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Aufklärung und Kritik 3/2019 72 Hannes Kerber (München) Leo Strauss und das esoterisch-exoterische Schreiben Von einem Autor, der weiß, was er tut, darf man erwarten, dass er sich nicht wie- derholt. 1 In diesem Sinne macht der fol- gende Essay geltend, dass die drei Schrif- ten, in denen Leo Strauss das Problem des esoterisch-exoterischen Schreibens ver- handelt, keine Wiederholungen darstellen, sondern als drei eigenständige Versuche anzusehen sind, ein vielfältiges Phänomen auf jeweils verschiedene Art und Weise zu betrachten. In den ersten beiden Abschnit- ten werde ich zeigen, dass die beiden publizierten Aufsätze – „Persecution and the Art of Writing“ (1941) und „On a Forgot- ten Kind of Writing“ (1954) – je eine un- terschiedliche Zielgruppe adressieren, indem sie jeweils eine besondere Erfahrung der angesprochenen Leserinnen und Leser zum Ausgangspunkt nehmen. Zusammengenom- men ermöglichen es die beiden Veröffent- lichungen, das Verhältnis von Politik und Philosophie vor dem Hintergrund des Phä- nomens einer esoterisch-exoterischen Rhe- torik zu durchdenken. Der dritte und läng- ste Abschnitt zeigt, wie sich das bereits 1939 geschriebene, aber erst postum ver- öffentlichte Fragment „Exoteric Teaching“ in entscheidender Hinsicht von den bei- den genannten Aufsätzen abhebt: In „Exo- teric Teaching“ geht Strauss nicht von ei- ner beinahe alltäglichen Erfahrung aus, die dem esoterisch-exoterischen Schreiben vorausliegt und die den Zugang zu diesem Phänomen erleichtern kann, sondern er be- tont eine keineswegs alltägliche Erfahrung, die das esoterisch-exoterische Schreiben überhaupt erst ermöglicht – eine Erfahrung, auf der, wie Strauss es einmal formuliert, „the irretrievably ,occasional‘ character of every worthwhile interpretation“ beruht. 2 I. „Persecution and the Art of Writing“ „Persecution and the Art of Writing“ legt nahe, dass Strauss in den Jahren, in de- nen er seine spektakuläre Entdeckung von der enormen philosophiegeschichtlichen Bedeutung des esoterisch-exoterischen Schreibens erstmals bekannt machte, das in Rede stehende Phänomen als ebenso zeitgemäß wie unzeitgemäß ansah. Einer- seits war er überzeugt, der herrschende Historismus verstelle oder erschwere den Zugang zu den verstreuten Bemerkungen über das esoterisch-exoterische Schreiben, die Denker früherer Zeiten in ihren Schrif- ten hinterließen. 3 Andererseits verweist er immer wieder auf die selten günstige Ge- legenheit, die sich zeitgenössischen Leserin- nen und Lesern in den 1930er und 1940er Jahren bot, um ein Verständnis für den Ein- fluss zurückzugewinnen, den Zensur und Unterdrückung zu fast allen Zeiten auf jede Art Literatur ausübten. Die Gefahr politi- scher oder religiöser Verfolgung stellte nämlich, „as it were, the natural condition“ dar, „to which public expression of free thought had to adapt itself“. Erst die „dis- continuation of persecution of free thought which has taken place in the eighteenth century“ – ein Ereignis, das Strauss 1938 in einem Vortrag als „the most epoch-ma- king event in the history of literature as such“ bezeichnet – führte dazu, dass das zuvor nahezu allbekannte Phänomen des esoterisch-exoterischen Schreibens in Ver- gessenheit geriet. 4 Dass die späten 1930er und frühen 1940er Jahre von Strauss als Moment privilegierter Rückerinnerung an- gesehen wurden, war insbesondere den katastrophalen Ereignissen in Deutschland und in Europa geschuldet, die Strauss und

Leo Strauss und das esoterisch-exoterische SchreibenLeo Strauss und das esoterisch-exoterische Schreiben Von einem Autor, der weiß, was er tut, darf man erwarten, dass er sich nicht

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Aufklärung und Kritik 3/201972

Hannes Kerber (München)Leo Strauss und das esoterisch-exoterische Schreiben

Von einem Autor, der weiß, was er tut,darf man erwarten, dass er sich nicht wie-derholt.1 In diesem Sinne macht der fol-gende Essay geltend, dass die drei Schrif-ten, in denen Leo Strauss das Problem desesoterisch-exoterischen Schreibens ver-handelt, keine Wiederholungen darstellen,sondern als drei eigenständige Versucheanzusehen sind, ein vielfältiges Phänomenauf jeweils verschiedene Art und Weise zubetrachten. In den ersten beiden Abschnit-ten werde ich zeigen, dass die beidenpublizierten Aufsätze – „Persecution and theArt of Writing“ (1941) und „On a Forgot-ten Kind of Writing“ (1954) – je eine un-terschiedliche Zielgruppe adressieren, indemsie jeweils eine besondere Erfahrung derangesprochenen Leserinnen und Leser zumAusgangspunkt nehmen. Zusammengenom-men ermöglichen es die beiden Veröffent-lichungen, das Verhältnis von Politik undPhilosophie vor dem Hintergrund des Phä-nomens einer esoterisch-exoterischen Rhe-torik zu durchdenken. Der dritte und läng-ste Abschnitt zeigt, wie sich das bereits1939 geschriebene, aber erst postum ver-öffentlichte Fragment „Exoteric Teaching“in entscheidender Hinsicht von den bei-den genannten Aufsätzen abhebt: In „Exo-teric Teaching“ geht Strauss nicht von ei-ner beinahe alltäglichen Erfahrung aus, diedem esoterisch-exoterischen Schreibenvorausliegt und die den Zugang zu diesemPhänomen erleichtern kann, sondern er be-tont eine keineswegs alltägliche Erfahrung,die das esoterisch-exoterische Schreibenüberhaupt erst ermöglicht – eine Erfahrung,auf der, wie Strauss es einmal formuliert,„the irretrievably ,occasional‘ character ofevery worthwhile interpretation“ beruht.2

I. „Persecution and the Art of Writing“„Persecution and the Art of Writing“ legtnahe, dass Strauss in den Jahren, in de-nen er seine spektakuläre Entdeckung vonder enormen philosophiegeschichtlichenBedeutung des esoterisch-exoterischenSchreibens erstmals bekannt machte, dasin Rede stehende Phänomen als ebensozeitgemäß wie unzeitgemäß ansah. Einer-seits war er überzeugt, der herrschendeHistorismus verstelle oder erschwere denZugang zu den verstreuten Bemerkungenüber das esoterisch-exoterische Schreiben,die Denker früherer Zeiten in ihren Schrif-ten hinterließen.3 Andererseits verweist erimmer wieder auf die selten günstige Ge-legenheit, die sich zeitgenössischen Leserin-nen und Lesern in den 1930er und 1940erJahren bot, um ein Verständnis für den Ein-fluss zurückzugewinnen, den Zensur undUnterdrückung zu fast allen Zeiten auf jedeArt Literatur ausübten. Die Gefahr politi-scher oder religiöser Verfolgung stelltenämlich, „as it were, the natural condition“dar, „to which public expression of freethought had to adapt itself“. Erst die „dis-continuation of persecution of free thoughtwhich has taken place in the eighteenthcentury“ – ein Ereignis, das Strauss 1938in einem Vortrag als „the most epoch-ma-king event in the history of literature assuch“ bezeichnet – führte dazu, dass daszuvor nahezu allbekannte Phänomen desesoterisch-exoterischen Schreibens in Ver-gessenheit geriet.4 Dass die späten 1930erund frühen 1940er Jahre von Strauss alsMoment privilegierter Rückerinnerung an-gesehen wurden, war insbesondere denkatastrophalen Ereignissen in Deutschlandund in Europa geschuldet, die Strauss und

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viele seiner Zeitgenossen zur Flucht ausihren Heimatländern zwangen. Im Febru-ar 1938 schreibt Strauss in einem Brief aneinen ebenfalls exilierten Freund: „UnsereSituation wird immer mittelalterlicher, dieDifferenz zwischen Freiheit des Denkensund Freiheit der Äusserung immer sichtba-rer. Das ist ein ,Fortschritt‘.“5 Diese Er-fahrung – „an experience we are unfortu-nate enough to make to-day“, wie es an-dernorts heißt6 – gibt Strauss Anlass, dasVerhältnis von Politik und Philosophie imHinblick auf die Auswirkungen von Un-terdrückung, Verfolgung und Zensur neuzu durchdenken.Im Vorwort zu seiner 1952 veröffentlich-ten Aufsatzsammlung Persecution and theArt of Writing weist Strauss auf die ei-gentümliche Zeitgemäßheit und die nichtweniger eigentümliche Unzeitgemäßheitdes esoterisch-exoterischen Schreibens hin:„In the article ,Persecution and the Art ofWriting,‘ I have tried to elucidate the prob-lem by starting from certain well-knownpolitical phenomena of our century. As Istate in the Introduction, I became famili-ar with the problem mentioned while stu-dying the Jewish and the Islamic philoso-phy of the Middle Ages.“7 Diese Bemer-kung zeigt, dass Strauss in seiner erstenzur Publikation freigegebenen Darstellungdes Problems eine rhetorische Strategiewählt, die an der Erfahrung seiner Zeitge-nossen mit einem wohlbekannten politi-schen Phänomen der Gegenwart ansetzt.Dieser Zugriff erlaubt ihm, ein Problem aufvertraute Art und Weise zu präsentieren,dem er selbst in einer weniger vertrautenUmgebung begegnet war: in, wie Straussausdrücklich vermerkt, „other ages, if notother climates“.8 Um ein Publikum zu er-reichen, das mit faktischer Zensur und da-raus resultierender Selbstzensur nur allzu

gut vertraut ist, führt Strauss am Beginnseines Aufsatzes „Persecution and the Artof Writing“ das erdichtete Beispiel einesnamenlosen Religionshistorikers an, dersich gezwungen sieht, die heterodoxenErgebnisse seiner Forschungen „zwischenden Zeilen“ zu präsentieren, um der insti-tutionellen Verfolgung durch das herr-schende totalitäre Regime zu entgehen.Strauss selbst nennt diese einigermaßeneigenartige Geschichte „a simple examplewhich, I have reason to believe, is not soremote from reality as it might first seem“.9Es war wahrscheinlich, dass dieses Bei-spiel gerade bei den europäischen Ge-flüchteten unter seinen amerikanischen Le-serinnen und Lesern Anklang finden wür-de, die aus erster Hand wissen mussten,dass Regierungen oder die jeweilige Mehr-heitsgesellschaft eine Gefahr für die Frei-heit des öffentlichen Nachdenkens darstel-len können. Dass das Beispiel des Histori-kers allerdings nicht mehr als einen leidlichgeeigneten Ausgangspunkt von Strauss’rhetorischer Strategie bildet – einer Strate-gie, die der nicht unähnlich ist, die er spä-ter in On Tyranny anwenden sollte10 –, be-tont Strauss später in seiner Replik auf dieKritik des französischen Gelehrten YvonBelaval: „Belaval is quite right when hesays that one cannot infer an essential an-tinomy between philosophy and politicsfrom the factual persecution of philoso-phers by political authorities. I am quitecertain that I did not make this mistake.“11

Ein Beispiel kann – gleichviel, ob es wieam Beginn des Artikels „Persecution andthe Art of Writing“ erdichtet ist oder obes wie in On Tyranny auf historischen Tat-sachen beruht – keinen Ersatz für ein Ar-gument darstellen. Es kann allerdingsdurchaus als Lockmittel dienen, das Le-serinnen und Leser anregt, ein Argument

