten

ohne sinnvolle Prioritätensetzung und situationsangemessene Abwägung parallel verfolgt und

so keine Aufgabe wirklich abgeschlossen, da sie den eigenen subjektiven Ansprüchen an

»innere Stimmigkeit« noch nicht entspricht. Erst in buchstäblich letzter Sekunde werden

dann Entscheidungen tatsächlich getroffen und ausgeführt.

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Typisch für die Berichte von Erwachsenen mit ADHS ist aber auch, dass sie lange Zeit über

Kompensationsstrategien, wie Perfektionismus, häufigen Arbeitsplatzwechsel oder aber unter-

stützende Partner scheinbar unauffällig zu Recht kommen. Vielfach gelten sie an ihrem

Arbeitsplatz aufgrund hohen Einsatzwillens und kreativer Lösungsideen als sehr kompetent,

fallen aber durch nicht abgeschlossene Projekte oder inkonstante Arbeitsleistungen gerade bei

Routineanforderungen auf.

Andere ADHS-Patienten nehmen im Berufsleben Führungspositionen ein. Ihr schnel-

ler Denkstil und ihre Fähigkeiten zu instinktiven Entscheidungen sowie ihre Kreativität befä-

higen sie zu schnellen Einschätzungen von Situationen, wie sie auch bei anregenden Aufgaben

eine überdurchschnittliche Leistungsfähigkeit zeigen. So finden sich beispielsweise überhäufig

Menschen mit einer ADHS Veranlagung auf höheren Managementpositionen, in der Kunst-

und Werbebranche, im Wissenschaftsbereich, bei Börsenmaklern, in Notfalldiensten etc.

Diese Karrieren verlaufen meist solange ungestört wie diese Betroffenen durch einen

Partner/in, Sekretär/in oder Untergebende von lästiger Alltagsroutine befreit sind. Bricht

dieses Unterstützungssystem zusammen, kommt es meist zu erheblichen beruflichen

Problemen. Unabhängig davon bestehen nicht selten erhebliche interaktionelle Konflikte

durch überemotionalisiertes und impulsives Auftreten und einen unzureichenden Kom-

munikationsstil, sowie der zumindest partielle Unfähigkeit sich durch einen Perspektivwechsel

in das Erleben des Gegenübers hineinzuversetzen. ■

ursachen

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ADHS ist häufig – kommt aber selten allein

Im Gegensatz zu früheren Vorstellungen, dass sich die ADHS-Problematik mit der Puber-

tät »auswachsen« würde, geht man heute davon aus, dass bei 60-70% der Betroffenen

auch im Erwachsenalter relevante Einschränkungen der Lebensqualität und insbesondere

der Alltagsorganisation fortbestehen. Weiter wissen wir heute, dass ein Symptomwandel mit

Abnahme der auffälligen (weil störenden)Hyperaktivität und Impulsivität in der Pubertät

erfolgen kann, dagegen Probleme der Selbstorganisation und begleitende affektive Probleme,

zumeist erst bei Jugendlichen oder jungen Erwachsenen symptomatisch werden können. Es ist

wahrscheinlich, dass sich allenfalls 10-15% der Betroffenen der Diagnose oder möglicher

Zusammenhänge dieser Problematik bewusst sind. Selbst in Fällen, bei denen in der Kindheit

wegen Hyperaktivität oder komplexen Entwicklungs- und Wahrnehmungsstörungen bereits

eine Behandlung eingeleitet wurde, ist nur selten eine gezielte Behandlung bis nach der

Pubertät fortgesetzt worden. Dies gilt besonders für Mädchen bzw. Frauen, deren Sympto-

matik noch viel seltener in der Kindheit oder im Jugendlichenalter im Hinblick auf eine

mögliche ADHS-Veranlagung untersucht wird.

Die lebenslange Erfahrung von ADHS bedingten Selbstregulations- und Verhaltens-

störungen und damit verbundenen Problemen kann zu ernsthaften Selbstwertproblemen und

Spannungen in den familiären und sozialen Beziehungen führen. In der klinischen Praxis

fallen besonders Patienten (18 bis 40 Jahre) auf, die u.a. wegen affektiver Störungen und

Überforderungssymptomen (z.B. »Burn-out«, Erschöpfungssymptomatik) auf übliche medi-

kamentöse und psychotherapeutische Behandlungsangebote nicht ansprechen.