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ernst zu nehmen. Eine solche rhetorischeStrategie, die an zufällig aktuellen Erfah-rungen ansetzt, hat indessen ihren Preis:Leserinnen und Leser späterer Zeiten, diesich von den Stolpersteinen,12 die Straussin ihren Weg legt, nicht irritieren lassen,mögen durch diese Strategie verleitet wer-den, das Problem des esoterisch-exoteri-schen Schreibens in erster Linie auf dieVergangenheit zu beschränken oder aberes auf seltene und besonders krasse Fälleder politischen oder religiösen Verfolgungzu begrenzen.13 Hans-Georg Gadamer etwabezeichnet die von Strauss aufgeworfeneFrage, „wieweit bewußte Tarnung der wah-ren Meinung unter der Gewalt der Verfol-gungsdrohung der Obrigkeit oder der Kir-che beim Verständnis von Texten zu be-rücksichtigen ist“, als ein „Sonderpro-blem“ und stellt folgende „Gegenerwä-gung“ an: „Ist die bewußte Verstellung,die Tarnung und das Versteck der eige-nen Meinung nicht in Wahrheit der selteneExtremfall zu einer häufigen, ja zu einerallgemeinen Normalsituation?“14

II. „On a Forgotten Kind of Writing“„On a Forgotten Kind of Writing“, derzweite von ihm selbst publizierte Text, denStrauss eigens einer umfassenden Darstel-lung des Problems des esoterisch-exote-rischen Schreibens widmet, verfolgt eineandere rhetorische Strategie. Im Unter-schied zu „Persecution and the Art of Writ-ing“ beruht diese Strategie nicht in der-selben Weise auf dem zugleich zeit- wieunzeitgemäßen Charakter des in Rede ste-henden Problems. Am Beginn von „On aForgotten Kind of Writing“ schreibt Strausszunächst, er sei von einem überfordertenStudenten gebeten worden, Andeutungenzu wiederholen und zu erläutern, die er inseinen Publikationen und im Seminarraum

zum Phänomen des esoterisch-exoteri-schen Schreibens gemacht habe.15 So-dann skizziert Strauss einen kurzen Ab-riss der These, die er in „Persecution andthe Art of Writing“ formuliert hatte. Ent-gegen aller Erwartung verwendet er in die-ser Zusammenfassung aber weder das Wort„persecution“ noch das Wort „censorship“.Anstatt von den zweifellos immer noch aus-reichend vertrauten Phänomenen politischerVerfolgung und staatlicher Zensur auszu-gehen – man bedenke, dass Strauss seineLeserinnen und Leser im selben Aufsatzausdrücklich an den US-Senator JosephR. McCarthy erinnert, der im Jahr vor derVeröffentlichung von „On a ForgottenKind of Writing“ Vorsitzender des be-rühmt-berüchtigten Committee on Govern-ment Operations geworden war –, legtStrauss nun einen vierschrittigen Syllogis-mus vor, der das wesentliche und unüber-windbare Spannungsverhältnis zwischenPhilosophie und Gesellschaft erläutert, dasdie Notwendigkeit des esoterisch-exoteri-schen Schreibens begründet: „[1] Philoso-phy or science, the highest activity of man,is the attempt to replace opinion about ,allthings‘ by knowledge of ,all things‘; but[2] opinion is the element of society; [3]philosophy or science [...] thus endangerssociety. [4a] Hence, [...] philosophers orscientists must respect the opinions onwhich society rests. [...] [4b] They willdistinguish between the true teaching asthe esoteric teaching and the socially use-ful teaching as the exoteric teaching.“16

Man könnte nun erwarten, dass Straussseine Leserinnen und Leser auf den eini-germaßen problematischen vierten Schrittdes vorgelegten Arguments hinweist.17 Dochlaut „On a Forgotten Kind of Writing“ istallenfalls die zweite Prämisse des Syllo-gismus fraglich und Strauss versichert um-

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gehend, die platonische Voraussetzung,die Gesellschaft beruhe auf Meinung, wer-de von „many contemporary social sci-entists“ geteilt.18 Diese merkwürdige Artund Weise, seine Leserinnen und Leservon der Wahrheit der keineswegs selbst-verständlichen Voraussetzung zu überzeu-gen – schließlich ist ein Forschungskon-sens weder ein notwendiges noch ein hin-reichendes Wahrheitskriterium –, zeigt,dass Strauss abermals ad hominem oderex concessis argumentiert, d.h., dass erdas vorgetragene Argument auch hier anden Adressaten ausrichtet und deren Mei-nungen oder Vorurteile zu seinem Aus-gangspunkt macht. Es liegt nahe, dass dieStudierenden, die an sozialwissenschaft-lichen Fakultäten eingeschrieben sind –und das ist die Leserschaft, die Strauss,der seit 1949 am politikwissenschaftlichenInstitut der University of Chicago tätig ist,mit seinem Aufsatz ausdrücklich anspre-chen möchte –, den Standpunkt teilen, dervon „many contemporary social scientists“vertreten wird, und dass sie durch Strauss’Hinweis dazu veranlasst werden, die Argu-mentation ernst zu nehmen. Allerdingsbezahlt Strauss auch diesmal einen Preisfür seine rhetorische Strategie. Ein schnör-kelloser Syllogismus wie der, den Straussin „On a Forgotten Kind of Writing“ vor-trägt, verdeckt gerade jenen Aspekt desProblems, den er in „Persecution and theArt of Writing“ ins Licht rückt: Von derindividuellen Erfahrung wird ebenso abge-sehen wie von der Bedeutung, die dasProblem des esoterisch-exoterischen Schrei-bens für die philosophiegeschichtlicheForschung darstellt.In den zwei veröffentlichten Aufsätzen, indenen Strauss sich einzig oder vornehmlichmit dem Problem des esoterisch-exoteri-schen Schreibens beschäftigt, wählte er

also zwei unterschiedliche Weisen des rhe-torischen Zugriffs, um zwei unterschied-liche Adressatenkreise von ein und der-selben These zu überzeugen. In dem pro-grammatischen Essay „Persecution andthe Art of Writing“ richtet sich Strauss andie Leserinnen und Leser von Social Re-search, der Zeitschrift der New Schoolfor Social Research, an der damals nichtnur Strauss selbst lehrte, sondern derenProfessorinnen und Professoren sich vor-nehmlich aus dem Kreis europäischerGeflüchteter rekrutierte und die deshalbals „University in Exile“ bekannt wurde.Er versucht, bei dieser Leserschaft An-klang zu finden, indem er mit der überauszeitgemäßen Gefahr politischer Verfolgungeinsetzt und von diesem Ausgangspunktaus deutlich macht, dass esoterisch-exo-terisches Schreiben aus der Sicht der Phi-losophie unentbehrlich ist, weil die Ge-sellschaft oder die Regierung dem freienNachdenken gefährlich werden kann. In„On a Forgotten Kind of Writing“ richtetStrauss seine argumentative Strategie neuaus: Er präsentiert die These vom esote-risch-exoterischen Schreiben mittels einesSyllogismus, der sich auf die mutmaßlichnaheliegenden Vorannahmen stützt, diedie Leserinnen und Leser der ChicagoReview teilen. Dabei handelt es sich umein bekanntes und bis heute fortgeführtesLiteraturmagazin, das von Studierenden derUniversity of Chicago herausgegeben wird.Hier dreht Strauss die Rechtfertigung desesoterisch-exoterischen Schreibens um: Ausder Sicht der Politik ist eine esoterisch-exoterische Rhetorik unentbehrlich, weilöffentlichkeitswirksames Philosophieren eineGefahr für die Gesellschaft darstellen kann.Auf diese Weise wird das Problem, um des-sen Aufklärung es Strauss zu tun ist, in bei-den Essays aus einer je anderen und je ein-

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geschränkten Perspektive betrachtet. DieReflexion über die Begrenztheit der jewei-ligen Ansätze vermag die Leserinnen undLeser der beiden Texte zu jenem umfas-senden Begriff der politischen Philosophiein dem Sinne führen, den Strauss im Jahr1945 in die Diskussion einführte: „Theadjective ,political‘ in the expression ,po-litical philosophy‘ designates not so mucha subject matter as a manner of treatment;from this point of view, I say, ,politicalphilosophy‘ means primarily not the philos-ophic treatment of politics, but the politi-cal, or popular, treatment of philosophy,or the political introduction to philosophy– the attempt to lead the qualified citizens,or rather their qualified sons, from the po-litical life to the philosophic life.“19 Auchim Hinblick auf das esoterisch-exoterischeSchreiben nimmt die politische Philoso-phie im Vergleich zu den Standpunktenvon Philosophie und Politik, von denen„Persecution and the Art of Writing“ bzw.„On a Forgotten Kind of Writing“ jeweilsausgehen, einen höheren Standpunkt ein.20

III. „Exoteric Teaching“„Exoteric Teaching“ ist, soviel wir wissen,Strauss’ erster Versuch überhaupt, eineumfassende Darstellung des esoterisch-exoterischen Schreibens zu geben. Im Lichtder beiden publizierten Aufsätze betrach-tet, erlaubt das Nachlassfragment abernicht nur einen einzigartigen Einblick in dieGenese von Strauss’ Hermeneutik, sondernrückt, wie wir sehen werden, außerdem ei-nen anderen sachlichen Aspekt des in Redestehenden Problems ins Zentrum der Auf-merksamkeit. Auch „Exoteric Teaching“zeichnet sich dabei durch den besonde-ren Zugriff aus, den Strauss wählt, als erden Aufsatz im Dezember 1939 konzipiert.Dieser Zugriff unterscheidet den Essay von

dem nächstverwandten Essay „Persecutionand the Art of Writing“, von „On a For-gotten Kind of Writing“ sowie von derMehrzahl der Einzelfallstudien, die Straussin den 1940er Jahren schreibt und in de-nen er die These vom esoterisch-exoteri-schen Schreiben in der Auseinanderset-zung mit einzelnen Philosophen auf dieProbe stellt. Während Strauss seinen Blickin diesen Studien vornehmlich auf Den-ker des jüdischen sowie des islamischenMittelalters richtet, konzentriert er sich in„Exoteric Teaching“ ausschließlich auf sol-che Denker, die, lose verstanden, der west-lichen Tradition zuzurechnen sind.In „Exoteric Teaching“ behandelt Straussinsbesondere Gotthold Ephraim Lessingund Friedrich Daniel Ernst Schleiermacherund verweist mehr oder weniger beiläufigauf solche Autoren wie Platon, Aristoteles,Leibniz, Zeller, Kant, Ferguson, Rousseauund Jacobi. Diese Aufzählung zeigt, dassin dem Essay kein einziger Denker zitiert oderauch nur genannt wird, der nicht der so-genannten abendländischen Tradition ent-stammt. Im Fall von Moses Maimonides,der im andalusischen Córdoba geborenwurde, aber vor allem in Nordafrika tätigwar, ist Strauss’ Schweigen besonders be-deutsam. Denn bereits lange bevor er dieArbeit an „Exoteric Teaching“ aufnahm,spielte Maimonides eine entscheidendeRolle in Strauss’ Wiederentdeckung derKunst des esoterisch-exoterischen Schrei-bens. Noch überraschender ist, dass Mai-monides’ Name zwar nicht im nachgelasse-nen Typoskript von „Exoteric Teaching“ vor-kommt, er aber sehr wohl in einem vonHand geschriebenen Entwurf für das ge-plante Essay Erwähnung findet. Den vor-letzten Abschnitt von „Exoteric Teaching“fasst Strauss in dieser Nachlassnotiz fol-gendermaßen zusammen: „Lessing – Leib-