Komorbiditäten

begleiterscheinungen

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Seiten 12+13

Häufig ist bei Vorliegen einer ADHS-Veranlagung ein »atypisches« buntes Beschwerdemuster

mit einem raschen Wechsel von Symptomen der Depression, Ängsten oder Zwangssymp-

tomen, Suchtproblemen und exzessiven Verhaltensmustern, einschließlich Essstörungen oder

Impulskontrollstörungen zu finden. Die Abgrenzung zu Persönlichkeitsstörungen, besonders

zur emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung, zu narzisstischen, dependenten und infanti-

len Störungen ist aufgrund überlappender diagnostischer Kriterien schwierig. Nicht selten

liegt eine Komorbidität vor, d.h. mehrere seelische Erkrankungen bestehen nebeneinander.

Untypische somatische Beschwerden (unklarer morgendlicher Schwindel und

Müdigkeit oder »paradoxe« Medikamenteneffekte) sind häufig. Viele ADHS-Patienten (über

50%) klagen zudem über Ein- und Durchschlafstörungen. Sie geben an, eigentlich erst früh-

morgens müde zu sein und dann aber am Tag nicht ausreichend wach und leistungsfähig wer-

den zu können. Gerade bei fremdbestimmten Anforderungssituationen (z.B. berufliche

Mehrbelastung oder Konflikten) reagieren sie vermehrt mit Vermeidungsverhalten oder kör-

perlichen Beschwerden und ziehen sich von Belastungen scheinbar unerklärlich zurück. Diese

starken Schwankungen (oft mit wiederholten Krankschreibungen) führen bei vielen

Betroffenen zu Ausfällen im Beruf bis hin zu Kündigung und sozialem Abstieg.

ADHS beeinflusst nachhaltig die Partnerschaft, was u.a. zu einer deutlich erhöh-

ten Scheidungsrate beiträgt. Sexuelle Probleme sind häufig und können zu Beziehungs-

störungen führen. Dabei kann einerseits eine verstärkte Appetenz mit hypersexualisiertem

Verhalten bestehen und zu Paarproblemen führen, andererseits kann die Sexualität wegen der

bestehenden Aufmerksamkeitsprobleme durch Erektions- oder Orgasmusstörungen negativ

beeinflusst werden.

Vielfach fallen im stationären Rahmen auch chronische Schmerzsyndrome bzw.

Fibromyalgie und Restless-Leg-Syndrome bei diesen Patienten als komorbide Störungen auf.

Atypische migräneartige Kopfschmerzen und Spannungskopfschmerzen in relativen

Ruhephasen (an Sonntagen oder bei Urlaubsbeginn) sind gehäuft zu finden. ■

ko

mo

rbid

ität

Komorbiditäten

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verhalten

Diagnostisches Vorgehen

Allgemein gilt, dass ADHS weniger als isolierte Fehlfunktion oder Defizit objektiviert

werden kann, sondern als ein Störungskontinuum einer dynamischen Anpassungs-

problematik für scheinbar einfache Alltagsaufgaben und Routineanforderungen.

Nicht eine einzelne messbare Funktion ist also primär gestört, sondern vielmehr deren

Regulation und Handlungsausführung im Alltag und deren soziale Integration. Die hohe the-

rapeutische Bedeutung einer validen Diagnosestellung schafft verständlicherweise im klini-

schen Alltag das berechtigte Bedürfnis, die Diagnostik der ADHS zu »objektivieren«. Leider

existiert aber – ähnlich wie für die meisten anderen psychischen Störungen – kein Testver-

fahren für den objektiven Beweis einer ADHS. Es handelt sich vielmehr um eine klinische

Diagnose, die anhand der typischen Lebensgeschichte mit Beginn in der frühen Kindheit

anhand von Eigen- und Fremdanamnese sowie einer Verhaltensbeobachtung im klinischen

Alltag gestellt wird.

Bei jedem Patienten findet deshalb eine eingehende psychiatrische und psycho-

logische Aufnahmeuntersuchung statt. Hier wird eine biographische Anamnese mit sozialer

Entwicklung erhoben, sowie nach Stärken (Ressourcen) und besonderen Belastungsfaktoren

gefragt. Selbstverständlich müssen fremdanamnestische Informationen (z.B. Eltern, Partner)

und Vorberichte mit in diese Befragung einbezogen werden, wobei wir ausdrücklich Lebens-

partner zu diagnostischen und therapeutischen Gesprächen in den Behandlungsprozess inte-

grieren.

Anhand einer Screening-Diagnostik mit Fragebögen versuchen wir zunächst einen

ersten Überblick über die Behandlungsrelevanz zu ermitteln und erheben dann anhand von

Symptomlisten zur Selbst- und Fremdbeurteilung zusätzliche Informationen.

Im Einzelnen wird erfragt,

■ welche aktuelle Symptomatik Anlass für die Behandlung ist und in welchen verschiedenen

Lebensbereichen Probleme bestehen

■ welche Stärken und Ressourcen bestehen und bisher geholfen, die für die Behandlung

möglicherweise genutzt und ausgebaut werden könnten

■ ob Auffälligkeiten in der Schwangerschaft oder frühkindlichen Entwicklung

(Entwicklungsverzögerungen wie Stottern, Bettnässen, motorische Störungen

z.B. beim Laufen lernen oder Wahrnehmungsstörungen) bestehen oder bereits

früher zu Diagnostik- oder Behandlungsempfehlungen geführt haben

verhalten

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Seiten 14+15

■ ob körperliche Beschwerden, insbesondere Hinweise auf eine autonome Regulations-

störung des vegetativen Nervensystems in den Bereichen Essen und Trinken, Schlaf,

Temperatur und Schmerzempfinden, Berührung bzw. Nähe- und Distanzregulation

vorliegen

■ wie die Entwicklung der Problematik über die Jahre verlaufen ist. Hierbei interessiert uns,

ob fortlaufend in verschiedenen Lebensbereichen relevante Auffälligkeiten bestanden

haben und welche Ausgleichsmöglichkeiten möglicherweise unbewusst als Reaktion auf die

Grundproblematik eine Rolle gespielt haben (z.B. rigide Leistungserfüllung in der Schule,

Perfektionismus, frühzeitiger Abbruch von Ausbildungen, häufiger Arbeitsplatzwechsel,

Überspielen der eigenen Notlage)

■ ob weitere seelische Erkrankungen, insbesondere bei Geschwistern oder Familienan-

gehörigen auch im Sinne eines hyperkinetischen Syndroms, Impulskontrollstörungen

oder Suchtprobleme, chronische Depressionen etc. vorhanden sind

■ wie die Berufsanamnese aussieht, da sich bei ADHS-Patienten oft erhebliche Probleme in

der Ausbildung ergeben, was aber ein Studium nicht ausschließt. Vielfach fallen jedoch

wiederholte Arbeitsplatzwechsel oder erhebliche interaktionelle Probleme mit Vorgesetzten

und Kollegen auf. Kennzeichnend für die Schilderung des Berufsweges vieler ADHS-

Patienten ist, dass sie ihr volles Leistungspotential nicht nutzen konnten. Gerade

Aufgaben, die mehr Mitarbeiterverantwortung und Organisation beinhalten, führen

häufig zu Problemen, nicht selten auch zur Kündigung.

■ nach zusätzlichen psychischen Problemen und Erkrankungen, die häufig erst auf Nach-

frage berichtet werden. Hierzu gehören neben depressiven Symptomen und Ängsten,

soziale Schwierigkeiten, Störungen der Impulskontrolle, Zwänge, Aggressivität und

insbesondere Probleme im Umgang mit wichtigen Bezugspersonen (Interaktions-

problematik). Häufig finden sich Patienten mit zusätzlicher Persönlichkeitsstörung

(z.B. emotional-instabile Persönlichkeit). Aber auch der Verlauf anderer psychiatrischer

Erkrankungen (z.B. manisch-depressive Erkrankungen, Psychosen) kann durch das

Vorliegen einer ADHS-Veranlagung negativ beeinflusst sein.

■ nach einer Medikamenten- und Drogenanamnese, die einerseits Hinweise auf häufig

vorkommende ungewöhnliche (»paradoxe«) Medikamentenwirkungen ergibt. Andererseits

setzen jugendliche ADHS-Patienten oft Drogen als ungeeignete Selbstmedikation zur

Stimulation und / oder Beruhigung des Gehirns ein.

Verhalten

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Typische Beschwerdeschilderungen von ADHS-Patienten sind u.a. :

■ als Leitsymptom im Erwachsenenalter imponiert häufig ein Gefühl von Leistungsschwäche

und Unfähigkeit gesetzte Ziele auch erreichen zu können

■ stark schwankender Antrieb und Ausdauerfähigkeit, rasches Nachlassen der

Anstrengungsbereitschaft

■ neuropsychologische Auffälligkeiten im Bereich der Aufmerksamkeitssteuerung, im

Zeitgefühl, in der Handlungsplanung und im Arbeitsgedächtnis (Exekutivfunktionen)

■ Reizbarkeit, geringe Frustrationstoleranz, innere Ambivalenz und Probleme im Umgang

mit Spannungen und Konflikten

■ Schwarz-Weiß-Denken (dichotome Denkmuster)

■ erhebliche Probleme bei Alltagsaufgaben und Routineabläufen

■ Intoleranz von Langeweile, häufig auch als »Müdigkeit« oder scheinbare gedankliche