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niz – Hobbes (vera – pia dogmata) – Spino-za – RMbM –“.21 In dem entsprechendenAbschnitt des Manuskripts ersetzt Straussspäter zwar Thomas Hobbes durch RenéDescartes, aber er erwähnt Maimonides,dessen Akronym in der Notiz am Endeder Liste steht, ausdrücklich als letztesGlied einer Reihe von Autoren, die sichder esoterisch-exoterischen Kunst desSchreibens bedienten: „Leibniz is […] thatlink in the chain of the tradition of exoter-icism which is nearest to Lessing. Leib-niz, however, was not the only 17th cen-tury thinker who was initiated. Not to men-tion the prudent Descartes, even so bolda writer as Spinoza had admitted the ne-cessity of ,pia dogmata, hoc est, talia quaeanimum ad obedientiam movent‘ as distin-guished from ,vera dogmata.‘ Despite, orbecause of, that admission, Spinoza rejec-ted Maimon-ides’ allegorical interpretationof the Bible as ,harmful, useless and ab-surd.‘ Thus, he cannot be considered agenuine spokesman of the tradition.“22 Dadie beiden letzten Sätze – mit dem dop-peldeutigen Personalpronomen, das sichsowohl auf Maimonides wie auf Spinozabeziehen könnte23 – bei der Anfertigungdes Typoskripts nicht übertragen undauch später nicht von Hand eingefügtwurden, fehlen sie in der chronologischspätesten Version von „Exoteric Teaching“.Ob es sich dabei allerdings um eine be-wusste und mithin autoritative Entschei-dung oder um einen der vielen Flüchtig-keitsfehler des Kopisten handelt, die beider vorläufigen Korrektur des Typoskriptübersehen wurden, lässt sich nicht mit Si-cherheit sagen, weil Strauss „ExotericTeaching“ nie für den Druck vorbereiteteoder zur Veröffentlichung freigab. Ein wei-terer, noch detaillierterer Plan für „Exoter-ic Teaching“ löst das Problem ebenso we-

nig. Dort heißt es an der besagten Stelle:„Lessing – Leibniz – Spinoza (– RMbM)“.24

Weshalb klammerte Strauss das Akronym fürMaimonides’ vollständigen Namen RabbiMoses ben Maimon ein? Verweisen die Klam-mern darauf, dass Strauss den doppel-deutigen Hinweis auf Spinozas Kritik anMaimonides in „Exoteric Teaching“ erwäh-nen wollte? Oder zeigen sie, dass Strausssich dazu entschied, die Bezugnahme aufMaimonides ganz zu streichen, nachdemer das Manuskript geschrieben hatte? Wiedie Antworten auf diese Fragen auch aus-fallen mögen, so gilt, dass die philologi-schen Schwierigkeiten den Umstand unter-streichen, dass Denker, die sich nicht ohneWeiteres dem „Westen“ zurechnen lassen,in „Exoteric Teaching“ höchstens eine we-nig bedeutsame Nebenrolle gespielt hät-ten.Der besondere Zugriff von „Exoteric Teach-ing“ spiegelt sich nicht nur in der Aus-sparung von Maimonides, sondern auchund besonders in der Konzentration aufLessing und Schleiermacher. Obgleich diebeiden Denker in Strauss’ publiziertenSchriften aus den 1930er Jahren kaum er-wähnt werden, scheinen sie in dieser Zeiteine wichtige Rolle für ihn gespielt zu ha-ben. Jahrzehnte später berichtete Straussjedenfalls über die Zeit seiner frühen Spi-nozastudien: „Lessing was always at myelbow.“25 Seiner eigenen Darstellung zu-folge war der Einfluss, den Lessings Schrif-ten auf Strauss ausübten, nahezu unmerk-lich und blieb zunächst auch unbemerkt:„I learned more from him than I knew atthat time. As I came to see later, Lessinghad said everything I had found out aboutthe distinction between exoteric and eso-teric speech and its grounds.“26 Die Neu-bewertung Lessings, die wohl auf die Zeitum 1936 und 1937 zu datieren ist,27 zeigt,

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dass Strauss sich intensiv mit dem Prob-lem des esoterisch-exoterischen Schreibensbefasste, lange bevor er „Exoteric Teach-ing“ ausgearbeitet hatte.28 Erst in diesemEssay stellt Strauss allerdings eine Skizzeder historischen Entwicklung dieses Prob-lems neben eine Diskussion der hinter ihmstehenden philosophisch-politischen Grün-de.Obschon Lessing, wie sich zeigen wird,eine sachlich schlechthin entscheidendeEinsicht zu dem in Rede stehenden Prob-lem bereithält, widmet Strauss den um-fangreichsten Teil von „Exoteric Teach-ing“ einer Diskussion der Frage, wie Schlei-ermacher Platon liest und weshalb er sichweigert, Platon als exoterischen Autor zuverstehen.29 Die Einleitung, die Schleier-macher dem ersten Band seiner bahnbre-chenden Übersetzung der Dialoge Platonsvoranstellte, zeigt, dass er – wie viele sei-ner Vorgänger, aber anders als die Mehr-zahl seiner Nachfolger – mit dem Phäno-men des esoterisch-exoterischen Schrei-bens bestens vertraut war.30 Im Zuge sei-ner Kritik weit verbreiteter hermeneutischerFehlannahmen früherer Platondeutungenerwähnt Schleiermacher, dass zahlreicheInterpreten „größtentheils mit eben so we-nig richtiger Einsicht aber mit mehr gutemWillen, theils aus einzelnen Aeußerungendes Platon selbst, theils auch aus einer weitverbreiteten Ueberlieferung, die sich aus demAlterthum erhalten hat von einem Esoteri-schen und Exoterischen in der Philoso-phie, sich die Meinung gebildet, als sei inden Schriften des Platon seine eigentlicheWeisheit gar nicht oder nur in geheimenschwer aufzufindenden Andeutungen ent-halten“.31 Schleiermachers Kritik der Mei-nung, Platon habe bei der Kompositionseiner Dialoge auf eine esoterisch-exoteri-sche Rhetorik zurückgegriffen, nimmt sich

kompliziert aus, weil die Begriffe des „Eso-terischen“ und des „Exoterischen“ in derGeschichte der Philosophie, wie Schlei-ermacher feststellt, „an sich ganz unbe-stimmt“ geblieben sind und „sich in diemannigfaltigsten Gestalten ausgebildet“haben.32 Zwei historische Varianten desesoterisch-exoterischen Schreibens stechendabei aus Schleiermachers Sicht gleich-falls heraus: Auf der einen Seite bezeich-nen die vorplatonischen Pythagoreer be-stimmte Gegenstände – wie beispielsweiseihre politischen An- und Absichten – als„esoterisch“, weil sie sie vor der breitenÖffentlichkeit geheim halten wollten.33 Aufder anderen Seite behaupteten jene nach-platonischen Denker, die eine „Vermi-schung“ der Sokratischen Philosophie mitder Sophistik vollzogen, dass die Unter-scheidung zwischen „Esoterischem“ und„Exoterischem“ nicht so sehr bestimmte Ge-genstände betrifft, sondern sich vielmehrauf die Art und Weise der Präsentationbezieht: Was nur Experten verstehen kön-nen und was sich Laien nicht vermittelnlässt, wird hier als „esoterisch“ bezeich-net.34

Dass sich eine dieser beiden angeblichphilosophiehistorisch besonders bedeut-samen „Gestalten“ der esoterisch-exote-rischen Rhetorik für die Platonlektüre alsfruchtbar erweisen könnte, verneint Schlei-ermacher in aller Deutlichkeit: „Zwischendiesen beiden Zeiten nun steht Platon mit-ten inne; aber in welchem Sinne von bei-den man auch diese Begriffe auf Platoni-sche Schriften und Philosophie anwendenwollte, um beide dadurch in zwei Theilezu theilen, so wird man überall hängen blei-ben.“35 Die zweite Ansicht – der gemäßes eine Gattung philosophischer Literaturgibt, die leicht verständlich, d.h. populäroder „exoterisch“ ist, und eine weitere

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Gattung philosophischer Literatur, dieschwer verständlich, d.h. wissenschaftlichoder „esoterisch“ ist36 – kommt, so dasUrteil Schleiermachers, für Platon nicht inBetracht, weil die Schriften Platons „sämmt-lich schwer verständlich sind“ und er ih-nen deshalb „das schwerste und geheim-nißvollste seiner Weisheit eben so gut hätteanvertrauen gekonnt, als das übrige“.37 Diepythagoreische Auffassung, der zufolgePlaton über bestimmte Gegenstände nurinnerhalb der Akademie, aber aus Prinzipnie öffentlich in seinen Schriften gesprochenhabe, widerlegt sich aus SchleiermachersSicht beinahe von selbst, da ihre Vertreter„wohl nichts im Gebiete der Philosophieauffinden [dürften], worüber nicht ein Urt-heil entweder geradezu und deutlich, oderwenigstens den Gründen nach in diesenSchriften anzutreffen wäre“.38

Wenn man von anderen Unterschieden füreinen Moment absieht, fällt auf, dassStrauss Schleiermachers Kritik der beidenphilosophiegeschichtlichen „Gestalten“des esoterisch-exoterischen Schreibens in„Exoteric Teaching“ zwar mit keinem Worterwähnt, in deren Ablehnung aber durch-aus mit ihm übereinstimmt. Wie Schleier-macher würde Strauss jenen Interpretenwidersprechen, die sich – um weiterhinbei Schleiermachers façon de parler zubleiben – an den Pythagoreern oder densokratischen Sophisten orientieren. Währendnämlich Schleiermacher und Strauss über-zeugt sind, dass Platons Dialoge die ein-zige Quelle darstellen, aus der sich ein Ver-ständnis von Platons Lehre schöpfen las-se, leugnen die Vertreter der beiden ge-nannten Auffassungen die materiale Voll-ständigkeit der Dialoge. Die sogenanntenPythagoreer überschreiten den Rahmen derDialoge, indem sie – ähnlich wie dies dieVertreter der Tübinger und Mailänder Schu-

le im 20. Jahrhundert tun sollten 39 – aufeine mündliche Tradition zurückgreifen.Obgleich mündliche Rede zweifelsohnedie ursprüngliche Form philosophischerKommunikation darstellte und schon des-halb als eine denkbare Möglichkeit zurVermittlung der esoterischen Lehre geltenmuss,40 ist sie mit entscheidenden Nach-teilen behaftet: Nicht nur setzt mündlicheVermittlung dauerhafte Stabilität der poli-tischen Ordnung41 und vollkommenesVerständnis bei jeder Vermittlungsinstanzvoraus, sie beschränkt auch den mögli-chen Adressatenkreis auf diejenigen, diesich zufälligerweise im Einzugsbereich ei-ner Tradition befinden. Aus diesen Grün-den ist es sehr unwahrscheinlich, dassmündliche traditio das intendierte Ziel er-reichen würde und im Stand wäre, das tra-ditum unbeschadet über die Zeit weiterzu-tragen.42 Im Lichte dieser Überlegungenwird deutlich, dass die Beobachtung desPlatonischen Sokrates, Geschriebenes seinatürlicherweise allen zugänglich, die le-sen können, nicht nur eine Warnung, son-dern auch ein Versprechen darstellt.43

Wenn die Pythagoreer und ihre modernenNachfolger die materiale Vollständigkeitder Dialoge aufgeben, indem sie auf einemündliche Überlieferung verweisen, diebestimmte „esoterische“ Themen unab-hängig von den Schriften tradiere, dannbegehen die sokratischen Sophisten ebendiesen Fehler auf eine andere Art undWeise. Ihrer Überzeugung nach richtensich „exoterische“ Schriften an ein Laien-publikum, das nicht Teil der eigenen Schu-le ist, wohingegen andere Schriften des-halb als „esoterisch“ zu bezeichnen sind, weilsie sich nur an bereits aufgenommene Mit-glieder der Schule richten. Die wichtigsteAufgabe für den Interpreten ist demzufol-ge, zwischen den zwei Gattungen zu un-

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terscheiden und alle Bücher außer Achtzu lassen,44 die zur ersteren Kategorie ge-hören, da sie lediglich „exoterische“ Ge-genstände behandeln, die philosophischnachgeordnet – um nicht zu sagen: unbe-deutend – sind.45 Diese eher holzschnitt-artige Unterscheidung der Adressaten aufder Basis verbriefter Schulzugehörigkeitist nicht nur deshalb problematisch, weiljede erfolgreiche Denkschule eine Vielfaltverschiedener Schülertypen verlangt,46 son-dern auch weil zu erwarten ist, dass alleSchriften irgendwann an die Öffentlichkeitgelangen. Schon das damit verbundene po-litische Risiko macht also diese Art der „Eso-terik“ unbrauchbar. Strauss selbst lässt je-denfalls keine Zweifel daran aufkommen,dass, wenn exoterisches Schreiben in irgend-einer Form für notwendig befunden wer-den sollte, „no written exposition can bestrictly speaking esoteric“.47

Nachdem Schleiermacher in der Einleitungzu seiner Platonübersetzung den proble-matischen Charakter der beiden seinerMeinung nach bedeutsamsten historischenVarianten esoterisch-exoterischer Rheto-rik herausgestellt hat, erwähnt er eine drit-te Spielart, die er keiner besonderen Grup-pe zuschreibt und die, seiner Einschätzungzufolge, keiner näheren Betrachtung be-darf: „Und diejenigen gar, welche den Un-terschied des Esoterischen bloß auf denStreit gegen den Polytheismus und dieVolksreligion zurükführen, heben ihn in derThat gänzlich auf, und machen ihn entwe-der zu einer rechtlichen Verwahrung, wel-che höchst unzureichend wäre, da PlatonsGrundsäze hierüber in seinen Schriftendeutlich genug zu lesen sind, so daß mankaum glauben kann, seine Schüler hättendarüber noch anderer Belehrungen be-durft, deren Bekanntmachung er gescheuthabe, oder zu einer kindischen Veranstal-

tung, welche sich daran vergnügt, bei ver-schlossenen Thüren laut zu reden, wasöffentlich zwar auch, aber nur leiser durf-te gesagt werden.“48 Diese Aussage stelltdie erste Schwachstelle dar, die sich Straussbei seinem Angriff auf SchleiermachersKritik in „Exoteric Teaching“ zu Nutzemacht: Nur weil Schleiermacher sich wei-gert, Ross und Reiter zu nennen, kann erbehaupten, Platon habe sich jeder „recht-lichen Verwahrung“ verweigert, d.h. erhabe darauf verzichtet, seine Leugnung dervon der Polis verehrten Götter auch bloßnotdürftig zu verschleiern, obgleich der-artige Asebie in Athen mit der Todesstra-fe geahndet wurde.49 Die Doppeldeutig-keit von Schleiermachers Wendung „Po-lytheismus und Volksreligion“ erlaubt ihmdemnach zu behaupten, Platons „Grund-säze“ über den in Rede stehenden Gegen-stand seien in seinen Schriften unschweraufzufinden. Wenn aber, so Strauss, Schlei-ermacher „the less ambiguous expression,belief in the existence of the gods wor-shipped by the city of Athens‘“ verwen-det hätte, hätte er nicht behaupten kön-nen, „that Plato’s opposition to that be-lief is clearly expressed in his writings“.50

Auf diese Weise lässt Strauss nicht nurSchleiermachers Kritik des durch im wei-teren Sinne politische Beweggründe mo-tivierten esoterisch-exoterischen Schrei-bens als äußerst fragwürdig erscheinen,sondern er legt außerdem einen Ansatz-punkt für jene Argumentationslinie frei, dieer später insbesondere in „Persecution andthe Art of Writing“ ausziehen sollte: Wereine Meinung aus Angst vor Verfolgungoder Zensur verbergen will, sie aber den-noch seinen Leserinnen und Lesern mit-teilen möchte, muss auf eine Art und Wei-se schreiben, die beiden Absichten Rech-nung trägt.51

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Der wichtigste Einwand, den Strauss ge-gen Schleiermachers Kritik vorbringt, gehtallerdings in eine völlig andere Richtung.In „Persecution and the Art of Writing“macht Strauss gleichsam im Vorbeigehenklar, dass die entscheidende Kritik, dieSchleiermacher an jenen Interpreten übt,die zwischen Platons esoterischer und Pla-tons exoterischer Lehre unterscheiden, inseinem „unusually able argument“ besteht,„that there is only one Platonic teach-ing“.52 Tatsächlich betont Schleiermachermit allem Nachdruck die Einheit von Pla-tons Denken, die sich in der Einheit sei-ner Lehre spiegelt,53 und wirft jenen In-terpreten, die zwischen der esoterischenund der exoterischen Lehre einen Unter-schied machen, vor, diese Einheit von Den-ken und Lehre auseinanderzureißen.54

Schleiermacher sichert dabei seine Zurück-weisung der esoterisch-exoterischen Pla-toninterpretationen zusätzlich ab, indem erjene Schwierigkeiten nicht einfach beisei-te schiebt, die manche Forscher dazu ver-leiteten, die Einheit von Platons Philoso-phie oder die Einheit der Präsentation die-ser Philosophie zu leugnen. Laut der Dar-stellung, die Strauss in „Exoteric Teach-ing“ gibt, erklärt Schleiermacher den Ein-druck der Vielfältigkeit, indem er behaup-tet, dass die Lehre Platons zwar eine sei,dass es aber „so to speak, an infinitenumber of degrees of the understandingof that teaching“ gebe: „it is the sameteaching which the beginner understandsinadequately, and which only the perfect-ly trained student of Plato understandsadequately“.55

Der Anschein der Vielfältigkeit, der die zu-grundeliegende Einheit verbirgt, lässt sichdemzufolge auf den Prozess des Verstehenszurückführen. In diesem Prozess beginntdie Leserin oder der Leser mit einem un-

vollkommenen und mithin bruchstückhaf-ten Verständnis, das sich im Folgendenschrittweise und fortgesetzt ad infinitumverbessert. Während sich also das Ver-ständnis stetig und ständig verändert,bleibt die Lehre, die dabei verstanden wird,ein und dieselbe. Platon stellt dabei, Schlei-ermachers Theorie zufolge, durch die lite-rarische Form des Dialogs sicher, dassdiese kontinuierliche Verbesserung des Ver-ständnisses den Charakter einer „Selbst-tätigkeit“ hat.56 Indem er für seine Schrif-ten die Dialogform wählt, d.h. indem erdasjenige, was er vermitteln möchte, nichtzum unmittelbaren Gegenstand seiner Leh-re macht, sondern indem er stattdessendie „Seele“ seiner Leserinnen und Leserin die „Nothwendigkeit“ setzt, es selbstzu „suchen“ und sie „auf den Weg“ führt,„wo sie es finden kann“,57 zwingt Platonsie – oder, präziser gesprochen: manchevon ihnen –, zum Selbstdenken. Zu die-sem Zweck führt Platon, nach Schleier-machers Vorstellung, seine Leserinnen undseine Leser zuallererst an einen Punkt, andem sie sich ihr eigenes Nichtwissen ein-gestehen müssen, um ihnen sodann seineeigentliche Position auf zwei indirekten We-gen mitzuteilen. Diese indirekte Kommu-nikation vollzieht sich, so Schleiermacher,entweder, indem (1) „aus Widersprüchenein Räthsel geflochten wird, zu welchem derbeabsichtigte Gedanke die einzig mög-liche Lösung ist“, und „auf ganz fremd-scheinende zufällige Art manche Andeu-tung hingeworfen [wird], die nur derjeni-ge findet und versteht, der wirklich undselbstthätig sucht“,58 oder indem (2) „dieeigentliche Untersuchung […] mit einerandern, nicht wie mit einem Schleier, son-dern wie mit einer angewachsenen Hautüberkleidet [wird], welche dem Unauf-merksamen, aber auch nur diesem, dasje-

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nige verdekt, was eigentlich soll beobach-tet und gefunden werden, dem Aufmerk-samen aber nur noch den Sinn für deninnern Zusammenhang schärft und läu-tert“.59

Auf den ersten Blick gerät Schleiermacherdurch seine Bemerkungen über die bei-den literarischen Stilmittel Platons – einer-seits die indirekte Mitteilung durch Rät-sel, Widersprüche und knappe Andeutun-gen und andererseits die Unterscheidungzwischen einem textlichen Vor- und Hin-tergrund – in nächste Nähe zu Strauss’eigener Hermeneutik. Es ist deshalb auchnur wenig überraschend, dass Strauss in„Exoteric Teaching“ Schleiermacher dasLob ausspricht, er mache „five or six ex-tremely important and true remarks aboutPlato’s literary devices, remarks the sub-tlety of which has, to my knowledge, neverbeen surpassed or even rivaled since“.60 Die-se Nähe zwischen den beiden Denkernzeigt, dass sowohl Schleiermacher alsauch Strauss zu der Überzeugung gelangtsind, die literarische Form des Dialogs,die die Vorteile mündlicher und schriftli-cher Mitteilung verbindet, müsse als Pla-tons Antwort auf Sokrates’ Schriftkritikverstanden werden.61 Genauer betrachtetzeigt sich allerdings gerade an diesemPunkt einer scheinbar großen Nähe die ei-gentliche Distanz zwischen Schleierma-cher und Strauss. (1) Während Schleier-macher den kontinuierlichen Charakter desVerstehensprozesses betont, wird der Vor-gang des Verstehens, nach der Überzeu-gung von Strauss, nicht so sehr durch Kon-tinuität als vielmehr durch Diskontinuitätcharakterisiert. (2) Was Schleiermacher füreine unendliche Vielfältigkeit der Abstu-fungen des Verstehens hält, stellt sich beiStrauss als strenge Zweifältigkeit der Pla-tonischen Lehre heraus.

Die stillschweigend vorausgesetzte Kon-tinuität des Verstehensprozesses ist diehermeneutische Annahme, die, nach demUrteil von Strauss, dafür verantwortlichist, dass Schleiermacher Platon missver-steht: „Schleiermacher tacitly assumes thatthe way from the beginning [des Verste-hensprozesses] to the end is continuous,whereas, according to Plato, philosophypresupposes a real conversion, i.e. a totalbreak with the attitude of the beginner“.62

Im Unterschied zu Platon beschreibt Schlei-ermacher die phänomenale Struktur desVerstehens nicht als eine periagōgē, son-dern als ein Kontinuum. Freilich könnteSchleiermacher behaupten, er sei gezwun-gen gewesen, von Platons Vorstellung ab-zuweichen, weil Platon die Struktur desVerstehens missverstanden habe. AberStrauss zeigt auf, wie hoch der Preis ist,den Schleiermacher dafür entrichten muss,dass er Platon vermeintlich besser versteht,als Platon sich selbst verstand. Schleier-machers Kontinuitätsannahme lässt ihnnicht nur von „the difference between themorality of the beginner and the moralityof the philosopher“ absehen, „which is atthe bottom of the difference between exo-teric and esoteric teaching“,63 sondern sieverstellt ihm auch den Blick für jene Rhe-torik, die Platon, Strauss zufolge, tatsäch-lich einsetzte. Diese Rhetorik – um zu demzweiten zwischen Schleiermacher undStrauss umstrittenen Punkt zu kommen –lässt sich sowohl mit der materialen Voll-ständigkeit der Dialoge wie auch mit derEinheit von Platons Denken verbinden,weil sie in einem und demselben Text zweiverschiedene Lehren unterscheidet, die sichjeweils an einen anderen Adressatenkreisrichten.64 Eine Lehre wird demzufolgemittels der ausdrücklichen Aussagen mit-geteilt, die der Autor gut sichtbar auf der

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Oberfläche eines Textes deponiert, wo-hingegen die andere Lehre nur zwischenden Zeilen angedeutet wird. In dieser Zwei-fältigkeit der Präsentation gründet derUmstand, dass der Verstehensprozess fürPlaton wie für Strauss durch eine Diskon-tinuität und nicht durch eine Kontinuitätcharakterisiert ist.Im Unterschied zu Schleiermacher würdeLessing im Streit um diese beiden Fragenan die Seite von Strauss treten: Seine „ex-perience of what philosophy is and whatsacrifices it requires“65 – eine Erfahrung,die Strauss in „Exoteric Teaching“ aus-drücklich als „conversion“ bezeichnet66 –führte Lessing „in a straight way to thedistinction between the two groups of men[…] and therewith to the distinction be-tween the two ways of presenting thetruth“.67 Lessing stimmt, anders gesagt, mitStrauss und Platon darin überein, dass derÜbergang von der Lehre, die sich an derOberfläche eines Buches finden lässt, zu der„verborgenen“ Lehre vom Leser oder vonder Leserin als eine Art radikaler Umwen-dung erfahren wird.68 Anders als im Fallvon Lessings Einverständnis bezüglich derstrengen Zweifältigkeit des esoterisch-exo-terischen Schreibens zitiert Strauss in „Exo-teric Teaching“ aber keine unzweideutigenStellen, um Lessings Einvernehmen hin-sichtlich der Erfahrung einer Diskontinui-tät im Prozess des Verstehens zu belegen.Stattdessen verweist Strauss in diesem Fallauf den biographischen Bruch, der sichum das Jahr 1771 ereignete.69 Neben denzahlreichen Textbelegen, die sich dafürbeibringen ließen, um Strauss’ Deutungvon Lessings Neuorientierung zu Beginnder 1770er Jahre zu stützen, gibt es einebeinahe unbestreitbar eindeutige Aussagezugunsten des eigentlichen Punktes, um denes hier Strauss geht. Das Einvernehmen

hinsichtlich der erfahrungsmäßigen Dis-kontinuität des Verstehens kann am Bei-spiel der emphatischen Zustimmung ver-anschaulicht werden, mit der Lessing aufdie von Clemens von Alexandria getrof-fene Aussage reagiert, ein sorgfältigerAutor könne schriftlich Ungeschriebeneskommunizieren.70 In seinem Kommentarzu dieser Stelle schreibt Lessing: „Wer ausden Büchern nichts mehr lernt, als was inden Büchern steht, der hat die Bücher nichthalb genutzt. Wen die Bücher nicht fähigmachen, daß er auch das verstehen undbeurteilen lernt, was sie nicht enthalten;wessen Verstand die Bücher nicht über-haupt schärfen und aufklären, der wäreschwerlich viel schlimmer dran, wenn erauch gar keine Bücher gelesen hätte.“71