Abwesenheit oder Minderbegabung gedeutet

■ Gedankenrasen / »Chaos im Kopf«

■ unklare vegetative Beschwerden, z.B. morgendliche Antriebsminderung, Kopfschmerzen,

funktionelle Beschwerden

■ Reizüberflutung und leichte Erschöpfbarkeit bei Licht, Lärm, Stress

■ Müdigkeit / Apathie und sehr geringes Grunderregungsniveau bei häufiger Komorbidität

mit weiteren Schlafstörungen

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Seiten16+17

verhalten

Diagnostische Kriterien der ADHS im Erwachsenenalter

Nach den deutschen Leitlinienempfehlungen wird entweder eine Diagnoseerstellung

nach ICD 10, nach DSM-IV Kriterien oder über die Wender-Utah Kriterien

empfohlen. Lediglich über DSM-IV lässt sich auch der unaufmerksame Subtypus

diagnostizieren.

Zu den geforderten Kriterien gehören

■ Entweder sechs oder mehr Symptome der Aufmerksamkeitsstörung (für über sechs Monate

fortbestehend, störend und nicht dem Entwicklungsstand entsprechend) oder sechs oder

mehr Symptome der Hyperaktivität und Impulsivität (für mindestens sechs Monate fortbe-

stehend, störend und nicht dem Entwicklungsstand entsprechend)

■ Einzelne Symptome bereits vor dem 7. Lebensjahr vorhanden

■ Beeinträchtigung durch Symptome der ADHS in mindestens zwei Lebensbereichen

■ Klare Hinweise auf Beeinträchtigung im sozialen Bereich, in der Schule oder im Rahmen

der beruflichen Tätigkeit

■ Keine Erklärung durch andere psychische Störungen

Bei Vorliegen der Kriterien der Aufmerksamkeitsstörung und Hyperaktivität / Impulsivität

spricht man von einem kombinierten oder gemischten Typus der ADHS. Bei Vorliegen von

sechs von neun Symptomen der Aufmerksamkeitsstörung, jedoch fehlenden Symptomen der

Hyperaktivität oder Impulsivität wird ein primär unaufmerksamer Typ diagnostiziert.

Seltener wird bei alleinigem Vorherrschen von Symptomen der Hyperaktivität und

Impulsivität von einem primär hyperaktiv-impulsiven Typus gesprochen. ■

Kriterien

Page 17: LeitfadenADHS Layout Digi FH

Testpsychologische Untersuchungsverfahren

Vielfach haben Patienten selbst bereits über Symptomlisten aus Büchern oder dem

Internet selbst eine Verdachtsdiagnose auf ein ADHS-Syndrom gestellt. Dabei sollte

jedoch berücksichtigt werden, dass diese Fragebögen zwar relativ spezifisch typische

Merkmale der ADHS abbilden können, jedoch weder beweisend noch ausschließend sind.

Besonders problematisch ist dabei, dass aufgrund der in den diagnostischen Kriterien gefor-

derten lebenslangen Beeinträchtigung gerade aus der eigenen Kindheit und Jugend Infor-

mationen benötigt werden, jedoch nur selten wirklich gute Erinnerungen an diese Zeit beste-

hen. Hier können Screeninginstrumente, wie der ASRS-Fragebogen (ADHS-Selbstein-

schätzungsbogen für Erwachsene der WHO) eine erste Orientierung bieten, müssen aber

unbedingt durch weitere Fremdbeurteilungsskalen, Fremdanamnesen oder aber Zeugnisse/

Gutachten aus der Kindheit gestützt werden.

Syndromtypisch ist die Selbstbeurteilung von ADHS-Patienten nicht besonders

gut. Entweder werden aufgrund der lebenslangen Symptomatik die bestehenden Auffällig-

keiten als normal angesehen oder aber durch defizitäre Selbstbeurteilungskompetenzen

geprägt; oft fehlen aufgrund der Desorganisation und häufiger Wohnortwechsel zudem valide

Unterlagen zur eigenen Kindheit und Ausbildung. Hier kann die international häufig einge-

setzte Wender-Utah-Rating-Scale ein nur ansatzweise ausreichendes Hilfsmittel zur Erhebung

einer entsprechenden retrospektiven Erhebung von Symptomen in der Kindheit sein.