Ein weiteres, vielleicht weniger subtilesAnzeichen für das bemerkenswerte Ein-vernehmen zwischen den beiden Denkernist, dass Lessing die Erfahrung, die durchderart sorgfältig geschriebene Bücher mög-lich wird, als „die Platonische Entwick-lung“ bezeichnete.72

Die metaphorische Beschreibung der her-meneutischen Erfahrung als periagōgēbedarf zweifellos selbst einer Interpretati-on und es mag sich deshalb lohnen, siedurch zwei weitere Beispiele zu erläutern.In „Persecution and the Art of Writing“zählt Strauss einige konkrete Fragen auf,die zwischen Historikern früherer Jahrhun-derte und ihren zeitgenössischen Nachfol-gern umstritten sind.73 Einer dieser Streit-punkte betrifft die Interpretation von Tho-mas Hobbes’ Einstellung zur Religion: Wäh-rend viele der früheren „philosophers andtheologians“ glaubten, „that Hobbes wasan atheist“, weist eine große Zahl der Phi-losophie- und Theologiehistoriker des 20.Jahrhunderts diese Deutung „tacitly orexplicitly“ zurück.74 In einer Anmerkung

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zu dieser Feststellung führt Strauss dieWerke von fünf zeitgenössischen Histori-kern an, die sich dem einstmals unumstrit-tenen Forschungskonsens, Hobbes sei einAtheist, entgegenstellen. Unter den vonStrauss genannten Studien findet sich auchsein eigenes Frühwerk Die Religionskri-tik Spinozas als Grundlage seiner Bibel-wissenschaft, das fast zehn Jahre vor„Persecution and the Art of Writing“ er-schienen war und in dem Strauss behaup-tet, Hobbes sei, obgleich er der Positiondes Atheismus sehr nahe komme, kein„Atheist im theoretischen Sinne des Wor-tes“.75 Die Bezugnahme auf sein eigenesBuch deutet lediglich an, was Strauss spä-ter in alle Einzelheiten zeigen sollte: dasser sich veranlasst sah, seine eigene Inter-pretation von Hobbes’ Einstellung gegen-über der Religion auf grundstürzende Wei-se zu korrigieren.76 Der Sinn und Zweckdieser in „Persecution and the Art of Wri-ting“ erstmals vorgetragenen Selbstkritikbesteht darin, die typische Folge der im-pliziten oder expliziten Verwerfung desesoterisch-exoterischen Schreibens an ei-nem Beispiel zu veranschaulichen. Die An-nahme, es gebe nur eine Lehre, läuft prak-tisch darauf hinaus, jede Aussage des zuinterpretierenden Autors für bare Münzezu nehmen. Auf diese Weise verschließtman die Augen vor der Möglichkeit, dassAutoren früherer Zeiten sich veranlasst sa-hen, ihr Denken aus politischen, philoso-phischen oder pädagogischen Gründen zuverbergen, oder dass sie nicht ausnahms-los glaubten, vor jedermann für die Wahr-heit zeugen zu müssen.77 Dass das Nach-denken über die Gründe, die einen Philo-sophen dazu veranlassten, seine Überle-gungen auf eine zweifache Art für ein zwei-faches Publikum zu präsentieren, gleich-bedeutend sein kann mit einer vollständi-

gen Umkehr der eigenen Deutung diesesPhilosophen, wusste Strauss also aus ers-ter Hand. Wenn der junge Strauss Hob-bes als eine Art Agnostiker interpretierte,dann wusste der reife Strauss, dass es sichum einen Philosophen handelt, der sich mit„great caution“ in jenen Schriften äußer-te, „which he published with his name ontheir title pages“, wobei er im Denken denhäretischen Standpunkt vorwegnahm, denHermann Samuel Reimarus in jener Schriftvertrat, die Lessing ein Jahrhundert nachHobbes bekanntmachen sollte.78

Einzig die Revolution in Strauss’ Deutungvon Maimonides mag die Möglichkeit undden Charakter der hermeneutischen Um-wendung noch eindrucksvoller veranschauli-chen als seine Neubewertung von Hobbes.Während Strauss Maimonides in Die Re-ligionskritik Spinozas als „gläubigen Ju-den“ bezeichnet,79 fördern seine in den1930er Jahren ausgearbeiteten Studien einenPhilosophen zutage.80 Diese Neuinterpre-tation von Maimonides wurde, Strauss’eigenen Angaben zufolge, ausgelöst durchein Aperçu über Platon, das ihm die Au-gen für das esoterisch-exoterischen Schrei-ben öffnete, indem es auf das Problemder politischen Philosophie im umfassen-den Sinne des Wortes verweist.81 Dass imUnterschied zu Lessing weder Maimoni-des noch Hobbes in „Exoteric Teaching“eine tragende Rolle spielen, zeigt nicht sosehr, dass der Aufsatz als autobiographi-sches Supplement verstanden werden soll-te, das die Leserinnen und Leser über eineweitere Quelle von Strauss unterrichtet,sondern dass die periagōgē, die wir mitdem Namen Platons verbinden, überallund zu jeder Zeit erfahren werden kann.

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Anmerkungen:1 Dieser Essay beruht auf einem Vortrag, den icham 5. April 2013 auf die Einladung von ThomasPangle als Joe R. Long Lecture an der University ofTexas at Austin hielt. Eine stark gekürzte Versionerschien unter der Überschrift „Strauss and Schlei-ermacher on How to Read Plato. An Introductionto ,Exoteric Teaching‘“, in Martin D. Yaffe / RichardS. Ruderman (Hg.): Reorientation. Leo Strauss inthe 1930s. New York 2014, S. 203-214. Die spa-nische Übersetzung des vorliegenden Textes wurdeunter der vom Herausgeber gewählten Überschrift„Lessing y Schleiermacher“ in Antonio Lastra (Hg.):Leo Strauss y otros compañeros de Platón. Madrid2016, S. 113-125 abgedruckt.2 In Strauss’ Brief an Hans-Georg Gadamer vom26. Februar 1961 heißt es: „It is not easy for me torecognize in your hermeneutics my own experienceas an interpreter. Yours is a ,theory of hermeneuticexperience‘ which as such is a universal theory. Notonly is my own hermeneutic experience very limited– the experience which I possess makes me doubtfulwhether a universal hermeneutic theory which ismore than ,formal‘ or external is possible. I believethat the doubt arises from the feeling of theirretrievably ,occasional‘ character of everyworthwhile interpretation.“ („Correspondenceconcerning Wahrheit und Methode“, in TheIndependent Journal of Philosophy 2 (1978), S.5-12, hier S. 5.) Im nächsten Band der Gesam-melten Schriften von Leo Strauss (hg. von HeinrichMeier) werde ich eine Edition des vollständigenBriefwechsels der beiden Philosophen vorlegen.3 In einem handschriftlichen Plan für „ExotericTeaching“ heißt es: „To-day the distinction betweenexoteric and esoteric teaching is wholly opposed –this distinction is due to the fact that modern philo-sophy has destroyed the possibility of understand-ing – and that class. scholarship has made tremen-dous progress.“ (Reorientation (Anm. 1), S. 287;vgl. „On the Study of Classical Political Philoso-phy“, in J.A. Colen / Svetozar Minkov: Toward„Natural Right and History“. Lectures and Es-says by Leo Strauss 1937-46. Chicago/London2018, S. 126-51, hier S. 128 sowie Persecutionand the Art of Writing. Glencoe, Ill. 1952, S. 26und 31-32.) – Arthur M. Melzer hat 2014 in seinergroßangelegten Studie eine Vielzahl von Quellennach Zeugnissen für esoterisch-exoterisches Schrei-ben durchforstet, um zu dem Fazit zu gelangen: „The

single most striking thing about the testimonial evi-dence is in fact not its quantity but its universality: itjust shows up everywhere. […] It is in fact difficultto name a single major philosopher from any timeor place before 1800 who did not somewhere makeopen and approving reference to this practice, re-garding either his own writings or those of others(or both)“ (Philosophy Between the Lines. TheLost History of Esoteric Writing. Chicago/Lon-don 2014, S. 25).4 „On the Study of Classical Political Philosophy“(Anm. 3), S. 133. Die Ankündigung eines Seminarsmit dem Titel „Persecution and Freedom of Thou-ght“, das Strauss im Herbst 1940 an der NewSchool for Social Research unterichtete, lautet:„Down to very nearly the end of the 18th centurypersecution was, in a manner of speaking, the natu-ral atmosphere to which free thought or the expres-sion of free thought had to adapt itself. In order tounderstand the ultimate reasons underlying thestruggle between the forces of persecution and ofindependent thinking, as well as the devices by theuse of which independent thinkers succeeds in de-feating persecution, it is helpful to refer back to theclassical example of that struggle, the trial of Socra-tes; its meaning is discussed on the basis of the writ-ings of Xenophon and Plato.“ (Toward „NaturalRight and History“ (Anm. 3), S. 287.)5 Leo Strauss an Jacob Klein, 16. Februar 1938, inGesammelte Schriften. Hg. von Heinrich undWiebke Meier. 2. Auflage. Stuttgart/Weimar 2008,Bd. 3, S. 550. Für ähnliche Hinweise vgl. beispiels-weise „The Spirit of Sparta and the Taste of Xeno-phon“, in Social Research 6:1/4 (1939), S. 502-536, hier S. 535; On Tyranny. Hg. von VictorGourevitch und Michael Roth. Erweiterte undverbesserte Auflage. Chicago/London 2013, S. 27;Persecution and the Art of Writing (Anm. 3), S.5, 8, 22, 24, 32, 56 und 190 sowie What Is Politi-cal Philosophy? and Other Studies. New York1959, S. 273-274.6 „Lecture Notes for ,Persecution and the Art ofWriting‘“, in Reorientation (Anm. 1), S. 293-304,hier S. 293.7 Persecution and the Art of Writing (Anm. 3),S. 5; vgl. auch S. 8. – In einer mit „Plan of a BookTentatively Entitled ,Philosophy and the Law:Historical Essays‘“ überschriebenen Nachlassnotizführt Strauss „Persecution and the Art of Writing“folgendermaßen ein: „What we can observe in the

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totalitarian societies of our time, i.e., in societieswhich as a matter of avowed policy suppressfreedom of speech, supplies us with important cluesto the understanding of the conditions under whichmany free minds of former centuries thought, spoke,and wrote.“ (Jewish Philosophy and the Crisis ofModernity. Essays and Lectures in ModernJewish Thought. Hg. von Kenneth Hart Green.Albany 1997, S. 467-470, hier S. 469.)8 Persecution and the Art of Writing (Anm. 3),S. 8. Das Wort „climates“ könnte sich auf„intellectual climates“ (vgl. ebd., S. 29; What IsPolitical Philosophy? (Anm. 5), S. 227-228) oderauf verschiedene klimatische Bedingungen beziehen.Die unterschiedlichen Klimata im buchstäblichenSinn führten – nach al-Fārābī, Ibn Chaldūn,Montesquieu und insbesondere Lessing – zurEntwicklung der unterschiedlichen ethnischenEigenheiten und einer daraus resultierenden religiösenVielfalt. Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Ernst undFalk, in: Werke und Briefe. Hg. von Wilfried Barneret al. Frankfurt am Main 2001, Bd. 10, S. 11-66,hier S. 29: „Viele von den kleinern Staaten würdenein ganz verschiedenes Klima, folglich ganzverschiedene Bedürfnisse und Befriedigungen,folglich ganz verschiedene Gewohnheiten und Sitten,folglich ganz verschiedene Sittenlehren, folglich ganzverschiedene Religionen haben.“ In „ExotericTeaching“ bezieht sich Strauss ausdrücklich auf diesePassage: „It may be added that Lessing points outin ,Ernst und Falk‘ that the variety of religions is dueto the variety of political constitutions: the religiousproblem (i.e. the problem of historical, positivereligion) is considered by him as part and parcel ofthe political problem.“ (Reorientation (Anm. 1), S.275-286, hier S. 277.)9 Persecution and the Art of Writing (Anm. 3),S. 24.10 Zwei zeitgenössische Rezensenten haben dieseStrategie richtig erkannt. Vgl. Eric Voegelins Re-zension von On Tyranny in The Review of Politics11:2 (1949), S. 241-244, hier S. 241 sowie Alexan-dre Kojève: „L’action politique des philosophes“,in Critique 41 (1950), S. 46-55 und 138-155, hierS. 46. Die hier zitierte Passage findet sich nicht inder erweiterten Fassung von Kojèves Essays, dieunter dem Titel „Tyrannie et sagesse“ in Strauss’ Dela tyrannie (Paris 1954) wiederabgedruckt wurde.11 What Is Political Philosophy? (Anm. 5), S. 230.Meine Hervorhebung. – Vgl. Yvon Belaval: „Pour

une Sociologie de la Politique“, in Critique 77(Oktober 1953), S. 852-866, hier S. 864: „Encoreune foi, de ces persécutions de fait avons-nous ledroit de conclure à une antinomie essentielle? Sansdoute pas, si l’on accepte avec M. Kojève […]que le Politique finit par obéir au Philosophe.“12 Christopher Bruell hat auf einige dieserStolpersteine hingewiesen („,True Esotericism‘“, inMichael P. Foley / Douglas Kries (Hg.): Gladly toLearn and Gladly to Teach. Essays on Religionand Political Philosophy in Honor of Ernest L.Fortin. A.A. Landham, ML 2002, S. 271-276, hierS. 273-275.13 Vgl. Catherine H. Zuckert und Michael P. Zuckert:The Truth about Leo Strauss. Political Philosophy& American Democracy. Chicago/London 2006,S. 120-121. Siehe außerdem dies.: Leo Strauss andthe Problem of Political Philosophy. Chicago/London 2014, S. 5-7 und 59-60.14 Hans-Georg Gadamer: „Hermeneutik undHistorismus“, in Gesammelte Werke. Tübingen1986, Bd. 2, S. 387-424, hier S. 420-421.15 In Gadamers Nachlass (Deutsches Literaturar-chiv, Marbach), nicht aber in den Strauss Papers(Special Collections Research Center, RegensteinLibrary, University of Chicago) findet sich ein Durch-schlag von Strauss’ Brief an F.N. „Chip“ Karmatz(datiert auf den 24. Dezember 1953 und überschrie-ben mit „Letter to the Editor of the Chicago Re-view“), der nahezu identisch mit „On a ForgottenKind of Writing“ ist. Der erste Absatz dieses Brie-fes lautet: „Dear Sir: You have told me that a sugges-tion which I have made both in the classroom and inprint has proved to be of interest to some of yourreaders but that it is not sufficiently clear to them.You mentioned that it would be helpful if I were towrite a note on the matter for your Review. In ordernot merely to repeat what I have written elsewhere,I believe it will be best if I discuss here those objec-tions to my suggestion which have been made pub-licly. I suspect that these objections arose out ofdifficulties similar to those that some of your read-ers have felt.“ – David Janssens ist der einzige Strauss-interpret, der den Ausgangspunkt von „On a For-gotten Kind of Writing“ richtig beschrieben hat(„Fishing For Philosophers. Strauss’s ,Restatement‘on the Art of Writing“, in Rafael Major (Hg.): LeoStrauss’s Defense of the Philosophic Life. Read-ing „What Is Political Philosophy?“. Chicago/London 2012, S. 173-190).

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16 What Is Political Philosophy? (Anm. 5), S.221-222. Vgl. Natural Right and History. Chica-go/London 1953, S. 257-258. Siehe außerdem LeoStrauss/Jacob Klein: „A Giving of Accounts“, in TheCollege 22:1 (1970), S. 1-5, hier S. 4: „I arrived ata conclusion that I can state in the form of a syllo-gism: Philosophy is the attempt to replace opinionby knowledge; but opinion is the element of the city,hence philosophy is subversive, hence the philoso-pher must write in such a way that he will improverather than subvert the city.“17 In allen drei Fällen des in Anmerkung 16 in Redestehenden Syllogismus scheint die Prämisse zu feh-len, dass die Philosophen der Gesellschaft bedür-fen. Vgl. dagegen etwa What Is Political Philoso-phy? (Anm. 5), S. 119 und 125-127.18 What Is Political Philosophy? (Anm. 5), S. 222;vgl. S. 227 und 229. Siehe beispielsweise GeorgeH. Sabines Rezension von Persecution and the Artof Writing in Ethics 63:3/1 (1953), S. 220-222,hier S. 220.19 „On Classical Political Philosophy“, in What IsPolitical Philosophy? (Anm. 5), S. 78-94, hier S.93-94.20 Den deutlichsten Hinweis auf die Begrenztheit desvon ihm vorgetragenen Arguments strich Strauss inder Buchfassung von „Persecution and the Art ofWriting“. In der Erstveröffentlichung heißt es in derlangen Anmerkung 21 u.a.: „Only the exotericteaching is of interest to the sociologist of knowledge,for only the exoteric teaching had, could have andwas intended to have a popular appeal. Butsociology is not enough: there were people whowere not merely exponents of the society to whichthey belonged, or of any society, but who success-fully endeavored to leave ‚the cave.‘“ (Social Re-search 8:1/4 (1941), S. 488-504, hier S. 503, Anm.21.) – Zum besonderen Zuschnitt von Strauss’ philo-sophischem Unternehmen, das die Kunst des Schrei-bens, das philosophische Leben und die politischePhilosophie mit einander verschränkt, vgl. HeinrichMeier: „Die Erneuerung der Philosophie und dieHerausforderung der Offenbarungsreligion. ZurIntention von Leo Strauss’ Thoughts on Machia-velli“, in Politische Philosophie und die Heraus-forderung der Offenbarungsreligion. München2013, S. 39-147, hier S. 43-46.21 Reorientation (Anm. 1), S. 287.22 „Exoteric Teaching“ (Anm. 8), S. 285-286 mitAnm. 117. Eine eingehende Kritik der Hermeneu-

tik von Maimonides findet sich in Benedict de Spi-nozas Tractatus theologico-politicus, Kapitel 7,§75-87 (Opera quae supersunt omnia. Hg. vonCarl H. Bruder. Leipzig 1843-1846, Bd. 3, S. 120-123). Zu dieser Kritik vgl. Strauss’ Die Religions-kritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwis-senschaft (Gesammelte Schriften. Unter Mitwir-kung von Wiebke Meier hg. von Heinrich Meier. 3.Auflage. Stuttgart/Weimar 2008, Bd. 1, S. 1-330,hier S. 224-226).23 Dass Strauss offenlässt, ob Spinoza Maimoni-des’ allegorische Interpretation der Bibel „despite,or because of“ dieses Eingeständnisses ablehnt, ver-stärkt den Eindruck, dass es sich bei der Doppel-deutigkeit des Personalpronomens nicht um einenFlüchtigkeitsfehler handelt.24 Reorientation (Anm. 1), S. 292.25 „A Giving of Accounts“ (Anm. 16), S. 3.26 Ebd., S. 3.27 Siehe insbesondere „Einleitung zu Morgenstun-den und An die Freunde Lessings“, „Sache Gottesoder die gerettete Vorsehung“ sowie „Eine Erinne-rung an Lessing“ (Gesammelte Schriften. Unter Mit-wirkung von Wiebke Meier hg. von Heinrich Mei-er. 2. Auflage. Stuttgart/Weimar 2013, Bd. 2, S.528-605, S. 514-527, hier S. 522 sowie S. 607-608).28 Die Unterscheidung findet sich schon 1935 inPhilosophie und Gesetz (etwa GesammelteSchriften (Anm. 27), Bd. 2, S. 1-123, hier S. 47,82-83, 88-89 und 123).29 Dass Platon den Streitpunkt zwischen Strauss undSchleiermacher darstellt, dürfte kein Zufall sein:„What philosophy is seems to be inseparable fromthe question of how to read Plato“, urteilte SethBenardete in verwandtem Kontext („Strauss onPlato“, in The Argument of the Action. Essays onGreek Poetry and Philosophy. Hg. von RonnaBurger und Michael Davis. Chicago/London 2000,S. 407-417, hier S. 407).30 Vgl. Friedrich Schleiermacher: „Einleitung“, inPlatons Werke. 2. Auflage. Berlin 1817, Bd. 1.1,S. 11-26. Ich zitiere den Text nach der KritischeGesamtausgabe (4. Abteilung, Band 3: PlatonsWerke. Hg. von Lutz Käppel und Johanna Loehrunter Mitwirkung von Male Günther. Berlin/Boston2016, S. 15-59). Schleiermacher veröffentlichte die„Einleitung“ schon 1805 in der ersten Auflage vonPlatons Werke (W1). Die Verbesserungen der zwei-ten Auflage von 1817 (W2) spiegeln seine reife Po-sition wider.

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31 Ebd., S. 23-24 (W1 11 / W1 11).32 Ebd., S. 24 (W2 11/ W1 11).33 „Nämlich bei den ersten Pythagoreern ging die-ser Unterschied so unmittelbar auf den Inhalt, daßGegenstände als esoterische bezeichnet wurden,über welche sie sich außerhalb der Grenzen ihrerinnigsten Verbindung nicht mittheilen wollten; und esist zu vermuthen, daß weit mehr ihr politisches Sys-tem die Stelle des esoterischen ausfüllte, als ihre ebenso unvollkommenen als unverdächtigen metaphysi-schen Spekulationen. Damals aber war auch diePhilosophie mit politischen Absichten und die Schulemit einer praktischen Verbrüderung auf eine Art ver-bunden, die hernach unter den Hellenen gar nichtwieder Statt gefunden hat.“ Ebd., S. 24-25 (W2 12/ W1 12).34 „Später hingegen nannte man vornemlich das eso-terisch, was in dem populären Vortrage, zu dem sichnach der Vermischung der Sophisten mit den so-kratischen Philosophen Einige herabließen, nichtkonnte mitgetheilt werden, und der Unterschied gingalso unmittelbar auf den Vortrag, und nur mittelbarund um jenes willen erst auf den Inhalt.“ Ebd., S. 25(W2 12-13 / W1 12-13).35 Ebd., S. 25 (W2 13 / W1 13).36 Schon seit Jacob Bernays’ Die Dialoge des Ari-stoteles in ihrem Verhältniss zu seinen übrigenWerken (Berlin 1863) behandeln deutsche Gelehr-te das Problem des esoterisch-exoterischen Schrei-bens vornehmlich am Beispiel der teils dunklen Hin-weise, mit denen sich Aristoteles auf die exōterikoilogoi bezieht. Sie scheinen sich darauf geeinigt zuhaben, dass Aristoteles dabei eine Literaturform imSinn hatte. Vgl. Michael Erler: „Philosophische Li-teraturformen“, in Der Neue Pauly. Enzyklopädieder Antike. Hg. von Hubert Cancik und HelmuthSchneider. Stuttgart/Weimar 2000, Bd. 9, S. 871-877, hier S. 874: „Man wird bei Aristoteles, aberwohl auch schon bei Platon drei Bereiche unterschei-den können, in denen philosophische Texte Verwen-dung fanden: die literarischen Werke (,Dialoge‘) fürdie Öffentlichkeit, ,exoterische‘ Übungen oder öf-fentliche Unterrichtskurse; streng wissenschaftlicheVorträge und Diskussionen innerhalb der Schule.“Siehe auch Konrad Gaiser: „Exoterisch/esoterisch“,in Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. vonJoachim Ritter. Darmstadt 1972, Bd. 2, S. 865-867.37 Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe(Anm. 30), Bd. IV.4, S. 25-26 (W2 13 / W1 13). –Schleiermachers Kritik dieser Auffassung des eso-