Selbst- und Fremdbeurteilungsskalen für das Erwachsenenalter (z.B. Brown-

ADD-Skala, Symptomliste für ADHS bei Frauen oder der CAARS-Fragebogen für ADHS bei

Erwachsenen) helfen jedoch vielfach den Betroffenen syndromtypische Merkmale genauer zu

hinterfragen oder im Zusammenhang mit der neurobiologischen Grundproblematik zu

sehen. ■

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Seiten 18+19

Neuropsychologische Testverfahren

Wie zuvor dargelegt, handelt es sich bei ADHS primär um eine Folge von Funktions-

störungen im Bereich der höheren Handlungsfunktionen (sog. Exekutivfunk-

tionen). Man sollte daher davon ausgehen können, dass es möglich sein muss,

diese Störungen in neuropsychologischen Testverfahren abbilden zu können. Leider ist dem

nicht so. Zwar geht man bezüglich der Pathogenese der ADHS derzeit von einer komplexen

Dysfunktion der Neurotransmitter im Bereich bestimmter Hirnabschnitte aus, welche eine

inadäquate Reizverarbeitung und Handlungskoordination bedingen. Hierzu besteht offenbar

eine besondere biologische Veranlagung und Reaktionsbereitschaft. Bei der klinischen

Ausprägung der ADHS (Störungsbild-Phänotyp) stehen aber primär eine defizitäre und über-

schießende Anpassungsdynamik und nicht ein zeitstabiles Funktionsdefizit wie bei organisch

bedingten Hirnerkrankungen im Vordergrund. Die Bedeutung der Neuropsychologie liegt

also weniger in der Objektivierung von ADHS-Symptomen als vielmehr in einer Leistungs-

diagnostik (z.B. Intelligenztestung) und Ausschluss von Teilleistungs- und Wahrnehmungs-

störungen (z.B. Dyslexie, Dyskalkulie oder auditiven und visuellen Wahrnehmungs-

störungen). ■

Verhaltensbeobachtung / Fremdbeurteilungen

Der stationäre Aufenthalt bietet uns die Möglichkeit den klinischen Verdacht auf

ADHS durch eine Verhaltensbeobachtung in verschiedenen Bereichen zu über-

prüfen. Hierzu bietet sich unsere ADHS-Gruppentherapie an, die den Erfahrungs-

austausch über typische ADHS-Symptome und Einschränkungen im Alltag oder Auswir-

kungen auf das Selbstwertgefühl beleuchtet und damit die eigene Auseinandersetzung mit der

Thematik im Sinne einer verbesserten Selbstreflektion fördert.

Zudem bieten wir Paar- und Familiengespräche an, um einerseits eine weitere Fremdbeur-

teilung zu erhalten, andererseits aber auch syndromtypische Konfliktbereiche im häuslichen

Umfeld gezielt ansprechen zu können und Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln. ■

verhalten

verhalten

Page 19: LeitfadenADHS Layout Digi FH

Ziele der stationären Behandlung bei ADHS und komorbiden Störungen

Das Ziel der ADHS-Therapie liegt darin, das vorhandene persönliche Potential

bestmöglichst auszuschöpfen, die oft unzureichenden sozialen Fertigkeiten der

Betroffenen (z.B. in der Kommunikation und im Umgang mit Konflikten) zu

verbessern und das Selbstwertgefühl zu stärken.

Wie auch im Kindes- und Jugendalter erfordert die komplexe Problematik der

ADHS und begleitender Störungen eine störungsspezifische Therapie, die individuell ausge-

richtete Begleitung und Hilfestellung zur eigenständigen Bewältigung der Problemsituationen

bietet. Dieser multimodal vernetzte Behandlungsansatz aus Medikation, Informationsver-

mittlung, Psychotherapie, Hilfe zur Selbsthilfe und Sozialberatung schließt auch die weitere

häusliche ärztliche und psychotherapeutische Betreuung oder Anbindung an Selbsthilfe-

gruppen vorausschauend ein. Wichtig erscheint uns dabei, dass der Patient eine aktive Rolle

am Therapieprozess einnimmt, klare Zielsetzungen und Strukturvorgaben bestehen und er/sie

transparent an allen Therapieschritten und geplanten Maßnahmen beteiligt ist.

ziele

ziele

Integratives Therapiekonzept

PharmakotherapieStimulantien / Atomoxetin

SpezifischerPsychotherapieprozessfür ADHS und komorbide Störungen

Training vonAlltagsfertigkeiten

Therapeutisch geführtesUnterstützungssystemund die ADHS-Besonder-heiten verstehende

Bezugsperson

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Seiten20+21

Als wesentliche Grundlage für eine Veränderung hat sich in den bisherigen Erfahrungen der

Aufbau eines zunächst therapeutisch geführten Unterstützungssystems erwiesen. Die

Neuerfahrung von gegenseitigem Verständnis und Unterstützung (statt Rechtfertigung und

Erklärungsversuchen) ist für viele Betroffene eine grundlegend neue Erfahrung. Statt unsy-

stematischer – nicht durchführbarer – »guter Ratschläge« geht es zu Beginn der Behandlung

um die gemeinsame Erarbeitung eines Behandlungsplanes, der vorhersehbare und kontinu-

ierlich aufeinander abgestimmte Behandlungsoptionen verknüpft.