terisch-exoterischen Schreibens richtet sich auchgegen Wilhelm Gottlieb Tennemann, der Ende des18. Jahrhunderts eine der bedeutendsten Platonin-terpretationen seiner Zeit vorlegte. Laut Tennemannuntersuchte Platon Gegenstände, „worüber die ver-worrendsten und irrigsten Vorstellungsarten herrsch-ten, welche aber durch ihr Alter, durch ihren Zu-sammenhang mit heiligen Wahrheiten, durch denSchutz der Priester und des Staates ein solches ehr-würdiges Ansehen erhalten hatten, daß sie für einunverletzbares Eigenthum der Menschheit galten“.Deshalb wählte Platon „die dialogische Form, durchwelche er Wahrheiten sagen konnte, ohne sich ver-antwortlich zu machen“. Aus diesen Überlegungenschließt Tennemann, dass im Falle Platons „dieSchriften seiner esoterischen Philosophie in eineranderen Form geschrieben gewesen sind“ (Systemder Platonischen Philosophie. Leipzig 1792, Bd.1, S. 128. Zu den esoterischen Schriften vgl. S. 114,137, 141, 149, 162-164 und 264-266. Siehe auchders.: Geschichte der Philosophie. Leipzig 1799,Bd. 2, S. 205-222).38 Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe(Anm. 29), Bd. IV.4, S. 26 (W2 14 / W1 13-14).Vgl. Platon: Siebter Brief 341c.39 Eine knappe, aber überaus informative Einführungin das sogenannte Tübinger Paradigma gibt ThomasA. Szlezák: „The Tübingen Approach“, in GeraldA. Press (Hg.): The Continuum Companion toPlato. London/New York 2012, S. 303-305. Lei-der wurde die Position von Strauss in der fruchtlosenAuseinandersetzung zwischen Szlezák und TanjaStaehler nicht zutreffend wiedergegeben („Plato’sUnwritten Doctrines. A Discussion“, in Journal ofAncient Philosophy 8:2 (2014), S. 160-166).Siehe hierzu meine Besprechung von MelzersPhilosophy between the Lines im PhilosophischenJahrbuch 123:1 (2016), S. 285-289.40 In „Persecution and the Art of Writing“, stelltStrauss klar, dass den antiken Philosophen, die sichvon dem wesentlichen Unterschied zwischen Philo-sophen und Nichtphilosophen überzeugt hatten, zweiMöglichkeiten der Kommunikation zur Verfügungstanden: „They must conceal their opinions from allbut philosophers, either by limiting themselves tooral instruction of a carefully selected group of pu-pils, or by writing about the most important subjectby means of ,brief indication.‘“ Persecution andthe Art of Writing (Anm. 3), S. 34-35. MeineHervorhebungen.

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41 Vgl. ebd., S. 50.42 Vgl. Platon: Phaidros 277a2 und 276d4. – ImManuskript findet sich ein schließlich gestrichenerSatz, der diese Argumentationslinie gegen Schleier-macher wendet: „[Schleiermacher] forgets the factthat Plato has not written his dialogues for his pupilsonly, but rather as a possession for all times, or thatnot all readers of Plato are pupils of Plato.“ (Reori-entation (Anm. 1), S. 280, Anm. 50.) Zum Aus-druck „possession for all times“ vgl. Thukydides:Historiae 1.22.4.43 Platon: Phaidros 275d9-e3. Vgl. Persecutionand the Art of Writing (Anm. 3), S. 35.44 Einer weitverbreiteten, obgleich allem Anscheinnach apokryphen Tradition zufolge nahm Androni-kos von Rhodos die „exoterischen“ Schriften vonseiner Ausgabe der gesammelten Schriften des Aris-toteles aus. – Wie ich in Anm. 36 angedeutet habe,verführte Aristoteles’ Verwendung von exōterikoilogoi zu der Annahme, dieser Begriff beziehe sichvornehmlich auf eine Literaturform. Diese Behaup-tung, die den Umstand ignoriert, dass Aristoteles keindurchgängiges Antonym für „exoterisch“ kennt, kannmit Hilfe von Physik A 10 (217b29ff.) unschwerwiderlegt werden.45 Die Kritik, die Hegel in den Vorlesungen zurGeschichte der Philosophie an Tennemanns Be-griff des esoterisch-exoterischen Schreibens (vgl.Anm. 37) übt, betont die Absurdität der materia-len Unterscheidung der esoterischen und exoteri-schen Lehre: „Wie einfältig! Das sieht aus, als seider Philosoph im Besitz seiner Gedanken wie deräußerlichen Dinge. Die Gedanken sind aber ganzetwas anderes. Die philosophische Idee besitzt um-gekehrt den Menschen. Wenn Philosophen sich überphilosophische Gegenstände explizieren, so müssensie sich nach ihren Ideen richten; sie können sie nichtin der Tasche behalten. Spricht man auch mit eini-gen äußerlich, so ist die Idee immer darin enthalten,wenn die Sache nur Inhalt hat. Zur Mitteilung, Über-gabe einer äußerlichen Sache gehört nicht viel, aberzur Mitteilung der Idee gehört Geschicklichkeit. Siebleibt immer etwas Esoterisches; man hat also nichtbloß das Exoterische der Philosophen. Das sindoberflächliche Vorstellungen.“ Werke. Hg. von EvaMoldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurtam Main 1986, Bd. 19, S. 21-22. Siehe auch ebd.,S. 76-77: „Man muß nicht etwa den Unterschiedmachen, als ob Platon zwei solche Philosophienhätte: eine für die Welt, für die Leute; die andere,

das Innere, aufgespart für Vertraute. Das Esoteri-sche ist das Spekulative, das geschrieben und ge-druckt ist und doch ein Verborgenes bleibt für die,die nicht das Interesse haben, sich anzustrengen. EinGeheimnis ist es nicht und doch verborgen.“ Vgl.Strauss’ Bezugnahme auf Hegel in dem späteren Planfür „Exoteric Teaching“ (Reorientation (Anm. 1),S. 291).46 Mit Blick auf die Zentrifugalkräfte der Schule,die Strauss selbst ins Leben rief, schreibt HeinrichMeier: „For the school, no less than for the common-wealth, it holds true that different addressees haveto be addressed differently, that they grasp the teach-ing differently and pass it on differently.“ („Prefaceto the American Edition“, in: Leo Strauss and theTheologico-Political Problem. Übersetzt vonMarcus Brainard. Cambridge 2006, S. xi-xxi, hierS. xix. Vgl. ebd., S. 15 mit S. xvii-xx. – Strausseigene Kritik philosophischer Schulen findet sich inseinem „Restatement on Xenophon’s Hiero“, in OnTyranny (Anm. 5), S. 177-212, hier S. 194-196.47 Persecution and the Art of Writing (Anm. 3),S. 187. Vgl. „On a New Interpretation of Plato’sPolitical Philosophy“, in Social Research 13 (1946),S. 326-367, hier S. 349: „According to the SeventhLetter, as well as according to the Phaedrus, nowriting composed by a serious man can be quiteserious.“ Vgl. Platon: Siebter Brief 344c1-d2 so-wie Phaidros 276d1-e3 und 277e5-278b4.48 Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe(Anm. 30), Bd. IV.4, S. 26 (W2 14 / W1 14).49 „Socrates was executed for not believing in thegods of Athens, in the gods of the city. By consider-ing and reconsidering this fact, we grasp the ultima-te reason why political life and philosophic life, evenif compatible for almost all practical purposes, areincompatible in the last analysis: political life, if ta-ken seriously, meant belief in the gods of the city,and philosophy is the denial of the gods of the city.[…] In the time of Xenophon, impiety constituted acriminal offence. Thus philosophy, which is essentiallyincompatible with acceptance of the gods of the city,was as such subject to persecution. Philosophershad therefore to conceal if not the fact that they werephilosophers, at least the fact that they were unbe-lievers“ („The Spirit of Sparta and the Taste of Xe-nophon“ (Anm. 5), S. 531-532 und 534).50 „Exoteric Teaching“ (Anm. 8), S. 280.51 Die erste ausgearbeitete Fassung dieses Argu-ments findet sich in „The Spirit of Sparta and the

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Taste of Xenophon“ (Anm. 5), S. 534. Allerdingsweist Strauss in demselben Aufsatz auf die Grenzendes Arguments hin: „It would, however, betray toolow a view of the philosophic writers of the past ifone assumed that they concealed their thoughtsmerely for fear of persecution or of violent death“(ebd., S. 535, meine Hervorhebung). Für ein ähnli-ches Caveat vgl. Persecution and the Art of Wri-ting (Anm. 3), S. 17. – Strauss deutet, wie StevenJay Lenzner herausstellt, darauf hin, „that persecu-tion is of secondary importance when compared withthe other concerns that prompt authors to write exo-terically“, indem er das Thema der Verfolgung überweiter Strecken von Persecution and the Art ofWriting unerwähnt lässt: „In three of the book’s fivechapters, including the ,Introduction‘ and the cen-tral essay on Maimonides, Strauss fails to employ,persecution‘ even once“ (Leo Strauss and theProblem of Freedom of Thought. The Rediscov-ery of the Philosophic Arts of Reading and Writ-ing. Diss., Harvard University, 2003, S. 26-27, vgl.S. 24-25). Ähnlich auch neuerdings ChristopherLynch: „A Presentation of Exotericism in ClassicalPolitical Philosophy“, in Toward „Natural Rightand History“ (Anm. 3), S. 117-125, hier S. 122-123.52 Ebd., S. 28. Meine Hervorhebung.53 Vgl. insbesondere Schleiermacher: KritischeGesamtausgabe (Anm. 30), Bd. IV.4, S. 21-22(W2 9-10 / W1 9-10).54 Vgl. nochmals ebd., S. 24-25 (W2 12-13 / W1

12-13).55 „Exoteric Teaching“ (Anm. 8), S. 280. MeineHervorhebung. Ich zitiere den Wortlaut des Manu-skripts sowie eine Variante der Typoskripte (ebd.,S. 280, Anm. 44), weil „degrees of understanding“in stärkerem Maße als „levels of understanding“ dieVerbindung zu einer damit verwandten Passagekenntlich macht: „The difference between the be-ginner and the philosopher (for the perfectly trainedstudent of Plato is no one else but the genuine philo-sopher) is a difference not of degree, but of kind“(ebd., S. 282).56 Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe(Anm. 30), Bd. IV.4, S. 30 (W2 19 / W1 19). Vgl.auch S. 29-33, 50 und 583 (W2 17-22 / W1 17-22, W2 41 / W1 41 und W2 231 / W1 230). ZurSelbstbewegung der Seele vgl. etwa Platon: Phai-dros 245c5-246a1.57 Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe(Anm. 30), Bd. IV.4, S. 31 (W2 20 / W1 20). Zum