Für viele Betroffene ist dann die Neueinstellung oder Therapieüberprüfung

einer medikamentösen Behandlung ein weiterer Grundbestandteil der stationären Therapie.

Hierbei geht es nicht allein um die Auswahl und Dosierung einer Medikation, sondern um

eine bestmögliche Anpassung an die situativen Anforderungen im Alltag, einschließlich der

Förderung einer ausreichenden Medikamentencompliance.

Die Medikation ist für viele Betroffene überhaupt erst die Grundlage an einer gruppen-

orientierten Psychotherapie für ADHS und komorbide Störungen teilzunehmen. ■

ziele

Page 21: LeitfadenADHS Layout Digi FH

Psychotherapie

ADHS-Patienten haben häufig ein sehr geringes Selbstwertgefühl und haben es nicht

(oder nicht mehr) geschafft, ihr Leben allein in den Griff zu bekommen. Erwartun-

gen, die an sie gestellt wurden, konnten sie häufig trotz größter Anstrengungen nicht

erfüllen. Dies gilt auch im Hinblick auf vielfältige gute Ratschläge zur Verbesserung der

Situation oder frustrierende Therapievorerfahrungen. Daher ist eine von gegenseitiger Wert-

schätzung und Akzeptanz gekennzeichnete Atmosphäre in der Klinik gerade für diese Patien-

tengruppe die Grundvoraussetzung dafür, den Mut aufzubringen, über Gefühle, Ent-

täuschungen, traumatisierende Erlebnisse und Kränkungen zu sprechen und eine realistische

Zukunftsperspektive mit einem möglichst konkreten Handlungsplan für schrittweise

Veränderungen zu entwickeln.

Das stationäre Behandlungskonzept ermöglicht dabei einerseits eine Verarbeitung

und Neubewertung der erfahrenen emotionalen Verletzungen, andererseits aber auch durch

Bestätigung und Anleitung zur Veränderung der aktuellen Situation eine konkrete Hilfe-

stellung. Dabei sind Stimmungsschwankungen und niedriges Selbstwertgefühl mit teilweise

extremen Selbstabwertungen häufige Themen in der Therapie. Andererseits verfügen diese

Patienten oft über enorme Ressourcen und Kompensationsfertigkeiten, die sie in der

Vergangenheit häufig nicht frei entfalten oder nutzen konnten.

Unser Behandlungskonzept ist gruppentherapeutisch orientiert. Dies ermög-

licht den Patienten einerseits soziale Unterstützung und gegenseitige Hilfestellung, insbeson-

dere aber auch den Erfahrungsaustausch über ADHS und damit verbundene Probleme im

Alltag. Allein das Wissen um ADHS führt bei vielen Patienten bereits zu einer Entlastung und

Reaktivierung von Ressourcen, die dann im stationären Setting optimiert und trainiert wer-

den können.

Definitionsgemäß handelt es sich bei ADHS um eine lebenslang bestehende

Grundproblematik, die zu nachhaltigen Beeinträchtigungen der täglichen Lebensorgani-

sation, im Selbstbild, in der Identität und im zwischenmenschlichen Verhalten (z.B. gegen-

über eigenen Kindern, Partner, Arbeitskollegen) führen kann. Eine zeitlich begrenzte

stationäre Therapie kann eine neue Sichtweise auf bisher als eigenes Versagen, mangelnde

Anstrengung oder schlechte Erziehung bezeichnete Probleme bringen und damit eine Ände-

rung dysfunktionaler Verhaltens- und Interaktionsmuster (z.B. Perfektionismus und

Selbstüberforderung, wiederholte Konflikte und Eskalationen in Partnerschaft oder Beruf,

Verhaltensexzesse).

behandlung

therapie

Page 22: LeitfadenADHS Layout Digi FH

Seiten 22+23

Im Rahmen einer stationären Therapie wird thematisch eine Begrenzung auf einige wenige

Problemfelder erfolgen. Diese Themen werden zu Beginn gemeinsam in einem Therapieplan

definiert. Erfahrungsgemäß fällt es gerade ADHS-Patienten schwer, eine solche Fokussierung

auf einen definierten Behandlungsauftrag anzunehmen und sich nicht im therapeutischen

Angebot einer Klinik mit immer neuen Themengebieten im Sinne eines Abschweifens zu

beschäftigen.

Weiterhin berücksichtigt das psychotherapeutische Behandlungskonzept des

ADHS-Schwerpunktes das gleichzeitige Vorliegen von Begleitstörungen, also zusätzlich beste-

henden Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen, Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen

etc.. Diese werden in Rahmen des gruppentherapeutischen Prozesses in gleicher Güte und in

üblicher Form mitbehandelt. Die gleichzeitige Behandlung von AHDS und dieser bestehen-

den Begleiterkrankungen eröffnet für viele Patienten erst die Möglichkeit einer dauerhaften

Stabilisierung. Dies gilt besonders für chronifizierte Patienten, d.h. Menschen mit wieder-

holten ambulanten und stationären Behandlungsversuchen, die trotz kombinierter medika-

mentöser und verschiedener psychotherapeutischer Interventionsversuche keine dauerhafte

Stabilisierung erreichten, da ein gleichzeitig parallel bestehendes ADHS unerkannt und unbe-

rücksichtigt blieb. ■

Behandlung

Page 23: LeitfadenADHS Layout Digi FH

ADHS-Gruppe

In einer parallel laufenden psychoedukativen Indikationsgruppe werden ausführlich all-

tagsrelevante Fertigkeiten zur Selbst- und Alltagsstrukturierung und zur Bewältigung von

täglichen Anforderungen im Rahmen der Therapie erworben und trainiert.

Thematische Schwerpunkte sind u.a.

■ Vermittlung eines Störungsmodells (neurobiologische Grundlagen Erregung/Hemmung)

anhand von Beispielen der Patienten

■ Vermittlung eines funktionellen Verstehens der Symptomatik (»Syndrom der Extreme«)

■ ADHS-Besonderheiten in der Wahrnehmung und im Erleben

■ ADHS-spezifische Problembereiche (Handlungsfunktionen) definieren und neu bewerten

(kognitive Neubewertung/Coping)

■ ADHS-gerechtes Umfeld schaffen (Fenster zwischen Überreizung und Unterforderung /

Selbststimulation)

■ Umgang mit emotionellen Schwankungen u.a. in Paarbeziehungen

■ Hilfen im Umgang mit Stress und Frustration

■ Strategien im Umgang mit ADHS / Selbstmanagement und Aufgabenmanagement

fertigkeitstraining

Page 24: LeitfadenADHS Layout Digi FH

Seiten 24+25

Pharmakotherapie

Auch im Erwachsenenalter kann eine Therapie mit Psychostimulanzien eine Voraus-

setzung zur Stabilisierung sein und durch verbesserte Aufmerksamkeit und Selbst-

kontrolle die Mitwirkung im psychotherapeutischen Prozess wesentlich erleichtern.

Wir sehen die Kombination von Pharmakotherapie mit Stimulanzien häufig als Grundlage für

unsere psychotherapeutische Arbeit, da die hierfür notwendige Aufmerksamkeitsleistung und

Reflektionsfähigkeit durch die Medikation deutlich verbessert und so zunächst überhaupt eine

Therapiefähigkeit (z.B. für Gruppensituationen) erreicht wird.

In der Klinik ist bei entsprechender Indikation auch eine Ersteinstellung auf ein

Psychostimulans (Methylphenidat oder Amphetamin) möglich oder aber auch eine Um-

stellung der Medikation (auf ein modernes länger wirkendes Psychostimulans (z.B. Medikinet

retard, Concerta, Ritalin LA). Nach ausführlicher Aufklärung über Möglichkeiten, Grenzen

und Nebenwirkungen der Medikation erfolgt dann eine schrittweise Aufdosierung nach der

Titrationsmethode unter fortlaufender Selbst- und Fremdbeurteilung des Therapieeffektes.

Die Ermittlung der individuellen Dosierung unter Berücksichtigung der Wirkdauer und

etwaiger Rebound-Effekte (Wiederauftreten von Unruhe oder aggressivem Verhalten bei

nachlassender Wirkung) erfolgen in enger Abstimmung mit unseren Patienten, um eine best-

mögliche Adaptation an Alltagsanforderungen und soziale Integration zu ermöglichen.

Auch bestimmte antriebssteigernde Antidepressiva (Noradrenalin-Wiederauf-

nahme-Hemmer wie Atomoxetin = Strattera) können bei ADHS-Patienten indiziert sein.

Selterner werden auch ältere (tricyclische) Antidepressiva als Therapiemöglichkeit diskutiert,

wenn relevante Gegenanzeigen gegen die Mittel der ersten Wahl bestehen.

Wegen der vielfältigen Komorbidität mit anderen Erkrankungen kann auch eine

Kombinationsbehandlung mit weiteren Medikamenten (z.B. Antidepressiva) notwendig

werden. Dies richtet sich auch danach, welche klinische Symptomatik (z.B. ADHS oder

Depressionen) klinisch führend ist. Vor allem neuere Antidepressiva (z.B. Mirtazapin) oder

Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) lassen sich gut mit Stimulanzien kombinieren.