Verständnis der Rhetorik als psychagōgia siehe Pla-ton: Phaidros 261a7ff. und 271c10ff. Vgl. auchPlaton: Gorgias 452e9-453a5 mit Gorgias vonLeontinoi: Lobrede auf Helena, in: Reden, Frag-mente und Testimonien. Hg. von Thomas Buch-heim. 2. Auflage. Hamburg 2012, S. 2-16. Sieheaußerdem meine Rezension von Ulrike WeichertsStudie der Hermeneutik von Strauss im Journal forthe History of Modern Theology 21:1/2 (2014),S. 301-304, hier S. 302.58 Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe(Anm. 30), Bd. IV.4, S. 31 (W2 20 / W1 20).59 Ebd., S. 31 (W2 20 / W2 20).60 „Exoteric Teaching“ (Anm. 8), S. 280.61 Vgl. beispielsweise Schleiermacher: KritischeGesamtausgabe (Anm. 30), Bd. IV.4, S. 29-30(W2 18-19 / W1 18-19) mit The City and Man.Chicago 1964, S. 52-53. Es sei betont, dass Pla-tons Sokrates nicht behauptet, Schreiben sei etwasan sich Hässliches oder Schändliches (aischron).Vgl. Platon: Phaidros 277d1-278b4.62 „Exoteric Teaching“ (Anm. 8), S. 281. Zur Be-deutung der hier in Rede stehenden Art „conver-sion“ siehe Socrates and Aristophanes. New York/London 1966, S. 314. Vgl. The City and Man,(Anm. 61), S. 93 und On Political Philosophy.Responding to the Challenge of Positivism andHistoricism. Chicago/London 2018, S. 78.63 Ebd., S. 282. Die eindringlichste Diskussion, dieStrauss jenem Problem widmet, das Platon mit derUnterscheidung zwischen aretai politikai und wirk-licher Tugend umschreibt (etwa Phaidon 82a10-b3), findet sich in „The Law of Reason in the Kuza-ri“. Vgl. insbesondere Persecution and the Art ofWriting (Anm. 3), S. 139: „It is hardly necessary toadd that it is precisely this view of the non-categoriccharacter of the rules of social conduct which per-mits the philosopher to hold that a man who hasbecome a philosopher, may adhere in his deeds andspeeches to a religion to which he does not adherein his thoughts; it is this view, I say, which is under-lying the exotericism of the philosophers“ (mei-ne Hervorhebung).64 In seiner Besprechung von Platons Werke kriti-siert der Altphilologe August Boeckh die Zurück-weisung der esoterisch-exoterischen Rhetorik durchSchleiermacher und schlägt en passant eine alter-native Deutung vor. Laut Boeckh, lässt sich diewahre Lehre Platons, die er in der Akademie gera-deheraus lehrte, ebenfalls „in mehr oder weniger

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,dunklen Winkeln‘“ seiner Schriften finden: „Hier-nach beruht der Unterschied des Esoterischen undExoterischen zwar nicht auf den Gegenständen, aberdoch auch nicht auf der äusseren Form des Vortra-ges allein, sondern auf dem höheren oder minderenGrade der unumhüllten, wissenschaftlichen Darle-gung, so, dass das Exoterische, wie der Mythos,eine äusserliche angreifliche Seite hat, von welcheres die Uneingeweihten nehmen, aber auch einen in-nerlichen Sinn, der nur Esoterischen verständlich ist“.Boeck geht dabei sogar so weit zu sagen, Platomüsste sich „auf die wunderlichste Weise gezierthaben, wenn er nichts Esoterisches gehabt hätte.“(„Kritik der Übersetzung des Platon von Schleier-macher“ (1808), in: Gesammelte kleine Schriften.Hg. von Ferdinand Ascherson und Paul Eichholtz.Leipzig 1872, Bd. 7, S. 1-38, hier S. 7. Vgl. auchS. 4-9.)65 „Exoteric Teaching“ (Anm. 8), S. 283. Zu den„sacrifices“ vgl. Persecution and the Art of Writ-ing (Anm. 3), S. 56: „Freedom of thought beingmenaced in our time more than for several centu-ries, we have not only the right but even the duty toexplain the teaching of Maimonides, in order to con-tribute to a better understanding of what freedom ofthought means, i.e., what attitude it presupposes andwhat sacrifices it requires.“66 „Exoteric Teaching“ (Anm. 8), S. 281.67 Ebd., S. 283.68 Seth Benardete betont diese Struktur des Ver-stehensprozesses, wenn er schreibt: „Somethinghappens in a Platonic dialogue that in its revolution-ary unexpectedness is the equivalent to the peria-gōgē, as Socrates calls it, of philosophy itself.“(„Strauss on Plato“ (Anm. 29), S. 409.) – Dass derFortschritt im Verstehen als Umwendung erfahrenwird, heißt nicht, dass er sich von selbst einstellenwürde oder der äußersten Anstrengung durch denInterpreten entraten könnte. Vielmehr bedarf es, wieStrauss einmal – und nur einmal – schreibt, um je-dem möglichen Missverständnis vorzubauen, einer„inquisitorial brutality and recklessness […] for ex-torting his serious views from an able writer whotries to conceal them from all but a few“ (Persecu-tion and the Art of Writing (Anm. 3), S. 185).69 Auch manche seiner Zeitgenossen bemerkten denBruch, der sich in Lessings Leben ereignete. Vgl.etwa Johann Gottlieb Fichte: Friedrich Nicolai’sLeben und sonderbare Meinungen, in: Gesamt-ausgabe. Hg. von Reinhard Lauth und Hans Gli-

witzky. Stuttgart-Bad Cannstatt 1988, Bd. I.7, S.325-463, hier S. 441.70 Vgl. Clemens von Alexandria: Stromata I, Kap.I, 10,1.71 Lessing: Sogenannte Briefe an verschiedeneGottesgelehrten, die an seinen theologischenStreitigkeiten auf eine oder andere Weise teil zunehmen beliebt haben, in: Werke und Briefe, Bd.10 (Anm. 8), S. 178-217, hier S. 196. Der Kom-mentar wird von Lessing mit den Worten vorberei-tet: „Dieses Lob der Lektüre insgemein, ist eine sofeine und richtige Bemerkung, als nicht viele von ei-nem Kirchenvater zu erwarten geneigt sein möch-ten. Aber, bei Gott, so ist es!“ (Ebd.)72 Lessing: Sogenannte Briefe (Anm. 71), S. 196.73 Im zentralen Absatz seines Essays nennt Strausssieben Punkte: 1) die Unterscheidung zwischen an-cients and moderns, 2) Averroës’ Einstellung zurReligion, 3) die Einstellung zur Religion der griechi-schen Ärzte, 4) die Unterscheidung der esoterischenund der exoterischen Lehre, 5) Eusebius von Cae-sareas Einstellung zur Religion, 6) Thomas Hobbes’Einstellung zur Religion und 7) die Klarheit des Plansvon Montesquieu’ De l’esprit des lois. Vgl. Perse-cution and the Art of Writing (Anm. 3), S. 27-29.74 Ebd., S. 28. Bis heute gilt „the dispute over thesincerity of Hobbes’s professions of faith“ als „oneof the most fundamental and divisive splits in Hob-bes scholarship“ (Devin Stauffer: Hobbes’s King-dom of Light. A Study of the Foundations ofModern Political Philosophy. Chicago/London2018, S. 83, Anm. 2; vgl. S. 86 (mit Anm. 6), 127-128 und 132, Anm. 8).75 Die Religionskritik Spinozas (Anm. 22), S. 145.Weiterhin heißt es dort: „Vom Agnostizismus desHobbes zum Atheismus ist nur ein Schritt, den die-ser Philosoph selbst allerdings nicht getan hat.“ (Ebd.)76 „On the Basis of Hobbes’s Political Philosophy“,in What Is Political Philosophy? (Anm. 5), S. 170-196, hier S. 182-189. Vgl. Natural Right and His-tory (Anm. 16), S. 199, Anm. 43. – Zum Vorgehenvon Strauss und Hobbes siehe Heinrich Meier: „DieErneuerung der Philosophie und die Herausforde-rung der Offenbarungsreligion“ (Anm. 20), S. 86-87, Anm. 77.77 Zu allen Zeiten haben christliche Schriftsteller zu„Milch“, anstatt zu „fester Nahrung“ gegriffen, umdie Eine Wahrheit zu verkünden. Dennoch bezeich-net Karl Barth die Unterscheidung zwischen „eso-terischer“ und „exoterischer“ Lehren als „unchristli-

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Aufklärung und Kritik 3/201992

chen Gegensatz“ (Die protestantische Theologieim 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihreGeschichte. Zürich 1946, S. 400). An den Beispie-len von Augustinus und Thomas von Aquin unter-sucht Frederick J. Crosson die Differenz zwischender philosophischen Tradition des esoterisch-exo-terischen Schreibens und der christlichen Traditioneiner „latenten“ Rhetorik. Er kommt zu dem Schluss:„A central difference is that in the Christian traditionthe manifest teaching expressed in similitudes andmetaphors and parables aims at communicating thetruth, at bearing witness to the truth, in a form inwhich it is able to be understood (at least partially)by all. There is only one doctrine, presented in dif-ferent depths of meaning to the two audiences“(„Esoteric versus Latent Teaching“ (2005), in TenPhilosophical Essays in the Christian Tradition.Hg. von Michael J. Crowe und Nicholas Ayo,C.S.C. Notre Dame 2015, S. 11-31, hier S. 24).78 What Is Political Philosophy? (Anm. 5), S. 189.79 Die Religionskritik Spinozas (Anm. 22), S. 238und 254.80 Siehe insbesondere den Aufsatz „The LiteraryCharacter of the Guide of the Perplexed“, der1938 geschrieben, aber erst 1941 veröffentlichtwurde (Essays on Maimonides. An Octocenten-nial Volume. Hg. von Salo Wittmayer Baron. NewYork 1941, S. 37-91, später auch Persecution andthe Art of Writing (Anm. 3), S. 38-94). Für dieRolle, die Maimonides für Strauss’ Entdeckung desesoterisch-exoterischen Schreibens spielte, vgl. auch„Der Ort der Vorsehungslehre nach der Ansicht Mai-munis“ und „Quelques remarques sur la science poli-tique de Maïmonide et de Fârâbî“ (insbesondereGesammelte Schriften, Bd. 2 (Anm. 27), S. 179-190, hier S. 183-187 sowie S. 125-158, hier S.137-138, 144-145, 148, 152-156; vgl. außerdemS. 134, Anm. 28 mit der zugehörigen handschriftli-chen Randnotiz (S. 160)). Besonders eindringlichwidmet sich Steven Jay Lenzner der Bedeutung, dieMaimonides für Strauss im Hinblick auf die Künstedes Lesens und Schreibens einnahm (Leo Straussand the Problem of Freedom of Thought (Anm.51), S. 85-130).81 Vgl. „A Giving of Accounts“ (Anm. 16), S. 3:„Maimonides was, to begin with, wholly unintelligi-ble to me. I got the first glimmer of light when I con-centrated on his prophetology and, therefore, theprophetology of the Islamic philosophers who pre-ceded him. One day when reading in a Latin trans-

lation Avicenna’s treatise On the Division of theSciences, I came across this sentence (I quote frommemory): the standard work on prophecy and re-velation is Plato’s Laws. Then I began to under-stand Maimonides’s prophetology and eventually,as I believe, the whole Guide of the Perplexed.Maimonides never calls himself a philosopher; hepresents himself as an opponent of the philosophers.He used a kind of writing which is in the precisesense of the term, exoteric.“

Zum Autor:Hannes Kerber (geb. 1987) ist wissen-schaftlicher Mitarbeiter der Carl Friedrichvon Siemens Stiftung und Lehrbeauftrag-ter der Fakultät für Philosophie an derLudwig-Maximilians-Universität in Mün-chen. Er studierte Philosophie, Alte Ge-schichte und Politikwissenschaft in Mün-chen sowie als Gaststudent an der VeniceInternational University, am Committee onSocial Thought der University of Chica-go und an der Harvard University. Bishe-rige Veröffentlichungen beschäftigen sichmit Leo Strauss, Hans-Georg Gadamer,Nicolai Hartmann und Gotthold EphraimLessing. Jüngst erschienen „Die Aufklä-rung vor Gericht. Zum historischen Hin-tergrund von G.E. Lessings Anmerkun-gen zu einem Gutachten über die itzigenReligionsbewegungen (1780)“ (Germa-nisch-Romanische Monatsschrift 68/1,2018, S. 27-71) sowie „Zum Wechsel-verhältnis von Orthodoxie und Aufklärung.G.E. Lessings allegorische Zeitdiagnostikin Herkules und Omphale“ (Journal forthe History of Modern Theology 25/1,2018, S. 1-26).