Behandlung

therapien

Page 25: LeitfadenADHS Layout Digi FH

Kreativtherapie (Kunsttherapie)

Da sich Kreativität als eine wichtige Ressource bei vielen ADHS-Patienten erweist,

spielt die Kreativtherapie, bei uns im Besonderen die Kunsttherapie zum Wieder-

entdecken von Fähigkeiten und dem nonverbalen Ausdruck von Gefühlen eine

große Rolle. Über dieses Therapiemedium kann begleitend zum Gesprächspsychotherapie-

prozess eine Weiterentwicklung der Persönlichkeit erzielt werden.

Sporttherapie und Entspannungsverfahren

Bewegung und sportliche Therapieangebote eignen sich besonders für ADHSler; ein-

erseits zur körperlichen Betätigung, da sich dadurch die Stressbelastung reduzieren

lässt, andererseits können in der Gruppe soziale Neuerfahrungen vermittelt werden.

Entspannungsverfahren (Autogenes Training, Progressive Muskelentspannung) haben sich

bisher bei den meisten ADHS-Patienten als nicht zielführend erwiesen. Hier erweisen sich

übungs- und handlungsorientierte Maßnahmen zur Reduktion eines erhöhten Stressniveaus

als hilfreicher. Bei positiven Vorerfahrungen unterstützen wir jedoch das Wiedererlernen/

Auffrischen entsprechender Entspannungsverfahren.

Sozialberatung / Berufsförderung

Viele Patienten mit ADHS-typischen Problemen befinden sich in sozialen Pro-

blemlagen. Unser Sozialdienst bietet Informationen und konkrete Beratung (z.B.

Schuldenberatung, Hilfen bei Anträgen, Umschulungsmöglichkeiten bzw. der

beruflichen Reintegration) an. Dies schließt Hilfestellungen für die nachstationäre Weiter-

betreuung oder Informationen über Selbsthilfemöglichkeiten am Heimatort ein.

Page 26: LeitfadenADHS Layout Digi FH

Kontakt

Seiten 26+27

Kontaktaufnahme mit weiterbehandelnden Kollegen / Vernetzung

Bereits während des stationären Aufenthaltes nehmen wir mit den für die Nachsorge

zuständigen Ärzten, Psychologen und ggf. weiteren an der Nachsorge beteiligten

Berufsgruppen am Heimatort, sozialen Leistungserbringern und Sozialleistungs-

trägern Kontakt auf und stellen die kontinuierliche Weiterbehandlung und den Informations-

transfer sicher. Dies bezieht sich sowohl auf die etwaige Fortführung einer medikamentösen

Behandlung, wie auch auf psychotherapeutische Hilfsangebote oder eine berufliche Um-

orientierung bzw. entsprechenden Fördermaßnahmen. Idealerweise kann dabei eine

Zusammenarbeit mit bereits bestehenden regionalen Kompetenznetzwerken und -zentren

benutzt werden.

Das Behandlungskonzept der Klinik unterliegt einem kontinuierlichen

Qualitätsmanagement und einer Evaluation des Behandlungseffektes. ■

ko

nta

kt

Page 27: LeitfadenADHS Layout Digi FH

Ansprechpartner

Dr. med. Andreas Leiteritz

Chefarzt

Facharzt für Psychotherapeutische Medizin

Facharzt für Innere Medizin

Psychotherapie / Rehabilitationsmedizin

[email protected]

Dr. Martin Winkler

[email protected]

Tel. 05821.960-0

Für weitere Informationen

Rufen Sie uns gern an, wenn Sie ein persönliches Gespräch wünschen.

Anfahrt per PKW

Der Bahnhof Bad Bevensen (auch IC-Halt)

liegt an der Bahnstrecke Hamburg – Hannover

Anfahrt per Bahn

Stand: Oktober 2006

Visuelles Konzept und Gestaltung: Sabine Panse, stilfrei grafikatelier Hannover

Page 28: LeitfadenADHS Layout Digi FH

Kompetenzzentrum für die Behandlung von Essstörungen / ADHSin Bad Bevensen

Kompetenz Zentrum Für Essstörungen

KLINIKlüneburgerheide

am klaubusch 2129549 bad bevensen

tel. 05821. 960 -0fax 05821. 960 -180

[email protected]

chefarzt dr. med. andreas leiteritzfacharzt für psychotherapeutische medizinfacharzt für innere medizinpsychotherapie / rehabilitationswesen